RinderLunge
Megabeta April 14 –
Ostern, der Dreh- und Angelpunkt und mit Abstand wichtigstes Fest des liturgischen Jahres, ist nicht alleine ein Gedenkfest, sondern das Symbol der ständig uns umgebenden zyklischen Wiederkehr vom Übergang des Todes ins neue Leben. Jegliche Erneuerung, die Zerstörung des Alten, um durch eine Katharsis dem Neuen Platz zu machen, verbirgt sich hinter der Symbolik des Ostermysteriums. Dies macht das Fest zu einem einzigen langen Gottesdienst, der sich über mehrere Tage und Etappen erstreckt. So lasse ich es mir auch nicht nehmen, ihn in seiner Gänze zu erleben, und begebe mich am Karfreitag in die St. Hubertus-Kirche in Stolberg-Büsbach zur Liturgie der vorgeweihten Gaben. Traditionell wird an diesem Tag ein spezieller dreiteiliger Gottesdienst, der aus der Lesung der Johannespassion, der rituellen Kreuzverehrung und der Kommunion der Hostien vom Gründonnerstag besteht. Die halbwegs ländliche Lage der Gemeinde und die düstere Innenarchitektur der Büsbacher Kirche mit nackten, dunklen Bruchsteinwänden wirkt sich spürbar positiv auf das Gesamtambiente aus: es ist ernst, still, bedrückt, die zahlreichen Anwesenden wirken gesammelt und in sich gekehrt, kein Gemurmel, keine Banalität. Die Kirche hat, wie üblich an Karfreitag, keinerlei Schmuck, Altartücher und Kreuze sind entfernt. Man kann beim Einzug eine Stecknadel fallen hören. Meditative Stimmung wie sie sein sollte. Doch wie befürchtet, soll bald ein derber Einbruch kommen, denn die unsicheren Vortragskünste der Ministrantin relativieren die feierlich ernste Stimmung der Passionsgeschichte beträchtlich. Ich versuche durch die monotone Vortragsweise hindurchzuhören, vergeblich. Glücklicherweise wird dieser Schwachpunkt durch die lange Prozession der gesamten Gemeinde zum hereingetragenen Kreuz mehr als aufgewogen. Es ist äußerst bedrückend, alle schauen zu Boden, ich komme mir vor wie in einer Kirche in Neapel. So muss es sein! Auch die anschließende Kommunion geschieht in der gebotenen Stille und Besinnlichkeit. Klaudiusz Gieroń Bewertung (Skala von 1-5, höher = besser) : Musik: keine | Ambiente: 5 |Performance: 3 | Spiritus Communitatis: 4 Foto Annakirche: Gabor Baksay
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Dass es in der evangelischen Kirchengemeinde, Annakirche am Karfreitag nichts zu lachen geben wird, war klar. Aber auf den spiritu-
ellen Ernst dieser vorbildlichen Darbietung war ich allerdings nicht gefasst. Kein Vorhang wird zerrissen, (die Fenster sind nicht einmal verhängt). Auch die Erde tut sich nicht auf, aber trotz der freundlichen Architektur, lastet das Gefühl vollkommener Verlassenheit, wie eine Art dunkle Materie auf dem gesamten Raum. Das liegt einerseits am „Spiritus Communitatis“ der Gemeinde, deren gesammeltes Bei-der-Sache-Sein, das Gefäß bildet, in das die Psamltexte ihre Katharsis ergießen können: „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst“. Oh ja, nach 10 Minuten geht es mir genau so. Aber am dringlichsten beschwört den seelischen Ground-Zero, nicht die Gemeinde und auch nicht der Psalmtext selbst, sondern die Aura des Priesters, Armin Drack. Als MC des Abends wirkt er völlig authentisch, nicht einfach nur zerknirscht oder bekümmert, sondern buchstäblich ausgelöscht. Ein wenig wie die Wut eines Krebskranken auf seinen Schmerz, der seine letzten Kräfte mobilisiert, um noch ein mal, erhobenen Hauptes, mit seiner Familie Ostern zu feiern. Ob man das spielen kann, weiß ich nicht, aber falls ja, ist es sehr gut gespielt. Drack wirkt in seiner Konzentration nicht unnahbar, unfreundlich oder verschlossen, lässt aber keinen Zweifel daran, dass er nicht die geringste Lust auf billige Tröstungen oder wohlmeinende Sprüche hat. Ein derartig intensives Alleinsein habe ich bisher tatsächlich nur einmal bei einer Krebskranken gesehen. Ecce Homo. Zum Schluss durchschreitet er, wie eine Eins
das Spalier seiner Gemeinde in völliger Sammlung. Nicht gravitätisch langsam oder galamäßig erbaulich, sondern zügig, zielstrebig - „Bloß weg hier“. Einen so fließend, natürlichen Gang, kannte ich bisher nur von Yul-Brynner bzw. - treffender vielleicht - von den Protagonisten des japanischen Regisseurs Ozu. Dass es keineswegs selbstverständlich ist, eine gerade Wegstrecke schnörkellos und in Würde zu gehen, beweisen die zahlreichen PleitenPech-und Pannen-Walks bei Germanys Next Topmodell. Karfreitagsmessen sind aus gutem Grund düster. Die vollkommene Verlassenheit von Gethsemane ist das zentrale Ingredienz des Osterdramas, das alles weitere erst möglich macht. Umso erstaunlicher und überraschender der herzzerreißende musikalische Glücksmoment in einer an Musik normalerweise doch armen Karfreitagsmesse. Zur sogenannten „Kreuzverehrung“, bei der die Gemeinde dem Gekreuzigten kleine Grablichter als Feueropfer darbringt, erklingt eine kleine, simple, kleine Melodie zu den Worten: „Bleibet hier und wachet mit mir. Wachet und betet.“ Das wars schon an Text. Noten gibts auch nur ein paar: Der gesamte erste Satz wird – wie seinerzeit bei Lucy in the Sky with Diamonds – auf ein und demselben Ton gesungen. Die Wirkung dieses auf 20 Minuten angelegten Loops ist kaum zu beschreiben. Sämtliche Verkrustungen des Herzens schmelzen buchstäblich dahin. Noch nie habe ich in einer öffentlichen Veranstaltung, ich wiederhole, noch nie, der Auffor-