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kolumne

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Der Biss in den Apfel … Gratis ins Konzert – oder so ähnlich. Wie verhalte ich mich dazu am besten? Zu einem neuen Format am Lucerne Festival

Ein Freund hatte mir einen Link geschickt für ein Online-Video. Eine alte Aufnahme mit Otto Klemperer, eine neue mit Ian Bostridge. Gesang, Orchester, Klavier. Mit bewegtem Bild oder von Fotos begleitet. Ich höre mir das an zum Frühstück. Kaffee und Milch sind bezahlt, die Online-Videos nicht. Sie sind gratis. Wie später auch die Mini-Zeitung, die ich im Bus lese. Die Schokolade, die ich vor dem Supermarkt in die Hände gedrückt bekomme, der Gutschein, der am Kinoeintritt abends mit dranhängt. Gratis, gratis, gratis. Und natürlich überhaupt nicht gratis. Die Videos sind mit Werbung gepflastert, ebenso ist es die Pendlerzeitung. Die Schokolade will mich ins Geschäft locken. Und den Gutschein, den habe ich mit meinem Kinoeintritt natürlich auch mitbezahlt. Ob ich ihn einlöse oder nicht. Diese Angebote locken mich wie bunte Vögel, doch sind sie angekettet, an den Markt gebunden. Es sind Scheinangebote. Auf die ich reflexartig reagiere. Etwas besitzen zu können, ohne Aufwand dafür zu betreiben, das klingt geradezu paradiesisch. Und hat, wie es die Geschichte mit dem Apfel damals zeigte, enorme Folgen. Gratiskultur. Reiten wir auf dem geschenkten Gaul in den Rachen des Verderbens? Oder in eine neue Freiheit? Lassen wir mal Schokolade und Gratiszeitung weg, zerreissen den Bon für Popcorn im Kino und konzentrieren uns auf die Kultur. Auf Musik, die kostenlos zu uns will. Im Netz kein Problem. Einmal hochgeladen, auf immer geteilt. «Shared», wie meine digitalnative Nichte sagen würde, deren Playlists auf dem Handy zum Grossteil gratis zusammenklamüsert sind. Werbebanner oder gar Unterbrechungen inklusive. Was für Popmusik selbstverständlich ist, gilt ähnlich auch für die Klassik. Die neue «Norma»-Aufnahme mit Cecilia Bartoli – ein paar Klicks und die CD ist im Netz gefunden.

Für die anderen ist die Verbreitung der Kunst über das Internet willkommene (Eigen-) Werbung. Ich höre beim Gratisvideo also gar kein eigentlich zum Hören bestimmtes Produkt, sondern eine klingende Werbung. Und soll oder kann danach ins Konzert gehen. Unter klangästhetischen Ansprüchen mag das richtig sein; das Erlebnis eines Konzerts allerdings ersetzen Bildschirm und Lautsprecher in keinem Fall. In eine ähnliche Richtung schreitet das Lucerne Festival, das nun sogar Live-Konzerte gratis anbietet, als Mischung zwischen Einführung und Konzert, mit denselben Künstlern, die jeweils am Abend sodann im «eigentlichen» Konzert auftreten. Für diese Novität argumentiert Intendant Michael Haefliger so: Die Gratiskonzerte seien «eine Inspirationsquelle für das ganze Format. Die Idee ist, dass es vom ganzen Setting her entspannter ist. Es gibt keinen Dresscode. Es geht darum, dass man auf eine ganz entspannte und lockere Art diese Inhalte erleben kann». Hemmschwelle Konzert: Runter damit! Nur wo ist sie denn zu suchen, diese Hemmschwelle? Wirklich

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Mit seinem Schnupperabo liegt das Lucerne Festival jedenfalls im Trend. Darin, sich den Hörern und den Konsumenten anzutragen wie die Schokolade vor dem Supermarkt. Nein, an sich ist das nichts Schlechtes, und es mögen auch möglichst viele anbeissen. Und doch haftet dem Angebot ein Beigeschmack an. Erstens derjenige von Werbung – legitim für einen Veranstalter. Nur hat das mit der Freiheit, die im Grundgedanken hinter dem Gratisangebot steckt, wenig zu tun. Mit der Freiheit des Geschenks also, das sowohl den Gebenden wie auch den Nehmenden in Freiwilligkeit verbindet. Klar: Im Musikbetrieb ist das unmöglich. Der Künstler will schliesslich bezahlt werden. Nun soll er mit dem eintrittsfreien Werbekonzert auch für volle Säle sorgen. Zur Werbung, und eigentlich typisch für sie, gesellt sich zweitens die Zerstückelung. Hier ein Häppchen, dort eine Portion, da ein Videoclip mit einem Musikausschnitt. Da sind wir bei einer Häppchenkultur angelangt, in der sich die reale Welt der Online-Welt angleicht. Ist das unvermeidbar? Als Hörer habe ich da eine Entscheidung zu treffen. Und zwar gegen das verführerisch Leichte, mir kostenlos wie die gebratene Taube Zuschwebende. Ob gratis oder nicht – ich will im Konzert nicht ans Geld denken, sondern mich auf den Inhalt konzentrieren, auf künstlerische Qualität. Das ist meine Arbeit. Wofür ich lieber im Konzertsaal sitze als vor dem Laptop. Wofür ich lieber lange sitze als nur vierzig Minuten. Und wofür ich auch Zeit brauche. Zeit, das ist meine Investition. Zeit, die mir die Gratiszeitung und -schokolade und das ganze weitere kostenlose Geflimmer und Getute wegnehmen. Doch unendlich Zeit hatten nur unsere Vorfahren im Paradies. Zumindest so lange, bis einer von ihnen in den Gratisapfel biss.

Benjamin Herzog

Bild: Priska Ketterer

Für die einen ist das Piraterie. Den Künstlern entgehen so Einnahmen aus den CD-Verkäufen – so gering die auch sind. Ein anderes Argument hatte der Pianist Krystian Zimerman parat, als er kürzlich ein Konzert wegen eines Handy-Filmers abbrach. Ihm seien schon viele Plattenprojekte mit der Begründung verloren gegangen, die geplante Einspielung sei schon auf Youtube zu finden. Nein, zum Piraten-Hörer will ich nicht werden!

im Dresscode? Oder eher darin, dass es für eine ganze Generation heute sonderbar anmutet, für Musik zu bezahlen? Oder noch wo anders?

Für alle zugänglich, die Übertragung des Eröffnungskonzerts 2011 mit dem Lucerne Festival Orchestra aufs «Inseli».

17.07.13 15:17


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