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Revolution Kammermusik: Das JACK Quartet ist «quartet-in-residence» beim Lucerne Festival

Die Ohrenöffner

Luzern ist ein wichtiger Ort für das amerikanische JACK Quartet: Am Lucerne Festival erlebte das Streichquartett, das sich ganz der Pflege der Neuen Musik widmet,

Die JACKs sichern dem Streichquartett seine revolutionäre Offenheit, als Inspirationsquelle des Neuen.

nicht nur seinen internationalen Durchbruch, sondern auch seine eigentliche Geburt. Marco Frei (Text) und Priska Ketterer (Bilder)

Häufig nennen sich Streichquartette nach Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur – nach berühmten und bedeutenden Komponisten etwa oder Malern, Schriftstellern und Philosophen. Damit möchten die Formationen nicht selten auch eine bestimmte Geisteshaltung und Ästhetik unterstreichen, denen sie sich verpflichtet fühlen. Oder aber sie

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nennen sich nach sich selber, so wie im Grunde auch das JACK Quartet. Ihr Ensemblename scheint denkbar banal, zumal im angloamerikanischen Sprachraum. Indessen setzt sich der Name aus den Anfangsbuchstaben der Vornamen der vier Musiker zusammen. John Pickford Richards streicht die Bratsche und Ari Streisfeld die zweite

Vio­ line. Der Primarius heisst Christopher Otto, und Kevin McFarland schliesslich sitzt am Cello. Dabei hätten sich die vier Musiker aus den USA auch «Lachenmann Quartet» nennen können, jedenfalls haben sie dem bedeutenden deutschen Komponisten und Schüler Luigi Nonos wichtige Impulse zu verdanken – und zwar bevor sie sich in-

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Ari Streisfeld und Christopher Otto ( Violine), John Pickford Richards ( Viola) und Kevin McFarland ( Violoncello) – als JACK Quartet mit forschem Schritt in die musikalische Zukunft. ternational etablieren konnten und zudem mit György Kurtág oder Wolfgang Rihm arbeiteten. Ja, heute ist das Ensemble, das sich auch von den Quartetten Arditti und Kronos inspirieren liess, auf allen grossen Festivals zu Hause, die das Neue konsequent pflegen. Nicht nur in Luzern sind sie vertreten, wohin sie nicht zuletzt von Maurizio Pollini eingeladen wurden, sondern ebenso in Donaueschingen, Darmstadt, beim Ultraschall Festival, den Wittener Tagen für neue Kammermusik oder der Biennale in Venedig. Auch bei der ersten Biennale «cresc…» für Neue Musik in Frankfurt waren sie 2011 dabei, und ihre Diskografie wächst stetig. Iannis Xenakis, John Cage, György Ligeti und Matthias Pintscher liegen bereits auf CD vor. Dabei sind die vier JACK-Musiker in die Szene der zeitgenössischen Musik im Grunde eher hineingeschliddert, geplant war diese Laufbahn nicht wirklich. Rückblick auf das Jahr 2004: Unabhängig voneinander studieren die vier Musiker an der Eastman School of Music in Rochester im US-Bundesstaat New York. Bei unterschiedlichen Gelegenheiten und in verschiedenen Formationen wird gemeinsam musiziert. Man lernt sich kennen und schätzen, die Gründung scheint perfekt. Und keine Frage, sie hatten auch viel Glück. Zwar wurde und wird nämlich an der Eastman School of Music in Rochester das zeitgenössische Repertoire gerne gepflegt und gefördert; als aber die vier späteren JACKs dort studierten, gab es besonders viele Lehrer, die zum Zeitgenössischen tendierten und sich für das Neue einsetzten.

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Um bei einem Festival für neue Musik in Mexiko vertreten zu sein, werden nun die vier Musiker in Rochester zusammengebracht – als studentische Repräsentanten der Eastman School of Music sozusagen. Zu diesem Anlass studieren sie das Dritte Streichquartett «Grido» von 2001 von Helmut Lachenmann ein, weil dieser zu jenem Zeitpunkt als «Artist in Residence» beim Festival in Mexiko wirkt. Prompt ergreift das Quartett in Mexiko die Chance, mit dem Komponisten persönlich an dessen Drittem Streichquartett zu werkeln und zu feilen. Obwohl sie für die Einstudierung des Werks nicht viel Zeit hatten, überzeugt das Ergebnis Lachenmann so sehr, dass er die vier Musiker 2005 in die Schweiz einlädt – zur Lucerne Festival Academy, wo Lachenmann in jenem Jahr als Komponist im Mittelpunkt steht. Zu diesem Anlass wird ein Ensemblename nötig: Das JACK Quartet erblickt nun endgültig das Licht der Musikwelt. Lachenmann und das Lucerne Festival waren gleichermassen der Ansporn, um eine gemeinsame Zukunft als festes Ensemble anzupacken. In Luzern wurde seinerzeit zwei Wochen lang mit Lachenmann gearbeitet, drei bis vier Stunden täglich. Auf dem Probenplan stand indes nicht nur Lachenmanns «Grido», das Dritte Streichquartett also, sondern zugleich «Tetras» von Iannis Xenakis: Dieses Werk hatten die JACKs mit Pierre Boulez und dem Ensemble Intercontemporain erarbeitet. Auch in diesem Jahr steht diese packende, überaus körperli-

che und ausdrucksstarke Glissando-Studie des 2001 verstorbenen griechischfranzösischen Grossmeisters der Neuen Musik auf dem Programm, wenn das JACK Quartet Ende August im Rahmen des Lucerne Festival gastiert. Und natürlich darf auch ihr Mentor und Geburtshelfer Lachenmann nicht fehlen. Von ihm erklingt «Gran Torso – Musik für Streichquartett», das zwischen 1971 und 1988 entstanden ist. Das Werk markierte einen schöpferischen Wendepunkt im Schaffen Lachenmanns, denn erstmals wird hier eine Art «musique concrète instrumentale» verlebendigt, die den Klang an sich als energetische, mechanische Aktion ergründet – vielfach ins Geräuschhafte übergehend, den Klang als Ereignis geradezu körperlich erfahrbar machend. Von Lachenmanns grossem Lehrmeister Luigi Nono kommt hingegen das epochale Streichquartett «Fragmente – Stille. An Diotima» von 1979/1980 zu Gehör. Äusserste Reduktion des Materials bis hin zur Stille begründet das Kraftzentrum einer Hölderlin-Reflexion, die die Wahrnehmung als solche und das Bewusstsein schärft. Sonst aber spannen die Programme den Bogen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, von Guillaume Dufay über Beethovens op. 131 und Anton Webern bis hin zu Georg Friedrich Haas und Chaya Czernowin. Im Rahmen der Lucerne Festival Academy erarbeiten sie zudem mit Studenten die Uraufführung des Streichquartetts Nr. 4 von Horatiu Radulescu aus Rumänien in einer Version für neun Streichquartette – ein Raumklang-Experiment, das ein besonderes Hörereignis zu werden verspricht. Denn die Gattung Streichquartett war schon immer Quell des Neuen, was das JACK Quartet hörbar macht. Diese Musiker öffnen fürwahr Ohren. n

Revolution Kammermusik Das JACK Quartet am Lucerne Festival 2013 23. August 2013 Werke von Lachenmann, Haas, Rodericus, Xenakis, Dufay 24. August Werke von Chaya Czernowin 24. August Werke von Schweinitz, Webern, Nono 26. August JACK Quartet goes Renaissance 1. September Radulescu

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Raumklang-Experiment, das ein besonderes Hรถrereignis zu werden verspricht. Denn die Gattung Streichquartett war schon immer Quell des Neuen, was das JACK Quartet hรถrbar macht.

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