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Angst
Was macht Angst?
Flucht oder Angriff
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Jeden Tag sehen wir in den Nachrichten Bilder von Situationen, die uns Angst machen. Corona, Terroranschläge, Krieg, Altersarmut oder unheilbare Krankheiten. Die Palette der Themen ist lang. Angst ist etwas zutiefst Menschliches und eigentlich eine gute Sache, denn sie warnt uns vor Gefahr und hilft uns eine angemessene Lösung für die Situation zu finden.
Aber gerade die Angst treibt sie zu Höchstleis- tungen an.
Und das jeden Tag. Wir schnallen uns im Auto an, halten uns auf einer wackeligen Treppe am Geländer fest oder gehen zu Vorsorgeuntersuchungen zum Arzt. Angst lässt uns vorsichtig sein. Manche Angstzustände, wie zum Beispiel vor Prüfungen oder Lampenfieber vor einem Auftritt vor Publikum, sind bis zu einem bestimmten Grad normal. Viele Künstler werden die Aufregung vor ihrer Darbietung auch nach 40 Bühnenjahren nicht los. Aber gerade dieses Gefühl treibt sie zu Höchstleistungen an. Wenn wir Angst haben, wird der Körper in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Die Nebenniere produziert vermehrt Adrenalin und Noradrenalin, die wiederum innerhalb von Sekunden die Energiebereitstellung des Körpers beschleunigen: Die Herzfrequenz und der Blutdruck steigen, dadurch werden die Muskeln stärker durchblutet, das Gehirn jedoch wird quasi ausgeschaltet bzw. fokussiert sich auf die Bedrohung. Das nennt der Münsteraner Psychologe und Autor Dr. Leon Windscheid „gedankliche Scheuklappen“. In seinem neuen Buch „Besser fühlen – eine Reise zur Gelassenheit“ widmet er ein Kapitel dem elementaren Gefühl „Angst“. Aber bleiben wir in der Situation, in der unser Gehirn Alarm schlägt: Der Körper ist voller Energie, die irgendwohin muss. Aus der Evolutionsgeschichte heraus bleiben uns zwei Möglichkeiten: Flucht oder Angriff. Leon Windscheid fügt diesen Optionen noch die Schockstarre hinzu. Das haben viele von uns vielleicht schon erlebt: Man kann sich vor Angst nicht rühren. Wie der Igel auf der Straße, der sich bei Gefahr einrollt.
Angst ignoriert Fakten
Die Angst ist tief in den Genen verwurzelt. Für unser Gehirn gilt noch immer: Lieber hundert Mal mit dem Schlimmsten rechnen als ein Mal der Gefahr unvorbereitet ins Auge sehen zu müssen. Aber anders als unsere ältesten Vorfahren, die in der afrikanischen Savanne lebten, existieren in unserer Welt keine Raubtiere im ursprünglichen Sinne, denen wir durch Flucht oder Angriff entrinnen oder die wir besiegen könnten. Unser Hirn leistet sich also eine falsche Interpretation, die in der modernen Welt zum Problem werden kann. Dabei sind unserer Angst Daten und Fakten übrigens herzlich egal. Mit Ratio ist der Angst nicht beizukommen.
In einem Interview mit Tommi Schmitt bringt Leon Windscheid das schöne Beispiel, dass die Wahrscheinlichkeit in Deutschland Opfer eines Terroranschlags zu werden, gegen null geht. Dennoch fürchten viele Bundesbürger ein solches Schicksal, obgleich das Risiko, an kardiovaskulären Krankheiten infolge von zu fettem und zuckerhaltigem Essen zu versterben, ungleich höher ist. Trotzdem hat (fast) niemand Angst vor Nutella.
Angeboren? Erlernt?
Seit langer Zeit wird in der Wissenschaft erbittert darüber gestritten, ob der Mensch mit bestimmten Mustern geboren oder ob er durch seime Umwelt geprägt wird. Leon Windscheid berichtet von dem Experiment eines Psychologen mit vier Monate alten Babys. Die Studie zeigt, dass sich bereits in diesem Alter, in dem die Umwelt noch keine allzu große Rolle spielen dürfte, die Angstreaktionen deutlich unterschieden. Als die ehemaligen Babys, die während ihres Erwachsenwerdens wissenschaftlich begleitet wurden, volljährig waren, wurde ein Hirnscan vorgenommen. Hier war auffällig, dass die Amygdala, die für die Entstehung von Angstgefühlen zuständig ist, bei den Probanden, die eher ängstlich reagierten, aktiver war als bei der Gruppe der weniger ängstlichen. Noch wichtiger vielleicht als diese wissenschaftliche Entdeckung war die Erkenntnis von Professor Kagan, dass sich aus einem
Dr. Leon Windscheid Besser fühlen – eine Reise zur Gelassenheit Rowohlt Polaris, 16 €
Leon Windscheid geht den Fragen nach, ob Angst auch eine gute Seite hat, ob es die ewige Liebe gibt, und wofür wir eigentlich Langeweile brauchen? Er zeigt, was gerade so starke Emotionen wie Trauer und Wut besonders wertvoll macht und wie sie uns als Menschen helfen. Dabei verbindet er überraschende wissenschaftliche Erkenntnisse mit Einsichten aus tausenden Jahren Menschheitsgeschichte. Mit vielen Denkanstößen will er neue Wege zu mehr Gelassenheit aufzeigen. tendenziell ängstlichen Baby ein Erwachsener entwickeln kann, der einen konstruktiven und gesunden Umgang mit seinen Ängsten findet. Man ist den Ängsten also nicht hilflos ausgeliefert.
Ein unangenehmer Gast
Zugegeben: Angst gehört in der Palette der Emotionen nicht zu den angenehmen Gefühlen. Leon Windscheid weist darauf hin, dass die Bewertung des Gefühls entscheidend ist. Wenn wir der Meinung sind, dass Angst uns schadet, dann tut sie das auch. Finden wir einen anderen Umgang damit, dann tut sie uns nichts. Die Bewertung beginnt mit dem Benennen. Wer Angst nicht als solche tituliert, sondern Erregung nennt, hat laut einer Studie gute Chancen, die geballte Energie, die der Körper für Flucht oder Angriff bereitstellt, konstruktiv zur Bewältigung von Situationen, z. B. für eine Prüfung, zu nutzen. Manchmal sind Ängste auch eher diffus. Sorgen als Vorstufe der Angst wabern durch den Kopf. So paradox es klingt: Mit dem Sorgen machen halten wir uns die „eigentliche“ Angst vom Leib. Lieber springen wir von einer Sorge zur nächsten als uns der Angst dahinter zu stellen. „So steigt die Angst jedes Mal zunächst an, doch bevor sie den Gipfel erreicht, gehen wir schnell zur nächsten Sorge über, aus Angst vor der Angst“, schreibt Leon Windscheid. Wenn man die beschriebenen extremen Reaktionen des Körpers betrachtet, wird schon sehr schnell klar, dass vdas kein Zustand ist, den man lange durchhalten kann. Deshalb plädiert Windscheid dafür, sich seinen Ängsten zu stellen, sie wie einen Gast willkommen zu heißen – in dem Wissen, dass er auch wieder geht.
BUCHTIPP
Unser Experte
Dr. Leon Windscheid, geboren 1988 in Bergisch Gladbach, hat Psychologie in Münster studiert. Bereits als Schüler gründete er sein erstes Unternehmen. Für seine Doktorarbeit forschte Windscheid gemeinsam mit international angesehenen Psychologen aus der ganzen Welt und veröffentlichte diverse Studien in den USA. Nach Stationen in Frankreich, Spanien und der Türkei lebt der Psychologe und "Wer wird Millionär"-Gewinner mittlerweile als Autor, Podcaster, Entertainer und Gastronom (MS-Günther) in Münster und Berlin.