SPE C IA L E D IT I O N ST.G ALL E R FE ST SPI E LE 2017
J UNI/J ULI 2017
thema
artists
Catalani – verrückt nach Wagner
Amar Quartett
Stefan Blunier: «…eine glühende Partitur»
Marco Beasley Aušrine˙ Stundyte˙ Jörg Weinöhl
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inserate
editorial
Liebe Leserin, lieber Leser Wer kennt sie nicht, die legendäre Loreley, jene Wassernixe auf einem Felsen am Rhein, die durch ihren verführerischen Gesang und mit ihrer unwiderstehlichen Schönheit jedem Mann den Verstand raubt und die vorüberfahrenden Schiffer so in ihren Bann zieht, dass Strömung und Felsenriffe zur tödlichen Gefahr werden. Als Heinrich Heine sein berühmtes Gedicht schrieb, war die Geschichte schon so im Volksbewusstsein verankert, dass sie als Sage aus uralter Zeit angesehen wurde. Dabei waren nur gerade einige Jahrzehnte vergangen, dass die deutsche Romantik mit Clemens Brentano diese Märchenfigur erdacht hatte. Doch das ganze Jahrhundert hindurch inspirierte Loreley die Künstler – Literaten wie Musiker. Max Bruch etwa schrieb eine Oper – und in Italien nahm sich Alfredo Catalani der Rheinnixe an. Beide Werke konnten sich jedoch nie durchsetzen und Aufführungen blieben selten. Eine wunderbare Voraussetzung für die St.Galler Festspiele, gleichzeitig ihrem programmatischen Vorsatz der Raritätenpflege treu zu bleiben und diesem vergessenen Werk aus dem späten 19. Jahrhundert zwischen Verdi, Verismo und Wagnerverehrung auf dem Klosterplatz eine Plattform zu bieten. Mit dem Schweizer Dirigenten Stefan Blunier und dem amerikanischen Regisseur David Alden nimmt ein verheissungsvolles Leading Team die reizvolle Herausforderung an. Mit dem Tanz im sakralen Raum verfolgen die St.Galler Festspiele ihre zweite inhaltliche Leitlinie. Nach «Schweigerose» und «Rosenkranz» in den beiden Vorjahren schliesst diesen Sommer «Kranzrede» eine Trilogie über das Schweigen und Reden in der Kathedrale ab. Der deutsche Choreograf und Grazer Ballettdirektor Jörg Weinöhl erkundet darin insbesondere die Frage, wie sehr der Körper als Tempel des Geistes zu verstehen sei. Eine Fragestellung, auf die einzulassen sich lohnt! Ich freue mich, die St.Galler Festspiele auch dieses Jahr mit einer Sonderausgabe von Musik&Theater zu begleiten. Noch mehr freue ich mich, wenn es uns gelingt, mit den vertiefenden Berichten, Porträts und Gesprächen Ihre Lust auf das vielfarbige Programm zu wecken.
Herzlich, Ihr
Andrea Meuli
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inhalt
Regisseur David Alden über Alfredo Catalanis Felsen-Oper «Loreley», Fragen der Farbe sowie über die notwendige Langsamkeit inszenierter Bilder.
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Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Für die St.Galler Festspiele setzt Jörg Weinöhl mit der «Kranzrede» den letzten Teil einer Trilogie mit Tanz in der Kathedrale um. Ein Porträt des Choreografen.
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thema Alfredo Catalani – verrückt nach Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Diven am Rande des Nervenzusammenbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
artists Stefan Blunier: «…eine glühende Partitur» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Aušrine˙ Stundyte˙: «Grosse Charaktere, viel Gefühl» . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Jörg Weinöhl – «Kranzrede» als Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Marco Beasley: Laura als Leitstern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Der Komponist Alfredo Catalani und die Verbindung von Gemächlichkeit und Erregung im Verismo.
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Lust auf Kammermusik seit zwei Jahrzehnten – das Amar Quartett . . . . . 28
service Das Programm der Festspiele. Der Vorverkauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Seine Welt sind die Lieder der Renaissance, seine Vorbilder die Cantautori der 70er-Jahre: Marco Beasley ist ein Sänger der eigenen Art.
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Titelfoto: Priska Ketterer
Stefan Blunier über seine Leidenschaft für die Musik der Jahrhundertwende und weshalb unsere Zeit keine schlechte für die Gefühlswelten des Verismo ist.
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Aušrine˙ Stundyte˙ ist die St. Galler Loreley. Das Gespräch mit der baltischen Sänger-Darstellerin.
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Das Amar Quartett erkundet in St.Gallen neues Repertoire mit zwei Streichquartetten zweier italienischer Opernkomponisten.
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thema Der amerikanische Regisseur David Alden im Gespräch über Alfredo Catalanis Felsen-Oper «Loreley», Fragen der Farbe sowie über die notwendige Langsamkeit inszenierter Bilder.
Verrückt nach Wagner Kai Luehrs-Kaiser (Text) & Priska Ketterer (Bilder) M&T: Herr Alden, Sie gehören zu den fleissigsten und erfolgreichsten Opernregisseuren Ihrer Generation. Kannten Sie Catalanis Oper «Loreley»? David Alden: Ich gestehe, dass so ein Fall bei mir noch nie vorgekommen war: Die Oper «Loreley» kannte ich überhaupt nicht! M&T: Das bedeutet allerdings nur: Der Fall liegt so ähnlich wie bei einer Uraufführung!? David Alden: Ganz genau. Und bei Uraufführungen stellt die Unbekanntheit oft einen Vorteil dar. Ob neu oder alt, bekannt oder unbekannt, bei meiner Arbeitsweise macht das alles keinen grossen Unterschied. Ich fange immer von vorne an. Ich studiere den Background und gehe an die Geschichte heran, als ob ich von nichts wüsste. Ganz besonders dann, wenn ich die Stücke gut kenne. M&T: Ist dieses ‚Anfangen bei Null’ am Ende das Amerikanische an Ihnen? David Alden: Ausschliessen kann ich es nicht. Man muss, wenn man frisch an die Arbeit geht, immer alles loszuwerden versuchen, was man zuvor darüber wusste. Ich glaube, darin liegt in Wirklichkeit meine Stärke. M&T: Ist «Loreley», uraufgeführt 1890 in Turin, eines der bedeutenden oder eines der schwächeren Werke aus der Epoche des Verismo? David Alden: Das ist genau die Frage, die ich mir selber stelle! Ein kurioses Stück, kein Zweifel. Denn es stellt eine Art italienischen Wagnerianismus dar. Sehr ungewöhnlich und amüsant, und ein bisschen seltsam auch. Ist das Werk erstrangig? Jedenfalls interessant genug! – Catalani, als er die «Loreley» komponierte, war verrückt nach Wagner, so viel steht einmal fest. Es ist sehr spätes, ja allerspätestes 19. Jahrhundert. M&T: Kommt Catalani bei «Loreley» über ein Stadium des Wagner-Epigonentums hinaus?
David Alden: Jedenfalls bleibt er seinem Vorbild nicht so sklavisch treu, da es traurig würde. «Loreley» besitzt einen ungeheuren Charme, und der kommt nicht nur aus den «Tannhäuser»- und «Lohengrin»-Bezügen. Catalani war längst nicht so befangen innerhalb der Wagner-Tradition wie etwa Humperdinck oder Pfitzner – die gleichfalls gros-
jung gestorben, mit nur 39 Jahren. Dass man ihn heute leicht, vielleicht sogar voreilig dem Verismo zuordnet, ignoriert die Anlagen, die in seinem Werk vorhanden sind. Sie weisen in andere Richtungen. Ihn als Veristen zu katalogisieren, ist eher ein Ausdruck der Verlegenheit, in welche Schublade man ihn nun stecken soll.
«Es geht um Macht und weibliche Identität in einer Männerwelt» sartige Komponisten waren. Aber er ist auch nicht auf so paradoxe Art ‚anti’ wie Debussy es war, als er «Pelléas et Mélisande» komponierte. Catalani liegt irgendwie dazwischen. Und ich frage Sie: Was könnte es Spannenderes geben?! M&T: Die literarische Vorlage der «Loreley» stammt von Clemens Brentano. Haben Catalani und seine Librettisten den romantischen Nimbus gewahrt? Oder haben Sie das Stück dem Verismo anverwandelt? David Alden: Das Werk ist nicht romantischer als, sagen wir: Alban Bergs «Wozzeck». Zum Verismo gehört es übrigens meiner Meinung nach nicht wirklich. Catalani bekannte sich damals zur Mailänder Erneuerungsbewegung der «Scapigliatura Lombarda», einer Gruppierung, die von Wagner beeinflusst wurde, aber nicht mit dem Verismo verrechnet werden kann. Catalani ist sehr
M&T: Dann machen wir doch mal den Test! Durch Opern wie «Andrea Chenier» von Umberto Giordano und «I Pagliacci» von Leoncavallo ist der Verismo für seine Schockeffekte bekannt. Besitzt Catalani davon etwas? David Alden: In seiner bekanntesten Oper «La Wally» durchaus. In «Loreley» nicht. M&T: Im Verismo fand ein Abrücken von der «Ständeklausel» statt, wodurch erstmals die ‚niederen Klassen’ die Bühne erobern durften. In «Loreley» auch? David Alden: Überhaupt nicht. M&T: Letzter Versuch: Der Verismo ist dafür berüchtigt, bis an die Grenze der Geschmacklosigkeit zu gehen – mit Diven in akuten Nervenkrisen. Wie verhält es sich damit bei «Loreley»? David Alden: Nun, davor kann ich das Werk nicht ganz in Schutz nehmen. Ich würde nicht so weit gehen «Loreley»
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thema kitschig zu nennen – obwohl auch das noch nicht das Schlimmste wäre. «Loreley» repräsentiert eine reizvolle Form des italienischen Kitsches. Dieser ist im Allgemeinen mit religiösen Elementen verquickt. Fast aller italienische Kitsch ist Sakral-Kitsch. In der sakralen Überhöhung der romantischen Figur der Nymphe hat diese Oper tatsächlich ein bisschen was davon. Aber ich würde sofort – nicht eine Spur ironisch – hinzufügen: Wie köstlich! M&T: Im Zentrum der Oper befindet sich eine nackte Frau, die vom Felsen stürzt. Um diese – drastische und plastische – Tatsache kommt kein Regisseur des Werkes herum. Sie auch nicht? David Alden: Der Felsen… ist nicht vermeidbar! Ich will nicht zu viel verraten, ausser, dass sich die Hauptfigur im Verlauf der Oper durchaus ändert. Es geht um Macht und weibliche Identität in einer Männerwelt. Dabei spielen viele Aspekte eine Rolle, die später in Figuren wie Lulu und anderen Repräsentantinnen der femme fatale noch stärker zum Tragen kamen. M&T: Generationen von Opernregisseuren hätten die Loreley statt auf einen Felsen auf einen einfachen Stuhl gesetzt!? David Alden: So etwas habe ich auch dreissig Jahre lang gemacht. Hier nicht! Der Fall liegt komplizierter. M&T: Haben Sie auch die Erstfassung des Werkes, die zehn Jahre zuvor unter dem Titel «Elda» uraufgeführt wurde, mit «Loreley» verglichen? David Alden: Nein, das habe ich nicht getan. Wozu sollte es führen?! Ich habe mit «Loreley» gerade genug zu tun. M&T: In St. Gallen inszenieren Sie unter freiem Himmel. Macht das für Sie einen Unterschied? David Alden: Und ob! Es ist der Grund, weshalb ich die Aufgabe überhaupt angenommen habe. Das Tageslicht passt zum Stück. Und mir gefällt die Idee, in einer durchaus bürgerlichen Innenstadt ein erotisches Märchen zu erzählen. M&T: Keine Schwierigkeiten mit Open Air? David Alden: Na, das will ich nun auch wieder nicht behaupten. Ich habe sehr selten Open Air inszeniert. Meist nur in Santa Fé, wo in der Dämmerung mit der Aufführung begonnen wird. Wie viele Theaterleute fürchte auch ich mich vor dem Tageslicht! Ich bin ein Mensch der Kunstbeleuchtung. Tageslicht wirkt auf mich wie eine kalte Dusche. Das hat übrigens sogar einen tieferen, ästhetischen Grund: Scheinwerfer gehören im Theater zu den wichtigsten Mitteln, die man überhaupt einsetzen kann. Licht ist
David Alden: «Mir gefällt die Idee, in einer durchaus bürgerlichen Innenstadt ein erotisches Märchen zu erzählen.»
alles! Man unterscheidet dadurch, was gezeigt werden soll, von dem, was dem Zuschauer verborgen bleibt. Es ist wie der Schnitt beim Film. Das fällt bei Aufführungen draussen weg, sofern diese nur früh genug beginnen. M&T: Ihr Inszenierungs-Stil hat sich in den vergangenen Jahren von bunt und knallig zu einer betont natürlichen Farbensprache hin entwickelt. Richtig?
David Alden: Mein Stil hat sich ziemlich viel hin und her bewegt, das stimmt. Ich tummle mich inzwischen 45 Jahre in diesem Beruf. Meine bunten Inszenierungen, besonders in München an der Bayerischen Staatsoper, waren stark von der Zeit an der English National Opera (ENO) geprägt. Natürlich haben farbliche Fragen auch viel mit den Ausstattern zu tun, mit denen man jeweils zusammenarbeitet. Ich bin im
thema ebenfalls. Und in den letzten Jahren Christoph Marthaler. In Amerika dagegen fand ich nur wenige Vorbilder. Dort war mir alles zu dekorativ. Das ist bis heute so geblieben. M&T: Stattdessen war auch das Theater von Bertolt Brecht für Sie von einiger Bedeutung. Worin? David Alden: Das kann ich schlecht beschreiben. Ich kannte Brechts Produktionen natürlich nicht durch persönliche Erfahrung, sondern nur von Fotos. Ähnlich war es bei Wieland Wagner. Von beiden ging jedoch eine ausserordentliche Faszination auf mich aus. Gewiss auch wegen der schieren Ernsthaftigkeit, die sie ausstrahlten. In Amerika gab es immerhin auch das Living Theatre und das Group Theatre, die mit dem Establishment nichts zu tun hatten. Sie habe ich ganz grossartig gefunden. In New York war das. Woraus Sie sehen können, dass ich ein Kind der 60er-Jahre bin! M&T: Gern werden Sie heute der Bewegung des sogenannten «Britpop» zugerechnet, gemeinsam mit Nigel Lowery, Martin Duncan und einigen anderen. Dabei sind Sie doch Amerikaner! David Alden: Auch das kam durch meine Arbeit an der Londoner ENO. Ich wurde für einen Briten gehalten. Und es ist ja eigentlich auch egal! Ich habe es nicht übel genommen, sondern bin Missverständnisse inzwischen gewohnt. In einem Buch über Opernregisseure des Musikjournalisten Manuel Brug beginnt der Artikel über mich mit der Feststellung, ich sei: Buddhist. Dabei bin ich so unbuddhistisch wie man nur irgend sein kann! Macht nichts. Falsch dargestellt zu werden, erhöht das eigene Geheimnis.
Laufe meines Lebens von sehr unterschiedlicheren Regisseuren beeinflusst worden, mehr als man meiner Arbeit vielleicht anmerkt. Darunter waren Harry Kupfer und Joachim Herz, die beiden grossen Regisseure der damaligen DDR. Ich habe Hans Neuenfels’ legendäre «Aida» in Frankfurt miterlebt. Dann waren da noch Giorgio Strehler, Peter Brook und Ruth Berghaus. Ariane Mnouchekine und Pina Bausch
M&T: Als «Hausregisseur» des Intendanten Peter Jonas in München haben Sie Ihre grösste Bekanntheit erlangt. Eine gute Zeit? David Alden: Ja, schon, aber auch eine auslaugende und gefährliche Zeit. Ich musste so viel machen, dass ich alle Karten, die vorhanden waren, gleich drei Mal hintereinander ausspielen musste. Mit der Folge, dass, ehrlich gesagt, ein Drittel meiner damaligen Produktionen für mich selber nicht viel getaugt haben. Gut waren Monteverdis «Poppea» und «Ulisse». Aber die wurden anschliessend sofort wieder weggeschmissen. M&T: Für «Semiramide» sind Sie kürzlich an die Bayerische Staatsoper zurückgekehrt – mit Joyce DiDonato in der Titelrolle. Ist die Arbeit mit Gesangsstars etwas, das Sie besonders schätzen, oder etwas, vor dem es Sie graust?
David Alden: Eher Letzteres. Ich habe Stars meist vermieden, und zwar weil ich mich, wie Sie richtig vermuten, vor ihnen fürchtete. Nicht etwa weil berühmte Sänger die schwierigeren Menschen wären! Das ist nicht der Fall. M&T: Sondern? David Alden: Nervös werde ich bei Stars, die nicht gerne proben wollen. Ich bin in dieser Hinsicht ein gebranntes Kind. Ich könnte zahlreiche Sänger nennen, mit denen ich nie wieder zusammenarbeiten möchte. Mit Joyce DiDonato war es etwas ganz anderes. Mit ihr habe ich stets allerbeste Erfahrungen gemacht. Man muss bedenken, dass es bei jeder Oper um zehntausend kleine und kleinste Details geht. Da müssen alle an einem Strang ziehen. Aber auch mit berühmten Leuten, bei denen ich mir nicht ganz sicher bin, arbeite ich immer häufiger gern zusammen. Warum? Weil Oper ohnehin eine total verrückte, eine bekloppte Sache ist. Da passt dann eins zum anderen. M&T: Haben Sie jemals in der Schweiz inszeniert? David Alden: Soweit ich mich erinnere, nur bei «Medea in Corinto» von Simone Mayr. Das war vor sieben Jahren in St. Gallen. Demnächst kehre ich allerdings zurück, und zwar nach Zürich, für eine Neuinszenierung von Donizettis «Maria Stuarda» mit Diana Damrau in der Titelrolle. M&T: Färbt der Ort einer Inszenierung auf die Aufführung ab? David Alden: Das kann geschehen. Ich habe Bergs «Wozzeck» sowohl in Los Angeles wie auch in Tel Aviv und Glasgow inszeniert. In L.A. war es surrealistischer, vielleicht sogar filmischer als in Glasgow. Und in Tel Aviv, wo man Leute mit der Knarre ständig am Strand trifft, als Geschichte über das Militär. Vielleicht hat dergleichen sogar dazu geführt, dass ich in der Schweizer «Loreley» nicht gezögert habe, einen realen Felsen abzubilden… Die Umgebung prägt. M&T: Einem lästigen Vorurteil zufolge ist das Schweizer Publikum, mental gesehen, nicht das Schnellste. Angenommen, an diesem Klischee wäre nur das Geringste dran: Würden Sie Rücksicht darauf nehmen – und ‚langsamer’ inszenieren? David Alden: Ja! Denn ich inszeniere grundsätzlich nur für die ‚langsamen’ Leute. Mir scheint wichtig, den Ball ins Ziel zu bringen und das wenige, was man wirklich ausdrücken möchte, klar zu sagen. Dafür muss man es langsam erzählen. Und zwar an jedem Ort der Welt. O Nicht nur in der Schweiz.
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thema Alfredo Catalani und die Verbindung von Gemächlichkeit und Erregung im Verismo
Diven am Rande des Nervenzusammenbruchs Alfredo Catalani war vielleicht ihr letzter Erneuerer, aber nicht der Wadenwickler und Kitschier der italienischen Oper. Kai Luehrs-Kaiser
Alfredo Catalani – ein kurzes Musikerleben im Fin de Siècle.
Wenn selbst Fachleute in schwachen Momenten nicht sicher sind, ob das Hauptwerk von Alfredo Catalani nun «Adriana Lecouvreur» oder «La Wally» heisst: Dann ist Vorsicht angezeigt! Mit «Adriana Lecouvreur» hat der besagte Komponist durchaus nichts zu tun (dieses Werk stammt von seinem AlphabetsNachbarn Francesco Cilea). Aber auch «La Wally», das Haupt- und Spätwerk Catalanis, hat den Ruhm des geborenen Toskaners nur unzureichend gefestigt. Und das, obwohl Catalani durch «La Wally» zum klassischen ‚Ein-WerkKomponisten’ aufstieg. Doch ausser «La Wally» kennt nun wirklich kaum einer etwas von ihm. Und hieraus auch meist nur den Verismoheuler «Ebben? Ne andrò lontana», bekannt aus dem Film «Diva» (1981, Regie: Jean-Jacques Beneix). Ein durchdringender, schwül-schwerer Duft scheint seitdem von dem Komponisten und seinem Werk aufzusteigen. Das hat zu dem Eindruck geführt, Cata-
lani sei das Aushängeschild einer nicht ganz stubenreinen Ecke der Musikgeschichte, genannt Verismo. Der Verismo, verbunden mit Komponisten wie Mascagni, Leoncavallo,
wird vergiftet, verraten und hingemordet, bis der Theaterarzt kommt. Danach war konsequent Schluss mit der grossen italienischen Oper. Der Verismo ist die letzte, populäre Publikationsbastion des Genres. Meist mit einer umwölkten, exaltierten Diva mittendrin. Doch alle schwülen Assoziationen deuten auf ein Missverständnis hin. Zwar entstammt Catalani durchaus der Zeit des Fin de Siècle und der Décadence. Er stand der Welt Nietzsches, Oscar Wildes und des frühen Thomas Mann nicht sehr fern. In seiner Zeit in Mailand war der Komponist unter Wagner-Einfluss geraten. Mitte der 70er-Jahre schloss er sich der Reformbewegung «La Scapigliatura Lombarda» an (wörtlich: «Lombardische Zerzaustheit»). Unangepasst aus Passion, lehnte man den bürgerlichen Lebensstil samt Religion ab. Drogen und freie Liebe galten als hohe Ziele. Hier traf Catalani unter anderem auf Arrigo Boito, den späteren Librettisten Verdis – und Komponisten des «Mefistofele». Im Zuge dieser Erneuerungsbewegung stiess er auch auf den Loreley-Stoff, der zu seiner einzig bedeutenden Oper neben «La Wally» führte.
«Alle schwülen Assoziationen deuten auf ein Missverständnis hin» Giordano, Ponchielli und Puccini, gilt gemeinhin als bronzene Ära der italienischen Oper. Der Ton verschärfte sich, die Quantitäten des zu verspritzenden Blutes wurden grösser. Im Verismo
Geboren am 19. Juni 1854 im toskanischen Lucca – woher auch der vier Jahre jüngere Puccini stammt –, ging Catalani bei seinem Vater Eugenio Catalani in die Klavierlehre. Be-
thema reits auf dem örtlichen Musikinstitut (heute: Centro Studi Opera Omnia Luigi Boccherini) komponierte er eine Messe und seine einzige Sinfonie. Der Wunsch, nach Paris zu gehen, brachte ihn mit der französischen Musik in Berührung; was eine gewisse Nähe zu Massenet erklärt. Nach zwei Jahren, er war erst 19 Jahre alt, kehrte er nach Italien zurück, um in Mailand seine Ausbildung zu vervollkommnen. Obwohl Catalani als Opernkomponist gilt, beschränkt sich sein musiktheatralisches Schaffen auf nur fünf Werke dieser Art; die mittleren «Dejanice» (1883) und «Edmea» (1886), beide uraufgeführt an der Mailänder Scala, sind heute nahezu vergessen. Umrahmt werden sie von den zwei Fassungen der «Loreley», ursprünglich uraufgeführt unter dem Namen «Elda». Schon mit «La Wally» (1892) rundet sich das Werk dieses Komponisten. Zwischen den beiden Fassungen der «Loreley», sämtlich aus der Taufe gehoben in Turin, liegen zehn Jahre (1880/90). Das Libretto von Carlo D‘Ormeville wurde in dieser Zeit komplett umgearbeitet. Dabei wurde der Handlungsort von der Ostsee zurück zum Rhein verlegt. Hier thront eine
Alfredo Catalani und die Vorliebe einer Epoche für die inszenierte Katastrophe.
ner Internationalisierung dieses durchaus deutschen Stoffes. Wie alle anderen Werke Catalanis – und wie diejenigen sämtlicher Verismo-Komponisten – zeichnet sich auch «Loreley» durch eine typische
«Nirgendwo wurde die Dialektik von Historie und Hysterie kongenialer eingefangen als in den Stoffen der Veristen» Nixe auf dem Schieferfelsen an einer Flussbiegung. Aus Liebeskummer stürzt sie sich in den Rhein und bringt Verderben über die, die sie lieben oder hassen. Erfunden hatte das Clemens Brentano in seinem – als Ballade erzählten – Kunstmärchen «Lore Lay» (als Binnentext zu seinem Roman «Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter», 1800/01). Der Erfolg des Stoffes war enorm. Auch Max Bruch, Hans Sommer und andere Opernkomponisten schrieben entsprechende Werke. Paul Lincke komponierte sogar eine Operette («Fräulein Loreley»). Noch George Gershwin besingt die Nymphe in seinem Musical «Pardon my English» (1932). Catalanis Oper zählt zu den frühesten Zeugen ei-
Verbindung von Gemächlichkeit und Erregung aus. In gemessenem Tempo, aber umso unausweichlicher nimmt das Unheil seinen Lauf. Die Besetzung mit theatralischen Stimmen – echten «Drama Queens» – erhöht den Aufregungspegel systematisch. Derweil
Loreley – die tödlich verführerische Nixe auf dem Schieferfelsen an einer Flussbiegung des Rheins. Das Titelblatt von Catalanis Oper in der Erstausgabe.
ringen, so will es die Regel, Diven am Rande des Nervenzusammenbruchs um Fassung. Nirgendwo wurde die Dialektik von Historie und Hysterie kongenialer eingefangen, als in den meist mit Patina überzogenen Stoffen der Veristen. Ähnlich wie Catalani den Loreley-Mythos besingt, rückte Ponchielli die Mona Lisa («Gioconda») von Leonardo da Vinci ins Zentrum einer Oper. Giordano wählte ein historisches Thema aus der Französischen Revolution («Andrea Chenier»). Puccini würzte in «Turandot» die zeitliche Entrückung durch exotisches Kolorit. Ihnen gemeinsam ist die riskierte Überschreitung alles geschmacklich Schicklichen – und die historisch verbrämte Vorliebe für Sensationen und für die Katastrophe. So konnten die Werke der Veristen zu Vehikeln von extremen, zum Teil outrierten Sängerpersönlichkeiten werden. Die Verismo-Diva Magda Olivero gründete ihren Ruhm fast einzig auf ihre Gestaltung von Cileas «Adriana Lecouvreur». «La Wally» wurde das ideale Vehikel für die späte Renata Tebaldi. «Loreley» gehört zu den wenigen Werken, in denen die allzu zeitig aus der Bahn geworfene Elena Souliotis in Erinnerung bleiben wird. Um alle Opern Catalanis hat sich das Stadttheater von Lucca verdient gemacht, wo zahlreiche CD-Produktionen entstanden (auch von «Loreley»). Sehr ungewöhnlich dagegen, dass in St. Gallen auch die frühe Messe in eMoll von 1872 für vier Stimmen und Orchester, das Werk eines 18-Jährigen, zur Aufführung kommt. Und ebenso sein gleichfalls frühes Streichquartett. Es sind die einzigen Instrumentalwerke, mit denen sich Catalani vorgegebenen, schulgerechten Formen anbequemte. Dass der Verismo (teilweise zu Unrecht) im Ruf der Geschmacks-Grenzwertigkeit steht, beruht weniger auf den Werken selber als auf ihrer Rezeptionsgeschichte. Ein guter Freund Catalanis, bevor dieser 1893 mit nur 39 Jahren starb, war der noch ganz junge Arturo Toscanini. Mit Catalanis Oper «Edmea» hatte er 1886 sein Operndebüt in Turin gefeiert. Toscanini war allem Sentimentalen, Outrierten völlig abhold. Bei der Einspielung des Tanzes der Meerjungfrauen aus dem 3. Akt der «Loreley» kam er 1951 gänzlich ohne falsches Pathos oder aufgesetzte Theatralik aus. Er beweist: Catalani war – als Verist gerechnet – einer der letzten Erneuerer der klassischen italienischen Oper. Nicht deren Tröster oder Wadenwickler. Und noch weniger ihr Kitschier. O
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thema
Stefan Blunier: ÂŤMan muss zum Rausch animieren, aber in der Vorbereitung muss das Gehirn sehr aktiv sein.Âť
thema Stefan Blunier dirigiert die diesjährige Festspieloper «Loreley» von Alfredo Catalani
«…eine glühende Partitur» Er ist Berner, doch seinen Namen machte er sich an vielen bedeutenden Bühnen des Auslands. Nun kehrt Stefan Blunier für ein Gastspiel zurück. In St. Gallen betreut er die Produktion von Catalanis «Loreley». Im Gespräch schildert er seine Leidenschaft für die Musik der Jahrhundertwende um 1900 und weshalb unsere Zeit keine schlechte für die Gefühlswelten des Verismo ist. Andrea Meuli (Text) & Priska Ketterer (Bilder) M&T: Stefan Blunier, Sie dirigieren mit Alfredo Catalanis «Loreley» ein Stück, das zwar keinen schlechten Ruf hat, aber dennoch kaum je gespielt wurde und wird. Eigentlich ein Widerspruch. Stefan Blunier: Ja, aber das kommt oft vor, gerade im deutschsprachigen System. In England oder auch in den Vereinigten Staaten ist man liberaler, was unbekannte Stücke angeht. Vielleicht auch risikofreudiger, weil man solche Werke mit wunderbaren Sängern besetzt und somit zu einem Selbstläufer macht. Aber hierzulande greift man für mich allzu oft auf die altbekannten Basisstücke des Repertoires zurück. Das ist manchmal gar nicht so gut, ich sehe das an deutschen Opernhäusern: Die Leute wollen Neues kennenlernen, und plötzlich sind die Raritäten beliebter als die vermeintlichen Repertoirerenner. Früher bedeuteten Stücke wie «La Bohème» eine todsichere Sache beim Publikum. Heute hingegen lechzen die Leute irgendwie nach neuen Stücken. Und die müssen ja eigentlich nicht schlechter sein, sie haben vielleicht zwei Hits weniger, vielleicht ist die Dramaturgie etwas krauser. Aber es lohnt sich auf jeden Fall, sich mit ihnen zu beschäftigen. M&T: Haben Sie die Partitur von Catalanis «Loreley» vor der Anfrage aus St. Gallen schon gekannt? Stefan Blunier: Nein, gar nicht, aber ich habe eine relativ umfassende CD-Sammlung. Und so hörte ich mir das Werk in einer schrecklichen historischen Aufnahme an – und war sofort begeistert: Das ist tolle Musik! Ich hatte kurz zuvor in Mannheim «La Wally» gesehen und wusste daher, wenn «Loreley» nur annähernd so gut ist, möchte ich das Werk
sehr gerne dirigieren. Neuland reizt mich immer. Ich bin kein Repetiertäter. Es reizt mich nicht mehr, die nächste «Traviata» oder den nächsten «Rigoletto» zu dirigieren. Vielmehr drängt es mich, immer wieder neue Werke kennenzulernen. M&T: Viele Ihrer dirigierten Werke – zumindest auf der Opernbühne – sind ja auch selten gespielte Randstücke des Repertoires. Sehen Sie sich als Entdeckernatur – oder gehen Sie den grossen Repertoire-Rennern bewusst aus dem Weg?
tes Händchen für bösartige Zuspitzungen klanglicher und emotionaler Art. «Loreley» halte ich für eine sehr schillernde Partitur. Es gibt darin sehr volkstümliche Szenen, aber auch überaus eingängige Passagen. Ich vergleiche das Werk daher gerne mit «Cavalleria Rusticana», wo auch alles vom Herz-Schmerz bis zu trivialen Osterchören enthalten ist. «Loreley» bietet genauso ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits kommen kontrapunktische Anwandlungen vor, es gibt religiöse Ecken, auch Bauernlieder kommen vor – eine aus dem Leben ge-
«Da schlägt irgendetwas wie ein Blitz in die Partitur ein» Stefan Blunier: Nein, es gibt auch Meisterwerke, die mir noch fehlen und um die ich keineswegs einen Bogen machen würde. Aber ich werde auch nicht jünger, und es gibt so viele Werke, die ich unbedingt noch dirigieren möchte. Da investiere ich meine Zeit lieber in das Lernen solcher Stücke. Ich habe «Traviata» und auch andere Werke des gängigen Repertoires oft dirigiert – vielleicht sogar zu oft. Das brauche ich irgendwie nicht mehr.
griffene Natürlichkeit. Das mag ich. Ich wohne zum Teil in Italien, und wenn man das kennt, dann ist das Leben auch so: Da gibt es immer Jubel, Trubel, Depression pur – und alles wechselt innerhalb von Minuten.
M&T: Was reizt Sie an Catalanis «Loreley»? Stefan Blunier: Es ist eine glühende Partitur. Die Veristen hatten immer ein gu-
M&T: Wie sieht es mit dem Notenmaterial aus? Gibt es eine aktuelle, kritisch aufgearbeitete Ausgabe?
M&T: Ungefilterte Gefühlswelten? Stefan Blunier: Ja, ungefiltert muss ja nicht schlecht sein! Eins zu eins aus dem Leben gegriffen, mit allen Höhen und Tiefen.
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thema Stefan Blunier: Das hoffe ich sehr. Es gibt genug traurige Beispiele, in denen das Notenmaterial in einem miserablen Zustand ist. Ich erinnere mich gut an Stücke wie Marschners «Vampyr», Werke von Meyerbeer oder Halévys «Juive» – da brauchte man jeweils doppelte Orchesterproben, weil die Noten so fehlerhaft waren. Ich hoffe natürlich, dass uns mit der «Loreley» kein ähnliches Schicksal erwartet, denn so oft wird dieses Stück ja auch nicht gerade aufgeführt. M&T: Der Verismo hat einen eher schlechten Ruf in der Operngeschichte: Reisserische Sujets mit oberflächlich effektvoller Musik untermalt, lautet der Vorwurf. Sind das Vorurteile? Stefan Blunier: Ja. Nach dem Weltkrieg, mit der ganzen Darmstädter Schule und mit Adorno, war ja kein Gefühl mehr möglich. Emotionen waren mehr als verpönt. Natürlich sind diese Stücke ein bisschen retro, aber ein heutiges Publikum mag das wieder. Ich weiss nicht, ob wir heute wieder in einer dem Fin de Siècle um 1900 verwandten Zeit leben. Die ganze Schreker-Renaissance beispielsweise ist erst heute möglich, da die Leute so schillernde, auch abwegige Themen bevorzugen. Deshalb erlebt auch der Verismo wieder eine Blütezeit: Die Leute wollen unmittelbare Gefühle auf der Bühne sehen; wie sie diese jeweils einordnen, ist ja unwichtig. Aber dieses Direkte, Unmittelbare finde ich sehr prickelnd. M&T: Hat, historisch betrachtet, der Film, hat das Kino dem Opern-Verismo den Rang abgelaufen? Stefan Blunier: Vielleicht, und ihn gleichzeitig aber auch wieder befruchtet. Das sieht man an der Jugend. Ich hatte in Bonn sehr viele Schulklassen, die im Rahmen von Education-Programmen in Werke wie Pfitzners «Von deutscher Seele» oder auch Mahlers Siebter hinein mussten, und ich mir dachte: Mein Gott, die werden durchdrehen! Doch die Reaktionen waren komplett anders: Sie fanden das geradezu toll, dazu haben nicht zuletzt die ungemein populären Fantasyfilme beigetragen. Ich sehe das auch bei meinem Sohn, der findet solche Filme spannender als Mozart oder Haydn. Denn da werden ungeheuer krasse Klangwelten geschaffen, was der computerspielgesteuerte Jugendliche von heute mag. Das ist beim Versimo auch ein bisschen so: Da schlägt irgendetwas wie ein Blitz in die Partitur ein, die Effekte sind gewaltig – damit können – so denke ich – die jungen Leute wieder besser umgehen. M&T: Sie haben sich immer wieder mit Werken der Jahrhundertwende um 1900 beschäftigt. Was fasziniert Sie an dieser Epoche?
Stefan Blunier: «Die Veristen hatten immer ein gutes Händchen für bösartige Zuspitzungen klanglicher und emotionaler Art.»
Stefan Blunier: Es sind die Abgründe, die man erleben kann. Man merkt auch, dass diese Klangwelt eine sehr kompromittierende ist. Was vielleicht mit der politischen Situation einhergeht oder mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unsicherheit, mit der Diskriminierung von Menschen und Rassen, mit der Finanzkrise und so weiter. Das zeigt sich in der Musik entweder vorahnend oder reflektierend. Und ich mag einfach Musik, die einen Subtext hat. Ganz entscheidend war sicher die Psychologie.
Sigmund Freud vor allem, der eine Revolution eingeleitet hat. Davon haben sich viele Komponisten und auch Maler jener Zeit exzessiv leiten lassen, da gibt es immer einen Subtext. Das zugeschüttete Ich schwebt stets mit. Das mögen auch neurotische Menschen gewesen sein. M&T: Wurde damals das Neurotische für die Kunst entdeckt? Stefan Blunier: Ja, das kann sein. Oder es hat sich eine Verfeinerung durchgesetzt, welche das begünstigte.
thema M&T: Wie verführerisch für den Dirigenten sind die orchestralen Klangwogen in den Werken dieser Epoche? Stefan Blunier: Natürlich sehr verführerisch! Ich glaube, es gibt keinen Dirigenten, der sich nicht freut, in diesen Klängen zu suhlen, darin zu schwelgen. Und wenn er das Gegenteil behauptet, glaube ich es ihm nicht. Die Gefahr ist, dass man dem zwar nachgeben muss und soll und darob die Liebe zu den Details vernachlässigt. Die ist aber genauso wichtig. Klangliche Zuspitzung finde ich toll, aber man darf das Gegenteil nicht aus den Augen verlieren. Fast Unhörbares, impressionistische Klangfarben, Feinziseliertes – all das muss ebenso sorgfältig ausgearbeitet sein. Andernfalls erscheint eine Interpretation bald einmal öde, die Effekte laufen sich tot. Man muss sich nur einmal die grossen, sogenannt «lauten» Stücke von Strauss oder Mahler anschauen, die strotzen nur so von Details. Und wenn man die wirklich so spielt, wie sie geschrieben sind, dann bekommen die Stücke eine ganz andere Aussagekraft. Man darf das nie pauschalisieren.
M&T: Sänger sehen das wohl anders… Stefan Blunier: Wenn schon, müsste man den Komponisten vorwerfen, dass sie die dynamische Skala nicht anders eingeteilt haben. Wir reden hier allerdings nur von kurzen Stellen, viel grösser ist die Gefahr in den mittellauten Bereichen, im typischen Mezzoforte. Wenn da die leisen Stellen nicht leise genug gespielt und im Fortebereich nicht differenziert wird zwischen f, ff, und fff, wenn der dynamische Level immer hart die äussersten Möglichkeiten des Sängers ausreizt – dann ist das ermüdend und schlecht. Ein guter Sänger lässt sich zwar nicht forcieren, aber ich möchte auch als Zuhörer nicht ermüdet werden, indem das Orchester immer zu laut ist. Sogar in einer Partitur wie «Elektra» mit einem monströsen Aufgebot an Musikern, hört man, wenn man sie so einstudiert, wie alles geschrieben ist, eigentlich zu 95 Prozent auch die Sänger. Doch ich habe Vorstellungen erlebt, da hörte man allenfalls sechzig Prozent. Und wenn das ein Dauerzustand ist, dann hat man als Dirigent versagt.
M&T: Muss man sich als Dirigent davor hüten, sich selber von der Musik berauschen zu lassen…? Stefan Blunier: Ja, das ist so seltsam beim Dirigieren. Ich habe mich schon wahnsinnig auf Stücke gefreut, und dann war es doch nicht das grosse Erlebnis, weil man sich ja nicht hemmungslos gehen lassen kann, da ansonsten die Kontrolle verloren geht. Man muss zum Rausch animieren, aber in der Vorbereitung muss das Gehirn sehr aktiv sein. Im Konzert soll dann eigentlich der Bauch vorherrschend sein – das geht aber nur gut, wenn man vorher alles minutiös einstudiert hat. Es ist ein ambivalentes Verhältnis: zu wenig Hingabe ist genauso schlecht wie zu viel…
M&T: Nach Ihrem Abschied von Bonn haben Sie derzeit kein eigenes Orchester und sind an keinem Opernhaus fest engagiert. Ist man als Gast tatsächlich freier? Oder möchten Sie wieder die Verantwortung für ein Orchester, für ein Haus übernehmen? Stefan Blunier: Vielleicht wird es mir als Gast, nach sechzehn Jahren, in denen ich immer für ein Haus verantwortlich war, bald einmal langweilig. Momentan jedoch geniesse ich es noch sehr, frei zu sein. Aber ich bin mir sicher, dass ich irgendwann wieder aktiv gestalten möchte, was als Gastdirigent kaum möglich ist.
M&T: Ambivalenz ermöglicht immer auch Auseinandersetzung, Spannung. Stefan Blunier: Deshalb nervt mich Musik, die bloss glatt ist. Genau deshalb liebe ich die Musik von Schumann so, weil darin so viel Unerhörtes, auch Krankes enthalten ist. M&T: Wie gross ist die Gefahr, dass man gerade in diesem Repertoire die Sänger mit Orchesterklang erdrückt oder zum Forcieren zwingt? Stefan Blunier: Das wäre dann letztlich unprofessionell. Auch wenn es Stücke gibt, in denen man den Sänger nicht immer hören kann. Es gibt Stellen, die sind so komponiert, dass man den Sänger halt mal für zwei Sekunden nicht hört. Das darf auch so sein, man muss die dramaturgischen Kurven ja auch auskosten.
M&T: Für einen Gastdirigenten schränkt sich die Wahl der dirigierten Werke eher ein. Gibt es bisher unerfüllte Wünsche? Werke, die Sie unbedingt dirigieren möchten? Stefan Blunier: Ja, die gibt es, vor allem in der Oper. Ich habe zum Beispiel noch nie Debussys «Pélléas et Mélisande» dirigiert, mir fehlt tatsächlich noch alles von Zemlinsky. So hege ich schon einige Wünsche, aber ich habe bisher 150 Bühnenwerke dirigiert. Und das ist ja nicht wenig… Kürzlich übrigens habe ich Bruchs «Loreley» dirigiert – St. Gallen wird daher meine zweite Oper mit diesem Sujet! Das war für mich die Entdeckung des Jahres. Das Libretto ist grauenhaft, aber musikalisch ist es ein gigantisches Werk. M&T: «Wozzeck» in Genf, im Sommer «Loreley» in St. Gallen – zwei Auftritte in der Schweiz. Zufall – oder begegnet man Ihnen künftig vermehrt an den hiesigen Bühnen?
Stefan Blunier: Das ist wirklich Zufall. Ich gehöre offensichtlich zu jenen Schweizern, die in der Schweiz nicht so richtig Fuss fassen können. Zu St. Gallen habe ich dank Konzerten schon länger eine gute Verbindung, und es ist auch eine Stadt, die ich sehr mag. Daher war es nicht unlogisch, hier auch einmal eine Oper zu übernehmen. Genf – sage ich immer ganz keck –, ist doch fast Frankreich, deshalb darf ich da dirigieren. Schweizer haben ein sehr merkwürdiges Verhältnis zu ihren eigenen Leuten. Ich kenne viele Kollegen, denen geht’s nicht viel anders. M&T: Wer hat Sie als Musiker besonders geprägt? Gibt es überhaupt eine prägende Figur in Ihrer künstlerischen Biografie? Stefan Blunier: Ich habe immer meine Idole gehabt. Und es gab Dmitrij Kitajenko, den ich bei einem Wettbewerb kennenlernte, und der mir sehr viele Ratschläge mit auf den Weg gab. Kitajenko hat mich von seinem eleganten Dirigierstil her immer beeindruckt – ein sehr kompetenter Musiker, ein Mann den ich immer bewundert habe. Ich war kein Schüler von ihm, aber er hat mir einige Türen geöffnet. Als ich zu dirigieren begann, war allerdings noch nicht die Zeit, da man mit Assistenzen oder Vitamin B nach oben kam. Ich bin noch ein Kind der guten alten Tradition eines Aufstiegs vom Korrepetitor, Schritt für Schritt – eigentlich ein schrecklicher Weg, weil man ja nie weiss, ob er zum Erfolg führt. M&T: Ein steiniger Weg… Stefan Blunier: … ja, aber einer, der heute viel zu wenig gegangen wird. Wenn man an die Grossen früherer Zeiten denkt, dann haben die alle diesen Weg absolviert. Heute werden die Leute blutjung hochgeschossen, und die Orchester sind meistens gut genug, dass das dann trotzdem gut klingt. Ich verstehe auch die Frustration der Musiker: Natürlich kann die Chemie auch zwischen ihnen und einem ganz erfahrenen Alten nicht klappen. Aber ein gewisses Handwerk und Erfahrung halte ich schon für nötig, wenn man an einen grossen Laden kommt… M&T: Der Reiz des Neuen sichert mediale Aufmerksamkeit. Was auch seine Tücken birgt… Stefan Blunier: Genau. Es ist schon schwierig genug, Karriere zu machen. Aber noch schwieriger wird es, sich oben zu behaupten. Schnell hochzukommen ist ein Ding, dieses Versprechen auch einzulösen, ist die wirkliche Herausforderung. So fünfzig oder sechzig Jahre durchzuhalten ist eine Kunst! Daran O scheitern viele.
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artists Die baltische Sänger-Darstellerin Aušrine˙ Stundyte˙ ist die St. Galler Loreley
«Grosse Charaktere, viel Gefühl» Sie sieht sich mehr als Sopranistin, obwohl sie auch Mezzo-Partien gestaltet. Wenn die Rolle sie reizt. Denn Aušrine˙ Stundyte˙ versteht sich zuvörderst als Darstellerin. Jetzt ist Stundyte˙ in der Schweiz zu erleben. Am Theater in St. Gallen gestaltet sie im Juni und Juli die Titelpartie von Alfredo Catalanis Oper «Loreley». Zuvor gastiert die Litauerin an der Oper Zürich, wo sie im Mai und Juni die Renata aus dem «Feurigen Engel» von Sergej Prokofjew darstellt. In dieser Partie brillierte sie unlängst in München, wo wir sie trafen. Marco Frei (Text) & Priska Ketterer (Bilder)
M&T: Aušrine˙ Stundyte˙, Sie bekannten einmal, dass Sie die dunklen Färbungen einer Figur besonders lieben. Gestalten Sie deswegen gerne Frauen wie die Lady Macbeth von Mzensk, Renata oder die Loreley? Aušrine˙ Stundyte˙: Ich glaube, dass es ziemlich langweilig ist, gute Charaktere darzustellen. Und es ist auch sehr schwer. Eigentlich spielt man viel lieber, was man nicht darf. Was man vielleicht sogar in sich selbst hat, aber nie loslässt im Leben. Gerade in der Oper gibt es Charaktere, die weitaus brutaler sind als im Film oder im Sprechtheater. Durch die Musik und die dramatische Verdichtung ist das oftmals zugespitzter. M&T: Die Fallhöhe ist grösser? Aušrine˙ Stundyte˙: Ja, das kann mitunter so verrückt und zugleich tief gehend sein wie wohl in keiner anderen Kunstform. Im Grunde ist das eine Freude für die Seele, eine Art Katharsis. Ich wünsche jedem Menschen ein solches Ventil. Es gäbe wohl weniger furchtbare Verbrechen auf der Welt. M&T: Ihre Renata in Lyon war das Opfer eines Missbrauchs. Aušrine˙ Stundyte˙: Ja, aber diese Oper lässt viele Möglichkeiten zu. In Lyon interpretierte der Regisseur den Stoff als einen Missbrauch durch einen Priester, um aber ebenso dem Paranormalen noch Raum zu lassen. Wie es jetzt in Zürich wird, weiss ich noch nicht. Ich bin da sehr offen. M&T: Bei Calixto Bieito könnte es blutig werden. Aušrine˙ Stundyte˙: (lacht) Schon möglich, auch exorzistisch. Die eigentliche Frage
ist doch, wie mit den paranormalen Elementen in der Oper umgegangen wird. Ich selbst habe darauf keine Antwort. In München habe ich jetzt mit Michael Jurowski gesprochen, dem Dirigenten der drei Repertoire-Aufführungen des «Feurigen Engels» im Februar. Als Kind war er Prokofjew mehrmals begegnet, er war ein enger Freund der Familie. Es war faszinierend für mich, quasi aus erster Hand etwas über Prokofjew zu erfahren. M&T: Mit welchem Ergebnis? Aušrine˙ Stundyte˙: Demnach hörte Prokofjew Stimmen, ähnlich wie Renata. Sie ist quasi Prokofjew. Er war nicht «besessen», aber er hatte offenbar eine Verbindung zur «anderen Welt». Deswegen ist vielleicht diese Oper so ganz anders als alles, was er sonst komponiert hat. Ich kannte den «Feurigen Engel» nur wenig, dafür aber «Die Liebe zu den drei Orangen» oder «Romeo und Julia». Letztere war für mich die schönste Musik überhaupt. Und so freute ich mich sehr, als das erste Angebot mit dem «Feurigen Engel» kam. Zunächst war ich sehr enttäuscht. M&T: Warum? Aušrine˙ Stundyte˙: Weil keine melodiöse, lyrische Schönheit darinnen war. Die Musik erschien mir anfangs überdreht und hysterisch, auch «ver-rückt». Ich gebe zu, dass ich diese Musik zunächst nicht besonders mochte. Aber durch das Einstudieren und die Probenarbeit habe ich schnell verstanden, wie genial Prokofjew den Wahnsinn, das Psychische, das Paranormale in die
Partitur hineinkomponiert hat. Der fünfte Akt ist gefährlich: Ich hatte mich dagegen gesträubt, das zu lernen. M&T: Weil er einen Sog entwickelt? Aušrine˙ Stundyte˙: Ja. Ich bemerkte, wie ich selbst immer besessener wurde. Ich konnte das nicht länger als eine Stunde pro Tag singen. Die Musik war immer in meinem Kopf und verliess mich nie. Irgendetwas ist in dieser Musik: Wenn man in sie eintaucht, kommt man nicht mehr los von ihr. M&T: Inwieweit ist auch Katerina Ismailowa, Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk, eine Missbrauchte – ähnlich wie die Renata in Lyon? Aušrine˙ Stundyte˙: Sie wird von ihrer sozialen Umgebung missbraucht, ja. Aber sie ist zugleich total manipuliert von ihrem Liebhaber Sergej. Diese intelligente Frau lässt sich von ihm total verblenden. Sie ist keineswegs emanzipiert, dafür ist sie Sergej viel zu hörig. Trotzdem zählt diese Rolle zu den Partien, die mich bislang am stärksten nicht mehr losgelassen haben. Das lag aber vor allem an der Probenarbeit mit Calixto Bieito. Das war damals in Antwerpen meine erste Zusammenarbeit mit ihm, einfach grossartig, sehr intensiv. Ich habe wenig geschlafen in dieser Zeit. Ich freue mich sehr auf seinen «Feurigen Engel» jetzt in Zürich. M&T: Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit ihm erlebt? Aušrine˙ Stundyte˙: Ich hatte mich eingestellt auf eine etwas destruktive Persönlichkeit, aber so war er ganz und
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artists gar nicht. Sollte er destruktiv sein, dann sich selbst gegenüber. Er zählt zu den nettesten, liebsten Mensch, die ich je getroffen habe. Er liebt die Sänger über alles, würde sie niemals zu etwas zwingen. Natürlich mache ich alles, was er will. Ich finde ihn einfach grossartig, aber: Er ist wahnsinnig aufmerksam. Mit einem Detail hatte ich in Antwerpen meine Probleme, ohne etwas zu sagen. Am nächsten Tag hatte er es weggenommen, obwohl ich bemüht war, es zu verbergen. Aber ich mag auch andere sehr, wie etwa David Alden, der in St. Gallen die «Loreley» inszeniert. Mit ihm habe ich in Lissabon «Katja Kabanova» von Leoš Janácˇek gemacht, das war super. M&T: Kannten Sie Catalanis «Loreley»? Aušrine˙ Stundyte˙: Ehrlich gesagt nein. Die Oper wird kaum aufgeführt. Es ist sehr verdienstvoll, dass St. Gallen dieses Werk jetzt herausgibt. Auch für mich selbst ist das spannend, obwohl der Stoff seine Tücken hat. Das Drama dieser Frau wird mehr angedeutet als stringent durchgeführt. Man muss hier wirklich einen guten Regisseur haben, der die Geschichte erzählt. M&T: Und die Musik? Sie lässt sich ja nicht wirklich einordnen, changiert zwischen Richard Wagner und dem italienischen «Romanticismo». Aušrine˙ Stundyte˙: Ich finde, dass die Musik mehr nach Italien gehört. Mich erinnert diese Diskussion etwas an «Madame Butterfly»: Wer versucht, sich an diese Partitur heranzutasten durch eine japanische Fernostästhetik, obliegt einem Trugschluss. Es funktioniert nicht auf diese Weise. Grosse Charaktere, viel Gefühl: Das alles ist sehr italienisch und eben nicht japanisch. Gleiches gilt auch für die «Loreley»: Es mag eine deutsche Legende sein, wird aber italienisch gedacht. Der Grundstil ist für mich der Verismo, trotz manchen Belcanto-Färbungen. M&T: Was indirekt Wagner berührt. Hatte er nicht in vielen seiner Opern eine Art deutschen Belcanto im Ohr? Aušrine˙ Stundyte˙: Ich denke schon, dass Wagner einen klaren Gesang wollte. Im Vergleich zum Wagner-Orchester sind die veristischen Opern aus Italien übrigens dicker instrumentiert. Wir wissen, dass Wagner nicht wenige italienische Opern schätzte. Zu seiner Zeit war der italienische Vokalstil führend, das Vorbild schlechthin. Insofern ist sein Vokalstil zwangsläufig ebenso eine Auseinandersetzung damit. Man kann also sehr wohl den Wagner-Gesang durch die Brille des Belcanto betrachten.
M&T: Wie viel Rusalka steckt in der Loreley? Aušrine˙ Stundyte˙: Sie kommt ihr nahe. Für mich ähnelt sie jedoch mehr der Lady Macbeth von Mzensk. Jedenfalls ist sie keine böse Hexe, die den Männern Unheil wünscht. Sie ist eine liebende, verletzte Frau. Sie merkt nicht, was sie anrichtet, weil sie im Augenblick des Unheils selbst so unglaublich leidet. Es gibt für sie kein Zurück. Im Grunde ist sie die Einzige, die leidet. M&T: Das Baltikum hat eine überreiche Gesangstradition. Hatten Sie das Singen «im Blut»? Aušrine˙ Stundyte˙: Null. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt singen kann. Zu Sowjetzeiten arbeitete mein Vater in einer Fleischfabrik. Dadurch hatte unsere Familie Zugang zu gutem Fleisch. Es gab einen Schwarzmarkt, und einmal kam der Leiter des besten Mädchenchors aus Litauen. Sie waren so gut, dass sie sogar im Westen konzertieren durften – als sowjetische Kulturbotschafter. Mein Vater
am Theater. Ich benötige diese Zeit, auch für die Stimmpflege. Diese Vorsicht und Disziplin habe ich von ihr. Und davon profitiere ich bis heute. M&T: Und was haben Sie von Helga Forner in Leipzig gelernt? Aušrine˙ Stundyte˙: Zu überleben! Irena Milkevcˇiuˉ te˙ war sehr warmherzig, wie eine Mutter. Frau Forner war sehr streng, auch fordernd, hatte kein Verständnis für private Probleme. Egal wie es dir geht: Du musst funktionieren. Dafür danke ich ihr, weil das zwingend erforderlich ist im Bühnenalltag. M&T: Trotzdem sind Tränen geflossen, oder? Aušrine˙ Stundyte˙: Im Unterricht nicht, aber danach. Wäre ich damals zuerst bei ihr gewesen, hätte ich es wohl nicht geschafft. Für mich war es wichtig, zunächst eine mütterliche Lehrerin zu haben. Umso besser war danach die harte Schule.
«Ich wollte stets Opern machen wie eine Schauspielerin»
sagte dem Chorleiter: «Für die Wurst möchte ich, dass du meine Tochter aufnimmst.» – «Wenn sie Stimme und Gehör hat, warum nicht.» Meine Eltern fragten mich. Sie mussten vier Stunden warten, bis ich ihnen vorsang. Und alles öffnete sich. M&T: Und dann kam Irena Milkevcˇiuˉte˙, bei der Sie in Vilnius Gesang studierten. Aušrine˙ Stundyte˙: Eine überragende Sängerin! Für mich steht sie an gleicher Stelle wie Montserrat Caballé, nur durch das sowjetische System international weniger bekannt. Von ihr habe ich viel gelernt: wie man mit der Stimme umgehen sollte. Schon vier Stunden vor der Vorstellung kam sie ins Theater. Sie schlief jeweils bis vierzehn Uhr. M&T: Na dann, gute Nacht…! Aušrine˙ Stundyte˙: (lacht) Okay, solange schlafe ich nicht. Aber auch ich bin drei, vier Stunden vor der Vorstellung
M&T: War das deutsche Regietheater für Sie eine Art Kulturschock? Aušrine˙ Stundyte˙: Nein, weil ich mich nie einzig als Sängerin verstand. Das Theater zog mich teilweise mehr an. Natürlich war in Litauen die Opernregie manchmal sehr konservativ, ähnlich wie in Italien, aber wir hatten das Glück, fantastische Schauspieler zu haben, die auch unterrichteten. Bin ich in meiner Heimat, gehe ich ins Theater. M&T: Sind Sie schon als Kind ins Theater gegangen? Aušrine˙ Stundyte˙: Ja, das war auch so ein Wurst-Deal (lacht). Unsere Theaterszene war schon immer grossartig, man muss das gesehen haben. Auf der Bühne möchte ich so sein wie unsere Schauspieler, viel eher als wie unsere Opernsänger. Das ist meine Inspiration. Ich wollte nie Schauspielerin werden, aber ich wollte stets Opern machen wie eine Schauspielerin.
artists M&T: Wie gefährlich ist die Kommerzialisierung des Opernbetriebs für junge Sänger? Aušrine˙ Stundyte˙: Dieser Gefahr sind nur wenige Sänger ausgesetzt. Viel gefährlicher sind erste Verträge, zumeist an kleineren Häusern, die bisweilen an Sklaverei und Ausbeutung grenzen. Das kann für die Stimme tödlich sein. Andererseits ist man nach dem Studium glücklich, überhaupt einen Vertrag zu bekommen. Wer sich zu schade ist, hat keine Chance. Man muss einen Mittelweg finden. M&T: Andererseits sind es gerade kleinere Häuser, die jungen Solisten eine Chance geben. Aušrine˙ Stundyte˙: Ja. Nach meiner Zeit am Kölner Ensemble gab mir das Stadttheater Lübeck die Chance, Rollen auszuprobieren. Es herrschte dort eine äusserst freundliche Atmosphäre. Der damalige Intendant wusste oft besser als ich, was ich kann. Es war eine wunderschöne Zeit. Ich habe mich dort im Grunde erst richtig kennengelernt. An manchen kleinen Bühnen wird grosses Theater geboren. Grundsätzlich aber glaube ich nicht an Strukturen, sondern an Menschen. Nicht die Grösse eines Hauses entscheidet über die Kreativität, sondern die jeweilige Leitung. Mir ist wichtig, dass das Team gemeinsam etwas kreieren will. M&T: Weil Sie kein Star sind? Aušrine˙ Stundyte˙: Ich bin keine Diva, definitiv nicht! Und ich achte auch nicht darauf, ob und wie viele Artikel über mich geschrieben werden. Ich finde das lächerlich. Die Konzentration auf das eigene Image steht dem Kreieren im Weg. Und Gott sei Dank gibt es nicht mehr viele Kollegen, die auch auf der Bühne ihre Allüren ausleben. Diese Spezies stirbt aus, und das O ist gut so.
Aušrine˙ Stundyte˙: «Ich wusste nicht, ob ich überhaupt singen kann.»
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Jörg Weinöhl: «Mein Haus, das ist auch mein Körper, und darin wohnen Geist und Seele.»
Wenn Musik und Tanz verschmelzen – ein Porträt des Choreografen Jörg Weinöhl
«Kranzrede» als Dialog Jörg Weinöhl tanzte lange und erfolgreich in der Kompanie des Schweizer Choreografen Martin Schläpfer. 2009 begann er selber zu choreografieren. Seit 2015 leitet er die Sparte Tanz an der Grazer Oper. Für die St.Galler Festspiele setzt er den letzten Teil einer Trilogie mit Tanz in der Kathedrale um, die «Kranzrede». Maya Künzler
Bild: Oper Graz/PhotoWerk
artists Noch hat Jörg Weinöhl nicht mit Proben angefangen. Doch das Konzept steht, im Kopf des Choreografen arbeitet es bereits, und der Ablauf sowie die ersten Schritte beginnen sich zu konkretisieren. Weinöhl wird für die 12. Ausgabe der St.Galler Festspiele den dritten Teil der Tanztrilogie gestalten: Nach «Schweigerose» und «Rosenkranz» widmet sich dieser der «Kranzrede». Im Interview erzählt er, dass Beate Vollack, die Leiterin der Tanzkompanie St.Gallen, ihn dafür anfragte, noch bevor er seine Direktion an der Grazer Oper 2015/16 angetreten hatte. Ihn freute diese Einladung sehr; die Möglichkeit, in einem so grandiosen sakralen Raum wie der Kathedrale des Klosters St.Gallen ein Stück zu kreieren, reizt Weinöhl. Selber bezeichnet er sich als spirituellen Menschen. Für ihn heisst das erst einmal, mit grossem Respekt an die Arbeit zu gehen. «Es geht um die Begegnung mit dem Tanz in einem sakralen Raum», meint der Choreograf auf die Frage, was denn der Kern des Stückes sei. Als er für Vorgespräche in St.Gallen war, verbrachte er viel Zeit in der Kathedrale. Er sass still auf einer Bank und hat die Stimmung des Raumes auf sich einwirken lassen. «Wenn die Menschen über die Schwelle traten, bewegten sie sich anders. Selbst die Touristen, die sich nur für die Architektur interessierten, bewegten sich andächtig», hat Weinöhl beobachtet. In einem sakralen Raum zu choreografieren, erfordert eine andere innere Haltung und bedeutet eine zusätzliche Herausforderung für ihn. «Die Zuschauerinnen und Zuschauer wollen in einen anderen Verlauf der Zeit eintauchen, wenn sie sich hier eine Aufführung ansehen», ist Weinöhl überzeugt. Die Kranzrede, anders als der Rosenkranz, stammt aus dem weltlichen Bereich. Wenn der Rohbau eines Hauses steht, führen die Handwerker bis heute eine kleine Zeremonie durch. Alle kennen wir die Tännchen mit den bunten Bändern auf den fertig gestellten Dächern. Dass beim Richtfest auch noch eine Kranzrede gehalten wird, wissen aber die wenigsten von uns. Weinöhl fasst den Begriff in seiner Choreografie weiter: «Mein Haus, das ist auch mein Körper, und darin wohnen Geist und Seele.» In «Kranzrede» gibt es keine grosse durchgängige Erzählung; gedacht sind vielmehr narrative Miniaturen, in denen es um Beziehungen und Begegnungen sowie die Liebe und, ja, auch den Glauben geht: ein Innehalten im Alltag, eine Art Gebete.
Entsprechend haben der Choreograf und der Musikleiter dazu die Musik ausgewählt: Fünf weltliche Madrigale und dazu geistliche Konzerte von Heinrich Schütz. Das Vokalensemble thélème aus Basel, spezialisiert auf Alte Musik, hat schon im ersten Teil der Tanz-Trilogie mitgewirkt. Der Vorschlag von Beate Vollack, erneut mit diesem Ensemble zu arbeiten, passt Weinöhl perfekt: «Für mich ist das sehr stimmig. Mit diesen Künstlern habe ich ernsthafte Gesprächspartner, alle sind sie beseelte Musiker.» Im Gespräch mit dem Choreografen taucht immer wieder das Schlüsselwort Dialog auf. Ob im Austausch mit thélème oder mit seinen Tänzerinnen
in Düsseldorf/Duisburg. Er tanzte lange in dessen Kompanie und war als Tänzer eine wichtige Inspirationsquelle für den Schweizer Choreografen. Mehrmals wurde er von der Zeitschrift «tanz» zum besten Tänzer nominiert. Ab 2009 begann er immer häufiger, selber zu choreografieren. Der Weg zum Tänzer schien in seinen Jugendjahren aber nicht vorgezeichnet. Als Jugendlicher gehörte seine ganze Liebe der Musik und der Oper. In der Nähe von Stuttgart wohnhaft, besuchte er regelmässig das Opernhaus. Eines Tages – Weinöhl war da 16 Jahre alt – befand die Mutter eines Freundes, sie sollten sich
«Wenn die Menschen über die Schwelle traten, bewegten sie sich anders» und Tänzern, Weinöhl ist es Anliegen und kreativer Anstoss, auf seine künstlerischen Partner einzugehen und zu erspüren, was die andere Seite einzubringen vermag. thélème besteht im Kern aus fünf Sängern; die meisten davon sind Absolventen der Scuola Cantorum Basiliensis. «Die Musik war der Ausgangspunkt in unseren Gesprächen», sagt er zu den ersten Begegnungen mit thélème. Für Weinöhl ist diese das allerwichtigste, wie er sagt, da er am Anfang jeder choregrafischen Arbeit zuerst einmal intensiv über den Partituren brütet, sie analysiert und so seine Ideen entwickelt. Ursprünglich plante Weinöhl, Musik zu studieren. Schon in jungen Jahren hatte er angefangen, Block- und Querflöte zu spielen. Heute, als Choreograf, kommen ihm seine profunden musikalischen Kenntnisse zugute. «Die Partitur verinnerlicht zu haben, gibt mir im Probenraum eine grosse Freiheit», sagt er und fährt fort: «Ich muss die Schritte musikalisch denken können, ich muss die Musik in mir hören und sie singen können.» In diesem Punkt, in seiner hohen Musikalität, trifft sich Weinöhl mit Martin Schläpfer, dem Direktor des Balletts am Rhein
doch auch einmal eine Aufführung des weltbekannten Stuttgarter Balletts anschauen. Das taten die beiden Freunde denn auch, mehr um dem Wunsch der Mutter Genüge zu tun als aus eigenem Antrieb. Gegeben wurde «Der Widerspenstigen Zähmung», in den Hauptrollen die Stars Marcia Haydée und Richard Cragun. Wie ein Blitz traf es den jungen Weinöhl: «Dieses Erlebnis hat meinen Lebensweg verändert», erzählt er, «ich fragte mich: was ist das für eine Kunstform, die mich so tief ins Herz trifft?» Und so begann Weinöhl intensiv Ballett zu trainieren. Selbst für einen Jungen sind 16 Jahre schon ein eher hohes Alter, um es in dieser Disziplin noch weit zu bringen. Doch er war begabt, hatte Glück und kam in eine gute Privatschule. Er schaffte mit 18 Jahren die Aufnahmeprüfung in die berühmte John Cranko-Schule und durfte bereits während seiner Ausbildung kleinere Rollen im Stuttgarter Ballett wahrnehmen. Es zeigte sich, dass Weinöhl ein Ausnahmetalent war, was auch der künstlerischen Leiterin Marcia Haydée nicht verborgen geblieben war. Sie bot ihm gleich nach dem Diplom einen Vertrag in der Truppe des Stuttgarter Balletts an.
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Bild: Oper Graz/PhotoWerk
Bild: Anna-Tina Eberhard
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Jörg Weinöhl bei der Arbeit. «Kranzrede» bildet den Abschluss der St. Galler Festspieltrilogie über das Schweigen und Reden in der Kathedrale.
Bild: St. Galler Festspiele /Andreas J. Etter
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Die bisherigen Produktionen der Trilogie: «Schweigerose» von Jonathan Lunn 2015 (oben) und «Rosenkranz» von Cathy Marston 2016 (linke Seite oben).
Es kann schon fast als Anekdote gelesen werden: Als Weinöhl beim Abschlusstanzen sein Diplom bereits auf sicher wusste, riefen ihn die Prüfer nochmals in den Raum zurück. «Sie glaubten mir nicht, dass ich erst mit 16 zu tanzen angefangen habe. Ich solle doch zugeben, dass dies nicht stimme», schmunzelt Weinöhl. Er erzählt das in seiner bescheidenen und freundlichen Art, gerade so, als wunderte auch er sich darüber. Schon nach drei Jahren verliess der junge Weinöhl das Stuttgarter Ballett, liess scheinbar die vielversprechende Laufbahn hinter sich und zog in die Provinz nach Bern, zu einem Choreografen, der sich erst einen Namen schaffen musste: Martin Schläpfer ist heute einer der ganz grossen und gefeierten Choreografen. Für viele war diese Entscheidung damals unverständlich. Weinöhl aber wusste genau, warum er dem Ruf Schläpfers nach Bern gefolgt war. Ihn interessierte das Neue, und
er hatte Vertrauen in die Visionen dieses jungen Choreografen. Es war eine Bauchentscheidung, wie er sagt, die er nie bereut hat. Zusammen mit Schläpfer wechselte er später nach Mainz und zog mit diesem auch weiter nach Düsseldorf/Duisburg. Ganze 17 gemeinsame, künstlerisch prägende Jahre sind daraus geworden. Erst vor zwei Jahren, mit 45 Jahren gab Weinöhl seine letzte Vorstellung als Tänzer. Es war Marcia Haydée, die ihm vorgelebt hat, dass man länger als in der Szene üblich tanzen kann. «Mein Plan war, als freischaffender Tänzer weiter zu machen. Überraschenderweise kamen jedoch gleich drei Anfragen, eine künstlerische Direktion zu übernehmen», erzählt Weinöhl. «Ich war davon so überrumpelt, dass ich bei der ersten Anfrage noch abgesagt habe.» In Graz aber sagte er zu. Auch hier setzte er sich zuerst einmal in die Kaffeehäuser, hörte den Leuten zu und suchte den Dialog mit ihnen. «Ich
möchte in Graz etwas aufbauen, das spezifisch mit dem Ort zu tun hat», sagt er dazu. «Wir dürfen uns dabei nicht mit andern Ensembles vergleichen, wir haben dort unsere eigenen Bedingungen.» Für Weinöhl heisst dies auch, eine delikate Balance zwischen Tradition und Innovation zu finden. Wenn Weinöhl Anfang Mai in St. Gallen mit den Proben beginnt, hat er mit den meisten seiner Tänzer schon Vorgespräche geführt. Er hat für die Produktion vier Frauen und vier Männer zur Verfügung und kennt ihre tänzerischen Qualitäten recht gut, da er sich in den letzten drei Jahren immer wieder Vorstellungen am Theater St.Gallen angeschaut hat. «Ich werde zuerst mein Konzept vorstellen», erläutert er seine Arbeitsweise, «denn die Tänzerinnen und Tänzer müssen meine Absichten verstehen. Dann aber geht es gleich los, ich komme jeweils mit konkreten Vorschlägen zur Probe.» Weinöhl wird den Ablauf seiner Choreografie klar skizziert haben. Improvisation ist weniger seine Sache. «Ich weiss genau, wann ein Pas de deux kommt und wann eine grössere Formation vorgesehen ist. Wie beim Hausbau das Gerüst wird zu Probenbeginn der Ablauf des Stücks fertig stehen.» Innerhalb eines Pas de deux’ aber gibt es viele offene Momente; das hängt, wie Weinöhl weiter erklärt, von den besonderen Möglichkeiten und Reaktionen der Tänzer ab. Genau an diesen Schnittstellen, im jeweiligen Moment, geschehen die spannenden Entscheidungen, immer aber – das versteht sich bei Weinöhl von selbst – in Bezug zur Musik. In einem künstlerischen Entstehungsprozess spielen immer ganz verschiedene Ebenen hinein. Die Musiker von thélème haben bereits signalisiert, dass sie Lust hätten, auch szenisch zu arbeiten, freut sich Weinöhl. Genau das hat der Choreograf vor. Für ihn ist es ein Glück, dass sich auch der Organist der Kathedrale bereit erklärt hat, mitzuwirken. Er wird das Orgelpositiv in den geistlichen Werken von Heinrich Schütz spielen. Ausserdem kommt ein fulminantes Werk von Johann Sebastian Bach hinzu, wie Weinöhl verrät. Zusammen mit einem Theorben-Spieler werden sich aus dieser musikalischen Konstellation nochmals ganz eigene Klangfarben ergeben. «Kranzrede» soll ein Dialog sowohl zwischen den Künstlerinnen und Künstlern als auch zwischen Bühne und Publikum werden. Das jedenfalls wünscht sich der ChoO reograf.
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Alte Musik in ungewohntem Gewand: Marco Beasley gastiert in der St. Laurenzenkirche
Laura als Leitstern
Marco Beasley: «Neapel hat mich geprägt, mit seiner Mischung aus Glück, Leidenschaft, Traurigkeit und Fatalismus.»
artists Seine Welt sind die Lieder der Renaissance und des frühen Barock, seine Vorbilder die Cantautori der 70er-Jahre: Der italienische Tenor Marco Beasley ist ein Sänger der eigenen Art, der seinen eigenen Weg gemacht hat und seine eigenen Ansichten hat, über die Art, wie wir heute mit den Erkenntnissen der Musikforschung umgehen. Ein Konzert im Rahmen der St. Galler Festspiele zeigt ihn mit seinem Ensemble von seiner typischen Seite.
Reinmar Wagner (Text) & Priska Ketterer (Fotos)
M&T: Marco Beasley, Sie haben sich für Ihr Programm in St. Gallen eine gewisse Laura als Leitfigur gewählt. Wer ist diese Laura? Marco Beasley: Eine Gestalt aus dem dichterischen Universum von Petrarca, ähnlich wie Beatrice für Dante. Sie ist für den Dichter eine Möglichkeit, das Weibliche in der Welt zu beschreiben, die Ehefrau, die Mutter, die Schwester, natürlich auch die Geliebte. Darüber hinaus hat sie aber auch spirituelle Dimensionen, das gehörte sehr viel enger zusammen in jener Zeit, als wir es heute empfinden. Seele und Körper werden als Einheit gesehen, und es gibt enge Verbindungen zwischen den Welten des Dies- und Jenseitigen, so kann die Jung-
frau Maria Züge weltlicher Frauenfiguren tragen und umgekehrt. In der Musik reicht das natürlich vom Liebeslied über die Gefühle, die man der Mutter entgegen bringt, bis hin zum Ave Maria, das wiederum nicht nur an die Mutter von Jesus gerichtet ist, sondern auch an eine Frau, die gelitten hat, und einen Menschen, der durch die Tat ihres Sohnes letztlich gerettet wurde. Wir stellen die «Vergine bella», ein Gedicht von Petrarca, ein Loblied auf Maria, das auch Züge eines Gebets hat, an den Anfang und den Schluss unseres Programms, die erste Vertonung stammt von Bartolomeo Tromboncino, die zweite von Guillaume Dufay.
M&T: Wie ist die Stellung der Frau in dieser Epoche der Renaissance. Es fällt auf, dass es gerade in Italien einige Frauen gab, die als Künstlerinnen hervorgetreten sind. Marco Beasley: Das ist richtig, es gab einige bildende Künstlerinnen und Komponistinnen, Barbara Strozzi ist wohl die bekannteste unter den Komponistinnen. Dennoch ist es eine männlich geprägte Welt und eine männliche Sicht auf die Realitäten des Lebens. Manche Leute sagen, das ist deswegen so, weil auch die Überlieferungen, die uns aus diesen Jahrhunderten erreichten, männlich geprägt sind und unsere heutige Welt ja auch immer noch so tickt. Ich kann dazu nur sagen: Wir finden in den Gedichten
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artists jener Zeit eine sehr breite Auseinandersetzung mit der weiblichen Welt und mit der Frau, aber sie gibt eigentlich immer eine männliche Sichtweise auf das Weibliche wieder. M&T: Was heisst das für Sie als Sänger, wenn Sie diese Texte interpretieren? Marco Beasley: Wir können unsere Identität nicht abstreifen. Wir sind das Resultat unserer Erfahrungen und unserer Entscheidungen. Wir sind geprägt von einem heutigen realen Leben, auch wenn wir vielleicht bewusst versuchen
können, weibliche Perspektiven einzunehmen, wozu uns die Musik schöne Möglichkeiten bietet. Aber wir leben und singen für uns und unser Publikum heute. Unsere Persönlichkeit fliesst zwangsläufig als ein entscheidender Teil in unsere Kunst ein. M&T: Sie sind 1957 in Neapel geboren: Wie kommt ein Italiener, noch dazu aus der Opernstadt Neapel dazu, sich nicht für Belcanto oder mindestens die Barockoper zu interessieren, sondern die Musik der Renaissance zu studieren, zu erforschen und aufzuführen?
Marco Beasley: Ich habe nicht so viel darüber nachgedacht. Ich war 23 Jahre alt, ging nach Bologna an die Universität, also weit weg von Neapel. Mag sein, dass es eine Rolle spielt, dass mein Vater Engländer war, ich habe auch einen britischen Teil in mir, nicht nur einen neapolitanischen. Aber Neapel hat mich schon geprägt, diese Mischung aus Leidenschaft, Glücksgefühlen und Traurigkeit, der Fatalismus, der die Menschen prägt, vielleicht, weil mit dem Vesuv ein Berg über ihnen steht, der jederzeit die ganze Stadt auslöschen kann. Das ist tief in der neapolitanischen Seele verankert. Bologna war eine andere Welt, eine Art Melting Pot wie New York, mit vielen jungen Leuten aus halb Europa. Ich hatte das Glück, dass ich dort im Chor singen konnte, ohne dass ich eine Gesangsausbildung hatte. Und ich war überrascht, dass die Leute meine Stimme mochten und mich ermunterten, ihre Möglichkeiten auszuloten. Dadurch habe ich sehr viel Repertoire kennen- gelernt. Aber je mehr ich kannte, von der Gregorianik bis in die zeitgenössische Musik, desto mehr fühlte ich mich in der Musik der Renaissance zu Hause. M&T: Können sie sagen, warum sie diese Musik mehr berührt als andere? Marco Beasley: Mein sängerisches Ideal sind die Cantautori der 70er-Jahre: Musik und Text auf gleichem Niveau und von gleicher Wichtigkeit von einer Person und in einer Person vereint. Das findet man auch in den Liedern der Renaissance und des frühen Barock: Kurze Geschichten, wenig Brimborium darum herum, kaum Wiederholungen, längst nicht so viel Dramatik und Emphase wie wir sie später in der barocken Oper, gerade in Neapel, finden. In diesen kurzen, schlichten Liedern hat jedes Wort seine Bedeutung, die ein Sänger sofort treffen muss, sonst ist der Moment schon vorbei. In einer Da-Capo-Arie hingegen haben sie zwei Affekte, die sie schildern müssen, und der erste wird im Da Capo nochmals wiederholt. Ich mag die kleine Form, die viel Inhalt hat, gegenüber der grossen, imposanten Form, die ihren kleinen Gehalt pompös ausbreitet. Das ist eigentlich der Geist der «seconda prattica», wie es Monteverdi vorschwebte. Schon im Verlauf der frühen Barockoper hat sich das stark verändert.
«Ich mag die kleine Form, die viel Inhalt hat, gegenüber der grossen, imposanten Form, die ihren kleinen Gehalt pompös ausbreitet.»
artists M&T: Sie haben als Sänger keine klassische akademische Ausbildung. Sind Ihnen auch da die Cantautori ein Vorbild, eher als der an den Konservatorien gelehrte artifizielle Gesangsstil der Oper? Marco Beasley: Sie sind mir ganz sicher ein Vorbild, in der Art, wie sie Musik und Wort verbinden. Wenn es um den Gesangsstil geht, habe ich eigentlich keine Vorbilder gehabt. Ich fand durch viele Irrwege und Irrtümer auf teils wilden Wegen mit sicher zum Teil unnötig viel Aufwand zu meiner Stimme. Ich habe diesen Weg gemocht und bin ihn mit viel Leidenschaft gegangen. Zentral war für mich, dass ich dieses Repertoire der Renaissance und des frühen Barocks singen wollte, das «recitar cantando»,
techniken etwa auf der Geige oder all den Blasinstrumenten gelernt. Kaum jemand aber hat sich für die Stimme interessiert. Ich meine damit nicht was man singt, etwa Verzierungen oder solche Dinge, sondern die Gesangstechnik. Man hat den Operngesang genommen, ein wenig Vibrato reduziert, und das in die Frühzeit des Barockgesangs transferiert. Das ist in meinen Augen falsch. Noch falscher ist es für die Renaissance: Man singt die ganzen Motetten von Josquin oder Ockeghem mit derselben Technik, mit der man eine Mozart-arie singt, und ist zufrieden, wenn man die Intonation trifft. Mein Interesse aber ist die Stimme an sich, die Forschung am Singen, und wenn man da in die Tiefe
«Wir können unsere Identität nicht abstreifen» das ist meine Welt. Ich kam also schon von Anfang an gar nicht in Versuchung, mich auf die Mechanismen einer Opernkarriere einzulassen. Das hat sehr viel mit Beziehungen, Netzwerken und Marketing zu tun, natürlich auch mit ganz bestimmten stimmtechnischen Möglichkeiten, die man sich erarbeiten muss. Aber ich fühlte mich am glücklichsten, wenn ich «Vergine bella» ganz allein mit meiner Stimme, ohne jede Begleitung, singen konnte. M&T: Haben Sie die Opern von Monteverdi nie gereizt? Marco Beasley: Doch das schon, am meisten natürlich «Orfeo». Ich habe auch einmal den Pastore gesungen, für eine Hauptpartie hat es nie gereicht. In meinen Programmen habe ich hin und wieder Teile daraus eingebunden, nur schon die Gestalt des Orfeo ist natürlich für jeden Sänger eine unwiderstehliche Identifikationsfigur. Weniger nahe liegen mir die beiden späteren erhaltenen Opern Monteverdis, «Poppea» und «Ulisse». Sie stehen schon sehr stark in der Form der barocken Oper. Das ist im Vergleich zum «Orfeo» eine ganz andere Welt, man spürt diese Distanz sehr deutlich. Die Epoche des «recitar cantando» dauert etwa 40 Jahre von 1600-1640, dann ist sie eigentlich schon vorüber. M&T: Ist das auch sängerisch, in Bezug auf Ausdruck und Technik, eine spezielle Stilrichtung? Marco Beasley: Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel über die Instrumente und die barocken Spiel-
geht, erhält man ein anderes Bild von der Art, wie damals wahrscheinlich gesungen worden ist. Das Gemeinsame steht mehr im Vordergrund, vor dem Individuellen, die Idee des Virtuosen ist praktisch nicht existent, der Sänger stellt sich ganz in den Dienst des Textes, nicht einmal so sehr der Musik. Das ist fundamental für mich, das ist mein Ziel. M&T: Andererseits finden wir Sie als Sänger auch auf den CDs von Christina Pluhar und ihrem Ensemble «L‘Arpeggiata». Marco Beasley: Ich habe mein Ensemble «Accordone» 1984 gegründet, wir haben uns also schon lange in diesem Repertoire bewegt, auch wenn wir nicht so bekannt waren und keine CDs eingespielt haben. Als Christina «L‘Arpeggiata» gründete, hat sie mich angefragt. Es war der richtige Moment für mich, es hat gepasst, wir hatten sehr viel Erfolg und ich habe das sehr genossen. Es sind fantastische Musiker, aber ich habe mich nach drei Jahren zurückgezogen und mich wieder voll auf «Arpeggione» konzentriert. Ich habe realisiert, dass ich andere Ideale in der Aufführung alter Musik habe. Ihre Vorliebe war die Improvisation, sie haben sich weniger Gedanken um die Wahl der Instrumente gemacht. Das war eine Art Monteverdi-Jazz, sehr spritzig und witzig, das ist natürlich sehr gut angekommen, und sie haben es fantastisch gespielt, aber mir ging es zu weit weg von der Echtheit und der realen Situation dieser Musik. Aber es ist schon witzig: Ich habe «L‘Arpeggiata» vor 13 Jahren verlassen, und noch immer se-
hen mich die Menschen in diesem Umfeld. Sie sehen Videos auf Youtube, sie hören vielleicht sogar noch CDs und sehen meinen Namen. Und ich bin schon längst sehr weit entfernt von dieser Welt. Das ist wie eine Flaschenpost, die nach Jahrzehnten irgendwo ankommt. Andererseits ist es auch gut: Die Musik existiert in dem Moment, in dem du sie hörst, und die Gefühle sind echt und aktuell. So gesehen finde ich es schön, wenn ich mit diesen CDs in Verbindung gebracht werde. M&T: Wie steht es denn eigentlich heute um unseren Wissensstand zur Musik der Renaissance? Marco Beasley: Ich denke, dass wir über diese Epoche recht gut Bescheid wissen. Etwas Interessantes, was noch nicht so erleuchtet ist, sind die Dialekte, die damals eine noch weit grösere Rolle spielten und natürlich auch das Singen beeinflussten. Man findet in den Texten natürlich typische Worte der verschiedenen Regionen, aber wie die Aussprache war, ist oft nicht so klar. Man darf nicht vergessen, die Leute sind nicht so mobil gewesen damals, es hat viel mehr Zeit gebraucht, zu reisen, und dadurch haben sich regionale Eigenarten viel stärker bewahren können. Und man hat, wenn man nach der Arbeit abends zusammen sass, natürlich Geschichten erzählt und Lieder gesungen. Das hat regionale Besonderheiten der Sprache zementiert, viel mehr als heute, wo die Leute ständig unterwegs sind, und keine gemeinsamen Lieder oder Texte mehr haben. O
«Donna incantatrice». Höfische und volkstümliche Liebeslieder der italienischen Renaissance Marco Beasley, Gesang Stefano Rocco, Theorbe und Barockgitarre Fabio Accurso, Laute Leonardo Massa, Colascione Vito De Lorenzi, Perkussion Sonntag, 25. Juni 2017, 19 Uhr Kirche St. Laurenzen
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Das Amar Quartett – Lust auf Kammermusik seit über zwei Jahrzehnten
«Ein Streichquartett musste es sein»
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Aus der ganzen Schweiz zum Quartettspiel zusammenkommen: Anna Brunner aus Thun, Igor Keller aus St. Gallen, Hannes Bärtschi aus Zürich und Christopher Jepsen aus Basel (von links).
Das Amar Quartett spielt seit über zwanzig Jahren zusammen. In St. Gallen erkunden die vier Musiker neues Repertoire mit zwei Streichquartetten zweier italienischer Opernkomponisten. So erklingt unter dem Motto «Quartetto Lirico» eines der zahlreichen Streichquartette Gaetano Donizettis und das a-Moll-Quartett von Alfredo Catalani, sein einziges. Ein Probenbesuch in Basel. Benjamin Herzog (Text) & Priska Ketterer (Bilder)
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Endlich. Anna Brunner erscheint in der Tür zum Bühneneingang. «16 Uhr, wir proben im Schauspielhaus. Treffen dort?» So stand es in ihrer SMS an den Schreibenden. Ja schon, aber wo im Schauspielhaus? Und wo wäre der Bühneneingang? Irrfahrten auf der letzen Meile. Nun, da wir uns gefunden haben und im Lift in den vierten Stock hochfahren, stelle ich ihr die Frage, warum ihr Quartett hier auf der Probebühne des Basler Schauspielhauses übt. «Nun, jede Probe findet eigentlich woanders statt», erklärt Anna Brunner, Geigerin im Amar Quartett und Gründerin des Ensembles vor über zwanzig Jahren. Ausschlaggebend sei, was von den Anfahrtswegen her am praktischsten sei. Sie wohnt bei Thun. Igor Keller, der andere Geiger des Quartetts (die beiden wechseln sich in ihren Rollen als erste und zweite Geige ab), wohnt in St. Gallen, wo er Konzertmeister im Sinfonieorchester
ist. Hannes Bärtschi, Bratschist, in Zürich. Und der Cellist Christopher Jepson in Basel. Er und Bärtschi sind Mitglieder des dortigen Sinfonieorchesters. Ein Quartett über die ganze Schweiz verteilt. Orchesterspiel und Quartett – das schliesst sich nicht aus. Ebenso wenig wie Oper und Kammermusik. So die Programmidee des Amar Quartetts an den St. Galler Festspielen. «Lucia di Lammermoor», «L’Elisir d’amore» – Gaetano Donizetti kennt man als Opernkomponisten. Dass der Norditaliener aus Bergamo die Gefilde des Belcanto selten aber doch auch immer wieder mal verlassen hat und dabei neunzehn Streichquartette geschrieben hat, ist weniger bekannt. Der Grove Dictionary of Music schnödet zwar über Donizettis Instrumentalmusik, diese habe höchstens als technische Fingerübung Bedeutung. Anders sieht das Anna Brunner. «Wir hatten wirklich die Qual der Wahl», sagt
sie. «Diese Streichquartette sind Musik, die völlig frei und frisch daherkommt. Man hört darin das Leichte und Virtuose des Opernkomponisten.» Die Herausforderung dabei, so merkt sie an, sei es, diese frische Musik, geschrieben für den hausmusikalischen Gebrauch einer Familie in Bergamo, in eine formale Einheit zu bringen. «Die Quartette sind zwar frisch und ideenreich, aber formal nicht so straff wie etwa ein Haydn». Der andere Komponist ihres St. Galler Programms ist noch weniger bekannt – auch was seine Opern betrifft. Alfredo Catalanis «La Wally» steht zwar ab und zu auf den Spielplänen – unter anderem auch im Theater St. Gallen, wo das Werk 2012 aufgeführt wurde. Doch sonst ist der Komponist aus dem Konzertleben heute quasi verschwunden. Das war zu seiner Zeit ganz anders. Das in den Verismo verliebte Italien schätzt Catalani hoch. Ebenso der Dirigent Arturo Tos-
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Besteht seit über zwanzig Jahren: das Amar Quartett. Den Namen regte der 100. Geburtstag Paul Hindemiths an, der als Bratschist seinerseits ein Streichquartett desselben Namens gründete.
Akustik im Probesaal hier oben. Sonne aus den Oberlichtern. Im Raum stehen Lampen, Garderobeständer, Stellwände, Rollkisten mit Theaterkrimskrams. Das Quartett in der Mitte des Saals. Man spricht englisch und deutsch durcheinander. Typische Musikersprache, die nur Aussenstehenden als Kauderwelsch vorkommt. «This is a punktierte, right?», fragt Cellist Jepson. «Are we doing the piano that way, oder sollen wir da noch mehr machen?» Man lacht um die beiden Pulte herum und über die zwei Geigenkästen, die als Notenständer dienen.
viel spielen, wie ich es eigentlich wollte. Aber, dass meine Kollegen im Orchester spielen, das wirkt sich eigentlich nur positiv aus. Denn Orchesterleute haben oft grosse Lust auf Kammermusik. Und es sind alles super Musiker.» Sich selbst bezeichnet sie als «Streichquartett-addicted», als Quartettsüchtige. Da sie die einzige ist, die keine Orchesterdienste zu verrichten hat, kümmert sie sich um das Management ihres Quartetts. Konzerte, aber auch Pauschalangebote mit Musik und Gastronomie und Bootsfahrten über den Thunersee. Oder, besondere
«Donizettis Quartette sind frisch und ideenreich, formal jedoch nicht so straff wie etwa ein Haydn»
canini, der Catalani zu Ehren, sogar seine eigene Tochter Wally taufte. Und für die diesjährige Ausgabe der Festspiele hat das Theater St. Gallen mit Catalanis vorletzter Oper «Loreley» eine weitere Rarität ausgegraben. Das Amar Quartett steuert den kammermusikalischen Kommentar dazu bei: Catalanis Streichquartett in a-Moll, sein einziges Kammermusikwerk, neben ein paar Fugen und einer Danza andalusia. Und wenn man will, kann man im langsamen Satz des Quartetts auch ein paar sehnsuchtsvoll andalusische Töne hören. Gesangliches jedenfalls, einen feinen Serenadenton, der sich indes vor komplexeren harmonischen Zusammenhängen nicht scheut. Die Wagner-Verehrung Catalanis hat sich da hörbar ihren Platz verschafft. Zurück ins Schauspielhaus Basel. Das Amar Quartett probt Kernrepertoire für ein Konzert mit Schuberts Rosamunde-Quartett. Eine erstaunlich gute
Lacht vor – und auch nach kniffligen Passagen. Selbst wenn diese noch nicht immer ganz gelingen. Die Geigen sind im Finale bei Schubert ziemlich gefordert. Man lacht und kauderwelscht und hat als Drittes eine feine Körpersprache entwickelt in jahrelanger Quartetterfahrung. Hier ein tieferes Atmen, dort eine kleine Schulterdrehung, da ein Kopfnicken, ein Blick, ein etwas dezidierterer Strich. Und all das überträgt sich sofort in die Musik. Immer wieder grossartig, zu beobachten, wie Musik und Kommunikation in der Praxis Eins werden können. Besonders bei einem so reaktionsschnellen Organismus wie einem Streichquartett. Seit über zwanzig Jahren spielt das Amar Quartett. 1995 gab man sich den Namen. Anlass war der 100. Geburtstag Paul Hindemiths, der als Bratschist ein Streichquartett desselben Namens gründete. «Schon als Teenager wollte ich Kammermusik machen», sagt Anna Brunner. «Ein Streichquartett musste es sein.» Sie gründete mit ihrer Schwester, der Cellistin Maja Brunner, ein Quartett, das spätere Amar Quartett. Seit zehn Jahren gehen die Schwestern als Musikerinnen allerdings getrennte Wege. Maja spielt im Stradivari Quartett auf den kostbaren Instrumenten, die sie vorher gemeinsam erklingen liessen. Anna behielt dafür den Namen Amar Quartett. Und hat es jetzt, in der aktuellen Besetzung, mit drei Orchestermusikern zu tun. Welche Auswirkungen hat das auf ihr Ensemble? «Klar, wir können nicht so
Herzensangelegenheit, die sommerliche Konzertreihe in Falera. Proben, Spielen in der Sommerfrische, Zeit füreinander haben, für neues Repertoire, für eine Vertiefung des Zusammenspiels. Das sind Träume, die wohl auch das historische, zwischen den Weltkriegen äusserst aktive Amar Quartett Paul Hindemiths hatte. Eher, als diese Träume im hektischen Konzertalltag umzusetzen. Dass hierbei heute die Schnelllebigkeit zugenommen hat, bestätigt auch Anna Brunner. «Alles ist kurzfristiger geworden. Das Booking durch den Veranstalter, die Entscheidung der Hörer, an ein Konzert zu gehen.» Und doch, ihr Amar Quartett besteht und spielt und das seit über zwei Jahrzehnten. Der Rahmen ist noch O längst nicht ausgeschöpft.
Quartetto lirico 27. Juni 2017, 19.00 Uhr Schutzengelkapelle Streichquartette der Opernkomponisten Gaetano Donizetti und Alfredo Catalani Gaetano Donizetti Streichquartett NN (1821) Alfredo Catalani Streichquartett a-Moll Amar Quartett Igor Keller (Violine), Anna Brunner (Violine), Hannes Bärtschi (Viola), Christopher Jepson (Violoncello)
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service QUARTETTO LIRICO STREICHQUARTETTE DER OPERNKOMPONISTEN GAETANO DONIZETTI UND ALFREDO CATALANI
23. Juni bis 6. Juli 2017
Programm Loreley OPER VON ALFREDO CATALANI OPEN-AIR-AUFFÜHRUNG AUF DEM KLOSTERHOF ST.GALLEN MUSIKALISCHE LEITUNG Stefan Blunier INSZENIERUNG David Alden BÜHNE Gideon Davey KOSTÜME Jon Morell CHOREOGRAFIE Beate Vollack LICHT Wolfgang Göbbel CHOREINSTUDIERUNG Michael Vogel DRAMATURGIE Deborah Maier
Dienstag, 27. Juni 2017, 19.00 Uhr, Schutzengelkapelle Gaetano Donizetti, Streichquartett Nr. 11 C-Dur (1821) Alfredo Catalani, Streichquartett a-Moll
Anton Bruckner, Adagio aus dem Streichquintett F-Dur WAB 112 (arr. Stanislaw Skrowaczewski) Alfredo Catalani, Missa e-Moll (1872)
Amar Quartett Igor Keller, Violine Anna Brunner, Violine Hannes Bärtschi, Viola Christopher Jepson, Violoncello
Open-Air-Festspiele im St. Galler Klosterbezirk
NYMPHE DI RHENO SONATEN UND SUITEN FÜR ZWEI GAMBEN UND BAROCKSAAL Donnerstag, 29. Juni 20167 19.00 Uhr, Barocksaal der Stiftsbibliothek
Werke von Johannes Schenck, Matthew Locke, Sainte-Colombe und Johann Sebastian Bach Romina Lischka, Viola da gamba Liam Fennelly, Viola da gamba
LORELEY Aušrine˙ Stundyte˙ | Elena Rossi WALTER Timothy Richards | Derek Taylor HERMANN Alfredo Daza | Vittorio Vitelli ANNA Tatjana Schneider | Sheida Damghani RUDOLFO Tomislav Lucic
SCHATTENREICHE CHORLIEDER UND KLAVIERWERKE DER ROMANTIK
Chor des Theaters St.Gallen Theaterchor St.Gallen Theaterchor Winterthur Prager Philharmonischer Chor Tanzkompanie des Theaters St.Gallen
Werke von Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Liszt, Friedrich Silcher und Josef Gabriel Rheinberger
Statisterie des Theaters St.Gallen Sinfonieorchester St.Gallen Premiere: Freitag, 23. Juni 2017, 20.30 Uhr Weitere Vorstellungen: 24., 27., 30. Juni, 1., 5. und 7. Juli 2017 jeweils 20.30 Uhr (eine Pause)
Kranzrede TANZSTÜCK VON JÖRG WEINÖHL KATHEDRALE ST.GALLEN
Freitag, 30. Juni 2017, 19.00 Uhr, Kirche St. Laurenzen
Vokalconsort Berlin David Cavelius, Leitung Philip Mayers, Klavier
FESTGOTTESDIENST FESTGOTTESDIENST ZU DEN ST. GALLER FESTSPIELEN Sonntag, 2. Juli 2017, 11.00 Uhr, Kathedrale
Otto Nicolai Messe D-Dur (1832)
CHOREOGRAFIE Jörg Weinöhl KOSTÜME Marion Steiner LICHT Andreas Enzler DRAMATURGIE Marius Bolten
Domkapellmeister Andreas Gut, Leitung Kimberly Brockman, Sopran Sonja Leutwyler, Alt Ulrich Amacher, Tenor Paulo Medeiros, Bass
GESANG thélème ORGEL Willibald Guggenmos
DomChor der Kathedrale St.Gallen Collegium Instrumentale
Tanzkompanie des Theaters St.Gallen Premiere: Mittwoch, 28. Juni 2017, 21 Uhr Weitere Vorstellungen: 29. Juni und 3. Juli 2017, jeweils 21 Uhr
Konzerte
Otto Tausk, Leitung Elena Rossi, Sopran Alessandra Volpe, Alt Derek Taylor, Tenor Levente Páll, Bass
ORGEL LEGENDEN ORGELMUSIK DER ROMANTIK Sonntag, 2. Juli 2017, 17.00 Uhr, Kathedrale
Werke von Alfredo Catalani, Richard Wagner, Louis Vierne u.a. Willibald Guggenmos, Orgel
DONNA INCANTATRICE HÖFISCHE UND VOLKSTÜMLICHE LIEBESLIEDER DER ITALIENISCHEN RENAISSANCE
FESTKONZERT BRUCKNER | CATALANI
Sonntag, 25. Juni 2017, 19.00 Uhr, Kirche St. Laurenzen
Donnerstag, 6. Juli 2017, 20.00 Uhr, Kathedrale St. Gallen
Marco Beasley, Gesang Stefano Rocco, Theorbe und Barockgitarre Fabio Accurso, Laute Leonardo Massa, Colascione Vito De Lorenzi, Perkussion
Sinfonieorchester St. Gallen Kammerchor Feldkirch (Einstudierung: Benjamin Lack) Prager Philharmonischer Chor (Einstudierung: Jakub Zicha)
Die Atmosphäre des UNESCO-Weltkulturerbes ist einmalig und macht einen Besuch der St.Galler Festspiele zu mehr als einem Kulturgenuss. Für Ihr ganz besonderes Festspielerlebnis bieten wir Ihnen spezielle Angebote, die Sie individuell zusammenstellen können. Vor der Veranstaltung können Sie bei einer Werkeinführung mehr über die Oper Loreley, den Komponisten Alfredo Catalani, die Solisten und das Kreativteam erfahren. Die Produktion einer Oper unter freiem Himmel bringt ganz besondere Herausforderungen mit sich. Innerhalb kurzer Zeit werden Bühne und Zuschauertribüne gebaut, mit Sound und Licht ausgestattet, das Sinfonieorchester platziert, die rund 200 Mitwirkenden organisiert, damit am Ende die Kunst ganz im Mittelpunkt stehen und strahlen kann. Bei unseren Backstageführungen zeigen wir Ihnen, wie das geht und was alles bedacht wurde. PLANEN SIE EINEN ANLASS? Gruppen können ihren Festspielabend mit kulinarischen Genüssen entweder im Festspielzelt auf dem Gelände oder in nahegelegenen Räumlichkeiten verbinden. Gemeinsam mit dem Cateringpartner PSG I Peter Schildknecht Gastronomie, organisiert das Festspielteam Apéros für die Gäste. ERMÄSSIGUNGEN Gruppen ab 15 Personen erhalten bei den St.Galler Festspielen 10% Ermässigung auf die gültigen Tagespreise (ausgenommen 5. Kategorie). Nutzen Sie die Festspielangebote und lassen Sie sich gerne individuell beraten. Für Anfragen zu Festspiel-Events steht Ihnen Frau Annina Waibel gerne zur Verfügung: Telefon +41 71 242 06 21 oder a.waibel@theatersg.ch
Vorverkauf ONLINE www.stgaller-festspiele.ch Jederzeit die besten Plätze aussuchen und online kaufen TELEFONISCH +41 71 242 06 06 Die Mitarbeiterinnen nehmen Ihre Ticketwünsche entgegen und beraten Sie gerne. SCHRIFTLICH St.Galler Festspiele, Billettkasse Museumstrasse 24, CH-9004 St.Gallen Schriftliche Bestellungen mit Angaben zum Vorstellungsdatum, Anzahl Tickets, Kategorie können an obenstehende Adresse gesandt werden. Bearbeitungsgebühr: 5.– PERSÖNLICH Tickets können Sie am Schalter der Theaterkasse in der Museumstrasse 24 oder während der Festspiele im Besucherzentrum Stiftsbezirk an der Gallusstrasse 11 direkt beziehen.
service
Bilder: St.Galler Festspiele/T+T Fotografie/Tanja Dorendorf
Szenenbilder der Festspielproduktion von Jules Massenets «Le Cid», 2016.
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impressum
impressum 38. Jahrgang, Juni/Juli 2017 Special Edition St.Galler Festspiele 2017
Korrektorat Ernst Jenny
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Chefredaktor Andrea Meuli Redaktion Reinmar Wagner, Werner Pfister Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe Marco Frei, Benjamin Herzog, Maya Künzler, Kai Luehrs-Kaiser, Andrea Meuli, Reinmar Wagner Bildstrecken Priska Ketterer Anzeigen Musik&Theater +41 44 491 71 88 redaktion@musikundtheater.ch Abonnementverwaltung Kundenservice/Abo Sommeraustrasse 32 Postfach 491, CH-7007 Chur Tel. 0844 226 226 abo@somedia.ch Herstellung Somedia Production AG
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3-2014
9/10-2014
BER /OKTOB 09 /10 SEPTEM
03 MÄ RZ 201 4
CHF 12. –
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Mau ro Pet er:er Der Aufs teig der: Rud olf Buc hbin Dom pteu r des Aug enb lick s
theater nn: Kar in Ber gma «Nic ht um jede n Pre is»
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