artists Mit der Scala ist es nun (vorerst) vorbei. Keine Frage, dass durch den Wechsel von Alexander Pereira von Salzburg an die Mailänder Scala die dortige Ära von Daniel Barenboim beendet sein dürfte. Das war so sicher nicht. Wäre einer der beiden anderen heissen Favoriten gewählt worden (Sergio Escobar vom Mailänder Piccolo Teatro oder Cristiano Chiarot vom La Fenice), sie hätten sich vielleicht der Dienste eines der berühmtesten Dirigenten der Welt gern versichert. Pereira nicht. Für ihn ist Barenboim längst ein zu eigensinniger und zu mächtiger Pult-Veteran, als dass man harmonieren könnte. Wir erleben die erste musikpolitische Machteinbusse Barenboims seit Jahrzehnten. Im Grunde passt kein anderer Dirigent so gut zum Thema «Revolution» des Lucerne Festival wie der heute 70-jährige Barenboim. Denn noch nie gab es einen so politischen Dirigenten wie ihn. Er hatte es wohl von seinem Vater gelernt. Einem Klavierlehrer, der mutig genug war, Wilhelm Furtwänglers Einladung an den Sohn, Anfang der 50er-Jahre in Berlin aufzutreten, mit der Begründung abzulehnen, dies sei vielleicht doch etwas früh, ein jüdisches Kind, wenige Jahre nach dem Krieg. Die Barenboims, lernen wir, waren schon damals politisch klüger als Furtwängler, der hier wohl eher unverbesserlich naiv (und nicht politisch weitblickend) an das Thema herangegangen war. Daniel Barenboim dürfte der einzige Dirigent auf der Welt sein, von welchem man zum Nahostkonflikt einen stets aktuellen, klugen und pointierten
Kommentar erhalten kann. Ausserdem ehrlich. Seiner Frau Elena Bashkirova, als diese ihn fragte, ob sie in Jerusalem ein Kammermusik-Festival starten solle oder nicht, riet er ab. Und ist offen genug, dies nachträglich zuzugeben; obwohl sich das Festival seither zu einem Exportschlager, sogar nach Berlin, ausgebreitet hat. Seine Frau folgte dem Rat des Erfahreneren nicht.
sondern immer die Bildung. Zwar weiss er, dass dort, wo die Bildungswege verkürzt oder sogar abgeschnitten werden, ein Zugang zur klassischen Musik unmöglich wird. Doch er anerkennt gleichfalls, dass er allein diesen Missstand der Wohlstandsverwahrlosung in der westlichen Welt nicht ändern kann. Also wurde er selber praktisch. Als Initiator einer eigenen Stiftung gründete er einen Mu-
«Wir sagen den Musikern nicht, was sie zu denken haben.» Triebkraft seines politischen Denkens als Musiker blieb immer die Gewissheit, dass Musik gerade nicht politisch ist. «Wenn man am Ende eines Tages total erledigt nach Hause kommt, die Beine auf den Tisch legt und eine CD mit einem Nocturne von Chopin in den CD-Player einlegt, hat man den ganzen Ärger in drei Minuten vergessen», so Barenboim. Eine Auffassung, die der unpolitischsten Lebenseinstellung von allen entlehnt sein könnte: dem Ästhetizismus. Doch dekadent war Barenboim nie. Weil die politische Insellage, die er der Musik zumass, für alle Nationen gleichermassen gilt. «Wer war der grösste deutsche Pia nist?», fragt Daniel Barenboim. Und gibt die Antwort gleich selber: «Claudio Arrau. Er war Chilene.» Den Ausschlag, so Barenboim, gebe nie der Geburtsort,
Daniel Barenboim nennt das West-Eastern Divan Orchestra «das wichtigste Werk» seines Lebens.
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sikkindergarten in Berlin. Und 1999 das West-Eastern Divan Orchestra, jene Institution, die Barenboim «das wichtigste Werk» seines Lebens nennt. «In meiner kleinen Welt, dem WestEastern Divan Orchestra, kann ich einen Gegenentwurf formen», so Barenboim. «Wir sagen den Musikern nicht, was sie zu denken haben. Gemeinsam ist uns nur, dass wir nicht an eine militärische Lösung des Konflikts glauben.» Viele Musiker des Orchesters hätten mit den Jahren gelernt, die Legitimität der Erzählungen der andern anzuerkennen. «Ohne damit einverstanden sein zu müssen! Das ist es, worauf es ankommt.» Besonnen hat Barenboim auch darauf hingewiesen, dass das West-Eastern Divan Orchestra trotz des Friedensvorbilds, welches es abgeben mag, in Wirklichkeit ein weniger grosses Völkergemisch darstellt als viele andere Orchester auf der Welt. «Bei den Berliner Philharmonikern gibt es viel mehr Nationalitäten als bei uns. Dort sind es 25. Bei uns gibt es nur Israelis, Palästinenser, Syrer, Libanesen, Ägypter, Jordanier, Türken und Spanier. Also acht! Das ist ein Drittel im Vergleich zu den Berliner Philharmonikern.» Die Friedensvorbildbilanz und das Mischungsverhältnis mag in vielen Unternehmen dieser Welt ähnlich günstig aussehen. Die Praxis ist der politischen Ideologie voraus. Auch dies bewusst zu machen, hilft ein Orchester wie das von Barenboim. Gewiss war das politische Engagement dieses Musikers stets Ausdruck und Spiegel einer äusserst agilen, biografischen Migration. Aufgewachsen in Buenos Aires, lernte er in sehr behüteten Verhältnissen Klavier – zuerst bei der Mutter, dann beim Vater. Als die Eltern 1952 nach Palästina zogen, lag sein öffentliches Konzertdebüt bereits vier Jahre zurück. Sofort wurden weitere Kreise gezogen. In Salzburg lernte Barenboim
17.07.13 13:42