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Daniel Barenboim: «In meiner kleinen Welt, dem West-Eastern Divan Orchestra, kann ich einen Gegenentwurf formen.» 1954 sein späteres Idol Wilhelm Furtwängler kennen. «Der elfjährige Daniel Barenboim ist ein Phänomen», schrieb der inzwischen alte Mann. In Salzburg auch war es der Dirigent Igor Markewitsch, der dem Elfjährigen (!) den Rat gab, sich als Dirigent ausbilden zu lassen. In die Lehre ging er danach bei George Szell in Cleveland. Erste Engagements verschaffte ihm John Barbirolli in Grossbritannien. Zu diesem Zeitpunkt lagen Solo-Debüts als Pianist in Paris (1955), London (1956) und New York gleichfalls hinter ihm. Der Grund von Barenboims Kosmopolitismus besteht in geografischer

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Überforderung. Aber auch in kreativer. Lachend hat Barenboim später von seinem Debüt unter dem gestrengen, von ihm bewunderten Leopold Stokowski 1957 in New York erzählt. «Gütig und warmherzig fragte er mich, was ich spielen wolle. Ich gab ihm das BeethovenKonzert an, das ich gerade eingeübt hatte», so Barenboim. «Wunderbar!», antwortete Stokowski, «dann spielst du Prokofieffs Erstes.» So geschah es. Aus der harten Schule, die Barenboim zu dem machte, was er ist, sprechen Verhältnisse autokratischer Klassik-Vergangenheit, über die sich selbst Barenboim heute nur amüsiert. «Als wir 1967 in London die fünf BeethovenKonzerte samt Chorfantasie unter Otto Klemperer aufnahmen» – eine Referenzaufnahme bis heute – «taten wir dies ohne jede Probe. Wenn man das heute täte, würde man als vollständig unseriös gelten.» Die Überforderung scheint sich weder auf das Ergebnis der Aufnahme noch auf den Fortgang der Karriere ihres Solisten nachteilig ausgewirkt zu haben. Noch eine weitere Eigenschaft dürfte den politischen Weitblick – und die politische Geduld – Barenboims geprägt haben. Er war kein Übelnehmer. Noch in den 80er-Jahren verzieh er es dem Orchester der Deutschen Oper Berlin nicht, dass man ihn dort als potenziellen Chef verschmähte. Als er 1989 auch bei den Berliner Philharmonikern (als heisser Favorit um die Nachfolge Karajans) abblitzte – gewählt wurde Claudio Abbado –, liess er sich nichts mehr anmerken. 1992 schliesslich, als ihn die Berliner Staatskapelle köderte, biss er so nachhaltig an, dass sein Vertrag entfristet wurde und er die Basis einer lebenslangen Unentbehrlichkeit in Berlin legen konnte. Sie dauert bis heute. Die Politik, mit anderen Worten, war schon immer da im Leben des Daniel B. Die Macht kam viel später. Dass Barenboim mehr ehemalige Adepten in Chefpositionen untergebracht hat als jeder andere Dirigent (z. B. Antonio Pappano, Philippe Jordan, Gustavo Dudamel, Omer Meir Wellber, Simone Young und Dan Ettinger), spricht für ein konti­ nuierlich ausgebautes, strategisches Bewusstsein und Geschick als politisch denkender Musiker. Klingt Barenboim politisch? Gewiss doch. Er ist der einzige Dirigent von Weltrang, der den sogenannten «deutschen Orchesterklang» pflegte, wiederbelebte und wieder salonfähig machte. Weil dieser dunkle, schwere, spätromantisch umflorte Klang für ihn eben deswegen nicht korrumpiert sein konnte, weil Klang selber niemals politisch ist. Auch mit der Musik des erklärten Anti-

semiten Wagner, seit Langem ein Zen­ trum von Barenboims Repertoire, hatte er deswegen nie auch nur die geringsten Berührungsängste oder Schwierigkeiten. Versteht sich, dass auch Barenboims Interesse für Neue Musik immer mehr politische Züge annimmt. Das Auftragswerk des 1972 geborenen Saed Haddad, das beim diesjährigen Lucerne Festival uraufgeführt wird, gilt einem Musiker, der hörbar mit der Region verbunden ist, welcher Barenboims grösstes Engagement gilt. Für die israelische Komponistin Chaya Chernowin (*1957), ausgebildet in Deutschland, gilt ähnlich Konsequentes. Die einzige, mit den Jahren eingetretene Änderung mag darin bestehen, dass Barenboims Politik inzwischen immer familiärere Züge annimmt. Als Solist neben dem jordanischen Pianisten Karim Said fungiert im zweiten Konzert Barenboims in Luzern sein zweiter Sohn, Michael Barenboim. Ursprünglich nur erster Geiger im WestEastern Divan Orchestra, betreibt er neuerdings eine eigene Solo-Karriere. Bedenkt man zudem den ersten gemeinsamen Auftritt Barenboims mit seiner Frau Elena Bashkirova in Berlin in diesem Jahr (beide spielten Klavier), so ist eine gewisse Entgrenzungs- und «Entspannungs»-Politik auch in familiärer Hinsicht unübersehbar. Wo immer heute irgendein politisch motivierter Musiker-Preis zu vergeben ist, steht Barenboim ganz oben auf der entsprechenden Liste. Seit Jahren ist er der einzige Musiker, der in die Nähe des Friedensnobelpreises kam. Am 1. Ja­nuar 2014 dirigiert Barenboim erneut das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker – das medienträchtigste KlassikEvent der Welt. Aber erst zum zweiten Mal! Er war eben doch ein zwar früh Politisierter, aber erst spät mit den höchsten Weihen dekorierter Künstler. Dem politischen Bewusstsein Barenboims nimmt es nichts von seiner Inte­ grität, wenn man feststellt, dass dieser Musiker trotz grösster Erfolge gewiss auch eine Rechnung mit sich offen hatte. Wir werden noch von ihm hören. ■ West-Eastern Divan Orchestra, Daniel Barenboim, Leitung Werke von Verdi, Sead Haddad, Wagner, Chaya Czernowin 18. August 2013, 18.30 Uhr, KKL Konzertsaal Werke von Wagner, Berg, Beethoven Karim Said (Klavier) 19. August 2013, 19.30 Uhr, KKL Konzertsaal

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