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thema Zehn Jahre Lucerne Festival Orchestra mit Claudio Abbado
Energiequelle Enthusiasmus Julia Spinola
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thema Werke, getragen von einer besonderen, höchst konzentrierten Atmosphäre im Saal wie auf der Bühne sich mit einer solchen Dringlichkeit ereigneten, als wären sie soeben erst geboren worden -- so direkt und unmittelbar begannen sie zu «sprechen». Das Spiel des Orchesters schien alle bewusste Intention, alle Absicht des «Gemachten» so nachhaltig abzustreifen, als könne Musik ohne das Zutun von Menschen allein aus sich heraus lebendig werden. Claudio Abbado gelingen solche Erfüllungsaugenblicke immer noch wie kaum einem anderen Dirigenten.
Bild: Priska Ketterer
Superlative haben in der Kunst schnell etwas Unglaubwürdiges. Dennoch muss es sein: Wenn ich die Konzerte, die ich mit Claudio Abbado und dem Lucerne Festival Orchestra gehört habe, Revue passieren lasse, scheint mir – zumindest im Glanze der Erinnerung – nicht eines darunter zu sein, das nicht von der besonderen Aura des ganz und gar Ausseralltäglichen getragen worden wäre. Abende mit Mahler, Debussy, Beethoven oder Bruckner, deren Qualitäten über jene bloss grandios gelungener Interpretationen noch hinauszureichen schienen. In denen es geschah, dass die
Claudio Abbado probt mit dem neuen Lucerne Festival Orchestra 2003 für die erste Saison.
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Doch wie kann das sein? Ein Spitzenorchester, das streng genommen ein Gelegenheitsensemble ist, weil es alljährlich nur für ein paar Wochen zusammenkommt? Haben wir nicht gelernt, dass die Qualität eines Klangkörpers erst im Laufe einer langen Tradition wächst? Dass es über Jahre hinweg von seinen Dirigenten geformt werden muss? Ja, dass ihm nur durch Drill und eiserne Disziplin Manieren beizubringen sind, wie es der schreckliche Begriff vom «Orchestererzieher» nahe legt? (Es ist dies übrigens ein sehr deutsches Wort, das mit dem der «Formstrenge» korrespondiert, die ein Brahms einem Debussy vermeintlicher Weise voraushabe.) Gut, kann man einwenden, das mag normalerweise schon gelten. Doch die Mitglieder des Lucerne Festival Orchestra sind eben keine «normalen» Orchestermusiker, sondern handverlesene Spitzenmusiker: berühmte Solisten, erfahrene Pultleiter aus den grossen Symphonieorchestern der Welt, hochkarätige Kammermusiker und renommierte Hochschulprofessoren. Wer hier mitspielen will, kann sich nicht einfach bewerben und um einen Vorspieltermin bitten. Hier muss man schon jemand sein, um auserwählt und vom Chef selber ernannt zu werden. Ein Mysterium aber bleiben die Qualitäten, die dieses Orchester zu etwas Besonderem machen, dennoch. Denn es ist, neben dem vorausgesetzten hohen spieltechnischen Niveau, ja gerade der Eindruck, alles entstünde aus einem Atem, die einem gelungenen Konzert jenes Surplus verleihen, das Musik wie Zauberei erscheinen lassen kann. Eigenschaften, wie sie ein gelegentliches Zusammentreffen von Spitzenmusikern noch lange nicht garantiert: die fabelhafte Homogenität des Klangs etwa noch in den extremsten dynamischen Lagen, wie das Orchester sie zum Beispiel am Beginn des «Lohengrin»-Vorspiels unter Beweis stellte. Wagners Utopie, mit dieser Musik das Licht einzufangen, um es für Augenblicke zur tönenden Verheissung des gleissenden Grals zu bündeln, wurde hier Wirklichkeit. Oder die Selbstverständlichkeit, mit der eine musikalische Phrase in einer MahlerSymphonie bruchlos durch die verschiedenen Instrumentengruppen wandern kann, als spräche das Orchester mit einer einzigen Stimme. Man kann es drehen, wie man will: Das Geheimnis des Lucerne Festival Orchestra lässt sich von jenem seines Gründers und Chefdirigenten nicht trennen. Auf welche Weise es Abbado gelingt, am Abend den Funken überspringen zu lassen, das gehört zu den spannendsten Fragen einer nonverbalen Kommunikation zwischen Musikern und Dirigent.
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thema Seine geschmeidige Schlagtechnik, die geradezu tänzerisch den musikalischen Fluss modelliert, ist nur ein Moment innerhalb dieser Kommunikation. Das auswendige Dirigieren ermöglicht ihm einen unbeschränkten Augenkontakt mit dem Orchester. Sein Gesichtsausdruck zeugt dann von einer hochsensiblen Offenheit der Wahrnehmung. Jedes musikalische Ereignis, noch die kleinsten Nuancen teilen sich über die Suggestionen seines Blickes mit. Alles, vor allem auch die Energiequelle jenes ungeheuren Enthusiasmus, der im Lucerne Festival Or-
chestra noch an den hintersten Pulten spürbar ist, läuft in der rätselhaften Ausstrahlungskraft dieses zarten und selbst mit achtzig Jahren noch jungenhaft wirkenden Mannes am Pult zusammen. Diesem Maestro, der keiner sein will, der sich von seinen Musikern nur mit Vornamen anreden lässt, der auch in seinen berühmt wortkargen Proben scheinbar nichts nehmen, nichts besitzen will, sondern seine ganze Energie darauf richtet, die Welt mit Musik zu beschenken. Dieser «Flow», die «Magie, dass Claudio in der Lage ist, Dinge im
Moment der Aufführung zu verändern», wie der Solobassist Alois Posch es einmal ausdrückte, das ist es, was Musiker bei Abbado suchen – und was sie im Lucerne Festival Orchestra mit ihm zu finden scheinen. Und eben diese Glücksmomente, in denen ein musikalisches Werk im Konzert lebendig wird, als wäre es noch nie zuvor erklungen, sind es, die in Luzern Dirigent, Musiker und Zuhörer immer wieder auf einzigartige Weise verbinden. Julia Spinola ist Musikkriterin der F. A. Z.
Begegnungen mit dem Dirigenten Claudio Abbado
Auguri, Claudio Abbado! Bild: Lucerne Festival/Peter Fischli
Der Journalist Mario Gerteis erlebt Claudio Abbado seit seinem Debüt 1966 bei den damaligen Internationalen Musikfestwochen Luzern. Und führte mit ihm auch mehrere Gespräche. Zu Claudio Abbados 80. Geburtstag diesen Sommer blenden wir zurück. Mario Gerteis
Kein Zweifel, Claudio Abbado ist eine prägende Figur des Lucerne Festival in den letzten zehn Jahren. Konnte er hier seinen lang gehegten Traum verwirklichen, den Traum von einer verschworenen Gemeinschaft auf musikalischem Feld? Realisiert mit dem Lucerne Festival Orchestra, in welchem er Freunde und Vertraute versammelt. (Etwas Ähnliches im Bereich des Kammerorchesters realisierte er mit dem Orchestra Mozart in Bologna.) Der Maestro durfte einer Vision nachleben, wie er sie mir einige Jahre zuvor im Gespräch skizziert hatte: «Um mit andern Menschen Musik zu machen, muss man schon die Liebe zur Musik miteinander teilen. Nur gemeinsam kann man vorwärtskommen.»
Der Aufsteiger
1966 habe ich Claudio Abbado zum ersten Mal im Konzertsaal erlebt, und es war auch sein Debüt bei den Inter-
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Claudio Abbado, seit bald 50 Jahren dem Lucerne Festival verbunden.
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thema nationalen Musikfestwochen Luzern. Er zählte 33 Jahre, hatte zwei Dirigentenwettbewerbe gewonnen, war vielerorts gefragt, aber hatte noch keine festen Bindungen akzeptiert. (Diese sollten wenige Jahre später mit den Wiener Philharmonikern und vor allem in der Scala seiner Geburtsstadt Mailand kommen.) Ein temperamentvoller Aufsteiger eben, auf dem manche Hoffnungen lagen. Das Foto im damaligen Programmheft zeigt ein offenes Jungengesicht mit fragendem Blick. Abbado leitete das Schweizerische Festspielorchester in Werken von Hindemith, Sibelius (Solist in dessen Violinkonzert war Zino Francescatti) sowie Mendelssohns Italienische Sinfonie. 1968 kam er erneut, diesmal mit dem New Philharmonia Orchestra London, und ich sollte das Pausengespräch für das Schweizer Radio führen. Wir trafen uns zum Mittagessen im «Wilden Mann». Wir plauderten unbefangen über Gott und die Welt und vor allem über alle denkbaren musikalischen Themen – meist auf Italienisch oder Englisch. Das Radiointerview freilich sollte in deutscher Sprache erfolgen. Ich ging nach dem Dessert mit Abbado ins Nebenzimmer, stellte mein Aufnahmegerät auf und begann mit der ersten Frage. Abbado blieb stumm, starrte betreten aufs Mikrofon und brachte keinen Ton heraus. Er war fast so erstarrt wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Ich sagte, wir hätten doch zuvor über das und jenes gesprochen, er solle seine Aus-
nere mich besonders an seinen beherzten Einsatz für Mussorgsky: «Boris Godunow» sah und hörte ich zweimal, an der Scala und bei den Salzburger Osterfestspielen, dann «Chowanschtschina» in Wien. Nicht zu vergessen die spätere Grosstat mit Janáceks letzter Oper «Aus einem Totenhaus» bei den Salzburger Festspielen.
Der Neugierige
Auch später ist Claudio Abbado, wenn zwar nicht alljährlich, so doch regelmässig und mit verschiedenen Orchestern ans Luzerner Festival zurückgekehrt. Seine Hauptaufgabe jedoch war und blieb zunächst die Oper. Auch hier durfte ich ihn öfters erleben – aufgefallen ist mir, neben der Liebe selbstverständlich zum südländischen Musiktheater, die Neugier auf dankbare Nebenwege. Nicht zuletzt in slawischen Gefilden – ich erin-
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liedern von Arnold Schönberg. Claudio Abbado war sehr glücklich. Und ich hoffte auf ein glückliches Gespräch. Ein Zufall kam mir zu Hilfe. Abbado besass damals ein Haus im Engadin, im Fextal oberhalb von Sils-Maria. «Bitte schreiben Sie nicht wo! Es gibt kein Telefon! Dorthin kann ich mich zurückziehen, Partituren studieren, einschlägige
«Die Liebe zur Musik miteinander teilen» Inzwischen, das war 1986, hatte Abbado an der Wiener Staatsoper einen neuen Ankerplatz gefunden; Claus Helmut Drese, der ehemalige Intendant des Zürcher Opernhauses, hatte ihn dorthin geholt. Aus dieser Phase bleibt mir vor allem eine Pioniertat im Gedächtnis – die Rückgewinnung des arg unterschätzten Dramatikers Schubert für die Opernbühne. Das geschah mit «Fierrabras» im Theater an der Wien. Mit einer hochkarätigen Besetzung, assistiert vom Chamber Orchestra of Europe und in der wagemutigen Inszenierung von Ruth Berghaus. Abbado zeigte übrigens, im Gegensatz zu manch andern italienischen Maestri, keine Scheu vor der Zusammenarbeit mit eigenwilligen Inszenierungsteams.
«Dieser Konzertsaal muss gebaut werden.» sagen einfach wiederholen. Mit Ach und Krach geschah das dann auch, und mit viel Mühe brachte ich die zehn bis zwölf Minuten zusammen, die verlangt waren. Übrigens: Das Programm bestand aus Bergs Drei Orchesterstücken sowie Vorspiel und Liebestod aus Wagners «Tristan und Isolde»; vor der Pause spielte Daniel Barenboim das 1. Klavierkonzert von Brahms.
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Der Gipfelstürmer
Mein längstes und ausführlichstes Gespräch kam wenige Jahre später. Inzwischen war Abbado (in geheimer Abstimmung der Musiker und gegen hochkarätige Konkurrenz) zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker als Nachfolger des verstorbenen Herbert von Karajan berufen worden. Aus Luzern hatte er den Festwochen-Direktor Ulrich Meyer-Schoellkopf geholt und zum Intendanten des Orchesters bestimmt. Die Berliner Anfänge waren freilich ein bisschen konfus; die nicht zuletzt wegen ihrer vortrefflichen Akustik gerühmte Philharmonie war renovationsbedürftig geworden und musste für anderthalb Jahre geschlossen werden – die Aushilfsquartiere waren wenig befriedigend. Ende April 1992 konnte die Wiedereröffnung des Scharoun-Baus gefeiert werden – mit einer entsprechend klangmächtigen Monumentalschöpfung, den Gurre-
Literatur lesen. Und mich natürlich auch körperlich betätigen, das heisst die Berge in der Umgebung erwandern.» Welch höhere Fügung – Abbado hatte kürzlich den Piz Palü bestiegen, ich ebenfalls: Wir fachsimpelten über Gletscherspalten, Schneewechten und den schmalen Gipfelgrat. Kurzum, der Bann war gebrochen, der Maestro wurde redefreudig. Er berichtete zum Beispiel, wie er zu seinem Beruf gekommen war: «Ich zählte etwa sieben Jahre, als ein alter Kapellmeister in der Scala Debussy ‹Fêtes› aus den Nocturnes dirigierte. Ich erinnere mich ganz genau, wie ich den kleinen Mann von der Galerie im sechsten Stock aus diese magischen Klänge beschwören hörte. Von diesem Moment an beschloss ich, diese Musik eines Tages selber zu dirigieren.» Doch es gibt auch andere, schmerzlichere Jugendreminiszenzen, vor allem an die Jahre des Zweiten Weltkrieges: «Ich sah, wie Partisanen in unserer Strasse erschossen wurden. Das alles hatten Mussolini und der Faschismus angestellt. Ich hoffe, dass sich so etwas nie mehr wiederholen wird.» Eine musikalische Erinnerung aus jener Zeit, faszinierend und zwiespältig zugleich. Der junge Claudio verfolgte in Mailand eine Konzertprobe des nach dem Zweiten Weltkrieg vorübergehend zurückgekehrten Arturo Toscanini: «Ein grosser Dirigent, eine grosse Persönlichkeit. Aber jemanden so schreien zu hören, die Musiker ohne jeden Grund zu beleidigen, wenn man dasselbe auch auf andere Art erreichen kann – ich glaube, das ist viel besser.» Am Schluss gab mir Claudio Abbado, und das war ihm offenbar so etwas wie ein Herzensanliegen, einen besonderen Wunsch in die Zentralschweiz mit. Die Diskussionen über einen neuen Konzertsaal in Luzern waren gerade entflammt, Abbado zeigte sich als sein entschlossenster Vorkämpfer. Und als zukunftsweisender Prophet: «Dieser Konzertsaal muss gebaut werden. Sonst sehe ich für die Zukunft des Luzerner Festivals schwarz.» n
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