Belarus

Page 1

Belarus

www.n-ost.org  Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung  März 2012  5,00 Euro

Ein Länderspezial von n-ost

mit CD-Beilage

Mag

34

Paranoia 2.0

Kampf gegen die Kernkraft

Apps aus der Diktatur

Wie der belarussische Geheimdienst das Internet nutzt

25 Jahre nach Tschernobyl baut Belarus sein erstes Atomkraftwerk

Belarussische Programmierer sind gefragt


Belarus

Editorial Wer nach Belarus kommt, den überrascht die Ambivalenz des Landes: Überall begegnet man offenen und ambitionierten Menschen, die bestens mit der Welt vernetzt sind – und die sich wünschen, nicht ständig mit dem Etikett der „letzten Diktatur Europas“ in Verbindung gebracht zu werden. Gleichzeitig ist das seit 1994 bestehende autoritäre System allgegenwärtig. Teile der Opposition sitzen im Gefängnis, der Geheimdienst blockiert Internetseiten und verbietet kritische Bücher und Popsongs. Seit der brutalen Niederschlagung von Protesten nach der Präsidentenwahl 2010 hat das Regime Meinungsfreiheit und Grundrechte weiter eingeschränkt. Hinzu kommt die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Ende der Sowjetunion. In diesem n-ost-Länderspezial kommen der Jungunternehmer, der per Smartphone sein nächstes Business plant, ebenso zu Wort wie der staatlich geförderte Ökolandwirt oder der Theaterregisseur ohne Theater. Texte und Fotos entstanden überwiegend auf der n-ost-Medienwerkstatt im Oktober 2011 in Minsk, auf der rund 100 belarussische, deutsche und andere europäische Journalisten fünf Tage lang gemeinsam recherchierten und diskutierten. Die wichtigste Forderung der belarussischen Kollegen: Bleibt mit uns in Kontakt!

Wir danken unseren Partnern:

Für die CD am Ende des Hefts hat die Redaktion des unabhängigen belarussischen Online-Magazins 34Mag ungewöhnliche Treffpunkte, Künstler und Aktivisten besucht. Die Podcasts, Videoclips und Interviews auf der CD zeigen einmal mehr die Vielfältigkeit des Landes.

Sonja Volkmann-Schluck, Redaktionsleitung

3


Belarus

Editorial Wer nach Belarus kommt, den überrascht die Ambivalenz des Landes: Überall begegnet man offenen und ambitionierten Menschen, die bestens mit der Welt vernetzt sind – und die sich wünschen, nicht ständig mit dem Etikett der „letzten Diktatur Europas“ in Verbindung gebracht zu werden. Gleichzeitig ist das seit 1994 bestehende autoritäre System allgegenwärtig. Teile der Opposition sitzen im Gefängnis, der Geheimdienst blockiert Internetseiten und verbietet kritische Bücher und Popsongs. Seit der brutalen Niederschlagung von Protesten nach der Präsidentenwahl 2010 hat das Regime Meinungsfreiheit und Grundrechte weiter eingeschränkt. Hinzu kommt die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Ende der Sowjetunion. In diesem n-ost-Länderspezial kommen der Jungunternehmer, der per Smartphone sein nächstes Business plant, ebenso zu Wort wie der staatlich geförderte Ökolandwirt oder der Theaterregisseur ohne Theater. Texte und Fotos entstanden überwiegend auf der n-ost-Medienwerkstatt im Oktober 2011 in Minsk, auf der rund 100 belarussische, deutsche und andere europäische Journalisten fünf Tage lang gemeinsam recherchierten und diskutierten. Die wichtigste Forderung der belarussischen Kollegen: Bleibt mit uns in Kontakt!

Wir danken unseren Partnern:

Für die CD am Ende des Hefts hat die Redaktion des unabhängigen belarussischen Online-Magazins 34Mag ungewöhnliche Treffpunkte, Künstler und Aktivisten besucht. Die Podcasts, Videoclips und Interviews auf der CD zeigen einmal mehr die Vielfältigkeit des Landes.

Sonja Volkmann-Schluck, Redaktionsleitung

3


4

Belarus

Belarus

5

Inhalt 06

Belarus — Eine Landkarte

08

Aus Millimetern werden Stunden

Eine Bahnfahrt nach Minsk

Gesellschaft 10

Generation unter Beobachtung

Wirtschaft 50

Ein Küchengespräch über Protest und Angst 16

Aufstand in der Warteschleife

Warum die Internetrevolution in Belarus auf sich warten lässt 22 24 28

Porträt

Wirtschaftsförderung auf belarussisch

56

83

60

84

66

86 98

Mutter Irina, Nonne 32

Partisanenkampf gegen die Kernkraft

25 Jahre nach Tschernobyl baut Belarus sein erstes Atomkraftwerk 36 46

48

100

Porträt

Uladsimir Kolas, Rektor einer Geheimschule

Porträt

Ljawon Wolski, Rocksänger 102

Der Himmel von Minsk über berlin

Wie Exil-Künstler in Berlin ihre Heimat sehen 110

Lasst uns nicht im Stich!

Ein Appell an die Europäer

Autobahnen auf verbrannter Erde

Der Historiker Felix Ackermann über belarussische Erinnerungskultur

Schere im Kopf, Kartoffeln auf der Bühne

Unabhängiges Theater in Belarus

wir sind heiden

Fotoessay über die Wiederkehr belarussischer Bräuche

sonnenstadt der Träume

Ein Fotoessay des Schriftstellers Artur Klinau

willkommen im agrarstädtchen

Fotostrecke über ein Musterdorf

Paranoia 2.0

Kultur

Porträt

Andrej Nischnik, Ökolandwirt

„Wir fühlen uns als Geiseln“

Der Autor Victor Martinovich über die Zensur des KGB

Apps aus der Diktatur

Viele Fitness-Apps kommen aus Belarus 64

raum für idealismus

Die Berichterstattung über ihr Land nervt viele Belarussen

Belarus — ein staat fürs volk?

Der Comic zur Krise

CD 34Mag

Redaktionsalltag in Belarus

Als Unternehmerin in der Planwirtschaft

Porträt

Waleri Kolomijez, Rollstuhltanz-Trainer 30

54

Widerstand im Exil

Litauen ist das Zentrum der Opposition

76

Belarus steckt in einer verheerenden Wirtschaftskrise

„unglücklich das Land, das Helden nötig hat“

Interview mit der Oppositionellen Irina Chalip

der preis steigt

Medien

113

Impressum

Unabhängig, unerwartet, erfrischend: Das ist 34Mag, das Online-Magazin von belarussischen Künstlern und Oppositionellen. Die Gruppe hat für uns Texte, Filme und Fotos zusammengestellt. Die CD finden Sie am Ende des Hefts. Ein Porträt der Herausgeberin Iryna Vidanava auf Seite 78. www.34mag.net


4

Belarus

Belarus

5

Inhalt 06

Belarus — Eine Landkarte

08

Aus Millimetern werden Stunden

Eine Bahnfahrt nach Minsk

Gesellschaft 10

Generation unter Beobachtung

Wirtschaft 50

Ein Küchengespräch über Protest und Angst 16

Aufstand in der Warteschleife

Warum die Internetrevolution in Belarus auf sich warten lässt 22 24 28

Porträt

Wirtschaftsförderung auf belarussisch

56

83

60

84

66

86 98

Mutter Irina, Nonne 32

Partisanenkampf gegen die Kernkraft

25 Jahre nach Tschernobyl baut Belarus sein erstes Atomkraftwerk 36 46

48

100

Porträt

Uladsimir Kolas, Rektor einer Geheimschule

Porträt

Ljawon Wolski, Rocksänger 102

Der Himmel von Minsk über berlin

Wie Exil-Künstler in Berlin ihre Heimat sehen 110

Lasst uns nicht im Stich!

Ein Appell an die Europäer

Autobahnen auf verbrannter Erde

Der Historiker Felix Ackermann über belarussische Erinnerungskultur

Schere im Kopf, Kartoffeln auf der Bühne

Unabhängiges Theater in Belarus

wir sind heiden

Fotoessay über die Wiederkehr belarussischer Bräuche

sonnenstadt der Träume

Ein Fotoessay des Schriftstellers Artur Klinau

willkommen im agrarstädtchen

Fotostrecke über ein Musterdorf

Paranoia 2.0

Kultur

Porträt

Andrej Nischnik, Ökolandwirt

„Wir fühlen uns als Geiseln“

Der Autor Victor Martinovich über die Zensur des KGB

Apps aus der Diktatur

Viele Fitness-Apps kommen aus Belarus 64

raum für idealismus

Die Berichterstattung über ihr Land nervt viele Belarussen

Belarus — ein staat fürs volk?

Der Comic zur Krise

CD 34Mag

Redaktionsalltag in Belarus

Als Unternehmerin in der Planwirtschaft

Porträt

Waleri Kolomijez, Rollstuhltanz-Trainer 30

54

Widerstand im Exil

Litauen ist das Zentrum der Opposition

76

Belarus steckt in einer verheerenden Wirtschaftskrise

„unglücklich das Land, das Helden nötig hat“

Interview mit der Oppositionellen Irina Chalip

der preis steigt

Medien

113

Impressum

Unabhängig, unerwartet, erfrischend: Das ist 34Mag, das Online-Magazin von belarussischen Künstlern und Oppositionellen. Die Gruppe hat für uns Texte, Filme und Fotos zusammengestellt. Die CD finden Sie am Ende des Hefts. Ein Porträt der Herausgeberin Iryna Vidanava auf Seite 78. www.34mag.net


Belarus

Belarus

7

1 „Belarus“ ist der offizielle Landesname. Die Bezeichnung „Weißrussland“ dagegen lehnen viele Belarussen ab, da sie sich zu sehr auf den großen Nachbarn Russland bezieht.

7

2 Die Flagge mit dem traditionellen Folkloremuster stammt aus der Sowjetzeit. Präsident Lukaschenko führte sie nach seiner Wahl wieder ein.

3 Die frühere Nationalflagge in Rot und Weiß

1

verwendet heute die Opposition.

2

4 Präsident Alexander Lukaschenko wurde 1994

3

demokratisch gewählt. Dann verwandelte er Belarus in ein autoritäres Regime.

4

5 Die Fläche umfasst rund 200.000 m², rund zwei Drittel von Deutschland.

6 Die Hauptstadt Minsk ist mit 1,8 Millionen

6 11

Einwohnern die größte Metropole. In Witebsk, Grodno und Brest leben jeweils rund 300.000 Menschen.

8

7 Die Mehrheit (75 Prozent) der Bevölkerung

10

spricht Russisch. Die zweite Amtssprache Belarussisch gewinnt vor allem bei der Opposition an Bedeutung. Das Ў („u“) ist ein eigener belarussischer Buchstabe.

8 Wegen der rasenden Inflation bezahlt man in

5

Belarus nur noch mit Scheinen. Die Preise haben sich aufgrund der Wirtschaftskrise seit 2010 verdoppelt.

9

9 Seit Tschernobyl ist etwa ein Viertel des Landes verstrahlt. Viele Belarussen mussten umsiedeln.

10 Auf dem Oktoberplatz in Minsk protestierten Ende 2010 tausende Regimegegner gegen die gefälschte Präsidentenwahl. Viele sitzen bis heute in Haft.

11 Immer mehr Oppositionelle verlassen das Land. Illustration: Murielle Biedrzycki

6

In Polen gibt es einen belarussischen Sender, in Litauen eine Exil-Universität.

Murielle Biedrzycki, geboren 1973, studierte Kommunikationsdesign in Potsdam und Barcelona. Sie arbeitet als Illustratorin und Grafikdesignerin in Berlin.


Belarus

Belarus

7

1 „Belarus“ ist der offizielle Landesname. Die Bezeichnung „Weißrussland“ dagegen lehnen viele Belarussen ab, da sie sich zu sehr auf den großen Nachbarn Russland bezieht.

7

2 Die Flagge mit dem traditionellen Folkloremuster stammt aus der Sowjetzeit. Präsident Lukaschenko führte sie nach seiner Wahl wieder ein.

3 Die frühere Nationalflagge in Rot und Weiß

1

verwendet heute die Opposition.

2

4 Präsident Alexander Lukaschenko wurde 1994

3

demokratisch gewählt. Dann verwandelte er Belarus in ein autoritäres Regime.

4

5 Die Fläche umfasst rund 200.000 m², rund zwei Drittel von Deutschland.

6 Die Hauptstadt Minsk ist mit 1,8 Millionen

6 11

Einwohnern die größte Metropole. In Witebsk, Grodno und Brest leben jeweils rund 300.000 Menschen.

8

7 Die Mehrheit (75 Prozent) der Bevölkerung

10

spricht Russisch. Die zweite Amtssprache Belarussisch gewinnt vor allem bei der Opposition an Bedeutung. Das Ў („u“) ist ein eigener belarussischer Buchstabe.

8 Wegen der rasenden Inflation bezahlt man in

5

Belarus nur noch mit Scheinen. Die Preise haben sich aufgrund der Wirtschaftskrise seit 2010 verdoppelt.

9

9 Seit Tschernobyl ist etwa ein Viertel des Landes verstrahlt. Viele Belarussen mussten umsiedeln.

10 Auf dem Oktoberplatz in Minsk protestierten Ende 2010 tausende Regimegegner gegen die gefälschte Präsidentenwahl. Viele sitzen bis heute in Haft.

11 Immer mehr Oppositionelle verlassen das Land. Illustration: Murielle Biedrzycki

6

In Polen gibt es einen belarussischen Sender, in Litauen eine Exil-Universität.

Murielle Biedrzycki, geboren 1973, studierte Kommunikationsdesign in Potsdam und Barcelona. Sie arbeitet als Illustratorin und Grafikdesignerin in Berlin.


Belarus

Belarus

Aus Millimetern werden Stunden Eine Zugfahrt von Berlin nach Minsk dauert etwas mehr als 16 Stunden. Viele Deutsche finden das erstaunlich kurz. Eine Glosse von Jens Mühling

Foto: Gabriele Fromm

8

„Ach“, fragen sie, „nicht länger?“ Auf der mentalen Landkarte des Westeuropäers ist die belarussische Hauptstadt nur lose verankert. Man stellt sie sich, wenn man überhaupt ein Bild von ihr hat, als östlichen Endpunkt einer Zugreise vor, bei der unwägbare Distanzen zu überbrücken sind – geografisch wie mental. Dabei müsste die erstaunte Nachfrage im Grunde lauten: Ach, so lange? Minsk ist von Berlin nur 954 Kilometer entfernt. Ähnlich nahe Städte, Paris zum Beispiel, kann man mit dem Zug in acht Stunden erreichen, bis London sind es neuneinhalb, bis Stockholm zwölf Stunden. Dass die Fahrt nach Belarus so lange dauert, hat viele Gründe. Die Züge sind langsam. Die Grenzkontrollen sind zeitraubend – insbesondere die EU bewacht ihren politischen Horizont mit einer Strenge, die immer noch verblüfft, weil man als Westeuropäer so viel Ernst intuitiv eher auf der anderen Seite erwartet. Das Hindernis aber, das die Reise am nachhaltigsten verzögert, ist der Radwechsel. Es ist ein bemerkenswertes Schauspiel. Kaum sind die Zöllner aus den Waggons verschwunden, rollt der Zug in eine lange, lichtarme Werkhalle. Arbeiter schwärmen aus, die zu ihrem persönlichen Schutz Plastikhelme auf den Köpfen und Zigaretten in den Mundwinkeln tragen. Sie entkoppeln der Reihe nach die Waggons und lösen die Verankerungen der Radgestelle. Dann werden die Waggons (mitsamt Passagieren) von riesigen Wagenhebern in die Höhe gestemmt. Schließlich rollt man die auf den Gleisen verbliebenen Radgestelle aus der Halle und ersetzt sie durch neue. Der Sinn dieses zeitraubenden Rituals, das je nach Zuglänge bis zu drei Stunden dauert, ist umstritten. Pragmatiker behaupten, es diene einfach nur der Umrüstung des Zugs auf das russische Schienensystem, das 85 Millimeter breiter ist als das westeuropäische.

Im Grunde ist das richtig, aber es erklärt nichts. Auch die spanischen Schienen weichen vom europäischen Standard ab, aber an der französisch-spanischen Grenze werden seit Jahrzehnten Züge mit flexiblem Radstand eingesetzt. Nicht so am östlichen Rand Europas, obwohl es technisch möglich wäre. Warum es nicht getan wird, darüber kann man lange nachdenken, während man in einem radlosen, entkoppelten, in die Luft gestemmten Waggon der Belarussischen Eisenbahn festsitzt, gerne mit einem Glas Tee in der Hand, das die Schaffnerin auf  Wunsch aus dem Bord-Samowar zapft. Der belarussische Schriftsteller Artur Klinau bezeichnet das Radritual an der Westgrenze seines Landes als „Fegefeuer“, also als Durchgangsstation zwischen Himmel und Hölle – wobei er offen lässt, ob das Paradies nun westlich oder östlich der Werkhallen liegt. Offen bleibt auch, warum für den Radwechsel eigentlich die Osteuropäer zuständig sind und nicht die Westeuropäer, was ja mit gleicher Berechtigung der Fall sein könnte. Offen bleibt, ob eine Spurweite von 1.435 Millimetern normaler, demokratischer oder gar gottgegebener ist als eine von 1.520 Millimetern, und ob sich daraus nun ableiten lässt, dass die russische Seele 85 Millimeter breiter ist als die westeuropäische. Das einzig Klare an dieser Grenze ist offenbar, dass hinter ihr die Unklarheiten beginnen. Wer über all diese Fragen lange genug nachdenkt und dabei ausdauernd Tee trinkt, wird irgendwann unweigerlich die Bordtoilette suchen. Und feststellen, dass sie während des Radrituals leider geschlossen ist. Darauf hat die Schaffnerin ihre Passagiere auch vorsorglich hingewiesen. Allerdings nur auf Russisch. Dieser Text erschien im „Tagesspiegel“. Jens Mühling, geboren 1976, ist Mitglied von n-ost und Redakteur in Berlin. Seine Kolumne „Jens Mühling erkundet den Wilden Osten“ erscheint monatlich in der Sonntagsbeilage des „Tagesspiegel“.

9


Belarus

Belarus

Aus Millimetern werden Stunden Eine Zugfahrt von Berlin nach Minsk dauert etwas mehr als 16 Stunden. Viele Deutsche finden das erstaunlich kurz. Eine Glosse von Jens Mühling

Foto: Gabriele Fromm

8

„Ach“, fragen sie, „nicht länger?“ Auf der mentalen Landkarte des Westeuropäers ist die belarussische Hauptstadt nur lose verankert. Man stellt sie sich, wenn man überhaupt ein Bild von ihr hat, als östlichen Endpunkt einer Zugreise vor, bei der unwägbare Distanzen zu überbrücken sind – geografisch wie mental. Dabei müsste die erstaunte Nachfrage im Grunde lauten: Ach, so lange? Minsk ist von Berlin nur 954 Kilometer entfernt. Ähnlich nahe Städte, Paris zum Beispiel, kann man mit dem Zug in acht Stunden erreichen, bis London sind es neuneinhalb, bis Stockholm zwölf Stunden. Dass die Fahrt nach Belarus so lange dauert, hat viele Gründe. Die Züge sind langsam. Die Grenzkontrollen sind zeitraubend – insbesondere die EU bewacht ihren politischen Horizont mit einer Strenge, die immer noch verblüfft, weil man als Westeuropäer so viel Ernst intuitiv eher auf der anderen Seite erwartet. Das Hindernis aber, das die Reise am nachhaltigsten verzögert, ist der Radwechsel. Es ist ein bemerkenswertes Schauspiel. Kaum sind die Zöllner aus den Waggons verschwunden, rollt der Zug in eine lange, lichtarme Werkhalle. Arbeiter schwärmen aus, die zu ihrem persönlichen Schutz Plastikhelme auf den Köpfen und Zigaretten in den Mundwinkeln tragen. Sie entkoppeln der Reihe nach die Waggons und lösen die Verankerungen der Radgestelle. Dann werden die Waggons (mitsamt Passagieren) von riesigen Wagenhebern in die Höhe gestemmt. Schließlich rollt man die auf den Gleisen verbliebenen Radgestelle aus der Halle und ersetzt sie durch neue. Der Sinn dieses zeitraubenden Rituals, das je nach Zuglänge bis zu drei Stunden dauert, ist umstritten. Pragmatiker behaupten, es diene einfach nur der Umrüstung des Zugs auf das russische Schienensystem, das 85 Millimeter breiter ist als das westeuropäische.

Im Grunde ist das richtig, aber es erklärt nichts. Auch die spanischen Schienen weichen vom europäischen Standard ab, aber an der französisch-spanischen Grenze werden seit Jahrzehnten Züge mit flexiblem Radstand eingesetzt. Nicht so am östlichen Rand Europas, obwohl es technisch möglich wäre. Warum es nicht getan wird, darüber kann man lange nachdenken, während man in einem radlosen, entkoppelten, in die Luft gestemmten Waggon der Belarussischen Eisenbahn festsitzt, gerne mit einem Glas Tee in der Hand, das die Schaffnerin auf  Wunsch aus dem Bord-Samowar zapft. Der belarussische Schriftsteller Artur Klinau bezeichnet das Radritual an der Westgrenze seines Landes als „Fegefeuer“, also als Durchgangsstation zwischen Himmel und Hölle – wobei er offen lässt, ob das Paradies nun westlich oder östlich der Werkhallen liegt. Offen bleibt auch, warum für den Radwechsel eigentlich die Osteuropäer zuständig sind und nicht die Westeuropäer, was ja mit gleicher Berechtigung der Fall sein könnte. Offen bleibt, ob eine Spurweite von 1.435 Millimetern normaler, demokratischer oder gar gottgegebener ist als eine von 1.520 Millimetern, und ob sich daraus nun ableiten lässt, dass die russische Seele 85 Millimeter breiter ist als die westeuropäische. Das einzig Klare an dieser Grenze ist offenbar, dass hinter ihr die Unklarheiten beginnen. Wer über all diese Fragen lange genug nachdenkt und dabei ausdauernd Tee trinkt, wird irgendwann unweigerlich die Bordtoilette suchen. Und feststellen, dass sie während des Radrituals leider geschlossen ist. Darauf hat die Schaffnerin ihre Passagiere auch vorsorglich hingewiesen. Allerdings nur auf Russisch. Dieser Text erschien im „Tagesspiegel“. Jens Mühling, geboren 1976, ist Mitglied von n-ost und Redakteur in Berlin. Seine Kolumne „Jens Mühling erkundet den Wilden Osten“ erscheint monatlich in der Sonntagsbeilage des „Tagesspiegel“.

9


10

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

11

Generation unter Beobachtung Junge belarussische Intellektuelle verwandeln ihr alltägliches Unbehagen in Kunst. Am Küchentisch diskutieren sie über die eigene Angst und Protest. Text und Fotos: Ulrike Gruska

Alesja Alexijewitsch* kann sie nicht mehr hören, diese Floskel von der „letzten Diktatur Europas“. Doch das fällt den Leuten zuerst ein, wenn sie hören, dass Alesja aus Belarus kommt – wenn ihnen überhaupt etwas einfällt. Seit 17 Jahren, seit Alexander Lukaschenko praktisch allein regiert, klebt dieses Etikett auf dem Land. Selbst wenn man es abkratzt, hinterlässt es hässliche Rückstände, durch die alles irgendwie trostlos aussieht und grau.

»  Den Nachbarn haben wir erzählt, dass wir verheiratet sind, denn in Belarus in einer WG zu wohnen, ist mindestens genauso ungewöhnlich wie freiberuflich zu arbeiten. « Dabei ist das Leben von Alesja alles andere als grau. Die 32-Jährige organisiert Kulturveranstaltungen in Minsk und kommt dabei mit Künstlern und ausländischen Gästen ebenso in Kontakt wie mit dem Geheimdienst. Vor ein paar Monaten ist sie mit einem guten Freund zusammengezogen, dem Schauspieler Wladimir Schurawkow: „Den Nachbarn haben wir erzählt, dass wir verheiratet sind, denn in Belarus in einer WG zu wohnen, ist mindestens genauso ungewöhnlich wie freiberuflich zu arbeiten.“ Sie haben die Wände bunt gestrichen und die barock anmutenden Sessel der Vormieter in die Küche verfrachtet, die dadurch noch kleiner wirkt – aber dafür umso gemütlicher, wenn sie hier mit Freunden zusammensitzen.

Mehr als 700 Oppositionelle wurden verhaftet Alesja hat Schokolade aufgedeckt, Kekse, Orangen, Tee und Wein. In dichten Schwaden hängt Zigarettenrauch über dem Tisch. Olga Suworowa ist gekommen, eine Konzertpianistin, die am KonserIn der Wohnung von Wladimir Schurawkow (Mitte) und Alesja Alexijewitsch treffen sich verschiedene Künstler.

Olga Suworowa schaut sich die jüngste Produktion des Korniag-Theaters an.

vatorium lehrt, und Alexander Iwaschkewitsch, der mit Wladimir zusammen auf der Bühne steht. Immer wieder klingelt es an der Tür. Auf   Wladimirs Laptop läuft ein Video: die jüngste Produktion des Korniag-Theaters, eines der wenigen unabhängigen Theater im Land, zu dessen Ensemble Wladimir und Alexander gehören. Im „Stück Nr. 7“ sitzt das Volk, wie hier in der Realität, dicht gedrängt an einem Küchentisch und diskutiert. Manchmal rafft es sich zu Demonstrationen auf, hält Plakate ohne Losungen in die Luft – und verschwindet genauso schnell wieder, wie es gekommen ist. Alexander Lukaschenko regiert Belarus seit 1994. Damals gewann er die ersten – und bisher einzigen – freien Präsidentschaftswahlen. Über die Jahre stützte er seine Macht auf drei Säulen: eine Planwirtschaft sowjetischer Art, die dem Volk einen bescheidenen, aber stabilen Wohlstand sicherte, eine Außenpolitik, die Russland und den Westen geschickt gegeneinander ausspielte, und einen riesigen Sicherheitsapparat, der jede Kritik brutal unterdrückt und in der Gesellschaft eine Atmosphäre der Angst verbreitet. Als im Dezember 2010 zehntausende Belarussen auf die Straße gingen, um gegen Wahlfälschungen zu protestieren, traf sie die volle Wucht des Polizeistaates: Mehr als 700 Menschen, darunter die gesamte Führung der Opposition, wurden verhaftet, einige gefoltert und in Schauprozessen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. »


10

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

11

Generation unter Beobachtung Junge belarussische Intellektuelle verwandeln ihr alltägliches Unbehagen in Kunst. Am Küchentisch diskutieren sie über die eigene Angst und Protest. Text und Fotos: Ulrike Gruska

Alesja Alexijewitsch* kann sie nicht mehr hören, diese Floskel von der „letzten Diktatur Europas“. Doch das fällt den Leuten zuerst ein, wenn sie hören, dass Alesja aus Belarus kommt – wenn ihnen überhaupt etwas einfällt. Seit 17 Jahren, seit Alexander Lukaschenko praktisch allein regiert, klebt dieses Etikett auf dem Land. Selbst wenn man es abkratzt, hinterlässt es hässliche Rückstände, durch die alles irgendwie trostlos aussieht und grau.

»  Den Nachbarn haben wir erzählt, dass wir verheiratet sind, denn in Belarus in einer WG zu wohnen, ist mindestens genauso ungewöhnlich wie freiberuflich zu arbeiten. « Dabei ist das Leben von Alesja alles andere als grau. Die 32-Jährige organisiert Kulturveranstaltungen in Minsk und kommt dabei mit Künstlern und ausländischen Gästen ebenso in Kontakt wie mit dem Geheimdienst. Vor ein paar Monaten ist sie mit einem guten Freund zusammengezogen, dem Schauspieler Wladimir Schurawkow: „Den Nachbarn haben wir erzählt, dass wir verheiratet sind, denn in Belarus in einer WG zu wohnen, ist mindestens genauso ungewöhnlich wie freiberuflich zu arbeiten.“ Sie haben die Wände bunt gestrichen und die barock anmutenden Sessel der Vormieter in die Küche verfrachtet, die dadurch noch kleiner wirkt – aber dafür umso gemütlicher, wenn sie hier mit Freunden zusammensitzen.

Mehr als 700 Oppositionelle wurden verhaftet Alesja hat Schokolade aufgedeckt, Kekse, Orangen, Tee und Wein. In dichten Schwaden hängt Zigarettenrauch über dem Tisch. Olga Suworowa ist gekommen, eine Konzertpianistin, die am KonserIn der Wohnung von Wladimir Schurawkow (Mitte) und Alesja Alexijewitsch treffen sich verschiedene Künstler.

Olga Suworowa schaut sich die jüngste Produktion des Korniag-Theaters an.

vatorium lehrt, und Alexander Iwaschkewitsch, der mit Wladimir zusammen auf der Bühne steht. Immer wieder klingelt es an der Tür. Auf   Wladimirs Laptop läuft ein Video: die jüngste Produktion des Korniag-Theaters, eines der wenigen unabhängigen Theater im Land, zu dessen Ensemble Wladimir und Alexander gehören. Im „Stück Nr. 7“ sitzt das Volk, wie hier in der Realität, dicht gedrängt an einem Küchentisch und diskutiert. Manchmal rafft es sich zu Demonstrationen auf, hält Plakate ohne Losungen in die Luft – und verschwindet genauso schnell wieder, wie es gekommen ist. Alexander Lukaschenko regiert Belarus seit 1994. Damals gewann er die ersten – und bisher einzigen – freien Präsidentschaftswahlen. Über die Jahre stützte er seine Macht auf drei Säulen: eine Planwirtschaft sowjetischer Art, die dem Volk einen bescheidenen, aber stabilen Wohlstand sicherte, eine Außenpolitik, die Russland und den Westen geschickt gegeneinander ausspielte, und einen riesigen Sicherheitsapparat, der jede Kritik brutal unterdrückt und in der Gesellschaft eine Atmosphäre der Angst verbreitet. Als im Dezember 2010 zehntausende Belarussen auf die Straße gingen, um gegen Wahlfälschungen zu protestieren, traf sie die volle Wucht des Polizeistaates: Mehr als 700 Menschen, darunter die gesamte Führung der Opposition, wurden verhaftet, einige gefoltert und in Schauprozessen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. »


12

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Alexander Iwaschkewitsch spielt auf der Bühne die Realität nach.

Im Frühjahr durchlitt das Land zudem eine schwere Wirtschaftskrise: Der Belarussische Rubel wurde um 55 Prozent abgewertet, ausländische Investoren zogen sich zurück, jeder zehnte Arbeitnehmer musste in den Zwangsurlaub. In Panikkäufen versuchten die Menschen, ihr Geld in Devisen, Konsumgüter und Nahrungsmittel umzusetzen. Stabilität und Sicherheit – das hatten viele Belarussen ihrem Präsidenten bis dahin zugute gehalten. Doch als dann auch noch 14 Menschen bei einer Explosion in der Minsker Metro ums Leben kamen, war das Vertrauen in die politische Führung endgültig dahin. Weniger als ein Drittel der Bevölkerung, schätzt das unabhängige Institut IISEPS, steht derzeit noch hinter Lukaschenko.

Auch stumme Proteste werden bestraft Alesja Alexijewitsch schaut aus dem Fenster. Vor ihrem Haus liegt der Bangalor-Platz, auf dem heute eine Volksversammlung stattfinden soll. Nichts erinnert mehr an den Schwung der Sommermonate, als die Belarussen mit neuen Protestformen international Aufmerksamkeit erregten. Sie verabredeten sich über das Internet an zentralen Orten in Minsk und in anderen Städten, trafen sich – und taten dann manchmal einfach gar nichts. Das überwiegend junge Volk demonstrierte seine Unzufriedenheit, indem es kollektiv in die Hände klatschte, Mobiltelefone klingeln ließ oder einfach nur herumstand. Niemand hielt ein Plakat hoch, keiner skandierte Parolen. Dennoch wurden erneut mehrere hundert Menschen verhaftet. Ein verschärftes Versammlungsgesetz stellt seither an bestimmten Orten auch Nichtstun unter Strafe.

Von Alesjas Freunden war niemand bei der Demonstration auf dem Bangalor-Platz. Olga winkt ab und zieht an ihrer Zigarette. „Wir sind nicht das Land, in dem das Volk irgendetwas entscheidet“, sagt sie. „Selbst wenn ausnahmslos alle, inklusive Frauen und Kinder, auf die Straße gehen würden, ändern würde sich gar nichts.“ Ein paar hundert Menschen hätten sich heute dennoch versammelt, erzählt Alesja. Lächerlich wenige im Vergleich zu „den Schwarzen“: Milizionäre in Schutzkleidung und Geheimdienstmitarbeiter in Zivil, die die Gesichter der Demonstranten filmten und die Reden ihrer Anführer aufzeichneten.

Das Problem ist die Passivität der Menschen Der Geheimdienst, der in Belarus immer noch KGB heißt, ist allgegenwärtig. „Sie geben dir ganz deutlich zu verstehen: Du wirst beobachtet“, sagt Alesja. In der Tat bemüht sich die Regierung nicht, die Überwachung zu verstecken. Den drei deutschen Journalisten, die Alesja in ihre Wohnung eingeladen hat, schickte die Stadtverwaltung einen Bus „mit Begleitung“, der sie ans Ziel brachte und dort zur vereinbarten Zeit wieder abholte.

»  Sie geben dir ganz deutlich zu verstehen: Du wirst beobachtet. « Alesja erzählt von Briefen aus dem Ausland, die mit sonderbarer Regelmäßigkeit beschädigt ankommen und von der belarussischen Post neu verklebt werden. Von dem Unbekannten in Anzug und Krawatte, der neulich auf einer ihrer Lesungen auftauchte, zehn Minuten zuhörte und wieder verschwand. Davon, wie sie eines Abends von der Straße aus beobachtete, dass in ihrer leeren Wohnung Licht brannte, wie sie die Nacht angstvoll bei einer Freundin verbrachte und am nächsten Morgen wiederkam: Das Licht war gelöscht.

„Es gab eine Zeit, da hatte ich solche Angst, dass ich richtig panisch war“, sagt sie. „Und dann habe ich mir gesagt: Schluss, du darfst nicht mehr darüber nachdenken, sonst wirst du verrückt.“ Alesja ist sich sicher: Das Problem von Belarus ist nicht Lukaschenko. Es ist, sagt sie, die Passivität der Menschen, „dieser vorauseilende Gehorsam. Die Leute sind unfähig, etwas zu tun, wenn sie keinen Befehl dazu erhalten.“ Deshalb organisiert sie Ausstellungen moderner Künstler und Lesungen junger Dichter. Im Frühjahr hat sie eine Schreibwerkstatt veranstaltet. Eine Freundin schrieb dafür ein Theaterstück, eine szenische Lesung über belarussische Parallelwelten: über die Normalität auf der Straße, die Gewalt gegen Andersdenkende und die Verlorenheit in virtuellen Netzen.

»  Die Leute müssen endlich damit aufhören, nur am Küchentisch zu jammern, und darüber nachdenken, wie sie die Situation ändern können. « Wladimir und Alexander haben das Stück aufgeführt – so ernst und so eindringlich, dass es wehgetan habe zuzuschauen, sagte eine Frau hinterher. „Kunst muss die Menschen aufwecken“, meint Autorin Tatjana. „Die Leute müssen endlich damit aufhören, nur am Küchentisch zu jammern, und darüber nachdenken, wie sie die Situation ändern können.“ Als einer fragt, was man denn ändern könne, was für ein Land sie sich wünschten, schweigen die drei auf der Bühne. „Ja, was für ein Belarus wünschen wir uns?“, fragt Wladimir. Und Alexander sagt leise, mehr zu sich selbst: „Wenn wir das wüssten.“ * Namen geändert Ulrike Gruska, geboren 1978, ist n-ost-Korrespondentin und schreibt Reportagen, Porträts und Analysen aus den postsowjetischen Ländern. Nach mehreren Arbeitsaufenthalten in Russland und dem Südkaukasus arbeitet sie heute als freie Journalistin in Berlin.

Regimekritik beim Korniag-Theater ► Seite 98

13


12

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Alexander Iwaschkewitsch spielt auf der Bühne die Realität nach.

Im Frühjahr durchlitt das Land zudem eine schwere Wirtschaftskrise: Der Belarussische Rubel wurde um 55 Prozent abgewertet, ausländische Investoren zogen sich zurück, jeder zehnte Arbeitnehmer musste in den Zwangsurlaub. In Panikkäufen versuchten die Menschen, ihr Geld in Devisen, Konsumgüter und Nahrungsmittel umzusetzen. Stabilität und Sicherheit – das hatten viele Belarussen ihrem Präsidenten bis dahin zugute gehalten. Doch als dann auch noch 14 Menschen bei einer Explosion in der Minsker Metro ums Leben kamen, war das Vertrauen in die politische Führung endgültig dahin. Weniger als ein Drittel der Bevölkerung, schätzt das unabhängige Institut IISEPS, steht derzeit noch hinter Lukaschenko.

Auch stumme Proteste werden bestraft Alesja Alexijewitsch schaut aus dem Fenster. Vor ihrem Haus liegt der Bangalor-Platz, auf dem heute eine Volksversammlung stattfinden soll. Nichts erinnert mehr an den Schwung der Sommermonate, als die Belarussen mit neuen Protestformen international Aufmerksamkeit erregten. Sie verabredeten sich über das Internet an zentralen Orten in Minsk und in anderen Städten, trafen sich – und taten dann manchmal einfach gar nichts. Das überwiegend junge Volk demonstrierte seine Unzufriedenheit, indem es kollektiv in die Hände klatschte, Mobiltelefone klingeln ließ oder einfach nur herumstand. Niemand hielt ein Plakat hoch, keiner skandierte Parolen. Dennoch wurden erneut mehrere hundert Menschen verhaftet. Ein verschärftes Versammlungsgesetz stellt seither an bestimmten Orten auch Nichtstun unter Strafe.

Von Alesjas Freunden war niemand bei der Demonstration auf dem Bangalor-Platz. Olga winkt ab und zieht an ihrer Zigarette. „Wir sind nicht das Land, in dem das Volk irgendetwas entscheidet“, sagt sie. „Selbst wenn ausnahmslos alle, inklusive Frauen und Kinder, auf die Straße gehen würden, ändern würde sich gar nichts.“ Ein paar hundert Menschen hätten sich heute dennoch versammelt, erzählt Alesja. Lächerlich wenige im Vergleich zu „den Schwarzen“: Milizionäre in Schutzkleidung und Geheimdienstmitarbeiter in Zivil, die die Gesichter der Demonstranten filmten und die Reden ihrer Anführer aufzeichneten.

Das Problem ist die Passivität der Menschen Der Geheimdienst, der in Belarus immer noch KGB heißt, ist allgegenwärtig. „Sie geben dir ganz deutlich zu verstehen: Du wirst beobachtet“, sagt Alesja. In der Tat bemüht sich die Regierung nicht, die Überwachung zu verstecken. Den drei deutschen Journalisten, die Alesja in ihre Wohnung eingeladen hat, schickte die Stadtverwaltung einen Bus „mit Begleitung“, der sie ans Ziel brachte und dort zur vereinbarten Zeit wieder abholte.

»  Sie geben dir ganz deutlich zu verstehen: Du wirst beobachtet. « Alesja erzählt von Briefen aus dem Ausland, die mit sonderbarer Regelmäßigkeit beschädigt ankommen und von der belarussischen Post neu verklebt werden. Von dem Unbekannten in Anzug und Krawatte, der neulich auf einer ihrer Lesungen auftauchte, zehn Minuten zuhörte und wieder verschwand. Davon, wie sie eines Abends von der Straße aus beobachtete, dass in ihrer leeren Wohnung Licht brannte, wie sie die Nacht angstvoll bei einer Freundin verbrachte und am nächsten Morgen wiederkam: Das Licht war gelöscht.

„Es gab eine Zeit, da hatte ich solche Angst, dass ich richtig panisch war“, sagt sie. „Und dann habe ich mir gesagt: Schluss, du darfst nicht mehr darüber nachdenken, sonst wirst du verrückt.“ Alesja ist sich sicher: Das Problem von Belarus ist nicht Lukaschenko. Es ist, sagt sie, die Passivität der Menschen, „dieser vorauseilende Gehorsam. Die Leute sind unfähig, etwas zu tun, wenn sie keinen Befehl dazu erhalten.“ Deshalb organisiert sie Ausstellungen moderner Künstler und Lesungen junger Dichter. Im Frühjahr hat sie eine Schreibwerkstatt veranstaltet. Eine Freundin schrieb dafür ein Theaterstück, eine szenische Lesung über belarussische Parallelwelten: über die Normalität auf der Straße, die Gewalt gegen Andersdenkende und die Verlorenheit in virtuellen Netzen.

»  Die Leute müssen endlich damit aufhören, nur am Küchentisch zu jammern, und darüber nachdenken, wie sie die Situation ändern können. « Wladimir und Alexander haben das Stück aufgeführt – so ernst und so eindringlich, dass es wehgetan habe zuzuschauen, sagte eine Frau hinterher. „Kunst muss die Menschen aufwecken“, meint Autorin Tatjana. „Die Leute müssen endlich damit aufhören, nur am Küchentisch zu jammern, und darüber nachdenken, wie sie die Situation ändern können.“ Als einer fragt, was man denn ändern könne, was für ein Land sie sich wünschten, schweigen die drei auf der Bühne. „Ja, was für ein Belarus wünschen wir uns?“, fragt Wladimir. Und Alexander sagt leise, mehr zu sich selbst: „Wenn wir das wüssten.“ * Namen geändert Ulrike Gruska, geboren 1978, ist n-ost-Korrespondentin und schreibt Reportagen, Porträts und Analysen aus den postsowjetischen Ländern. Nach mehreren Arbeitsaufenthalten in Russland und dem Südkaukasus arbeitet sie heute als freie Journalistin in Berlin.

Regimekritik beim Korniag-Theater ► Seite 98

13


14

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Piketirowanije: „Gemeinsame massenhafte Anwesenheit von Bürgern, an einem vorab festgelegten öffentlichen Platz (auch unter freiem Himmel), zu einer festgesetzten Zeit, zur Ausführung einer vorab festgelegten Handlung organisiert, u.a. mithilfe des Internets oder anderer Informationsnetze, um öffentlich politische Meinungen oder Protest zum Ausdruck zu bringen.“ Aus der im Oktober 2011 geänderten Fassung des „Gesetzes über Massenveranstaltungen“ der Republik Belarus

15


14

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Piketirowanije: „Gemeinsame massenhafte Anwesenheit von Bürgern, an einem vorab festgelegten öffentlichen Platz (auch unter freiem Himmel), zu einer festgesetzten Zeit, zur Ausführung einer vorab festgelegten Handlung organisiert, u.a. mithilfe des Internets oder anderer Informationsnetze, um öffentlich politische Meinungen oder Protest zum Ausdruck zu bringen.“ Aus der im Oktober 2011 geänderten Fassung des „Gesetzes über Massenveranstaltungen“ der Republik Belarus

15


16

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Aufstand in der Warteschleife Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 gingen tausende Belarussen auf die Straße. Doch dann siegte die Furcht über den Frust. Warum kam es in Belarus nicht zu einer Revolution nach arabischem Vorbild ? Text: Ute Zauft  Fotos: Anton Motolko

Viktorias Zimmer ist eng, das Bett steht halb versteckt hinter dem Bücherregal. Die 28-Jährige wohnt mit ihren Eltern in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Minsk. Auf ihrem Computer zeigt sie Fotos von den Protesten im Sommer: Ein junger Mann hält zwei Finger zum Victory-Zeichen in die Kamera, eine Gruppe junger Frauen hat sich untergehakt. Die Bilder wirken sommerlich ausgelassen. Die Internetgruppe „Revolution durch soziale Netzwerke“ hatte Anfang Juni zu ihrer ersten Aktion aufgerufen. Die Teilnehmer trugen keine Plakate, riefen keine politischen Forderungen, sondern klatschten in die Hände oder ließen ihre Mobiltelefone klingeln. „Ich bin gleich beim ersten Mal mit auf die Straße gegangen“, erzählt Viktoria. In ihrer Stimme schwingt die damalige Aufbruchstimmung mit. Die Proteste sorgten für Aufsehen in Belarus und außerhalb des Landes: Sie waren wie eine Erlösung aus der Schockstarre, in die das Land nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 gefallen war. Damals hatte Präsident Alexander Lukaschenko die Demonstrationen gegen seine manipulierte Wiederwahl brutal niederschlagen lassen. Jetzt hatte sich der Widerstand anders organisiert. „Neu an der Bewegung war, dass die Aktionen online geplant wurden“, sagt die Politologin Anna Schirokanowa von der Staatlichen Belarussischen Universität. In den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl der Internetnutzer in Belarus um ein Drittel erhöht und liegt heute bei den über 15-Jährigen nahe 50 Prozent.

Die Krise treibt die Leute auf die Straße Anfangs kamen nur wenige Dutzend zu den sogenannten Mittwochsprotesten, doch dann wurden es immer mehr. Zum dritten Aktionstag am 22. Juni versammelten sich in Minsk und in 30 weiteren Städten rund 3.000 Menschen. Verabredet hatten sich die jungen Protestler über „VKontakte“, das russische Pendant zu Facebook. Die Gruppe rund um die Revolutionäre hatte im Sommer fast 30.000 Mitglieder. Die eher kurzen Aktionen waren gut, um „mal Dampf abzulassen“, meint die Politologin Schirokanowa. „Ansonsten gab es für die Menschen keine Möglichkeit, die politische Führung öffentlich zu kritisieren.“ » Demonstranten und Sicherheitskräfte stehen sich bei friedlichen Protesten im Sommer 2011 in Minsk gegenüber.

17


16

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Aufstand in der Warteschleife Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 gingen tausende Belarussen auf die Straße. Doch dann siegte die Furcht über den Frust. Warum kam es in Belarus nicht zu einer Revolution nach arabischem Vorbild ? Text: Ute Zauft  Fotos: Anton Motolko

Viktorias Zimmer ist eng, das Bett steht halb versteckt hinter dem Bücherregal. Die 28-Jährige wohnt mit ihren Eltern in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Minsk. Auf ihrem Computer zeigt sie Fotos von den Protesten im Sommer: Ein junger Mann hält zwei Finger zum Victory-Zeichen in die Kamera, eine Gruppe junger Frauen hat sich untergehakt. Die Bilder wirken sommerlich ausgelassen. Die Internetgruppe „Revolution durch soziale Netzwerke“ hatte Anfang Juni zu ihrer ersten Aktion aufgerufen. Die Teilnehmer trugen keine Plakate, riefen keine politischen Forderungen, sondern klatschten in die Hände oder ließen ihre Mobiltelefone klingeln. „Ich bin gleich beim ersten Mal mit auf die Straße gegangen“, erzählt Viktoria. In ihrer Stimme schwingt die damalige Aufbruchstimmung mit. Die Proteste sorgten für Aufsehen in Belarus und außerhalb des Landes: Sie waren wie eine Erlösung aus der Schockstarre, in die das Land nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 gefallen war. Damals hatte Präsident Alexander Lukaschenko die Demonstrationen gegen seine manipulierte Wiederwahl brutal niederschlagen lassen. Jetzt hatte sich der Widerstand anders organisiert. „Neu an der Bewegung war, dass die Aktionen online geplant wurden“, sagt die Politologin Anna Schirokanowa von der Staatlichen Belarussischen Universität. In den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl der Internetnutzer in Belarus um ein Drittel erhöht und liegt heute bei den über 15-Jährigen nahe 50 Prozent.

Die Krise treibt die Leute auf die Straße Anfangs kamen nur wenige Dutzend zu den sogenannten Mittwochsprotesten, doch dann wurden es immer mehr. Zum dritten Aktionstag am 22. Juni versammelten sich in Minsk und in 30 weiteren Städten rund 3.000 Menschen. Verabredet hatten sich die jungen Protestler über „VKontakte“, das russische Pendant zu Facebook. Die Gruppe rund um die Revolutionäre hatte im Sommer fast 30.000 Mitglieder. Die eher kurzen Aktionen waren gut, um „mal Dampf abzulassen“, meint die Politologin Schirokanowa. „Ansonsten gab es für die Menschen keine Möglichkeit, die politische Führung öffentlich zu kritisieren.“ » Demonstranten und Sicherheitskräfte stehen sich bei friedlichen Protesten im Sommer 2011 in Minsk gegenüber.

17


18

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

So erleben es auch Viktorias Eltern. Ihr Vater, ein Ingenieur, kritisiert vor allem die Wirtschaftspolitik sowjetischen Stils, allerdings nur in den eigenen vier Wänden. Politisch aktiv war er nie, auch Viktoria bisher nicht. Erst die Wirtschaftskrise und die Vernetzung über das Internet haben sie auf die Straße gehen lassen. Sie arbeitet als Fotografin für ein kleines Unternehmen, verdient rund 160 Euro im Monat. „Seit der Abwertung des Rubels ist neue Kleidung für mich ein Luxus, den ich mir nicht mehr leisten kann.“ Die galoppierende Inflation macht allen zu schaffen, manche reagieren darauf mit Witzen wie diesem: Schlussverkauf auf Belarussisch – unsere Preise sind heute 30 Prozent niedriger als morgen! Ähnlich wie in Tunesien und Ägypten war es auch in Belarus ökonomischer Druck, der die Menschen im Sommer auf die Straße trieb. „Doch die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung in Belarus ist um einiges stabiler, als sie es zum Beispiel in Ägypten oder Tunesien war“, analysiert Jörg Forbrig, Belarus-Experte beim German Marshall Fund. „Das Konfliktpotenzial ist nicht vergleichbar.“ So ist zum Beispiel in Belarus die Zahl der Arbeitslosen noch immer verschwindend gering, kein Vergleich zu Ägypten und Tunesien, wo gerade junge Menschen keine Arbeit finden. Für den Politologen ist das eine Erklärung dafür, warum die Proteste in Belarus im Laufe des Sommers weniger wurden. Der Tiefpunkt, der die Menschen in Massen auf die Straße gehen lässt, ist laut Forbrig noch nicht erreicht.

Lukaschenko schlägt zurück Dennoch haben die Proteste den belarussischen Staatsapparat aufgeschreckt. „Beim ersten und zweiten Mal reagierte die Polizei noch gelassen“, erinnert sich Viktoria. „Sie dachten wohl, das ist eine Aktion von ein paar Jugendlichen, die bald verebbt.“ Doch als immer mehr Menschen daran teilnahmen, griff die Polizei hart durch: Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna wurden während der zweimonatigen Proteste im ganzen Land rund 2.000 Menschen verhaftet und etwa 500 wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt. Der Politologe Jörg Forbrig sieht daran, dass das Regime noch anpassungsfähig ist: „Der Staatsapparat hat sich sehr schnell und effektiv auf die neue Form der Proteste umgestellt.“ An den Protesttagen blockierte die politische Führung die Internetseiten der sozialen Netzwerke, schickte Spezialeinheiten an die im Netz angekündigten Protestorte und verstärkte die Sicherheitskräfte insgesamt. „Diese und andere Drohgebärden haben die Bevölkerung eingeschüchtert“, so Forbrig. Inzwischen ist es verboten, ohne Genehmigung im Internet zu Versammlungen aufzurufen, auch wenn es sich dabei um eine Verabredung zum „Nichtstun“ handeln sollte. » Klatschen wurde als Protestform genutzt, um den Sicherheitskräften keinen Anlass zum Eingreifen zu geben. Inzwischen sind auch diese „stummen Proteste“ verboten.

19


18

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

So erleben es auch Viktorias Eltern. Ihr Vater, ein Ingenieur, kritisiert vor allem die Wirtschaftspolitik sowjetischen Stils, allerdings nur in den eigenen vier Wänden. Politisch aktiv war er nie, auch Viktoria bisher nicht. Erst die Wirtschaftskrise und die Vernetzung über das Internet haben sie auf die Straße gehen lassen. Sie arbeitet als Fotografin für ein kleines Unternehmen, verdient rund 160 Euro im Monat. „Seit der Abwertung des Rubels ist neue Kleidung für mich ein Luxus, den ich mir nicht mehr leisten kann.“ Die galoppierende Inflation macht allen zu schaffen, manche reagieren darauf mit Witzen wie diesem: Schlussverkauf auf Belarussisch – unsere Preise sind heute 30 Prozent niedriger als morgen! Ähnlich wie in Tunesien und Ägypten war es auch in Belarus ökonomischer Druck, der die Menschen im Sommer auf die Straße trieb. „Doch die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung in Belarus ist um einiges stabiler, als sie es zum Beispiel in Ägypten oder Tunesien war“, analysiert Jörg Forbrig, Belarus-Experte beim German Marshall Fund. „Das Konfliktpotenzial ist nicht vergleichbar.“ So ist zum Beispiel in Belarus die Zahl der Arbeitslosen noch immer verschwindend gering, kein Vergleich zu Ägypten und Tunesien, wo gerade junge Menschen keine Arbeit finden. Für den Politologen ist das eine Erklärung dafür, warum die Proteste in Belarus im Laufe des Sommers weniger wurden. Der Tiefpunkt, der die Menschen in Massen auf die Straße gehen lässt, ist laut Forbrig noch nicht erreicht.

Lukaschenko schlägt zurück Dennoch haben die Proteste den belarussischen Staatsapparat aufgeschreckt. „Beim ersten und zweiten Mal reagierte die Polizei noch gelassen“, erinnert sich Viktoria. „Sie dachten wohl, das ist eine Aktion von ein paar Jugendlichen, die bald verebbt.“ Doch als immer mehr Menschen daran teilnahmen, griff die Polizei hart durch: Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna wurden während der zweimonatigen Proteste im ganzen Land rund 2.000 Menschen verhaftet und etwa 500 wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt. Der Politologe Jörg Forbrig sieht daran, dass das Regime noch anpassungsfähig ist: „Der Staatsapparat hat sich sehr schnell und effektiv auf die neue Form der Proteste umgestellt.“ An den Protesttagen blockierte die politische Führung die Internetseiten der sozialen Netzwerke, schickte Spezialeinheiten an die im Netz angekündigten Protestorte und verstärkte die Sicherheitskräfte insgesamt. „Diese und andere Drohgebärden haben die Bevölkerung eingeschüchtert“, so Forbrig. Inzwischen ist es verboten, ohne Genehmigung im Internet zu Versammlungen aufzurufen, auch wenn es sich dabei um eine Verabredung zum „Nichtstun“ handeln sollte. » Klatschen wurde als Protestform genutzt, um den Sicherheitskräften keinen Anlass zum Eingreifen zu geben. Inzwischen sind auch diese „stummen Proteste“ verboten.

19


20

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Im Sommer siegte also die Furcht über den Frust. Als im Juli immer weniger Menschen zu den Mittwochsprotesten kamen, riefen die Administratoren der Internetgruppe eine Pause aus, um Kräfte zu sammeln. Belarus-Experte Forbrig hält es durchaus für möglich, dass es noch mal zu einer Mobilisierung der Massen kommt. Das politische System in Belarus basiere auf einem unausgesprochenen Vertrag zwischen Lukaschenko und dem Volk: „Er sichert die Stabilität des Landes im Tausch gegen politisches Schweigen.“ Doch angesichts der wirtschaftlichen Lage stehe dieser Vertrag inzwischen auf wackligen Beinen.

Der Spielraum des Regimes wird kleiner Da die Wirtschaftskrise bei Weitem nicht gelöst ist, wird Lukaschenkos Spielraum immer kleiner. Belarus braucht dringend Geld. Der Internationale Währungsfonds hat die Bitte um einen Kredit abgelehnt, allein Russland steht dem Nachbarn zur Seite und hat Abkommen über günstige Gaspreise und den Bau eines Kernkraftwerks abgeschlossen. Doch erst 2012 wird über Lukaschenkos Schicksal entscheiden, erwartet Forbrig, „denn der Finanzbedarf von Belarus ist höher als das, was Russland bisher geboten hat“. Auch in der sogenannten Protest-Pause verabreden sich viele junge Belarussen übers Internet – beispielsweise zum Frisbee-Spielen im Park. Es geht auch darum, den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Der Staat hat die Anzahl der Orte, an denen man sich treffen und diskutieren kann, systematisch verknappt. Die Oppositionsparteien werden immer wieder aus ihren Büros gedrängt, einige zivilgesellschaftliche Organisationen müssen im Verborgenen arbeiten und Konzerte regimekritischer Musiker werden kurzfristig abgesagt. Die Frisbee-Spieler halten dagegen. Wenn ihnen etwas nicht gefällt, werden sie nicht schweigen, sagt einer von ihnen, und wenn sie etwas ändern wollen, werden sie das tun und keine Angst davor haben. Ute Zauft, geboren 1977, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet als freie Autorin für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und verschiedene Online-Medien. Anton Motolko, geboren 1988, arbeitet als freier Fotojournalist in Minsk und dokumentiert in seinem Blog u.a. die Proteste in Belarus. www.toxaby.livejournal.com

Obwohl sie friedlich protestierten, wurden Demonstranten von Spezialkräften verhaftet.

21

Ende eines Sozialmodells: Die Wirtschaftskrise in Belarus ► Seite 50


20

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Im Sommer siegte also die Furcht über den Frust. Als im Juli immer weniger Menschen zu den Mittwochsprotesten kamen, riefen die Administratoren der Internetgruppe eine Pause aus, um Kräfte zu sammeln. Belarus-Experte Forbrig hält es durchaus für möglich, dass es noch mal zu einer Mobilisierung der Massen kommt. Das politische System in Belarus basiere auf einem unausgesprochenen Vertrag zwischen Lukaschenko und dem Volk: „Er sichert die Stabilität des Landes im Tausch gegen politisches Schweigen.“ Doch angesichts der wirtschaftlichen Lage stehe dieser Vertrag inzwischen auf wackligen Beinen.

Der Spielraum des Regimes wird kleiner Da die Wirtschaftskrise bei Weitem nicht gelöst ist, wird Lukaschenkos Spielraum immer kleiner. Belarus braucht dringend Geld. Der Internationale Währungsfonds hat die Bitte um einen Kredit abgelehnt, allein Russland steht dem Nachbarn zur Seite und hat Abkommen über günstige Gaspreise und den Bau eines Kernkraftwerks abgeschlossen. Doch erst 2012 wird über Lukaschenkos Schicksal entscheiden, erwartet Forbrig, „denn der Finanzbedarf von Belarus ist höher als das, was Russland bisher geboten hat“. Auch in der sogenannten Protest-Pause verabreden sich viele junge Belarussen übers Internet – beispielsweise zum Frisbee-Spielen im Park. Es geht auch darum, den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Der Staat hat die Anzahl der Orte, an denen man sich treffen und diskutieren kann, systematisch verknappt. Die Oppositionsparteien werden immer wieder aus ihren Büros gedrängt, einige zivilgesellschaftliche Organisationen müssen im Verborgenen arbeiten und Konzerte regimekritischer Musiker werden kurzfristig abgesagt. Die Frisbee-Spieler halten dagegen. Wenn ihnen etwas nicht gefällt, werden sie nicht schweigen, sagt einer von ihnen, und wenn sie etwas ändern wollen, werden sie das tun und keine Angst davor haben. Ute Zauft, geboren 1977, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet als freie Autorin für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und verschiedene Online-Medien. Anton Motolko, geboren 1988, arbeitet als freier Fotojournalist in Minsk und dokumentiert in seinem Blog u.a. die Proteste in Belarus. www.toxaby.livejournal.com

Obwohl sie friedlich protestierten, wurden Demonstranten von Spezialkräften verhaftet.

21

Ende eines Sozialmodells: Die Wirtschaftskrise in Belarus ► Seite 50


22

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

23

»  Unglücklich das Land, das Helden nötig hat « Die Regimekritikerin Irina Chalip über ihre Erfahrungen im KGB-Gefängnis, über die Heuchelei der EU und ihren Ehemann Andrej Sannikow, der 2010 gegen Lukaschenko kandidierte und seither in Haft sitzt. Frau Chalip, Sie haben in Deutschland 2005 den Henri-Nannen-Preis für Pressefreiheit erhalte, das Time Magazine kürte Sie im selben Jahr zur „Europäischen Heldin“. Hilft oder schadet Ihnen diese Bekanntheit? Im KGB-Gefängnis bin ich oft nach meinen Verbindungen zu westlichen Intellektuellen gefragt worden, sogar an einem Lügendetektor. Die Suche nach „Spionen“ ist eine alte Krankheit des Regimes – ein Erbe der sowjetischen Vergangenheit, als der Kontakt zu Ausländern dazu führen konnte, dass man seine Arbeit verlor, von der Universität flog oder ins Gefängnis kam. Aber natürlich sind Auszeichnungen und Aufmerksamkeit aus EU-Ländern und den USA sehr wichtig für mich. Es bedeutet, dass die Situation in meinem Land der Welt Sorgen bereitet. Nicht so viele, wie ich es mir wünsche, aber immerhin. Ihr Ehemann ist seit Dezember 2010 im Gefängnis, wie ergeht es ihm dort? Er ist bereits in das dritte Arbeitslager verlegt worden, innerhalb so kurzer Zeit. Das ist selbst in unserem Land illegal! Vor dem ersten Transport ist er bedroht worden. Ihm wurde gesagt, dass er sein Ziel nicht lebend erreichen würde. Inzwischen werden nicht einmal Anwälte zu ihm gelassen. Er wird in absoluter Isolation gehalten, ohne Kontakte zur Außenwelt. Ihm wurde nahegelegt, ein Gnadengesuch zu unterschreiben – womit er die Legitimität Lukaschenkos anerkennen würde. Wünschen Sie sich manchmal, dass er entgegen seiner Überzeugung unterschreibt und so nach Hause kommen kann? Ich weiß genau, dass mein Mann niemals ein solches Dokument unterschreiben wird. Ich träume von seiner Rückkehr, aber ich unterstütze ihn bei allem, was er tut. Ich bin nicht glücklich darüber, dass er ein Held geworden ist – „unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, wie Bertolt Brecht sagte.

testen kritischen Journalisten in Belarus. Ihr Mann ist der Opposi-

Die politische Situation in Belarus ist widersprüchlich: Einerseits wurden politische Gefangene entlassen, andererseits muss der bekannte Menschenrechtler Ales Bialiatski für viereinhalb Jahre ins Gefängnis. Sehen Sie eine Strategie dahinter? Man darf nicht nach Logik oder einer Strategie suchen, wo keine ist. Ich weiß, dass Lukaschenko inzwischen bedauert, dass er ein paar politische Gefangene entlassen hat. Die Situation wird immer bedrohlicher für uns. Ein neues Gesetz erlaubt es den Geheimdiensten sogar, Waffen einzusetzen und Menschen zu töten. Die Europäische Union hat bislang noch keine Wirtschaftssanktionen gegen das Regime beschlossen. Der Import von Erdölprodukten in die EU hat sogar zugenommen. Enttäuscht Sie das? Enttäuscht ist gar kein Ausdruck! Das ist sprichwörtliche Realpolitik: Die rechte Hand unterschreibt eine missbilligende Resolution, die linke Hand einen Vertrag über Öllieferungen. Nur strikte Wirtschaftssanktionen können die Situation in Belarus ändern. Ich bin mir sicher, dass in diesem Fall die politischen Gefangenen am nächsten Tag entlassen würden. Sie sind Belarus-Korrespondentin der unabhängigen russischen Tageszeitung „Nowaja Gaseta“, für die auch Anna Politkowskaja bis zu ihrer Ermordung geschrieben hat. Arbeiten Sie noch als Journalistin? Ich kämpfe zurzeit für die Freilassung meines Mannes und der anderen politischen Gefangenen. Aber ich bleibe natürlich Journalistin. Als ich verhaftet wurde, habe ich gedacht: Ich werde einen exklusiven Bericht aus dem KGB-Gefängnis haben, in dem kein Journalist jemals gewesen ist! Ich habe viel darüber erfahren, wie sogenannte Wirtschaftsverbrechen konstruiert werden oder wie unterschiedliche Sicherheitsbehörden einander bekämpfen. Momentan arbeite ich noch an einem Buch über die Repressionen nach den Wahlen.

tionspolitiker Foto: Kata Kottra

Interview: Kata Kottra

Irina Chalip gehört zu den bekann-

Andrej

Sannikow,

der es wagte, bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 gegen

Alexander

Lukaschenko

anzutreten. Am Wahlabend wurde

das Ehepaar bei einer Protestversammlung gegen Wahlfälschungen vom belarussischen Geheimdienst KGB verhaftet. Chalip wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, ihr Mann wegen „Organisation eines Massenaufruhrs“ zu fünf Jahren Haft.

Der gemeinsame Sohn von Ihnen und Andrej Sannikow ist vier Jahre alt. Wie kommt er mit der Situation zurecht? Dannik hat sehr unter der Trennung von uns gelitten. Bevor wir am Wahlabend zur Protestversammlung in die Stadt gegangen sind, haben wir ihm gesagt, wir würden bald zurück sein – aber wir sind nicht gekommen. Unsere Wohnung wurde in seiner Anwesenheit viermal durchsucht. Dann kam ich endlich zurück, aber zusammen mit seltsamen Männern vom KGB anstelle seines Vaters. Ich habe ihm die ganze Zeit gesagt, dass sein Vater auf Dienstreise sei und bald zurückkommen werde. Vor einiger Zeit hat Dannik auf meinem Computer ein Bild seines Vaters hinter Gittern gesehen. Er hat dann gesagt: „Ich weiß jetzt, warum er nicht zurückkommt.“ Was gibt Ihnen die Kraft durchzuhalten? Meine Familie, meine Arbeit, meine Freunde und natürlich meine Bereitschaft, die Situation in Belarus zu verändern. Ich glaube daran, dass sich alles ändern wird und Belarus irgendwann ein zivilisierter europäischer Staat ist. Und dann werden wir stolze Bürger dieses Landes sein. Kata Kottra, geboren 1982, lebt in Stuttgart, ist n-ost-Mitglied und arbeitet als freie Journalistin für die „Stuttgarter Zeitung“, „Das Parlament“ und andere Medien.


22

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

23

»  Unglücklich das Land, das Helden nötig hat « Die Regimekritikerin Irina Chalip über ihre Erfahrungen im KGB-Gefängnis, über die Heuchelei der EU und ihren Ehemann Andrej Sannikow, der 2010 gegen Lukaschenko kandidierte und seither in Haft sitzt. Frau Chalip, Sie haben in Deutschland 2005 den Henri-Nannen-Preis für Pressefreiheit erhalte, das Time Magazine kürte Sie im selben Jahr zur „Europäischen Heldin“. Hilft oder schadet Ihnen diese Bekanntheit? Im KGB-Gefängnis bin ich oft nach meinen Verbindungen zu westlichen Intellektuellen gefragt worden, sogar an einem Lügendetektor. Die Suche nach „Spionen“ ist eine alte Krankheit des Regimes – ein Erbe der sowjetischen Vergangenheit, als der Kontakt zu Ausländern dazu führen konnte, dass man seine Arbeit verlor, von der Universität flog oder ins Gefängnis kam. Aber natürlich sind Auszeichnungen und Aufmerksamkeit aus EU-Ländern und den USA sehr wichtig für mich. Es bedeutet, dass die Situation in meinem Land der Welt Sorgen bereitet. Nicht so viele, wie ich es mir wünsche, aber immerhin. Ihr Ehemann ist seit Dezember 2010 im Gefängnis, wie ergeht es ihm dort? Er ist bereits in das dritte Arbeitslager verlegt worden, innerhalb so kurzer Zeit. Das ist selbst in unserem Land illegal! Vor dem ersten Transport ist er bedroht worden. Ihm wurde gesagt, dass er sein Ziel nicht lebend erreichen würde. Inzwischen werden nicht einmal Anwälte zu ihm gelassen. Er wird in absoluter Isolation gehalten, ohne Kontakte zur Außenwelt. Ihm wurde nahegelegt, ein Gnadengesuch zu unterschreiben – womit er die Legitimität Lukaschenkos anerkennen würde. Wünschen Sie sich manchmal, dass er entgegen seiner Überzeugung unterschreibt und so nach Hause kommen kann? Ich weiß genau, dass mein Mann niemals ein solches Dokument unterschreiben wird. Ich träume von seiner Rückkehr, aber ich unterstütze ihn bei allem, was er tut. Ich bin nicht glücklich darüber, dass er ein Held geworden ist – „unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, wie Bertolt Brecht sagte.

testen kritischen Journalisten in Belarus. Ihr Mann ist der Opposi-

Die politische Situation in Belarus ist widersprüchlich: Einerseits wurden politische Gefangene entlassen, andererseits muss der bekannte Menschenrechtler Ales Bialiatski für viereinhalb Jahre ins Gefängnis. Sehen Sie eine Strategie dahinter? Man darf nicht nach Logik oder einer Strategie suchen, wo keine ist. Ich weiß, dass Lukaschenko inzwischen bedauert, dass er ein paar politische Gefangene entlassen hat. Die Situation wird immer bedrohlicher für uns. Ein neues Gesetz erlaubt es den Geheimdiensten sogar, Waffen einzusetzen und Menschen zu töten. Die Europäische Union hat bislang noch keine Wirtschaftssanktionen gegen das Regime beschlossen. Der Import von Erdölprodukten in die EU hat sogar zugenommen. Enttäuscht Sie das? Enttäuscht ist gar kein Ausdruck! Das ist sprichwörtliche Realpolitik: Die rechte Hand unterschreibt eine missbilligende Resolution, die linke Hand einen Vertrag über Öllieferungen. Nur strikte Wirtschaftssanktionen können die Situation in Belarus ändern. Ich bin mir sicher, dass in diesem Fall die politischen Gefangenen am nächsten Tag entlassen würden. Sie sind Belarus-Korrespondentin der unabhängigen russischen Tageszeitung „Nowaja Gaseta“, für die auch Anna Politkowskaja bis zu ihrer Ermordung geschrieben hat. Arbeiten Sie noch als Journalistin? Ich kämpfe zurzeit für die Freilassung meines Mannes und der anderen politischen Gefangenen. Aber ich bleibe natürlich Journalistin. Als ich verhaftet wurde, habe ich gedacht: Ich werde einen exklusiven Bericht aus dem KGB-Gefängnis haben, in dem kein Journalist jemals gewesen ist! Ich habe viel darüber erfahren, wie sogenannte Wirtschaftsverbrechen konstruiert werden oder wie unterschiedliche Sicherheitsbehörden einander bekämpfen. Momentan arbeite ich noch an einem Buch über die Repressionen nach den Wahlen.

tionspolitiker Foto: Kata Kottra

Interview: Kata Kottra

Irina Chalip gehört zu den bekann-

Andrej

Sannikow,

der es wagte, bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 gegen

Alexander

Lukaschenko

anzutreten. Am Wahlabend wurde

das Ehepaar bei einer Protestversammlung gegen Wahlfälschungen vom belarussischen Geheimdienst KGB verhaftet. Chalip wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, ihr Mann wegen „Organisation eines Massenaufruhrs“ zu fünf Jahren Haft.

Der gemeinsame Sohn von Ihnen und Andrej Sannikow ist vier Jahre alt. Wie kommt er mit der Situation zurecht? Dannik hat sehr unter der Trennung von uns gelitten. Bevor wir am Wahlabend zur Protestversammlung in die Stadt gegangen sind, haben wir ihm gesagt, wir würden bald zurück sein – aber wir sind nicht gekommen. Unsere Wohnung wurde in seiner Anwesenheit viermal durchsucht. Dann kam ich endlich zurück, aber zusammen mit seltsamen Männern vom KGB anstelle seines Vaters. Ich habe ihm die ganze Zeit gesagt, dass sein Vater auf Dienstreise sei und bald zurückkommen werde. Vor einiger Zeit hat Dannik auf meinem Computer ein Bild seines Vaters hinter Gittern gesehen. Er hat dann gesagt: „Ich weiß jetzt, warum er nicht zurückkommt.“ Was gibt Ihnen die Kraft durchzuhalten? Meine Familie, meine Arbeit, meine Freunde und natürlich meine Bereitschaft, die Situation in Belarus zu verändern. Ich glaube daran, dass sich alles ändern wird und Belarus irgendwann ein zivilisierter europäischer Staat ist. Und dann werden wir stolze Bürger dieses Landes sein. Kata Kottra, geboren 1982, lebt in Stuttgart, ist n-ost-Mitglied und arbeitet als freie Journalistin für die „Stuttgarter Zeitung“, „Das Parlament“ und andere Medien.


24

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

25

Widerstand im Exil Der Journalistin Natalia Radina gelang die Flucht vor dem belarussischen Geheimdienst. Von Litauen aus unterstützt sie die Opposition in ihrer Heimat. Text: Birgit Johannsmeier  Fotos: Simonas Švitra

Postkarten, das Internet und Erinnerungsstücke verbinden Natalia mit Belarus.

Durch die Stadt spazieren, ins Café gehen, im Netz surfen und in Ruhe einen Artikel schreiben: Für Natalia Radina ist das nicht selbstverständlich. Immer wieder hebt die Belarussin ihren Blick, wenn ein neuer Gast das Lokal betritt. Die 32-Jährige ist auf der Flucht vor dem belarussischen Geheimdienst KGB in der litauischen Hauptstadt Vilnius gelandet. In Belarus wurde ihr Telefon abgehört, auf der Straße wurde sie verfolgt. „Ich war ständig unter Beobachtung. Hier in Litauen bin ich plötzlich frei. Das ist toll, aber es fällt mir auch schwer, mich daran zu gewöhnen.“ Eine Bleibe hat Natalia Radina bei anderen Regimegegnern in Vilnius gefunden. Dutzende haben in den letzten Jahren den Weg ins litauische Exil gesucht. Außerdem reisen Woche für Woche einige hundert Belarussen in Vilnius zum Studium an, knapp 2.000 sind Fernstudenten der dortigen Humanistischen Universität, die vor sieben Jahren in Minsk verboten wurde.

Der KGB durchsuchte fünfmal ihr Büro Aus dem Exil schreibt Natalia Radina für das Internetportal Charter 97, eine Webseite von Oppositionellen, die sich 1997 zusammentaten, um gegen Lukaschenko zu protestieren und über die Willkür im Heimatland zu berichten. In Anlehnung an die tschechoslowakische Erklärung Charta 77 fordert die Gruppe die Einhaltung von Menschenrechten und die Einführung der Demokratie in Belarus. Der KGB habe fünf mal ihr Büro durchsucht, sagt Natalia. Computer wurden konfisziert und Druck auf ihre Mitarbeiter ausgeübt. „Ich habe zwei Teams verloren, weil die Leute Angst hatten zu arbeiten.“ Natalia Radina in den Straßen ihrer neuen Heimat Vilnius

Am 19. Dezember 2010 hatte Natalia über die Fälschungen und die Proteste bei der Präsidentenwahl berichtet. Daraufhin wurde sie verprügelt und inhaftiert. Viele Oppositionelle sitzen bis heute im Gefängnis, unter ihnen auch der Mitbegründer von Charter 97, Andrej Sannikow, der als Präsidentschaftskandidat gegen Alexander Lukaschenko angetreten war.

»  Nur von hier aus kann ich meine Arbeit ungestört fortsetzen. « Natalia hatte mehr Glück. Nach sechs Wochen im KGB-Untersuchungsgefängnis durfte sie zu ihren Eltern in die Kleinstadt Kobrin und stand dort unter Hausarrest. „Aber nur einen Tag nach meiner Entlassung zitierte mich der Geheimdienst KGB wieder zum Verhör nach Minsk. Ich sagte zu und gab an, den Zug Brest–Minsk zu nehmen“, berichtet Natalia. Nachts um ein Uhr stieg sie in der Kleinstadt Luninets, im Süden von Belarus, nahe der russischen Grenze, aus dem Zug. Freunde fuhren sie mit dem Auto nach Moskau.

Über Moskau und Amsterdam nach Vilnius Knapp vier Monate lang lebte Natalia dort versteckt. Frei bewegen durfte sie sich nicht, da der belarussische Geheimdienst auch in Moskau aktiv ist. Russische Menschenrechtler halfen ihr. Von den Vereinten Nationen bekam sie schließlich die Papiere für politisches Asyl in Amsterdam. „Drei Tage später bin ich weiter nach Vilnius gereist. Unsere Webseite Charter 97 wurde im Dezember 2010 in Litauen registriert. Nur von hier aus kann ich meine Arbeit ungestört fortsetzen.“ »


24

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

25

Widerstand im Exil Der Journalistin Natalia Radina gelang die Flucht vor dem belarussischen Geheimdienst. Von Litauen aus unterstützt sie die Opposition in ihrer Heimat. Text: Birgit Johannsmeier  Fotos: Simonas Švitra

Postkarten, das Internet und Erinnerungsstücke verbinden Natalia mit Belarus.

Durch die Stadt spazieren, ins Café gehen, im Netz surfen und in Ruhe einen Artikel schreiben: Für Natalia Radina ist das nicht selbstverständlich. Immer wieder hebt die Belarussin ihren Blick, wenn ein neuer Gast das Lokal betritt. Die 32-Jährige ist auf der Flucht vor dem belarussischen Geheimdienst KGB in der litauischen Hauptstadt Vilnius gelandet. In Belarus wurde ihr Telefon abgehört, auf der Straße wurde sie verfolgt. „Ich war ständig unter Beobachtung. Hier in Litauen bin ich plötzlich frei. Das ist toll, aber es fällt mir auch schwer, mich daran zu gewöhnen.“ Eine Bleibe hat Natalia Radina bei anderen Regimegegnern in Vilnius gefunden. Dutzende haben in den letzten Jahren den Weg ins litauische Exil gesucht. Außerdem reisen Woche für Woche einige hundert Belarussen in Vilnius zum Studium an, knapp 2.000 sind Fernstudenten der dortigen Humanistischen Universität, die vor sieben Jahren in Minsk verboten wurde.

Der KGB durchsuchte fünfmal ihr Büro Aus dem Exil schreibt Natalia Radina für das Internetportal Charter 97, eine Webseite von Oppositionellen, die sich 1997 zusammentaten, um gegen Lukaschenko zu protestieren und über die Willkür im Heimatland zu berichten. In Anlehnung an die tschechoslowakische Erklärung Charta 77 fordert die Gruppe die Einhaltung von Menschenrechten und die Einführung der Demokratie in Belarus. Der KGB habe fünf mal ihr Büro durchsucht, sagt Natalia. Computer wurden konfisziert und Druck auf ihre Mitarbeiter ausgeübt. „Ich habe zwei Teams verloren, weil die Leute Angst hatten zu arbeiten.“ Natalia Radina in den Straßen ihrer neuen Heimat Vilnius

Am 19. Dezember 2010 hatte Natalia über die Fälschungen und die Proteste bei der Präsidentenwahl berichtet. Daraufhin wurde sie verprügelt und inhaftiert. Viele Oppositionelle sitzen bis heute im Gefängnis, unter ihnen auch der Mitbegründer von Charter 97, Andrej Sannikow, der als Präsidentschaftskandidat gegen Alexander Lukaschenko angetreten war.

»  Nur von hier aus kann ich meine Arbeit ungestört fortsetzen. « Natalia hatte mehr Glück. Nach sechs Wochen im KGB-Untersuchungsgefängnis durfte sie zu ihren Eltern in die Kleinstadt Kobrin und stand dort unter Hausarrest. „Aber nur einen Tag nach meiner Entlassung zitierte mich der Geheimdienst KGB wieder zum Verhör nach Minsk. Ich sagte zu und gab an, den Zug Brest–Minsk zu nehmen“, berichtet Natalia. Nachts um ein Uhr stieg sie in der Kleinstadt Luninets, im Süden von Belarus, nahe der russischen Grenze, aus dem Zug. Freunde fuhren sie mit dem Auto nach Moskau.

Über Moskau und Amsterdam nach Vilnius Knapp vier Monate lang lebte Natalia dort versteckt. Frei bewegen durfte sie sich nicht, da der belarussische Geheimdienst auch in Moskau aktiv ist. Russische Menschenrechtler halfen ihr. Von den Vereinten Nationen bekam sie schließlich die Papiere für politisches Asyl in Amsterdam. „Drei Tage später bin ich weiter nach Vilnius gereist. Unsere Webseite Charter 97 wurde im Dezember 2010 in Litauen registriert. Nur von hier aus kann ich meine Arbeit ungestört fortsetzen.“ »


26

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

In Minsk hoffen manche LukaschenkoGegner auf die Opposition im Ausland. „Der Präsident ist gegen uns“, sagt eine ältere Frau bei einer Demonstration Anfang Oktober in der Hauptstadt. „Wir wollen einen Wechsel. Es gibt kluge Politiker, aber sie sind im Gefängnis. Wir hoffen auf Natalia Radina, wir lesen ihre Webseite. Sie ist im Exil und kann uns vielleicht helfen.“

Zum Studieren über die Grenze Die Europäische Humanistische Universität (EHU) in Vilnius bildet belarussische Studenten aus. Natalias ehemaliger Presseausweis. Sie ließ sich zum Schutz unter falschem Namen registrieren.

»  Es gibt kluge Politiker, aber sie sind im Gefängnis. « Vor allem sind es aber die Menschen in den Großstädten, die mit dem Namen Natalia Radina etwas anfangen können. Wie die 35-jährige Dana. Obwohl die Webseite in öffentlichen Einrichtungen vom Regime gesperrt wurde, liest auch sie zu Hause regelmäßig auf Charter 97, wie es um die Oppositionellen in der Haft steht. Die Journalistin, die ihren richtigen Namen nicht nennen will, schreibt für eine Zeitung in der Provinz. Einen Job hat sie bereits verloren, weil sie die Politik von Lukaschenko kritisiert hat. Allerdings fühlt sich Dana von niemandem in Belarus vertreten – weder von den Oppositionellen im Land noch von den Dissidenten in Litauen. „ In unsere Kleinstadt ist bis heute kein Regimegegner gekommen“, klagt sie. Die Leute in der Provinz wüssten nicht, dass es Gegenkräfte gebe. „Die Dissidenten im litauischen Exil müssen zwar keinen KGB mehr fürchten“, sagt Dana, „aber Macht haben sie keine.“

»  Die Dissidenten müssen zwar keinen KGB mehr fürchten, aber Macht haben sie keine. « Was können die Oppositionellen gegen Lukaschenko ausrichten? „Brüssel sollte endlich wirtschaftliche Sanktionen einführen“, sagt Natalia. „Dann fällt der Diktator in Tagen oder Wochen.“ Aber dafür benötigt die Opposition Unterstützung. Natalia will in der EU und in den USA dafür werben. www.charter97.org Birgit Johannsmeier, geboren 1957, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet in Riga als freie Journalistin für TV, Radio und Print. Simonas Švitras, geboren 1983 in Litauen, lebt als freier Fotograf in Vilnius.

Medienmacher unter Druck ► Seite 76

Die litauische Hauptstadt Vilnius liegt nur 30 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt und ist das Zentrum der belarussischen Emigration. Hier hat auch die Europäische Humanistische Universität (EHU) ihren Sitz, die einzige belarussische Hochschule, an der ideologiefreie Lehre möglich ist. Sie wurde bereits 1992 noch vor dem Machtantritt Lukaschenkos in Minsk gegründet. Ihr Ziel: eine intellektuelle Elite auszubilden, die in Belarus einen demokratischen Wandel herbeiführen kann. „An der EHU in Minsk hatten wir die Illusion, in einem europäischen Land zu leben. Wir hatten hier Gastprofessoren und Studentenaustausch. Es war eine kleine europäische Insel“, erinnert sich die Philosophie-Dozentin Olga Schparaga. Doch wegen der zunehmenden Ideologisierung der Bildung wird die private Hochschule zum Politikum. 2004 entzieht die Regierung ihr schließlich die Lizenz. Die EHU zieht auf Einladung der litauischen Regierung nach Vilnius um.

Ein akademisches, kein politisches Projekt Nach wie vor versteht sich die Exil-Hochschule vor allem als akademisches, nicht als politisches Projekt. Etwa 2.000 Studenten sind heute an der EHU eingeschrieben. Mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Belarus und pendelt nach Vilnius. Finanziert wird die Hochschule vor allem aus den Mitteln eines von der Europäischen Kommission 2008 eingerichteten Trust-Fonds. Wegen der internationalen Finanzkrise werde die Finanzierung jedoch immer schwieriger, sagt Olga Schparaga. Problematisch sei auch, dass der EHU zunehmend die Tuchfühlung zur Heimat verloren gehe. „Wir hatten 2004 die Vorstellung, dass das Regime nach zwei Jahren fällt und wir nach Belarus zurückgehen können. Heute sind viele von uns müde.“ An eine schnelle Rückkehr glaubt kaum jemand. Viele Studenten bleiben nach ihrem Examen lieber im Ausland. www.ehu.lt Silja Schultheis, geboren 1970, ist Mitglied des n-ost-Vorstands. Sie arbeitet als freie Journalistin für die ARD und für tschechische Medien in Prag.

27


26

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

In Minsk hoffen manche LukaschenkoGegner auf die Opposition im Ausland. „Der Präsident ist gegen uns“, sagt eine ältere Frau bei einer Demonstration Anfang Oktober in der Hauptstadt. „Wir wollen einen Wechsel. Es gibt kluge Politiker, aber sie sind im Gefängnis. Wir hoffen auf Natalia Radina, wir lesen ihre Webseite. Sie ist im Exil und kann uns vielleicht helfen.“

Zum Studieren über die Grenze Die Europäische Humanistische Universität (EHU) in Vilnius bildet belarussische Studenten aus. Natalias ehemaliger Presseausweis. Sie ließ sich zum Schutz unter falschem Namen registrieren.

»  Es gibt kluge Politiker, aber sie sind im Gefängnis. « Vor allem sind es aber die Menschen in den Großstädten, die mit dem Namen Natalia Radina etwas anfangen können. Wie die 35-jährige Dana. Obwohl die Webseite in öffentlichen Einrichtungen vom Regime gesperrt wurde, liest auch sie zu Hause regelmäßig auf Charter 97, wie es um die Oppositionellen in der Haft steht. Die Journalistin, die ihren richtigen Namen nicht nennen will, schreibt für eine Zeitung in der Provinz. Einen Job hat sie bereits verloren, weil sie die Politik von Lukaschenko kritisiert hat. Allerdings fühlt sich Dana von niemandem in Belarus vertreten – weder von den Oppositionellen im Land noch von den Dissidenten in Litauen. „ In unsere Kleinstadt ist bis heute kein Regimegegner gekommen“, klagt sie. Die Leute in der Provinz wüssten nicht, dass es Gegenkräfte gebe. „Die Dissidenten im litauischen Exil müssen zwar keinen KGB mehr fürchten“, sagt Dana, „aber Macht haben sie keine.“

»  Die Dissidenten müssen zwar keinen KGB mehr fürchten, aber Macht haben sie keine. « Was können die Oppositionellen gegen Lukaschenko ausrichten? „Brüssel sollte endlich wirtschaftliche Sanktionen einführen“, sagt Natalia. „Dann fällt der Diktator in Tagen oder Wochen.“ Aber dafür benötigt die Opposition Unterstützung. Natalia will in der EU und in den USA dafür werben. www.charter97.org Birgit Johannsmeier, geboren 1957, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet in Riga als freie Journalistin für TV, Radio und Print. Simonas Švitras, geboren 1983 in Litauen, lebt als freier Fotograf in Vilnius.

Medienmacher unter Druck ► Seite 76

Die litauische Hauptstadt Vilnius liegt nur 30 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt und ist das Zentrum der belarussischen Emigration. Hier hat auch die Europäische Humanistische Universität (EHU) ihren Sitz, die einzige belarussische Hochschule, an der ideologiefreie Lehre möglich ist. Sie wurde bereits 1992 noch vor dem Machtantritt Lukaschenkos in Minsk gegründet. Ihr Ziel: eine intellektuelle Elite auszubilden, die in Belarus einen demokratischen Wandel herbeiführen kann. „An der EHU in Minsk hatten wir die Illusion, in einem europäischen Land zu leben. Wir hatten hier Gastprofessoren und Studentenaustausch. Es war eine kleine europäische Insel“, erinnert sich die Philosophie-Dozentin Olga Schparaga. Doch wegen der zunehmenden Ideologisierung der Bildung wird die private Hochschule zum Politikum. 2004 entzieht die Regierung ihr schließlich die Lizenz. Die EHU zieht auf Einladung der litauischen Regierung nach Vilnius um.

Ein akademisches, kein politisches Projekt Nach wie vor versteht sich die Exil-Hochschule vor allem als akademisches, nicht als politisches Projekt. Etwa 2.000 Studenten sind heute an der EHU eingeschrieben. Mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Belarus und pendelt nach Vilnius. Finanziert wird die Hochschule vor allem aus den Mitteln eines von der Europäischen Kommission 2008 eingerichteten Trust-Fonds. Wegen der internationalen Finanzkrise werde die Finanzierung jedoch immer schwieriger, sagt Olga Schparaga. Problematisch sei auch, dass der EHU zunehmend die Tuchfühlung zur Heimat verloren gehe. „Wir hatten 2004 die Vorstellung, dass das Regime nach zwei Jahren fällt und wir nach Belarus zurückgehen können. Heute sind viele von uns müde.“ An eine schnelle Rückkehr glaubt kaum jemand. Viele Studenten bleiben nach ihrem Examen lieber im Ausland. www.ehu.lt Silja Schultheis, geboren 1970, ist Mitglied des n-ost-Vorstands. Sie arbeitet als freie Journalistin für die ARD und für tschechische Medien in Prag.

27


Belarus  GESELLSCHAFT

Das Gefühl geben, etwas wert zu sein Waleri Kolomijez, Trainer für Rollstuhltanz „Ich rede viel“, sagt Waleri Kolomijez, „aber ich tue auch was.“ Der 55-Jährige steht im Anzug vor einer selbst gezimmerten Rampe aus Holzbohlen. Das Bungalowdorf wenige Kilometer nördlich von Minsk ist sein Werk: Seit 15 Jahren trainiert Kolomijez hier Turniertanz für Rollstuhlfahrer. Sein „Belarussischer Hilfsfonds für körperbehinderte Sportler“ hat Weltmeister, Europameister und unzählige Medaillen im Wheelchair Dance hervorgebracht. Es klingt ironisch, dass Kolomijez mit Menschen arbeitet, die ihre Beine nicht gebrauchen können. Als Leichtathlet gewann er in den 1970er Jahren olympisches Gold im Weitsprung. Als er zu alt wurde, fragte ihn ein sehbehinderter Leichtathlet als Trainer an. So kam Kolomijez zu den Paralympics und zu den Rollstuhlfahrern. „Du hast das doch nicht nötig“, sagten seine Trainerkollegen anfangs und staunten, als Kolomijez 2008 die Weltmeisterschaft im Wheelchair Dance nach Minsk brachte. Das Trainingsdorf ist Kaderschmiede und Sozialprojekt in einem. Hier gibt es Wohngemeinschaften, Lehrgänge, eine Disco. Eine behindertengerechte Umgebung erfordert Eigeninitiative, das lernen die Sportler zuerst. Viele sind nach einem Unfall gelähmt und kämpfen mit Depressionen, wenn sie das erste Mal dorthin kommen. Kolomijez fordert, fördert, treibt zu Höchstleistungen und gibt ihnen wieder das Gefühl, etwas wert zu sein. „Man kann nur tanzen, wenn man den Kopf aufrecht hält und dem anderen in die Augen sieht“, sagt er. Der Trainer verschafft den Sportlern gute Ärzte und Wohnungen: „Ich bin so was wie ein Pate“, meint er. Auch in Herzensangelegenheiten: 14 Ehepaare haben sich in seinem Zentrum gefunden, fünf Kinder sind daraus bisher hervorgegangen. „Eine Familie ist das Höchste, was ein Mensch erreichen kann“, lächelt Kolomijez. „Darin bin ich jetzt Champion.“ Text: Cornelia Kästner  Foto: Markus Nowak

29


Belarus  GESELLSCHAFT

Das Gefühl geben, etwas wert zu sein Waleri Kolomijez, Trainer für Rollstuhltanz „Ich rede viel“, sagt Waleri Kolomijez, „aber ich tue auch was.“ Der 55-Jährige steht im Anzug vor einer selbst gezimmerten Rampe aus Holzbohlen. Das Bungalowdorf wenige Kilometer nördlich von Minsk ist sein Werk: Seit 15 Jahren trainiert Kolomijez hier Turniertanz für Rollstuhlfahrer. Sein „Belarussischer Hilfsfonds für körperbehinderte Sportler“ hat Weltmeister, Europameister und unzählige Medaillen im Wheelchair Dance hervorgebracht. Es klingt ironisch, dass Kolomijez mit Menschen arbeitet, die ihre Beine nicht gebrauchen können. Als Leichtathlet gewann er in den 1970er Jahren olympisches Gold im Weitsprung. Als er zu alt wurde, fragte ihn ein sehbehinderter Leichtathlet als Trainer an. So kam Kolomijez zu den Paralympics und zu den Rollstuhlfahrern. „Du hast das doch nicht nötig“, sagten seine Trainerkollegen anfangs und staunten, als Kolomijez 2008 die Weltmeisterschaft im Wheelchair Dance nach Minsk brachte. Das Trainingsdorf ist Kaderschmiede und Sozialprojekt in einem. Hier gibt es Wohngemeinschaften, Lehrgänge, eine Disco. Eine behindertengerechte Umgebung erfordert Eigeninitiative, das lernen die Sportler zuerst. Viele sind nach einem Unfall gelähmt und kämpfen mit Depressionen, wenn sie das erste Mal dorthin kommen. Kolomijez fordert, fördert, treibt zu Höchstleistungen und gibt ihnen wieder das Gefühl, etwas wert zu sein. „Man kann nur tanzen, wenn man den Kopf aufrecht hält und dem anderen in die Augen sieht“, sagt er. Der Trainer verschafft den Sportlern gute Ärzte und Wohnungen: „Ich bin so was wie ein Pate“, meint er. Auch in Herzensangelegenheiten: 14 Ehepaare haben sich in seinem Zentrum gefunden, fünf Kinder sind daraus bisher hervorgegangen. „Eine Familie ist das Höchste, was ein Mensch erreichen kann“, lächelt Kolomijez. „Darin bin ich jetzt Champion.“ Text: Cornelia Kästner  Foto: Markus Nowak

29


Belarus  GESELLSCHAFT

Leben mit Gott, Alkoholikern und Tieren Mutter Irina, Nonne „Mutter“, die übliche Anrede für eine orthodoxe Nonne, passt eigentlich nicht zu der 30-jährigen Irina. Zumal sie ihrer eigenen Mutter, die sie ein paarmal im Jahr besucht, immer noch erklären muss, warum sie keine eigene Familie gründen will. „Mama, ich bin glücklich mit meinem Leben“, sagt sie dann. Mit 25 Jahren hat sie ihr Wirtschaftsstudium abgebrochen und ist in den Konvent der Heiligen Elisabeth eingetreten. Das Kloster mit den Schnitzereien an den Dächern wirkt, als sei dort die Zeit stehen geblieben. Mutter Irina, Wollsocken in den Gummischlappen, Ölzeug über der Ordenstracht, spricht in ihr Mobiltelefon. Die kleine robuste Frau hat ihre Bestimmung gefunden: Die eine ist das Gebet. Die andere sind gefährliche Gestalten. Bjerk, ihr Schweizer Sennenhund, ist groß wie ein Pony und hat ein beeindruckendes Gebiss. Man weicht unwillkürlich zurück, wenn er sich am Zwinger aufbäumt. Bjerk ist Mutter Irinas Liebling. Er hat eine Visitenkarte und zahlreiche Preise auf Ausstellungen gewonnen. Nonne und Hund fuhren sogar nach Warschau zu einem Wettbewerb, die Jury war von dem wohlerzogenen Riesenhund beeindruckt. Eigentlich aber dient die Hundezucht des Klosters der Rehabilitation ehemaliger Häftlinge und Alkoholkranker, die auf der Klosterfarm arbeiten. 30 Männer vom Rand der Gesellschaft und fünf junge Nonnen: Für dieses Leben ist Mutter Irinas Furchtlosigkeit eine Voraussetzung. Denn die bärtigen Männer, die nüchtern inbrünstig von der schönen Heimat singen, sind nicht alle abstinent. Im Vollrausch schießen sie schon mal um sich, Mutter Irina hat mehrmals in den Lauf einer Waffe geblickt. Wie sie damit umgeht? „Sie meinen es nicht so“, lächelt die Nonne. „Wir verzeihen und nehmen die Menschen so, wie sie sind. Sie spüren, dass wir ihnen vertrauen, das ist wichtig.“ Es gibt sicher noch eine andere Wahrheit, aber mit ihrer Weltsicht haben die Nonnen schon Trinker bekehrt. Text: Cornelia Kästner  Foto: Constanze Flamme

31


Belarus  GESELLSCHAFT

Leben mit Gott, Alkoholikern und Tieren Mutter Irina, Nonne „Mutter“, die übliche Anrede für eine orthodoxe Nonne, passt eigentlich nicht zu der 30-jährigen Irina. Zumal sie ihrer eigenen Mutter, die sie ein paarmal im Jahr besucht, immer noch erklären muss, warum sie keine eigene Familie gründen will. „Mama, ich bin glücklich mit meinem Leben“, sagt sie dann. Mit 25 Jahren hat sie ihr Wirtschaftsstudium abgebrochen und ist in den Konvent der Heiligen Elisabeth eingetreten. Das Kloster mit den Schnitzereien an den Dächern wirkt, als sei dort die Zeit stehen geblieben. Mutter Irina, Wollsocken in den Gummischlappen, Ölzeug über der Ordenstracht, spricht in ihr Mobiltelefon. Die kleine robuste Frau hat ihre Bestimmung gefunden: Die eine ist das Gebet. Die andere sind gefährliche Gestalten. Bjerk, ihr Schweizer Sennenhund, ist groß wie ein Pony und hat ein beeindruckendes Gebiss. Man weicht unwillkürlich zurück, wenn er sich am Zwinger aufbäumt. Bjerk ist Mutter Irinas Liebling. Er hat eine Visitenkarte und zahlreiche Preise auf Ausstellungen gewonnen. Nonne und Hund fuhren sogar nach Warschau zu einem Wettbewerb, die Jury war von dem wohlerzogenen Riesenhund beeindruckt. Eigentlich aber dient die Hundezucht des Klosters der Rehabilitation ehemaliger Häftlinge und Alkoholkranker, die auf der Klosterfarm arbeiten. 30 Männer vom Rand der Gesellschaft und fünf junge Nonnen: Für dieses Leben ist Mutter Irinas Furchtlosigkeit eine Voraussetzung. Denn die bärtigen Männer, die nüchtern inbrünstig von der schönen Heimat singen, sind nicht alle abstinent. Im Vollrausch schießen sie schon mal um sich, Mutter Irina hat mehrmals in den Lauf einer Waffe geblickt. Wie sie damit umgeht? „Sie meinen es nicht so“, lächelt die Nonne. „Wir verzeihen und nehmen die Menschen so, wie sie sind. Sie spüren, dass wir ihnen vertrauen, das ist wichtig.“ Es gibt sicher noch eine andere Wahrheit, aber mit ihrer Weltsicht haben die Nonnen schon Trinker bekehrt. Text: Cornelia Kästner  Foto: Constanze Flamme

31


32

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Partisanenkampf gegen die Kernkraft Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl hat ein Viertel der Fläche von Belarus verstrahlt und mehr als hunderttausend Menschen aus ihrer Heimat im Süden vertrieben. Eine Gruppe Umsiedler hat im Norden einen Neuanfang gewagt. Nur 70 Kilometer entfernt wird nun das erste belarussische Atomkraftwerk gebaut. Die Angst vor dem Reaktor ist groß, doch die Angst vor dem Regime noch größer. Text: Olga Kapustina  Fotos: Martin Fejer

Tatjana Wyschewanjuk nimmt einen Armvoll Schilf und wirft ihn in eine alte Maschine. Knirschend und zischend zieht der mannshohe Metallkasten die honiggelben Halme ein. Auf der anderen Seite kommt eine dicke Platte aus Schilfrohren heraus. In dem Dorf Druschnaja werden ökologische Dämmplatten für die Isolierung von Häusern produziert. Das ist selten in Belarus und erfüllt Wyschewanjuk, die Leiterin der Manufaktur, und ihre Mitarbeiter mit Stolz. Druschnaja ist kein gewöhnliches belarussisches Dorf. Es ist ein Ökodorf für Umsiedler aus dem radioaktiv verseuchten Südosten des Landes, das 1993 mit deutscher Hilfe gegründet wurde. Die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl hat mehr als ein Viertel des belarussischen Territoriums kontaminiert. Zwei Millionen Belarussen waren betroffen, von denen mehr als 135.000 umgesiedelt wurden. Auch Tatjana siedelte in den Nordwesten des Landes um. Jetzt wird das erste belarussische Atomkraftwerk ausgerechnet den Tschernobyl-Flüchtlingen in Druschnaja vor die Nase gesetzt. 70 Kilometer westlich von Druschnaja, nahe der Grenze zu Litauen, planieren schwere Maschinen bereits das Gelände für das geplante Atomkraftwerk in einem Wald neben dem Städtchen Ostrowez. Eine Zufahrtsstraße und eine Siedlung für die künftigen AKWArbeiter sind schon im Bau. Mitte Oktober 2011 ratifizierte das belarussische Parlament in einer nicht öffentlichen Sitzung das Abkommen über den Bau des Reaktors. Das Kernkraftwerk soll nach Aussage der Regierung die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl mindern. Doch für den Bau hat die Minsker Regierung ausgerechnet die Firma Atomstrojexport beauftragt, eine Tochter des staatlichen russischen Nuklearkonzerns Rosatom. Und die knapp sieben Milliarden Euro, die für das Projekt veranschlagt sind, stellt ebenfalls Russland zur Verfügung, als Kredit.

Angst vor Repressionen Der erste Block soll 2017 fertig sein, der zweite 2018. Das AKW werde „weltweit die höchste Sicherheit haben“, sagte der stellvertretende belarussische Energieminister Michail Michadjuk. Die Dorfbewohner von Druschnaja, die unter dem

Reaktorunglück gelitten haben, glauben das nicht. „Früher wohnten wir hundert Kilometer von Tschernobyl entfernt, das neue Kernkraftwerk wird 70 Kilometer neben unserem Dorf gebaut“, sagt Tatjana. Ob sie gegen den Bau protestieren würde? Nein, dafür sei sie zu unpolitisch. Wie die meisten AKW-Gegner hat Tatjana Angst, gegen den autoritären Staat zu kämpfen. Nur die mutigsten protestieren öffentlich. Sie fahren dafür bis nach Russland.

Mit einer Schilfpresse aus dem Jahr 1948 produzieren Umsiedler aus den radioaktiv verseuchten Gebieten in ihrer neuen Heimat ökologische Dämmplatten.

»  Früher wohnten wir hundert Kilometer von Tschernobyl entfernt, das neue Kernkraftwerk wird 70 Kilometer neben unserem Dorf gebaut. « Am 18. November 2011 demonstrieren 15 Aktivisten aus Belarus vor dem Firmensitz von Rosatom in Moskau. Auf ihren Plakaten steht: „Das AKW in Ostrowez ist ein Verbrechen“, „Atomkraft? Nein danke“ und „Rosatom, Hände weg von Belarus“. Sie haben eine drei Meter hohe Puppe dabei, mit Totenkopf und dem schwarz-gelben Zeichen für Radioaktivität. Einer der Demonstranten ist 60 Jahre alt und wohnt nur drei Kilometer von der AKW-Baustelle bei Ostrowez entfernt. „In Belarus hätten wir für so eine Aktion keine Genehmigung bekommen“, sagt Nikolaj Ulasewitsch. Der pensionierte Lehrer hat sogar eine Klage gegen Präsident Alexander Lukaschenko beim Obersten Gericht angestrengt. Das Staatsoberhaupt solle das Grundgesetz wahren, in dem steht, „Belarus strebt an, eine atomfreie Zone zu werden“. Doch Präsident Lukaschenko meint, das beziehe sich auf Atomwaffen, nicht auf die zivile Nutzung der Kernenergie. Seit der Klage ist Ulasewitsch Repressionen ausgesetzt: Die Sicherheitsbehörden durchsuchten sein Haus und ein Unternehmer, der den Behörden nahe steht, erstattete Anzeige gegen den Pensionär wegen Beleidigung. »

33


32

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Partisanenkampf gegen die Kernkraft Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl hat ein Viertel der Fläche von Belarus verstrahlt und mehr als hunderttausend Menschen aus ihrer Heimat im Süden vertrieben. Eine Gruppe Umsiedler hat im Norden einen Neuanfang gewagt. Nur 70 Kilometer entfernt wird nun das erste belarussische Atomkraftwerk gebaut. Die Angst vor dem Reaktor ist groß, doch die Angst vor dem Regime noch größer. Text: Olga Kapustina  Fotos: Martin Fejer

Tatjana Wyschewanjuk nimmt einen Armvoll Schilf und wirft ihn in eine alte Maschine. Knirschend und zischend zieht der mannshohe Metallkasten die honiggelben Halme ein. Auf der anderen Seite kommt eine dicke Platte aus Schilfrohren heraus. In dem Dorf Druschnaja werden ökologische Dämmplatten für die Isolierung von Häusern produziert. Das ist selten in Belarus und erfüllt Wyschewanjuk, die Leiterin der Manufaktur, und ihre Mitarbeiter mit Stolz. Druschnaja ist kein gewöhnliches belarussisches Dorf. Es ist ein Ökodorf für Umsiedler aus dem radioaktiv verseuchten Südosten des Landes, das 1993 mit deutscher Hilfe gegründet wurde. Die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl hat mehr als ein Viertel des belarussischen Territoriums kontaminiert. Zwei Millionen Belarussen waren betroffen, von denen mehr als 135.000 umgesiedelt wurden. Auch Tatjana siedelte in den Nordwesten des Landes um. Jetzt wird das erste belarussische Atomkraftwerk ausgerechnet den Tschernobyl-Flüchtlingen in Druschnaja vor die Nase gesetzt. 70 Kilometer westlich von Druschnaja, nahe der Grenze zu Litauen, planieren schwere Maschinen bereits das Gelände für das geplante Atomkraftwerk in einem Wald neben dem Städtchen Ostrowez. Eine Zufahrtsstraße und eine Siedlung für die künftigen AKWArbeiter sind schon im Bau. Mitte Oktober 2011 ratifizierte das belarussische Parlament in einer nicht öffentlichen Sitzung das Abkommen über den Bau des Reaktors. Das Kernkraftwerk soll nach Aussage der Regierung die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl mindern. Doch für den Bau hat die Minsker Regierung ausgerechnet die Firma Atomstrojexport beauftragt, eine Tochter des staatlichen russischen Nuklearkonzerns Rosatom. Und die knapp sieben Milliarden Euro, die für das Projekt veranschlagt sind, stellt ebenfalls Russland zur Verfügung, als Kredit.

Angst vor Repressionen Der erste Block soll 2017 fertig sein, der zweite 2018. Das AKW werde „weltweit die höchste Sicherheit haben“, sagte der stellvertretende belarussische Energieminister Michail Michadjuk. Die Dorfbewohner von Druschnaja, die unter dem

Reaktorunglück gelitten haben, glauben das nicht. „Früher wohnten wir hundert Kilometer von Tschernobyl entfernt, das neue Kernkraftwerk wird 70 Kilometer neben unserem Dorf gebaut“, sagt Tatjana. Ob sie gegen den Bau protestieren würde? Nein, dafür sei sie zu unpolitisch. Wie die meisten AKW-Gegner hat Tatjana Angst, gegen den autoritären Staat zu kämpfen. Nur die mutigsten protestieren öffentlich. Sie fahren dafür bis nach Russland.

Mit einer Schilfpresse aus dem Jahr 1948 produzieren Umsiedler aus den radioaktiv verseuchten Gebieten in ihrer neuen Heimat ökologische Dämmplatten.

»  Früher wohnten wir hundert Kilometer von Tschernobyl entfernt, das neue Kernkraftwerk wird 70 Kilometer neben unserem Dorf gebaut. « Am 18. November 2011 demonstrieren 15 Aktivisten aus Belarus vor dem Firmensitz von Rosatom in Moskau. Auf ihren Plakaten steht: „Das AKW in Ostrowez ist ein Verbrechen“, „Atomkraft? Nein danke“ und „Rosatom, Hände weg von Belarus“. Sie haben eine drei Meter hohe Puppe dabei, mit Totenkopf und dem schwarz-gelben Zeichen für Radioaktivität. Einer der Demonstranten ist 60 Jahre alt und wohnt nur drei Kilometer von der AKW-Baustelle bei Ostrowez entfernt. „In Belarus hätten wir für so eine Aktion keine Genehmigung bekommen“, sagt Nikolaj Ulasewitsch. Der pensionierte Lehrer hat sogar eine Klage gegen Präsident Alexander Lukaschenko beim Obersten Gericht angestrengt. Das Staatsoberhaupt solle das Grundgesetz wahren, in dem steht, „Belarus strebt an, eine atomfreie Zone zu werden“. Doch Präsident Lukaschenko meint, das beziehe sich auf Atomwaffen, nicht auf die zivile Nutzung der Kernenergie. Seit der Klage ist Ulasewitsch Repressionen ausgesetzt: Die Sicherheitsbehörden durchsuchten sein Haus und ein Unternehmer, der den Behörden nahe steht, erstattete Anzeige gegen den Pensionär wegen Beleidigung. »

33


34

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

anderthalb Jahren begutachteten 15 unabhängige belarussische Wissenschaftler und Experten die Pläne für das AKW und kamen zu dem Schluss: Ostrowez ist ein denkbar schlechter Standort für ein Kernkraftwerk.

»  Wir sind wie Partisanen, die nicht immer untereinander verbunden sind. « In der Region, in der auch der Rohstoff für die Schilfplatten wächst, soll laut Plan ein Atomkraftwerk gebaut werden.

Widerstand aus dem sicheren Moskau Probleme mit dem belarussischen Sicherheitsapparat hat auch Roman Jasewitsch, ein anderer Demonstrant vor dem Rosatom-Gebäude. Er organisiert den Widerstand über Internet, denn in den staatlichen Medien gibt es nur positive Berichte über das geplante Kernkraftwerk. Um der Bevölkerung die Augen zu öffnen, hat er die Gruppe „Belarus ohne Kernkraft“ gegründet im sozialen Netzwerk „VKontakte“, dem russischen Pendant zu Facebook. Die gut 1.200 Mitglieder tauschen Nachrichten aus, diskutieren und entwerfen Flugblätter, Aufkleber und T-Shirts gegen Atomkraft. „Wir sind wie Partisanen, die nicht immer untereinander verbunden sind.“ Er leitet die Community sicherheitshalber von Moskau aus, wo er auch studiert. Die Anti-Atom-Partisanen werfen in Belarus heimlich Flugblätter in Briefkästen, kleben ihre Aufkleber in U-Bahnen, an Bushaltestellen oder auf Hauswände, und sie sprechen mit den Menschen auf der Straße. Jasewitsch glaubt an die Wirksamkeit dieser Methoden und hofft, dass das Volk der Regierung bald sein Nein entgegenschleudern wird, auch für das geplante AKW. Auf der Demonstration in Moskau steht eine Frau mit Atemschutzmaske neben ihm und verteilt Broschüren. Sie heißt Tatjana Nowikowa, ist Journalistin und Mitglied der belarussischen „Anti-Atom-Kampagne“, der viele Wissenschaftler angehören, Umweltschützer und Politiker der belarussischen Grünen. Vor

Dem Gutachten zufolge ist die Gegend seismologisch unruhig. Außerdem kritisieren die Gutachter den russischen Druckwasserreaktor AES-2006, der hier zum ersten Mal gebaut werden soll, als nicht ausgereift. Auch ökonomisch ist das Projekt laut den Experten eine Farce, da es kreditfinanziert ist und die Kosten für den Atommüll nicht beachtet worden sind. Doch der Protest ist verhallt. Im November 2011 unterzeichneten der belarussische und der russische Präsident das Staatsabkommen mitsamt Milliarden-Kredit für den Bau des AKW Ostrowez.

Windpark erst mal gescheitert Dabei hätte Belarus einen ganz anderen Weg nehmen können. 2010 kündigte die deutsche Firma Enertrag an, einen Windpark in Belarus errichten zu wollen. In das neue Projekt wollte sie insgesamt 360 Millionen Euro investieren. Doch im August 2011 verweigerte das belarussische Verteidigungsministerium seine Zustimmung zu dem Projekt. An dem vorgesehenen Ort störe der Windpark eine Radaranlage. Die Firma sucht jetzt nach einem neuen Standort. Den alternativen Weg hätte auch Tatjana Wyschewanjuk aus dem Ökodorf besser gefunden. Dort drehen sich bereits zwei Rotoren unermüdlich im Wind. Die beiden Windkraftanlagen erzeugen Strom für rund 650 Haushalte. „Was können wir in dieser Situation machen? Wir werden irgendwie weiterleben“, sagt Tatjana und wirft neues Schilf in die Maschine. Olga Kapustina, geboren 1985 in Belarus, ist n-ost-Mitglied und Volontärin bei der „Deutschen Welle“ in Bonn, Berlin und Moskau. Sie studierte Journalistik und Germanistik in St. Petersburg, Dortmund und Essen. Martin Fejer, geboren 1965, ist n-ost-Mitglied und Mitbegründer sowie Co-Leiter der deutsch-französischen Fotoagentur „EST&OST photography“, die auf Mittel- und Osteuropa spezialisiert ist. Er lebt in Budapest.

35


34

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

anderthalb Jahren begutachteten 15 unabhängige belarussische Wissenschaftler und Experten die Pläne für das AKW und kamen zu dem Schluss: Ostrowez ist ein denkbar schlechter Standort für ein Kernkraftwerk.

»  Wir sind wie Partisanen, die nicht immer untereinander verbunden sind. « In der Region, in der auch der Rohstoff für die Schilfplatten wächst, soll laut Plan ein Atomkraftwerk gebaut werden.

Widerstand aus dem sicheren Moskau Probleme mit dem belarussischen Sicherheitsapparat hat auch Roman Jasewitsch, ein anderer Demonstrant vor dem Rosatom-Gebäude. Er organisiert den Widerstand über Internet, denn in den staatlichen Medien gibt es nur positive Berichte über das geplante Kernkraftwerk. Um der Bevölkerung die Augen zu öffnen, hat er die Gruppe „Belarus ohne Kernkraft“ gegründet im sozialen Netzwerk „VKontakte“, dem russischen Pendant zu Facebook. Die gut 1.200 Mitglieder tauschen Nachrichten aus, diskutieren und entwerfen Flugblätter, Aufkleber und T-Shirts gegen Atomkraft. „Wir sind wie Partisanen, die nicht immer untereinander verbunden sind.“ Er leitet die Community sicherheitshalber von Moskau aus, wo er auch studiert. Die Anti-Atom-Partisanen werfen in Belarus heimlich Flugblätter in Briefkästen, kleben ihre Aufkleber in U-Bahnen, an Bushaltestellen oder auf Hauswände, und sie sprechen mit den Menschen auf der Straße. Jasewitsch glaubt an die Wirksamkeit dieser Methoden und hofft, dass das Volk der Regierung bald sein Nein entgegenschleudern wird, auch für das geplante AKW. Auf der Demonstration in Moskau steht eine Frau mit Atemschutzmaske neben ihm und verteilt Broschüren. Sie heißt Tatjana Nowikowa, ist Journalistin und Mitglied der belarussischen „Anti-Atom-Kampagne“, der viele Wissenschaftler angehören, Umweltschützer und Politiker der belarussischen Grünen. Vor

Dem Gutachten zufolge ist die Gegend seismologisch unruhig. Außerdem kritisieren die Gutachter den russischen Druckwasserreaktor AES-2006, der hier zum ersten Mal gebaut werden soll, als nicht ausgereift. Auch ökonomisch ist das Projekt laut den Experten eine Farce, da es kreditfinanziert ist und die Kosten für den Atommüll nicht beachtet worden sind. Doch der Protest ist verhallt. Im November 2011 unterzeichneten der belarussische und der russische Präsident das Staatsabkommen mitsamt Milliarden-Kredit für den Bau des AKW Ostrowez.

Windpark erst mal gescheitert Dabei hätte Belarus einen ganz anderen Weg nehmen können. 2010 kündigte die deutsche Firma Enertrag an, einen Windpark in Belarus errichten zu wollen. In das neue Projekt wollte sie insgesamt 360 Millionen Euro investieren. Doch im August 2011 verweigerte das belarussische Verteidigungsministerium seine Zustimmung zu dem Projekt. An dem vorgesehenen Ort störe der Windpark eine Radaranlage. Die Firma sucht jetzt nach einem neuen Standort. Den alternativen Weg hätte auch Tatjana Wyschewanjuk aus dem Ökodorf besser gefunden. Dort drehen sich bereits zwei Rotoren unermüdlich im Wind. Die beiden Windkraftanlagen erzeugen Strom für rund 650 Haushalte. „Was können wir in dieser Situation machen? Wir werden irgendwie weiterleben“, sagt Tatjana und wirft neues Schilf in die Maschine. Olga Kapustina, geboren 1985 in Belarus, ist n-ost-Mitglied und Volontärin bei der „Deutschen Welle“ in Bonn, Berlin und Moskau. Sie studierte Journalistik und Germanistik in St. Petersburg, Dortmund und Essen. Martin Fejer, geboren 1965, ist n-ost-Mitglied und Mitbegründer sowie Co-Leiter der deutsch-französischen Fotoagentur „EST&OST photography“, die auf Mittel- und Osteuropa spezialisiert ist. Er lebt in Budapest.

35


36

Belarus  GESELLSCHAFT

Wir sind Heiden Viele Belarussen entdecken heidnische Bräuche wieder: Sie feiern Mittsommer und suchen in ihren Riten den Kontakt zur Natur. Hinter der Besinnung auf die vorchristlichen Wurzeln steckt die Sehnsucht nach einer eigenen Identität. Ein Fotoessay von Andrei Liankevich

Feier des Erntedankfestes „Urja“ im Dorf Pagost etwa 200 Kilometer von Minsk


36

Belarus  GESELLSCHAFT

Wir sind Heiden Viele Belarussen entdecken heidnische Bräuche wieder: Sie feiern Mittsommer und suchen in ihren Riten den Kontakt zur Natur. Hinter der Besinnung auf die vorchristlichen Wurzeln steckt die Sehnsucht nach einer eigenen Identität. Ein Fotoessay von Andrei Liankevich

Feier des Erntedankfestes „Urja“ im Dorf Pagost etwa 200 Kilometer von Minsk


38

Belarus  GESELLSCHAFT

Ein heidnischer „Teufelsstein“ in der Nähe der Stadt Rakow. Dem Mythos nach ist es gefährlich, hier in der Nacht entlangzugehen.

Belarus  GESELLSCHAFT

Zum „Kusta“-Fest verkleiden sich Frauen als Bäume und ziehen von Haus zu Haus. Folgende Seite: In der „Woche der Meerjungfrauen“ laufen junge Mädchen über die Felder, um die Fruchtbarkeit des Bodens zu verbessern.

39


38

Belarus  GESELLSCHAFT

Ein heidnischer „Teufelsstein“ in der Nähe der Stadt Rakow. Dem Mythos nach ist es gefährlich, hier in der Nacht entlangzugehen.

Belarus  GESELLSCHAFT

Zum „Kusta“-Fest verkleiden sich Frauen als Bäume und ziehen von Haus zu Haus. Folgende Seite: In der „Woche der Meerjungfrauen“ laufen junge Mädchen über die Felder, um die Fruchtbarkeit des Bodens zu verbessern.

39




42

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Bewohner des Dorfs Tonez posieren beim heidnischen Fest „Gukannie Vjasvy“, der traditionellen Begrüßung des Frühlings.

Eine alte Frau in Nationaltracht vor ihrem Holzhaus in Pagost

43


42

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

Bewohner des Dorfs Tonez posieren beim heidnischen Fest „Gukannie Vjasvy“, der traditionellen Begrüßung des Frühlings.

Eine alte Frau in Nationaltracht vor ihrem Holzhaus in Pagost

43


44

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

45

»  Es geht um unsere Wurzeln « Der Fotograf Andrei Liankevich über sein Fotoessay »Heidentum« Interview: Sonja Volkmann-Schluck

Haben Sie auch einen persönlichen Bezug? Ich spüre eine tiefe Verbindung zur Natur und zu den alten Mythen. Als Kind besuchte ich oft meine Großmutter auf dem Dorf, sie hatte den sogenannten sechsten Sinn und konnte hellsehen. Meine Mutter ließ Frösche in einem Eimer verdursten, weil sie nach heidnischem Glauben schwarze Magier sind.

Andrei Liankevich, geboren 1981 in Grodno, lebt als freier Fotograf in Minsk. Er Foto: Tomas Kauneckas

Herr Liankevich, Sie haben drei Jahre lang heidnische Bräuche fotografiert und einen Bildband dazu veröffentlicht. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig? Weil es dabei um das Kernproblem der belarussischen Identität geht. Unsere Nation wurde jahrhundertelang zwischen den Mächten zerrieben, war nur wenige Jahre wirklich unabhängig. Heidnische Bräuche sind wie die belarussische Sprache unsere einzigen eigenen Wurzeln. Gerade auf dem Land ist die Gesellschaft zudem noch sehr traditionell geprägt, vorchristliche Rituale und Feste sind dort fest verankert.

ist Mitglied des Fotokollektivs „Sputnik“ und lehrt Fotografie an der EHU in Vilnius. Seine Bilder erscheinen in internationa-

len Medien wie der „New York Times“, „Le Figaro“, „Newsweek“, „Die Zeit“ und „Geo“ und wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Andrei Liankevich Paganstwa/Pagan 2010, 39 Euro Art Prints der Serie und das Buch sind bei Anzenberger Gallery erhältlich.

Ist die Besinnung auf heidnische Traditionen auch eine Reaktion auf das autoritäre System? Die meisten Belarussen, die diese Rituale pflegen, gehören eher der Opposition an. Es geht um eine Identität jenseits der politischen Gesinnung. Auf die Straße zu gehen, ist zu gefährlich, deswegen ziehen sich viele Menschen in die innere Emigration zurück. Ein Mittsommerfest kann Lukaschenko nicht verbieten. Ihre Bilder haben etwas Entrücktes wie aus einer fernen Zeit. Warum fotografierten Sie das Thema in Schwarz-Weiß? Ich wollte die konkreten Personen und Anlässe aus den Bildern herausnehmen. In Schwarz-Weiß lässt sich die ungeheure Energie der alten Bräuche besser transportieren.

Der Abdruck der Fotoserie wurde unterstützt von

fine art photography & signed limited edition photography books Zeinlhofergasse 7 A-1050 Wien www.anzenbergergallery.com

Der Blütenkranz wird traditionell zu Hochzeiten und zum Mittsommerfest gebunden.


44

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

45

»  Es geht um unsere Wurzeln « Der Fotograf Andrei Liankevich über sein Fotoessay »Heidentum« Interview: Sonja Volkmann-Schluck

Haben Sie auch einen persönlichen Bezug? Ich spüre eine tiefe Verbindung zur Natur und zu den alten Mythen. Als Kind besuchte ich oft meine Großmutter auf dem Dorf, sie hatte den sogenannten sechsten Sinn und konnte hellsehen. Meine Mutter ließ Frösche in einem Eimer verdursten, weil sie nach heidnischem Glauben schwarze Magier sind.

Andrei Liankevich, geboren 1981 in Grodno, lebt als freier Fotograf in Minsk. Er Foto: Tomas Kauneckas

Herr Liankevich, Sie haben drei Jahre lang heidnische Bräuche fotografiert und einen Bildband dazu veröffentlicht. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig? Weil es dabei um das Kernproblem der belarussischen Identität geht. Unsere Nation wurde jahrhundertelang zwischen den Mächten zerrieben, war nur wenige Jahre wirklich unabhängig. Heidnische Bräuche sind wie die belarussische Sprache unsere einzigen eigenen Wurzeln. Gerade auf dem Land ist die Gesellschaft zudem noch sehr traditionell geprägt, vorchristliche Rituale und Feste sind dort fest verankert.

ist Mitglied des Fotokollektivs „Sputnik“ und lehrt Fotografie an der EHU in Vilnius. Seine Bilder erscheinen in internationa-

len Medien wie der „New York Times“, „Le Figaro“, „Newsweek“, „Die Zeit“ und „Geo“ und wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Andrei Liankevich Paganstwa/Pagan 2010, 39 Euro Art Prints der Serie und das Buch sind bei Anzenberger Gallery erhältlich.

Ist die Besinnung auf heidnische Traditionen auch eine Reaktion auf das autoritäre System? Die meisten Belarussen, die diese Rituale pflegen, gehören eher der Opposition an. Es geht um eine Identität jenseits der politischen Gesinnung. Auf die Straße zu gehen, ist zu gefährlich, deswegen ziehen sich viele Menschen in die innere Emigration zurück. Ein Mittsommerfest kann Lukaschenko nicht verbieten. Ihre Bilder haben etwas Entrücktes wie aus einer fernen Zeit. Warum fotografierten Sie das Thema in Schwarz-Weiß? Ich wollte die konkreten Personen und Anlässe aus den Bildern herausnehmen. In Schwarz-Weiß lässt sich die ungeheure Energie der alten Bräuche besser transportieren.

Der Abdruck der Fotoserie wurde unterstützt von

fine art photography & signed limited edition photography books Zeinlhofergasse 7 A-1050 Wien www.anzenbergergallery.com

Der Blütenkranz wird traditionell zu Hochzeiten und zum Mittsommerfest gebunden.


46

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

47

Alle 30 Sekunden erinnern die Glockenschläge der Gedenkstätte in Chatyn an hunderte von den Nationalsozialisten niedergebrannte Dörfer.

Autobahnen auf verbrannter Erde Unter Historikern gilt Belarus als Herz der Finsternis: Im Zweiten Weltkrieg starb dort jeder Fünfte durch deutsche oder sowjetische Besatzer. Die Deutschen wissen wenig über die Kriegsgräuel zwischen Memel und Dnjepr. Doch auch in Belarus hat die Erinnerungspolitik große Lücken im kollektiven Gedächtnis geschaffen, die der Kulturwissenschaftler Felix Ackermann erforscht. Interview: Marion Bacher

In Belarus wird der Große Vaterländische Krieg heroisiert, sowjetischer Terror verschwiegen und nur über nationalsozialistische Gräuel gesprochen. Schüler lernen sogar, dass jeder dritte Belarusse durch den Naziterror gestorben ist. Welches Bild haben die Menschen heute von den Deutschen? Interessanterweise findet man bei Jung und Alt eine grundpositive und von Achtung durchdrungene Einstellung uns gegenüber. Das hängt mit der Nachkriegsgeschichte zusammen. Die Belarussen sehen, dass der heutige Wohlstand der Deutschen durch harte Arbeit nach Kriegsende erreicht wurde. Da gibt es keinen Neid oder eine imperiale Kränkung wie im heutigen Russland. Außerdem ist Deutschland ein wichtiger Handelspartner, und die deutsche Hilfe für die vielen belarussischen Tschernobyl-Opfer ist recht bekannt. Um die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs in Zahlen zu fassen: Wie viele Menschen starben auf dem heutigen Gebiet von Belarus? Etwa zwei Millionen, unter denen mehr als 500.000 Juden waren. Das heutige Territorium von Belarus wurde während des Zweiten Weltkriegs mehrmals besetzt. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 bemächtigte sich die Sowjetunion des heutigen Westens von Belarus, der damals Teil der Polnischen Republik war. Zwei Jahre später stand der Großteil des heutigen Belarus unter nationalsozialistischer Herrschaft, am Ende wieder unter kommunistischer. Die Abfolge von sowjetischer und deutscher Gewalt war für die Bevölkerung verheerend.

Sie haben den Mythos des Großen Vaterländischen Kriegs angesprochen. Welche Gedenkstätten sind relevant für die belarussische Erinnerungskultur? Ein zentraler Erinnerungsort ist das Museum des Großen Vaterländischen Kriegs in Minsk. Hier wurden schon zu Sowjetzeiten die Leitlinien für die kollektive Erinnerung vorgegeben. Populäre Ausflugsziele für belarussische Schüler sind die Festung Brest, in der der Mythos der heldenhaften Verteidigung im Juni 1941 gepflegt wird, oder neuere Erinnerungsorte wie das Freilichtmuseum Linia Stalina. Wobei die Stalin-Linie, ein System aus Verteidigungsanlagen wie der Westwall, militärisch bedeutungslos war. Und wie wichtig ist die Gedenkstätte in Chatyn, die stellvertretend für hunderte von den Nationalsozialisten niedergebrannte Dörfer steht? Chatyn scheint mir für deutsche Besucher wichtiger als für die meisten Belarussen, weil dort die Zerstörung bildhaft dargestellt wird: künstlerisch gestaltete Andeutungen von Häusern, Wegen und Gärten, wo keine mehr sind. Von einem verbrannten Dorf ist eben nichts mehr übrig, außer hier und da mal ein Obstbaum. Aber der Ort ist auch problematisch. Ja, das Dorf Chatyn nördlich von Minsk hat die sowjetische Führung 1969 gezielt ausgewählt, um Verwirrung zu stiften. Die Sowjets wollten damit von Katyn ablenken, wo ihre Geheimpolizei NKWD 1940

Foto: Matthias Schumann

Nicht nur über die Opfer des Sowjet-Terrors schweigt das Regime, auch die Kollaboration einiger Belarussen mit den Nationalsozialisten ist ein Tabu. 2010 nahm der KGB die Zeitschrift „Arche“ ins Visier. Der Verleger Valera Bulkhakau plante eine Ausgabe über den Zweiten Weltkrieg und die Veröffentlichung bis dato unbekannter Fotografien von Belarussen, die die Wehrmacht freudig begrüßten. Der KGB meldete sich wegen der Auflage bei der Druckerei. Die war auf den Anruf vorbereitet und gab 300 Exemplare an, eine in Belarus übliche Auflage für historische Bücher oder Zeitschriften und vor allem – keine Bedrohung für das System. In Wirklichkeit war die Auflage viel höher. Die Nachfrage war sogar so groß, dass mehrere Auflagen erschienen und weitere Ausgaben über den Zweiten Weltkrieg folgten. Das Interesse an aktuellen Forschungsergebnissen ist demnach sehr hoch.

In Kurapaty erschoss die sowjetische Geheimpolizei NKWD zehntausende Menschen. Schlichte Holzkreuze erinnern an das Massaker.

mehr als 4.000 polnische Offiziere und Intellektuelle ermordet hatte. Katyn liegt im heutigen Russland. Kurapaty ist ein weiteres Symbol für den Sowjet-Terror. In dem Wald nahe Minsk hat der NKWD von 1937 bis 1941 zehntausende Menschen erschossen und verscharrt. Über die Gedenkstätte wollte Präsident Lukaschenko eine Autobahn bauen. Von Anfang an hat sich Lukaschenko dafür eingesetzt, dass an die Opfer der sowjetischen Besatzung nicht kollektiv erinnert wird, und seine erste Amtshandlung war ein erfolgreiches Referendum zur Wiedereinführung sowjetischer Staatssymbole. Inzwischen gibt es eine offizielle Staatsideologie, die sogar von speziell ausgebildeten Historikern in Schulen, Universitäten und Betrieben gelehrt und kontrolliert wird. Haben Sie oder Ihre Kollegen diese Wächter schon einmal in Aktion erlebt? Ja, an einer Privathochschule, die eine simple Konferenz zur dortigen Stadtgeschichte organisierte. Der Ideologie-Wächter der Einrichtung schlug Alarm in Minsk, woraufhin die „gefährliche Veranstaltung“ in letzter Minute von ganz oben abgesagt wurde. Alle sind ein Teil des Systems. Nicht nur der Herrscher sorgt dafür, dass es funktioniert. Marion Bacher, geboren 1985, hat in Wien und Straßburg Neueste Geschichte studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin unter anderem für „die Zeit“, „Profil“, „Falter“.

Felix Ackermann lehrt als Dozent des DAAD an der belarussischen Exil-Universität in Vilnius EHU. Seine Themen sind Theorie und Praxis der Europäischen ErFoto: Jan Zappner

Foto: Martin Fejer

Können Sie ein Beispiel nennen? Stalin hat ab Winter 1940 in mehreren Wellen Angehörige bestimmter sozialer Gruppen nach Sibirien oder Kasachstan zwangsumgesiedelt. Dazu gehörten etwa Angestellte der polnischen Verwaltung, Offiziere, Priester, Kaufleute und Industrielle. Noch am 21. Juni 1941 wurde in Grodno ein Deportationszug nach Kasachstan zusammengestellt. Einen Tag später überfiel das Deutsche Reich die Sowjetunion und bombardierte auch diesen Zug. Für jene, die nicht verbrannten, war es die Rettung – es sei denn, sie waren Juden.

innerung sowie deutsche Literatur und Kultur. In seinem 2010 erschienenen Buch „Palimpsest Grodno“ zeichnet er das Ineinandergreifen von Völkermord,

Zwangsarbeit, Deportation und Umsiedlung in der im Zweiten Weltkrieg geschundenen Stadt nach.


46

Belarus  GESELLSCHAFT

Belarus  GESELLSCHAFT

47

Alle 30 Sekunden erinnern die Glockenschläge der Gedenkstätte in Chatyn an hunderte von den Nationalsozialisten niedergebrannte Dörfer.

Autobahnen auf verbrannter Erde Unter Historikern gilt Belarus als Herz der Finsternis: Im Zweiten Weltkrieg starb dort jeder Fünfte durch deutsche oder sowjetische Besatzer. Die Deutschen wissen wenig über die Kriegsgräuel zwischen Memel und Dnjepr. Doch auch in Belarus hat die Erinnerungspolitik große Lücken im kollektiven Gedächtnis geschaffen, die der Kulturwissenschaftler Felix Ackermann erforscht. Interview: Marion Bacher

In Belarus wird der Große Vaterländische Krieg heroisiert, sowjetischer Terror verschwiegen und nur über nationalsozialistische Gräuel gesprochen. Schüler lernen sogar, dass jeder dritte Belarusse durch den Naziterror gestorben ist. Welches Bild haben die Menschen heute von den Deutschen? Interessanterweise findet man bei Jung und Alt eine grundpositive und von Achtung durchdrungene Einstellung uns gegenüber. Das hängt mit der Nachkriegsgeschichte zusammen. Die Belarussen sehen, dass der heutige Wohlstand der Deutschen durch harte Arbeit nach Kriegsende erreicht wurde. Da gibt es keinen Neid oder eine imperiale Kränkung wie im heutigen Russland. Außerdem ist Deutschland ein wichtiger Handelspartner, und die deutsche Hilfe für die vielen belarussischen Tschernobyl-Opfer ist recht bekannt. Um die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs in Zahlen zu fassen: Wie viele Menschen starben auf dem heutigen Gebiet von Belarus? Etwa zwei Millionen, unter denen mehr als 500.000 Juden waren. Das heutige Territorium von Belarus wurde während des Zweiten Weltkriegs mehrmals besetzt. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 bemächtigte sich die Sowjetunion des heutigen Westens von Belarus, der damals Teil der Polnischen Republik war. Zwei Jahre später stand der Großteil des heutigen Belarus unter nationalsozialistischer Herrschaft, am Ende wieder unter kommunistischer. Die Abfolge von sowjetischer und deutscher Gewalt war für die Bevölkerung verheerend.

Sie haben den Mythos des Großen Vaterländischen Kriegs angesprochen. Welche Gedenkstätten sind relevant für die belarussische Erinnerungskultur? Ein zentraler Erinnerungsort ist das Museum des Großen Vaterländischen Kriegs in Minsk. Hier wurden schon zu Sowjetzeiten die Leitlinien für die kollektive Erinnerung vorgegeben. Populäre Ausflugsziele für belarussische Schüler sind die Festung Brest, in der der Mythos der heldenhaften Verteidigung im Juni 1941 gepflegt wird, oder neuere Erinnerungsorte wie das Freilichtmuseum Linia Stalina. Wobei die Stalin-Linie, ein System aus Verteidigungsanlagen wie der Westwall, militärisch bedeutungslos war. Und wie wichtig ist die Gedenkstätte in Chatyn, die stellvertretend für hunderte von den Nationalsozialisten niedergebrannte Dörfer steht? Chatyn scheint mir für deutsche Besucher wichtiger als für die meisten Belarussen, weil dort die Zerstörung bildhaft dargestellt wird: künstlerisch gestaltete Andeutungen von Häusern, Wegen und Gärten, wo keine mehr sind. Von einem verbrannten Dorf ist eben nichts mehr übrig, außer hier und da mal ein Obstbaum. Aber der Ort ist auch problematisch. Ja, das Dorf Chatyn nördlich von Minsk hat die sowjetische Führung 1969 gezielt ausgewählt, um Verwirrung zu stiften. Die Sowjets wollten damit von Katyn ablenken, wo ihre Geheimpolizei NKWD 1940

Foto: Matthias Schumann

Nicht nur über die Opfer des Sowjet-Terrors schweigt das Regime, auch die Kollaboration einiger Belarussen mit den Nationalsozialisten ist ein Tabu. 2010 nahm der KGB die Zeitschrift „Arche“ ins Visier. Der Verleger Valera Bulkhakau plante eine Ausgabe über den Zweiten Weltkrieg und die Veröffentlichung bis dato unbekannter Fotografien von Belarussen, die die Wehrmacht freudig begrüßten. Der KGB meldete sich wegen der Auflage bei der Druckerei. Die war auf den Anruf vorbereitet und gab 300 Exemplare an, eine in Belarus übliche Auflage für historische Bücher oder Zeitschriften und vor allem – keine Bedrohung für das System. In Wirklichkeit war die Auflage viel höher. Die Nachfrage war sogar so groß, dass mehrere Auflagen erschienen und weitere Ausgaben über den Zweiten Weltkrieg folgten. Das Interesse an aktuellen Forschungsergebnissen ist demnach sehr hoch.

In Kurapaty erschoss die sowjetische Geheimpolizei NKWD zehntausende Menschen. Schlichte Holzkreuze erinnern an das Massaker.

mehr als 4.000 polnische Offiziere und Intellektuelle ermordet hatte. Katyn liegt im heutigen Russland. Kurapaty ist ein weiteres Symbol für den Sowjet-Terror. In dem Wald nahe Minsk hat der NKWD von 1937 bis 1941 zehntausende Menschen erschossen und verscharrt. Über die Gedenkstätte wollte Präsident Lukaschenko eine Autobahn bauen. Von Anfang an hat sich Lukaschenko dafür eingesetzt, dass an die Opfer der sowjetischen Besatzung nicht kollektiv erinnert wird, und seine erste Amtshandlung war ein erfolgreiches Referendum zur Wiedereinführung sowjetischer Staatssymbole. Inzwischen gibt es eine offizielle Staatsideologie, die sogar von speziell ausgebildeten Historikern in Schulen, Universitäten und Betrieben gelehrt und kontrolliert wird. Haben Sie oder Ihre Kollegen diese Wächter schon einmal in Aktion erlebt? Ja, an einer Privathochschule, die eine simple Konferenz zur dortigen Stadtgeschichte organisierte. Der Ideologie-Wächter der Einrichtung schlug Alarm in Minsk, woraufhin die „gefährliche Veranstaltung“ in letzter Minute von ganz oben abgesagt wurde. Alle sind ein Teil des Systems. Nicht nur der Herrscher sorgt dafür, dass es funktioniert. Marion Bacher, geboren 1985, hat in Wien und Straßburg Neueste Geschichte studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin unter anderem für „die Zeit“, „Profil“, „Falter“.

Felix Ackermann lehrt als Dozent des DAAD an der belarussischen Exil-Universität in Vilnius EHU. Seine Themen sind Theorie und Praxis der Europäischen ErFoto: Jan Zappner

Foto: Martin Fejer

Können Sie ein Beispiel nennen? Stalin hat ab Winter 1940 in mehreren Wellen Angehörige bestimmter sozialer Gruppen nach Sibirien oder Kasachstan zwangsumgesiedelt. Dazu gehörten etwa Angestellte der polnischen Verwaltung, Offiziere, Priester, Kaufleute und Industrielle. Noch am 21. Juni 1941 wurde in Grodno ein Deportationszug nach Kasachstan zusammengestellt. Einen Tag später überfiel das Deutsche Reich die Sowjetunion und bombardierte auch diesen Zug. Für jene, die nicht verbrannten, war es die Rettung – es sei denn, sie waren Juden.

innerung sowie deutsche Literatur und Kultur. In seinem 2010 erschienenen Buch „Palimpsest Grodno“ zeichnet er das Ineinandergreifen von Völkermord,

Zwangsarbeit, Deportation und Umsiedlung in der im Zweiten Weltkrieg geschundenen Stadt nach.


Belarus  GESELLSCHAFT

Kritik lernen im Untergrund Uladsimir Kolas, Rektor einer Geheimschule In einem Wohnhaus am Rand von Minsk treffen sich jeden Tag   Jugendliche und Erwachsene. Es sind Chemiker, Literaturwissenschaftler oder Mathematiker. Sie lehren ihre Schüler all das, was auf staatlichen Gymnasien gelehrt wird. Mit dem Unterschied, dass sie auch kritisch darüber denken lernen sollen. Uladsimir Kolas leitet das Gymnasium, das offiziell nicht mehr existiert. „Es ist mein Traum, eine Generation auszubilden, die frei ist von sowjetischem Einfluss. Sie soll nicht nur Belarussisch sprechen, sondern lernen, wie man hinterfragt, vergleicht, kritisiert, wie Demokratie funktioniert“, sagt Kolas. Der 60-Jährige gründete 1989 mit einer Gruppe von Dissidenten ein belarussisches humanistisches Gymnasium. „Das Niveau war höher als anderswo“, erzählt Kolas, „und nicht nur Oppositionelle haben ihre Kinder zu uns geschickt.“ Der kritische Geist der Schule machte Präsident Lukaschenko Angst. Er ließ das Gymnasium 2003 schließen. Seine Schüler kämpften mit aller Kraft für „ihr“ Gymnasium und nehmen seither Unterricht im Untergrund. Im Sommer fahren sie nach Polen und Litauen, dort stellen Schulen ihnen ihre Klassenzimmer und Laboratorien zur Verfügung. Zusätzlich müssen sie auch externe Prüfungen vor einer staatlichen Kommission ablegen. „Als Kind habe ich die Schule gehasst. Meine Schüler kämpfen für sie“, sagt Kolas stolz. Der Rektor glaubt an seine Schule. Angebote, ins Ausland zu gehen, lehnte er ab. Kolas ist auch Filmregisseur, seine Dokumentationen haben europäische Preise gewonnen. Im offiziellen Belarus existieren sie genauso wenig wie das Gymnasium. Doch Kolas bleibt optimistisch: „Es wird sich viel ändern in diesem Land. Die neue Generation muss nur erwachsen werden.“ Text: Agnieszka Hreczuk  Foto: Andrey Davydchyk

49


Belarus  GESELLSCHAFT

Kritik lernen im Untergrund Uladsimir Kolas, Rektor einer Geheimschule In einem Wohnhaus am Rand von Minsk treffen sich jeden Tag   Jugendliche und Erwachsene. Es sind Chemiker, Literaturwissenschaftler oder Mathematiker. Sie lehren ihre Schüler all das, was auf staatlichen Gymnasien gelehrt wird. Mit dem Unterschied, dass sie auch kritisch darüber denken lernen sollen. Uladsimir Kolas leitet das Gymnasium, das offiziell nicht mehr existiert. „Es ist mein Traum, eine Generation auszubilden, die frei ist von sowjetischem Einfluss. Sie soll nicht nur Belarussisch sprechen, sondern lernen, wie man hinterfragt, vergleicht, kritisiert, wie Demokratie funktioniert“, sagt Kolas. Der 60-Jährige gründete 1989 mit einer Gruppe von Dissidenten ein belarussisches humanistisches Gymnasium. „Das Niveau war höher als anderswo“, erzählt Kolas, „und nicht nur Oppositionelle haben ihre Kinder zu uns geschickt.“ Der kritische Geist der Schule machte Präsident Lukaschenko Angst. Er ließ das Gymnasium 2003 schließen. Seine Schüler kämpften mit aller Kraft für „ihr“ Gymnasium und nehmen seither Unterricht im Untergrund. Im Sommer fahren sie nach Polen und Litauen, dort stellen Schulen ihnen ihre Klassenzimmer und Laboratorien zur Verfügung. Zusätzlich müssen sie auch externe Prüfungen vor einer staatlichen Kommission ablegen. „Als Kind habe ich die Schule gehasst. Meine Schüler kämpfen für sie“, sagt Kolas stolz. Der Rektor glaubt an seine Schule. Angebote, ins Ausland zu gehen, lehnte er ab. Kolas ist auch Filmregisseur, seine Dokumentationen haben europäische Preise gewonnen. Im offiziellen Belarus existieren sie genauso wenig wie das Gymnasium. Doch Kolas bleibt optimistisch: „Es wird sich viel ändern in diesem Land. Die neue Generation muss nur erwachsen werden.“ Text: Agnieszka Hreczuk  Foto: Andrey Davydchyk

49


Der Preis steigt

Lukaschenko bezahlt politische Stabilit채t mit rasender Inflation und zunehmender Abh채ngigkeit von Russland. Text: Sonja Volkmann-Schluck


Der Preis steigt

Lukaschenko bezahlt politische Stabilit채t mit rasender Inflation und zunehmender Abh채ngigkeit von Russland. Text: Sonja Volkmann-Schluck


Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Ein Liter Benzin Ob Brot, Benzin oder ein Friseurbesuch für Damen – die Belarussen mussten Ende 2011 für Energie und Dienstleistungen doppelt so viel bezahlen wie ein Jahr zuvor. Die Preise für viele Lebensmittel verdreifachten sich sogar. Um die rasende Inflation zu stoppen, erhöhte die belarussische Zentralbank den Leitzins zuletzt auf 45 Prozent. Belarus steckt in seiner schwersten Wirtschaftskrise seit dem Ende der Sowjetunion. Das Land produziert kaum wettbewerbsfähige Exportwaren, dadurch fließen immer weniger Devisen ins Land. Um die Angestellten zu bezahlen, die vor allem in Staatsbetrieben arbeiten, lässt Präsident Lukaschenko in großen Mengen Geld drucken. So verdoppelte sich der Durchschnittslohn binnen eines Jahres von etwa 1,3 auf 2,3 Millionen Rubel. Trotzdem sind die Löhne aber weniger wert. Umgerechnet sanken sie sogar: Seit Oktober 2010 binnen Jahresfrist von 320 auf 265 Euro.

5.000

5.008 BYR

4.000

3.342 BYR

3.000

2.679 BYR 2.000

1.000

Oktober 2010

Der Schuldenberg ist fast so hoch wie das BIP Mit der Krise gerät ein Sozialmodell ins Wanken, das im autoritär regierten Belarus jahrelang für Stabilität sorgte. Seit seiner Wahl 1994 erkaufte sich Lukaschenko mit günstiger Energie aus dem Bruderstaat Russland und stetigen Lohnsteigerungen politisches Stillhalten. Doch bereits seit 2007 erhöht Russland schrittweise die Energiepreise, das Regime finanziert sich zunehmend auf Pump. Eine kräftige Lohnerhöhung vor den Wahlen im Dezember 2010 tat ihr Übriges: Das Land hat mittlerweile einen Schuldenberg von 24 Milliarden Euro angehäuft, der fast so hoch ist wie das gesamte Bruttoinlandsprodukt. Mit der Wirtschaftskrise schwindet auch der Zuspruch für die politische Führung. Nach einer Umfrage des Unabhängigen Instituts für sozioökonomische und politische Studien IISEPS in Vilnius sank das Vertrauen der Bevölkerung in ihren Präsidenten im Herbst 2011 auf 25 Prozent. Die Regierung versucht händeringend, die Stabilität wieder herzustellen. Der Iran, China und Russland stellten Kredite zur Verfügung, die Führung hat wichtige Staatsbetriebe verkauft. Der Energieversorger Beltransgas etwa ging an den russischen Riesen Gazprom. Im Gegenzug erhält Belarus vorerst wieder günstigeres Gas aus dem Nachbarland. Als Mitglied einer neu gegründeten Zollunion verbilligen sich auch andere Importe aus Russland und Kasachstan.

April 2011

Oktober 2011

Friseurbesuch 30.000

27.654 BYR

25.000 20.000

19.011 BYR 15.000

16.684 BYR

10.000 5.000 1.000 Oktober 2010

April 2011

Oktober 2011

Ein 200.000-Rubel-Schein ist im Druck Preis für einen Euro in Belarussischen Rubel

Die stärkere Anbindung an den großen Nachbarn bringt zwar wieder mehr Stabilität, sorgt aber bei Wirtschaftsexperten für Resignation. „Mittelfristig wird alles so weitergehen wie bisher: Das Regime verkauft weitere Unternehmen und stopft damit die Löcher. Dadurch kann Lukaschenko verhindern, dass die Menschen auf die Straße gehen“, sagt Irina Krylowitsch vom Wirtschaftsmagazin „Die Belarussen und der Markt“. Und fügt hinzu: „Solange Lukaschenko an der Macht ist, wird sich nichts ändern.“ Bis auf die Banknoten: Seit 2012 gibt es einen 200.000-Rubel-Schein. Sonja Volkmann-Schluck, geboren 1975, ist Redakteurin beim n-ost-Artikeldienst. Sie studierte in München und London und arbeitete als Wirtschaftsredakteurin beim SWR und RBB.

Oktober 2010   4.050 Oktober 2011   8.647 Januar 2012 10.736

Lohnentwicklung in Belarussischen Rubel (Durchschnittsgehälter) Fotos: Andrey Davydchyk

52

Oktober 2010 Oktober 2011

1,3 Millionen (320 Euro) 2,3 Millionen (265 Euro)

Quelle: Nationales belarussisches Statistik-Komitee www.belstat.gov.by

53


Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Ein Liter Benzin Ob Brot, Benzin oder ein Friseurbesuch für Damen – die Belarussen mussten Ende 2011 für Energie und Dienstleistungen doppelt so viel bezahlen wie ein Jahr zuvor. Die Preise für viele Lebensmittel verdreifachten sich sogar. Um die rasende Inflation zu stoppen, erhöhte die belarussische Zentralbank den Leitzins zuletzt auf 45 Prozent. Belarus steckt in seiner schwersten Wirtschaftskrise seit dem Ende der Sowjetunion. Das Land produziert kaum wettbewerbsfähige Exportwaren, dadurch fließen immer weniger Devisen ins Land. Um die Angestellten zu bezahlen, die vor allem in Staatsbetrieben arbeiten, lässt Präsident Lukaschenko in großen Mengen Geld drucken. So verdoppelte sich der Durchschnittslohn binnen eines Jahres von etwa 1,3 auf 2,3 Millionen Rubel. Trotzdem sind die Löhne aber weniger wert. Umgerechnet sanken sie sogar: Seit Oktober 2010 binnen Jahresfrist von 320 auf 265 Euro.

5.000

5.008 BYR

4.000

3.342 BYR

3.000

2.679 BYR 2.000

1.000

Oktober 2010

Der Schuldenberg ist fast so hoch wie das BIP Mit der Krise gerät ein Sozialmodell ins Wanken, das im autoritär regierten Belarus jahrelang für Stabilität sorgte. Seit seiner Wahl 1994 erkaufte sich Lukaschenko mit günstiger Energie aus dem Bruderstaat Russland und stetigen Lohnsteigerungen politisches Stillhalten. Doch bereits seit 2007 erhöht Russland schrittweise die Energiepreise, das Regime finanziert sich zunehmend auf Pump. Eine kräftige Lohnerhöhung vor den Wahlen im Dezember 2010 tat ihr Übriges: Das Land hat mittlerweile einen Schuldenberg von 24 Milliarden Euro angehäuft, der fast so hoch ist wie das gesamte Bruttoinlandsprodukt. Mit der Wirtschaftskrise schwindet auch der Zuspruch für die politische Führung. Nach einer Umfrage des Unabhängigen Instituts für sozioökonomische und politische Studien IISEPS in Vilnius sank das Vertrauen der Bevölkerung in ihren Präsidenten im Herbst 2011 auf 25 Prozent. Die Regierung versucht händeringend, die Stabilität wieder herzustellen. Der Iran, China und Russland stellten Kredite zur Verfügung, die Führung hat wichtige Staatsbetriebe verkauft. Der Energieversorger Beltransgas etwa ging an den russischen Riesen Gazprom. Im Gegenzug erhält Belarus vorerst wieder günstigeres Gas aus dem Nachbarland. Als Mitglied einer neu gegründeten Zollunion verbilligen sich auch andere Importe aus Russland und Kasachstan.

April 2011

Oktober 2011

Friseurbesuch 30.000

27.654 BYR

25.000 20.000

19.011 BYR 15.000

16.684 BYR

10.000 5.000 1.000 Oktober 2010

April 2011

Oktober 2011

Ein 200.000-Rubel-Schein ist im Druck Preis für einen Euro in Belarussischen Rubel

Die stärkere Anbindung an den großen Nachbarn bringt zwar wieder mehr Stabilität, sorgt aber bei Wirtschaftsexperten für Resignation. „Mittelfristig wird alles so weitergehen wie bisher: Das Regime verkauft weitere Unternehmen und stopft damit die Löcher. Dadurch kann Lukaschenko verhindern, dass die Menschen auf die Straße gehen“, sagt Irina Krylowitsch vom Wirtschaftsmagazin „Die Belarussen und der Markt“. Und fügt hinzu: „Solange Lukaschenko an der Macht ist, wird sich nichts ändern.“ Bis auf die Banknoten: Seit 2012 gibt es einen 200.000-Rubel-Schein. Sonja Volkmann-Schluck, geboren 1975, ist Redakteurin beim n-ost-Artikeldienst. Sie studierte in München und London und arbeitete als Wirtschaftsredakteurin beim SWR und RBB.

Oktober 2010   4.050 Oktober 2011   8.647 Januar 2012 10.736

Lohnentwicklung in Belarussischen Rubel (Durchschnittsgehälter) Fotos: Andrey Davydchyk

52

Oktober 2010 Oktober 2011

1,3 Millionen (320 Euro) 2,3 Millionen (265 Euro)

Quelle: Nationales belarussisches Statistik-Komitee www.belstat.gov.by

53


54

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Wirtschaftsförderung auf Belarussisch Alle wirtschaftlichen Kennzahlen zeigen steil nach unten, Belarus steht kurz vor dem Bankrott. Jetzt entdeckt das Regime den Mittelstand und will nach 20 Jahren Planwirtschaft die Privatunternehmer fördern – und weiterhin gut kontrollieren. Text: Inna Hartwich

Die zwei Frauen kamen unangekündigt. Rosa kannte ihre Gesichter längst. Sie schlichen zwischen den Tischen hindurch, schauten unter die Stühle, an die Decke, in die Toiletten. Es war alles in Ordnung. Doch es durfte nicht alles in Ordnung sein. Das darf es nie. Der magere Finger der Kontrolleurin fuhr über das braune Kunstleder eines Sessels in der Ecke. „Staub“, sagte sie, und es klang wie ein Schuss. Rosa hatte erst am Morgen Staub gewischt, gerade dort in der Ecke. Nun schaute sie zu Boden, sagte nichts. „Staub“, wiederholte die zweite Frau und nahm ihren Block aus der Tasche. „Hygienevorschriften nicht ausreichend befolgt“, kritzelte sie hinein. Rosa bezahlte mit einem Packen Rubelscheine, umgerechnet zehn Euro. Manchmal ist die Strafe höher. Rosa heißt vielleicht gar nicht Rosa. Sie stellt sich nur mit diesem Namen vor. Das ist nicht ungewöhnlich in Belarus. Die Willkür des Regimes setzt sich nach unten fort und dringt in alle Lebensbereiche ein, auch in die Privatwirtschaft. Dabei ist die Rhetorik von Präsident Alexander Lukaschenko eine ganz andere. „Privatunternehmen sind nicht der Untergang Lukaschenkos“, sagte er im Juni 2011, über sich selbst in der dritten Person sprechend. Unternehmer seien die Zukunft des Landes.

Die Wirtschaftskrise hat das Land im Würgegriff Passend dazu erließ er bereits Anfang des Jahres die „Direktive Nummer 4 – Über die Entwicklung unternehmerischer Initiative und Stimulierung wirtschaftlicher Aktivität“. Das war unmittelbar bevor, die Krise Belarus in den Würgegriff nahm. Mit der Direktive wollte der Staat die Privatwirtschaft stärken: Steuern senken, Registrierung von Unternehmen erleichtern, Preisregulierung aufheben, Privateigentum schützen, bürokratische Hürden reduzieren, unnötige Einmischung des Staats eindämmen und so den Anteil des Mittelstands am Bruttoinlandsprodukt von 18 auf 30 Prozent steigern. Hehre Ziele für ein Land, in dem 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion die Wirtschaft immer noch geplant wird und rund 70 Prozent der Betriebe in Staatsbesitz sind.

Der staatlichen Willkür unterworfen Den Mittelstand bilden nur knapp zehn Prozent aller Unternehmen. Der staatliche Sektor ist so groß und schwerfällig, dass Reformen unmöglich scheinen. Etwa 80 Prozent der Belarussen arbeiten im Grunde genommen für den Staat, und zwar nach Methoden, die sich seit den Sowjetzeiten kaum verändert haben. Verschiedene Ministerien erstellen dabei sogenannte Wachstumsziffern für jeden Staatsbetrieb. Diese Zahlen wiederum liegen Geschäftsplänen zugrunde, die jedes Staatsunternehmen mit der dafür zuständigen Behörde absprechen muss. Erfüllt der Betrieb den Plan, gibt es Prämien, verfehlt er ihn, drohen Sanktionen. Für private Unternehmen gelten „informelle Empfehlungen“, doch letztlich sind sie der staatlichen Willkür noch stärker unterworfen. Rosa erträgt die Schikanen. Jahrelang hat sie mit zwei weiteren Familien für ihr gemeinsames Restaurant gekämpft und den Papierkrieg mit den Behörden geführt. Vor anderthalb Jahren wagte sie den Schritt in die Selbstständigkeit. Wie lange sie durchhält, weiß sie nicht. Die Kontrolleure kommen fast täglich. Mal ist ihnen die Tür anderthalb Zentimeter zu niedrig, mal zwei Zentimeter zu breit. Wenn es gut ausgeht, sind nur die Hygienevorschriften nicht ausreichend befolgt worden. Das kostet nicht viel. Die Miete für die Räume ist noch unberechenbarer, die staatliche Immobilienverwaltung erhöht sie ständig. Auch die Nebenkosten variieren von Monat zu Monat, nach welchem Prinzip hat Rosa noch nicht herausgefunden. Sie sagt, sie verstehe die Kontrolleure. „Sie haben Listen, in denen steht, wie viel Bußgeld sie eintreiben müssen.“ Rosa ist eine zierliche Frau mit leiser Stimme und wachen Augen. Sie ist vielleicht Anfang 40, vielleicht schon 50. Auch diese persönliche Information gibt sie nicht preis. Sie hängt an ihrem Restaurant und hat gelernt, mit der Willkür zu leben, „sich hin- und herzuwinden“, wie sie sagt. „Man ist gezwungen, ständig auf sein Ich zu treten.“

Das Rating von Belarus sank auf Ramschniveau Viktor Margelow kennt ihre Situation. „In Belarus ist es einfach, ein Unternehmen in den Ruin zu treiben“, sagt der Vize-Vorsitzende des privaten Unternehmerverbands in Minsk. „Ein paar Kontrollen, ein paar Strafen, schon ist man weg vom Fenster.“ Der massige Mann betreibt selbst einige Cafés und Supermärkte. In seinem Verband sind 400 kleine und mittlere Betriebe organisiert. Er sieht im Mittelstand den wirtschaftlichen Motor der Gesellschaft, der ausgebaut und gestärkt werden muss. Insofern kommt ihm die Direktive Nummer 4

zur Unterstützung mittelständischer Betriebe gelegen. „Ganz hervorragend, wirklich, aber leider nur auf dem Papier.“ Belarus unterstützt Staatsbetriebe durch Steuererleichterungen, Kredite und andere Vorteile. Die Subventionen liegen pro Jahr bei bis zu acht Milliarden Dollar, schätzen US-amerikanische Institute. Offiziell spricht Belarus von einer halben Milliarde Dollar im Jahr. Mehr als ein Drittel der Staatsbetriebe arbeitet konstant mit Verlust. Da strukturelle Reformen fehlen und die Schuldenlast wächst, haben Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit des Landes im November auf Ramschniveau herabgestuft. Das kommt einer Bankrott-Erklärung gleich.

An diesem Nachmittag kommt kein Gast Präsident Lukaschenko ist nervös geworden und hat die Privatisierung einiger staatlicher Betriebe angeordnet. Das Zentrum für Wirtschaftsanalysen in Minsk aber hält das Wort Privatisierung in diesen Fällen für einen Euphemismus, die Nutznießer stammten aus dem kleinen Kreis der Einflussreichen in Belarus und Russland. In einem Papier der Analysten heißt es, dass der Kuchen zwischen Staatseinrichtungen, Sicherheitsorganen und der Mafia aufgeteilt wird. Kleinunternehmer bekommen von dem Kuchen nichts ab, sie plagen andere Sorgen. „Seit April ist alles schwieriger geworden“, sagt Rosa. Da begann die galoppierende Inflation. Gewinne macht sie seit Monaten nicht, manche Produkte kann sie nicht mehr kaufen. „Zu teuer.“ Einem Koch hat sie gekündigt, die Putzfrau teilt sich die Stelle mit der Küchenhilfe. Sie sind noch zu acht im Restaurant. Der Kellner verdient 50 Dollar im Monat, im vergangenen Jahr waren es noch 150. „Die Leute gehen nicht mehr aus zum Essen“, sagt Rosa. An diesem Nachmittag kommt kein einziger Gast, alle 65 Plätze bleiben leer. „Die Kontrolleure aber, die kommen ganz sicher.“ Inna Hartwich, geboren 1980, ist n-ost-Korrespondentin und lebt in Moskau. Sie berichtet aus Russland und den Ex-Sowjetrepubliken für deutschsprachige Tageszeitungen.

55


54

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Wirtschaftsförderung auf Belarussisch Alle wirtschaftlichen Kennzahlen zeigen steil nach unten, Belarus steht kurz vor dem Bankrott. Jetzt entdeckt das Regime den Mittelstand und will nach 20 Jahren Planwirtschaft die Privatunternehmer fördern – und weiterhin gut kontrollieren. Text: Inna Hartwich

Die zwei Frauen kamen unangekündigt. Rosa kannte ihre Gesichter längst. Sie schlichen zwischen den Tischen hindurch, schauten unter die Stühle, an die Decke, in die Toiletten. Es war alles in Ordnung. Doch es durfte nicht alles in Ordnung sein. Das darf es nie. Der magere Finger der Kontrolleurin fuhr über das braune Kunstleder eines Sessels in der Ecke. „Staub“, sagte sie, und es klang wie ein Schuss. Rosa hatte erst am Morgen Staub gewischt, gerade dort in der Ecke. Nun schaute sie zu Boden, sagte nichts. „Staub“, wiederholte die zweite Frau und nahm ihren Block aus der Tasche. „Hygienevorschriften nicht ausreichend befolgt“, kritzelte sie hinein. Rosa bezahlte mit einem Packen Rubelscheine, umgerechnet zehn Euro. Manchmal ist die Strafe höher. Rosa heißt vielleicht gar nicht Rosa. Sie stellt sich nur mit diesem Namen vor. Das ist nicht ungewöhnlich in Belarus. Die Willkür des Regimes setzt sich nach unten fort und dringt in alle Lebensbereiche ein, auch in die Privatwirtschaft. Dabei ist die Rhetorik von Präsident Alexander Lukaschenko eine ganz andere. „Privatunternehmen sind nicht der Untergang Lukaschenkos“, sagte er im Juni 2011, über sich selbst in der dritten Person sprechend. Unternehmer seien die Zukunft des Landes.

Die Wirtschaftskrise hat das Land im Würgegriff Passend dazu erließ er bereits Anfang des Jahres die „Direktive Nummer 4 – Über die Entwicklung unternehmerischer Initiative und Stimulierung wirtschaftlicher Aktivität“. Das war unmittelbar bevor, die Krise Belarus in den Würgegriff nahm. Mit der Direktive wollte der Staat die Privatwirtschaft stärken: Steuern senken, Registrierung von Unternehmen erleichtern, Preisregulierung aufheben, Privateigentum schützen, bürokratische Hürden reduzieren, unnötige Einmischung des Staats eindämmen und so den Anteil des Mittelstands am Bruttoinlandsprodukt von 18 auf 30 Prozent steigern. Hehre Ziele für ein Land, in dem 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion die Wirtschaft immer noch geplant wird und rund 70 Prozent der Betriebe in Staatsbesitz sind.

Der staatlichen Willkür unterworfen Den Mittelstand bilden nur knapp zehn Prozent aller Unternehmen. Der staatliche Sektor ist so groß und schwerfällig, dass Reformen unmöglich scheinen. Etwa 80 Prozent der Belarussen arbeiten im Grunde genommen für den Staat, und zwar nach Methoden, die sich seit den Sowjetzeiten kaum verändert haben. Verschiedene Ministerien erstellen dabei sogenannte Wachstumsziffern für jeden Staatsbetrieb. Diese Zahlen wiederum liegen Geschäftsplänen zugrunde, die jedes Staatsunternehmen mit der dafür zuständigen Behörde absprechen muss. Erfüllt der Betrieb den Plan, gibt es Prämien, verfehlt er ihn, drohen Sanktionen. Für private Unternehmen gelten „informelle Empfehlungen“, doch letztlich sind sie der staatlichen Willkür noch stärker unterworfen. Rosa erträgt die Schikanen. Jahrelang hat sie mit zwei weiteren Familien für ihr gemeinsames Restaurant gekämpft und den Papierkrieg mit den Behörden geführt. Vor anderthalb Jahren wagte sie den Schritt in die Selbstständigkeit. Wie lange sie durchhält, weiß sie nicht. Die Kontrolleure kommen fast täglich. Mal ist ihnen die Tür anderthalb Zentimeter zu niedrig, mal zwei Zentimeter zu breit. Wenn es gut ausgeht, sind nur die Hygienevorschriften nicht ausreichend befolgt worden. Das kostet nicht viel. Die Miete für die Räume ist noch unberechenbarer, die staatliche Immobilienverwaltung erhöht sie ständig. Auch die Nebenkosten variieren von Monat zu Monat, nach welchem Prinzip hat Rosa noch nicht herausgefunden. Sie sagt, sie verstehe die Kontrolleure. „Sie haben Listen, in denen steht, wie viel Bußgeld sie eintreiben müssen.“ Rosa ist eine zierliche Frau mit leiser Stimme und wachen Augen. Sie ist vielleicht Anfang 40, vielleicht schon 50. Auch diese persönliche Information gibt sie nicht preis. Sie hängt an ihrem Restaurant und hat gelernt, mit der Willkür zu leben, „sich hin- und herzuwinden“, wie sie sagt. „Man ist gezwungen, ständig auf sein Ich zu treten.“

Das Rating von Belarus sank auf Ramschniveau Viktor Margelow kennt ihre Situation. „In Belarus ist es einfach, ein Unternehmen in den Ruin zu treiben“, sagt der Vize-Vorsitzende des privaten Unternehmerverbands in Minsk. „Ein paar Kontrollen, ein paar Strafen, schon ist man weg vom Fenster.“ Der massige Mann betreibt selbst einige Cafés und Supermärkte. In seinem Verband sind 400 kleine und mittlere Betriebe organisiert. Er sieht im Mittelstand den wirtschaftlichen Motor der Gesellschaft, der ausgebaut und gestärkt werden muss. Insofern kommt ihm die Direktive Nummer 4

zur Unterstützung mittelständischer Betriebe gelegen. „Ganz hervorragend, wirklich, aber leider nur auf dem Papier.“ Belarus unterstützt Staatsbetriebe durch Steuererleichterungen, Kredite und andere Vorteile. Die Subventionen liegen pro Jahr bei bis zu acht Milliarden Dollar, schätzen US-amerikanische Institute. Offiziell spricht Belarus von einer halben Milliarde Dollar im Jahr. Mehr als ein Drittel der Staatsbetriebe arbeitet konstant mit Verlust. Da strukturelle Reformen fehlen und die Schuldenlast wächst, haben Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit des Landes im November auf Ramschniveau herabgestuft. Das kommt einer Bankrott-Erklärung gleich.

An diesem Nachmittag kommt kein Gast Präsident Lukaschenko ist nervös geworden und hat die Privatisierung einiger staatlicher Betriebe angeordnet. Das Zentrum für Wirtschaftsanalysen in Minsk aber hält das Wort Privatisierung in diesen Fällen für einen Euphemismus, die Nutznießer stammten aus dem kleinen Kreis der Einflussreichen in Belarus und Russland. In einem Papier der Analysten heißt es, dass der Kuchen zwischen Staatseinrichtungen, Sicherheitsorganen und der Mafia aufgeteilt wird. Kleinunternehmer bekommen von dem Kuchen nichts ab, sie plagen andere Sorgen. „Seit April ist alles schwieriger geworden“, sagt Rosa. Da begann die galoppierende Inflation. Gewinne macht sie seit Monaten nicht, manche Produkte kann sie nicht mehr kaufen. „Zu teuer.“ Einem Koch hat sie gekündigt, die Putzfrau teilt sich die Stelle mit der Küchenhilfe. Sie sind noch zu acht im Restaurant. Der Kellner verdient 50 Dollar im Monat, im vergangenen Jahr waren es noch 150. „Die Leute gehen nicht mehr aus zum Essen“, sagt Rosa. An diesem Nachmittag kommt kein einziger Gast, alle 65 Plätze bleiben leer. „Die Kontrolleure aber, die kommen ganz sicher.“ Inna Hartwich, geboren 1980, ist n-ost-Korrespondentin und lebt in Moskau. Sie berichtet aus Russland und den Ex-Sowjetrepubliken für deutschsprachige Tageszeitungen.

55


Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Foto: Andrei Liankevich

60

Die Macher von Viaden Mobile: Dmitri Dikterow, Natalja Bachar, Alexej Gromakowski, Luba Paschkowskaja (v.l.n.r.)

Apps aus der Diktatur Ob Yoga-Trainer oder Kalorienzähler: Ein Drittel der beliebtesten Fitness-Apps kommt aus Belarus. Die Programmierer sind bestens ausgebildet und kosten wenig. Die Regierung lässt sie weitgehend in Ruhe. Text: Florian Willershausen

Als Natalja Bachar ihren Master an der renommierten Privatuniversität Kozminski in Warschau machte, glaubten viele, sie würde nie mehr nach Belarus zurückkommen. Was sollte eine Unternehmerin auch in ihrem Heimatland, in dem Dauerpräsident Alexander Lukaschenko krampfhaft an einer Planwirtschaft wie zu Sowjet-zeiten festhält? Gemeinsam mit drei Kommilitonen aus Belarus tüftelte Bachar damals an einem Businessplan, wie man mit iPhone-Apps Geld verdient. Minsk kam immer wieder ins Gespräch. Trotz Lukaschenko hatte sich dort eine florierende App-Industrie entwickelt: Ein Drittel aller Fitness-Apps, die in Deutschland unter den Top 50 der populärsten iPhone-Programme rangieren, stammen beispielsweise vom belarussischen Unternehmen Viaden Mobile. Vor einem Jahr heuerte das Quartett geschlossen bei dem Unternehmen an, um die App-Idee umzusetzen. „Die Kosten sind in Minsk niedrig, das Niveau der Programmierer hoch. So können wir im globalen Wettbewerb gut mithalten“, erzählt die 32-Jährige, die mittlerweile bei Viaden Mobile für das operative Geschäft verantwortlich ist.

»  Die Kosten sind in Minsk niedrig, das Niveau der Programmierer hoch. So können wir im globalen Wettbewerb gut mithalten. « Die IT-Branche in Belarus wirkt in dem autoritären Regime wie eine Oase. Deren Unternehmen zahlen mindestens dreimal so hohe Gehälter wie der Staat, noch dazu stets verbunden mit einem Inflationsausgleich. So entwickelt sich der IT-Sektor nicht nur zum Sammelbecken für die junge Manager-Elite, die den Staat ablehnt – nebenbei dient er auch als eine Art Reagenzglas, in dem die freie Marktwirtschaft schon mal geprobt wird.

Sprachprobleme bei Apps Wie so viele Orte der Freiheit in Minsk muss man auch die ITKlitschen erst einmal suchen. Sie verstecken sich in Kellerbüros, in unverdächtigen Plattenbauten oder im Einkaufszentrum, einige Kilometer vom Zentrum entfernt. Die Viaden-Büros liegen im zweiten Stock der Shoppingmall „Brücke“ im Süden von Minsk.

61

Mit dem „Body-Tracker“ kann man Blutzucker, Puls und andere Werte abgleichen.

Einen Aufzug gibt es nicht. Wände und Parkett der Großräume sind weiß, schmucke, schwarze Ledersofas setzen den Kontrast. Hier arbeitet neben Natalja Bachar auch Dmitri Dikterow, 32, der ebenfalls zum Warschauer Kern gehört. Er vermarktet als Produktmanager die Gesundheits-Apps, darunter auch den Yoga-Trainer, Kalorienmesser und Fitness-Coach. Das App-Team ist in einem Jahr von vier auf 30 Mitarbeiter gewachsen. Der Diktatur zum Trotz entwickelt Viaden zahlreiche Apps für den kapitalistischen Markt. Viele von ihnen tauchen weltweit unter den Top 50 bei iTunes auf. In Deutschland hat Viaden aber noch ein Sprachproblem. „Wir kommen mit den Übersetzungen nicht hinterher“, gibt Dikterow zu. Weshalb die deutschen Nutzer den Apps zwar gute Bewertungen geben, aber im App-Store-Forum oft auch schmunzelnd über die Übersetzungsfehler herziehen. Dass die Sprachtalente fehlen, ist ein Standortnachteil im abgeschotteten Belarus. Bei Pokerspielen, die Dikterows Kommilitonin Luba Paschkowskaja, 26, vermarktet, ist das weniger ein Problem als bei den Fitnessübungen. Die Spiele sind nicht billig, verkaufen sich aber weltweit blendend. Für das Minsker Unternehmen ist der AppHandel jedenfalls ein Millionengeschäft – auch wenn Apple von jedem erwirtschafteten Dollar satte 30 Cent selbst behält. »


Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Foto: Andrei Liankevich

60

Die Macher von Viaden Mobile: Dmitri Dikterow, Natalja Bachar, Alexej Gromakowski, Luba Paschkowskaja (v.l.n.r.)

Apps aus der Diktatur Ob Yoga-Trainer oder Kalorienzähler: Ein Drittel der beliebtesten Fitness-Apps kommt aus Belarus. Die Programmierer sind bestens ausgebildet und kosten wenig. Die Regierung lässt sie weitgehend in Ruhe. Text: Florian Willershausen

Als Natalja Bachar ihren Master an der renommierten Privatuniversität Kozminski in Warschau machte, glaubten viele, sie würde nie mehr nach Belarus zurückkommen. Was sollte eine Unternehmerin auch in ihrem Heimatland, in dem Dauerpräsident Alexander Lukaschenko krampfhaft an einer Planwirtschaft wie zu Sowjet-zeiten festhält? Gemeinsam mit drei Kommilitonen aus Belarus tüftelte Bachar damals an einem Businessplan, wie man mit iPhone-Apps Geld verdient. Minsk kam immer wieder ins Gespräch. Trotz Lukaschenko hatte sich dort eine florierende App-Industrie entwickelt: Ein Drittel aller Fitness-Apps, die in Deutschland unter den Top 50 der populärsten iPhone-Programme rangieren, stammen beispielsweise vom belarussischen Unternehmen Viaden Mobile. Vor einem Jahr heuerte das Quartett geschlossen bei dem Unternehmen an, um die App-Idee umzusetzen. „Die Kosten sind in Minsk niedrig, das Niveau der Programmierer hoch. So können wir im globalen Wettbewerb gut mithalten“, erzählt die 32-Jährige, die mittlerweile bei Viaden Mobile für das operative Geschäft verantwortlich ist.

»  Die Kosten sind in Minsk niedrig, das Niveau der Programmierer hoch. So können wir im globalen Wettbewerb gut mithalten. « Die IT-Branche in Belarus wirkt in dem autoritären Regime wie eine Oase. Deren Unternehmen zahlen mindestens dreimal so hohe Gehälter wie der Staat, noch dazu stets verbunden mit einem Inflationsausgleich. So entwickelt sich der IT-Sektor nicht nur zum Sammelbecken für die junge Manager-Elite, die den Staat ablehnt – nebenbei dient er auch als eine Art Reagenzglas, in dem die freie Marktwirtschaft schon mal geprobt wird.

Sprachprobleme bei Apps Wie so viele Orte der Freiheit in Minsk muss man auch die ITKlitschen erst einmal suchen. Sie verstecken sich in Kellerbüros, in unverdächtigen Plattenbauten oder im Einkaufszentrum, einige Kilometer vom Zentrum entfernt. Die Viaden-Büros liegen im zweiten Stock der Shoppingmall „Brücke“ im Süden von Minsk.

61

Mit dem „Body-Tracker“ kann man Blutzucker, Puls und andere Werte abgleichen.

Einen Aufzug gibt es nicht. Wände und Parkett der Großräume sind weiß, schmucke, schwarze Ledersofas setzen den Kontrast. Hier arbeitet neben Natalja Bachar auch Dmitri Dikterow, 32, der ebenfalls zum Warschauer Kern gehört. Er vermarktet als Produktmanager die Gesundheits-Apps, darunter auch den Yoga-Trainer, Kalorienmesser und Fitness-Coach. Das App-Team ist in einem Jahr von vier auf 30 Mitarbeiter gewachsen. Der Diktatur zum Trotz entwickelt Viaden zahlreiche Apps für den kapitalistischen Markt. Viele von ihnen tauchen weltweit unter den Top 50 bei iTunes auf. In Deutschland hat Viaden aber noch ein Sprachproblem. „Wir kommen mit den Übersetzungen nicht hinterher“, gibt Dikterow zu. Weshalb die deutschen Nutzer den Apps zwar gute Bewertungen geben, aber im App-Store-Forum oft auch schmunzelnd über die Übersetzungsfehler herziehen. Dass die Sprachtalente fehlen, ist ein Standortnachteil im abgeschotteten Belarus. Bei Pokerspielen, die Dikterows Kommilitonin Luba Paschkowskaja, 26, vermarktet, ist das weniger ein Problem als bei den Fitnessübungen. Die Spiele sind nicht billig, verkaufen sich aber weltweit blendend. Für das Minsker Unternehmen ist der AppHandel jedenfalls ein Millionengeschäft – auch wenn Apple von jedem erwirtschafteten Dollar satte 30 Cent selbst behält. »


62

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

63

Verzahnung von Spielen in sozialen Medien

Grafiken: Viaden Mobile

Alexej Gromakowski, dieses Jahr erst 28 geworden, ist der Vierte im Bunde und hat den Job, einen Schritt weiterzudenken. Er soll die Handy-Apps mit sozialen Netzwerken verzahnen. Bald will er zum Angriff auf Zynga blasen. Das US-Unternehmen verdient bei Facebook Geld mit Spielen wie FarmVille, Mafia Wars oder Zynga Poker. Um mitzudaddeln, müssen die Spieler allerdings an einem PC oder Laptop sitzen. Gromakowski will nun die Viaden-Pokerspiele mit Facebook verzahnen. Den Spielern soll gar nicht mehr auffallen, ob ihre Widersacher am virtuellen Pokertisch per iPad, Android-Handy oder Büro-PC zugeschaltet sind.

Eisprung-Rechner, Kalorienzähler, Yoga-Lehrer: Die Gesundheits-Apps aus Belarus können fast alles.

Die IT-Branche als Oase der Freiheit Nicht zum Spielen, sondern zum Protest nutzten die Belarussen im vergangenen Jahr ihre sozialen Netzwerke: Eine Zeit lang verabredeten sich junge Leute jeden Mittwoch via Internet, um auf öffentlichen Plätzen zu demonstrieren. Meist ließ Lukaschenko hart durchgreifen – hunderte Teilnehmer wurden verprügelt und eingesperrt.

»  Als privates Unternehmen haben wir einen Vorteil, wir müssen unsere Mitarbeiter nicht entlassen, wenn sie demonstrieren. « Auch Mitarbeiter von Sam Solutions waren bei den Demos dabei. Aber bislang ist zum Glück keiner im Knast gelandet, sagt Andrej Bakirew, Gründer und Geschäftsführer. „Als privates Unternehmen haben wir einen Vorteil“, sagt der 47-Jährige mit dem feinen Sinn für Ironie, „wir müssen unsere Mitarbeiter nicht entlassen, wenn sie demonstrieren.“ Sam Solutions arbeitet als Auftragsprogrammierer für Konzerne wie Siemens, SAP oder die Deutsche Telekom. Kritik am Staat kann sich Bakirew leisten: Er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, lebt in Lettland, und sein 1993 gegründetes Unternehmen ist in Gilching bei München registriert, obwohl fast alle der 600 Mitarbeiter in Minsk programmieren.

Berufsbeginn oft schon im dritten Semester „Unseren Kunden ist wichtig, dass sie mit einem deutschen Unternehmen arbeiten statt mit einem belarussischen“, sagt Bakirew. Trotzdem wollen seine Kunden immer wieder von ihm wissen: Ist Belarus stabil genug, um dort verlässlich arbeiten zu können? Und stets folgt dieselbe lapidare Antwort: „Das Land ist leider stabil.“

»  Wer nicht für den Staat arbeiten, dafür aber Geld verdienen will, der hat keine Alternative zum IT-Studium. « Eine funktionierende Marktwirtschaft wird es in Belarus frühestens in zehn Jahren geben, glaubt Bakirew. Er ist ein zupackender Mann mit Bogner-Jacke und Sportschuhen. Standortvorteile sieht der Wirtschaftsinformatiker dennoch: „Da die wichtigsten IT-Unternehmen der Sowjetunion ihren Sitz in Minsk hatten, lehren sie an unseren Universitäten schon seit den 1980er Jahren Programmiersprachen.“ Das Ausbildungsniveau sei in Minsk daher höher als in den meisten EU-Staaten oder in Russland. Und „wer nicht für den Staat arbeiten, dafür aber Geld verdienen will, der hat keine Alternative zum IT-Studium“.

Gut 12.000 Informatiker verlassen jedes Jahr die Universitäten. Die Zahl der Absolventen steigt, doch IT-Unternehmen wie Sam Solutions könnten gut noch mehr Nachschub gebrauchen: „Wir haben derzeit 50 freie Stellen, obwohl wir vierstellige Gehälter zahlen“, sagt Bakirew. „Die meisten IT-Studenten stehen schon ab dem dritten Studienjahr bei einem Unternehmen unter Vertrag.“ So fern die Freiheit für die belarussische Gesellschaft auch sein mag – im virtuellen Raum ist sie spürbar. So arbeiten die Tüftler von Sam Solutions etwa gerade an einer mobilen Plattform für den Alltag der Zukunft: Die App baut teilweise auf dem Prinzip des Netzwerks Foursquare auf, wo sich Nutzer mit Freunden über ihre jeweiligen Standorte austauschen und gegenseitig Tipps geben. Mithilfe der Sam-Solutions-App sollen sich Handynutzer von ihrem aktuellen Standort aus dann auch noch über Rabatte bei McDonald’s, den besten Friseur und die nächste Zahnarztpraxis informieren, wobei die Unternehmen für ihre Erwähnung zahlen müssen. Die Geschäftsidee für diese App stammt von einem deutschen Unternehmen, dessen Namen Bakirew nicht nennen will. Seine ITLeute basteln schon an der Testversion. „Geld werden wir damit

vorerst nicht verdienen“, gibt der Sam-Chef freimütig zu, „aber solchen Lösungen gehört die Zukunft.“ Die Chancen dafür stehen gut. Lukaschenko lässt die IT-Branche nach wie vor in Ruhe. Der 57-Jährige ist gelernter Kolchosbauer. Was eine App ist, versteht er nicht. Deshalb gab es bisher auch keine Zwangsverstaatlichungen. Die Nachfrage nach Apps aus Belarus steigt dagegen rapide an. Allein Viaden Mobile hat weltweit mehr als 2,5 Millionen FitnessApps verkauft. Niemand weiß, wohin die E-Business-Erfolge das Land führen werden – auf keinen Fall aber zurück in die Sowjetunion. Dieser Text erschien in der „Wirtschaftswoche“. Florian Willershausen, geboren 1982, ist n-ost-Mitglied und arbeitet seit 2007 als Korrespondent für das „Handelsblatt“ und die „Wirtschaftswoche“ in Moskau. Regelmäßig berichtet er auch über andere GUS-Länder wie Belarus und die Ukraine.


62

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

63

Verzahnung von Spielen in sozialen Medien

Grafiken: Viaden Mobile

Alexej Gromakowski, dieses Jahr erst 28 geworden, ist der Vierte im Bunde und hat den Job, einen Schritt weiterzudenken. Er soll die Handy-Apps mit sozialen Netzwerken verzahnen. Bald will er zum Angriff auf Zynga blasen. Das US-Unternehmen verdient bei Facebook Geld mit Spielen wie FarmVille, Mafia Wars oder Zynga Poker. Um mitzudaddeln, müssen die Spieler allerdings an einem PC oder Laptop sitzen. Gromakowski will nun die Viaden-Pokerspiele mit Facebook verzahnen. Den Spielern soll gar nicht mehr auffallen, ob ihre Widersacher am virtuellen Pokertisch per iPad, Android-Handy oder Büro-PC zugeschaltet sind.

Eisprung-Rechner, Kalorienzähler, Yoga-Lehrer: Die Gesundheits-Apps aus Belarus können fast alles.

Die IT-Branche als Oase der Freiheit Nicht zum Spielen, sondern zum Protest nutzten die Belarussen im vergangenen Jahr ihre sozialen Netzwerke: Eine Zeit lang verabredeten sich junge Leute jeden Mittwoch via Internet, um auf öffentlichen Plätzen zu demonstrieren. Meist ließ Lukaschenko hart durchgreifen – hunderte Teilnehmer wurden verprügelt und eingesperrt.

»  Als privates Unternehmen haben wir einen Vorteil, wir müssen unsere Mitarbeiter nicht entlassen, wenn sie demonstrieren. « Auch Mitarbeiter von Sam Solutions waren bei den Demos dabei. Aber bislang ist zum Glück keiner im Knast gelandet, sagt Andrej Bakirew, Gründer und Geschäftsführer. „Als privates Unternehmen haben wir einen Vorteil“, sagt der 47-Jährige mit dem feinen Sinn für Ironie, „wir müssen unsere Mitarbeiter nicht entlassen, wenn sie demonstrieren.“ Sam Solutions arbeitet als Auftragsprogrammierer für Konzerne wie Siemens, SAP oder die Deutsche Telekom. Kritik am Staat kann sich Bakirew leisten: Er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, lebt in Lettland, und sein 1993 gegründetes Unternehmen ist in Gilching bei München registriert, obwohl fast alle der 600 Mitarbeiter in Minsk programmieren.

Berufsbeginn oft schon im dritten Semester „Unseren Kunden ist wichtig, dass sie mit einem deutschen Unternehmen arbeiten statt mit einem belarussischen“, sagt Bakirew. Trotzdem wollen seine Kunden immer wieder von ihm wissen: Ist Belarus stabil genug, um dort verlässlich arbeiten zu können? Und stets folgt dieselbe lapidare Antwort: „Das Land ist leider stabil.“

»  Wer nicht für den Staat arbeiten, dafür aber Geld verdienen will, der hat keine Alternative zum IT-Studium. « Eine funktionierende Marktwirtschaft wird es in Belarus frühestens in zehn Jahren geben, glaubt Bakirew. Er ist ein zupackender Mann mit Bogner-Jacke und Sportschuhen. Standortvorteile sieht der Wirtschaftsinformatiker dennoch: „Da die wichtigsten IT-Unternehmen der Sowjetunion ihren Sitz in Minsk hatten, lehren sie an unseren Universitäten schon seit den 1980er Jahren Programmiersprachen.“ Das Ausbildungsniveau sei in Minsk daher höher als in den meisten EU-Staaten oder in Russland. Und „wer nicht für den Staat arbeiten, dafür aber Geld verdienen will, der hat keine Alternative zum IT-Studium“.

Gut 12.000 Informatiker verlassen jedes Jahr die Universitäten. Die Zahl der Absolventen steigt, doch IT-Unternehmen wie Sam Solutions könnten gut noch mehr Nachschub gebrauchen: „Wir haben derzeit 50 freie Stellen, obwohl wir vierstellige Gehälter zahlen“, sagt Bakirew. „Die meisten IT-Studenten stehen schon ab dem dritten Studienjahr bei einem Unternehmen unter Vertrag.“ So fern die Freiheit für die belarussische Gesellschaft auch sein mag – im virtuellen Raum ist sie spürbar. So arbeiten die Tüftler von Sam Solutions etwa gerade an einer mobilen Plattform für den Alltag der Zukunft: Die App baut teilweise auf dem Prinzip des Netzwerks Foursquare auf, wo sich Nutzer mit Freunden über ihre jeweiligen Standorte austauschen und gegenseitig Tipps geben. Mithilfe der Sam-Solutions-App sollen sich Handynutzer von ihrem aktuellen Standort aus dann auch noch über Rabatte bei McDonald’s, den besten Friseur und die nächste Zahnarztpraxis informieren, wobei die Unternehmen für ihre Erwähnung zahlen müssen. Die Geschäftsidee für diese App stammt von einem deutschen Unternehmen, dessen Namen Bakirew nicht nennen will. Seine ITLeute basteln schon an der Testversion. „Geld werden wir damit

vorerst nicht verdienen“, gibt der Sam-Chef freimütig zu, „aber solchen Lösungen gehört die Zukunft.“ Die Chancen dafür stehen gut. Lukaschenko lässt die IT-Branche nach wie vor in Ruhe. Der 57-Jährige ist gelernter Kolchosbauer. Was eine App ist, versteht er nicht. Deshalb gab es bisher auch keine Zwangsverstaatlichungen. Die Nachfrage nach Apps aus Belarus steigt dagegen rapide an. Allein Viaden Mobile hat weltweit mehr als 2,5 Millionen FitnessApps verkauft. Niemand weiß, wohin die E-Business-Erfolge das Land führen werden – auf keinen Fall aber zurück in die Sowjetunion. Dieser Text erschien in der „Wirtschaftswoche“. Florian Willershausen, geboren 1982, ist n-ost-Mitglied und arbeitet seit 2007 als Korrespondent für das „Handelsblatt“ und die „Wirtschaftswoche“ in Moskau. Regelmäßig berichtet er auch über andere GUS-Länder wie Belarus und die Ukraine.


Belarus  WIRTSCHAFT

Glücklich in der Nische Andrej Nischnik, Ökohof-Betreiber Andrej Petrowitsch Nischnik ist ein glücklicher Mensch. „Ich habe hier meinen Platz unter dem Himmel gefunden“, sagt der 45-Jährige mit einem breiten Lächeln und streichelt seinen Mischlingshund. Rich, der „Reiche“, habe es hier so gut, wie es sich einige Hunde im Westen nur wünschen könnten. Andrejs Haus ist modern, geräumig, gepflegt. „Alles mit eigenen Händen gebaut“, sagt der Besitzer stolz. Der gelernte Bauingenieur aus Minsk ist 2003 aufs Land gezogen und betreibt mit seiner Frau Alla einen Ökohof. Seine Produkte – Gemüse, Kompott oder Apfelsaft – kommen aus eigenem Anbau. Den Gästen tischt er nur traditionelle, belarussische Gerichte auf, wie Kohlsuppe, Kartoffelpuffer oder Kwas – ein Getränk aus getrocknetem Brot. Coca-Cola kommt bei ihm natürlich nicht auf den Tisch. Höfe wie jenen von Andrej findet man in Belarus zuhauf: 1.700 soll es im ganzen Land geben – mit steigender Tendenz. Der Staat fördert den Ökotourismus: Die Betreiber müssen keine Steuern zahlen und bekommen günstige Kredite. Die Touristen kommen aus Belarus und dem benachbarten Russland. Andrej ist damit zufrieden. Von der Politik hält er sich fern: „Wer behauptet, wir hätten in Belarus eine Diktatur, der tickt nicht richtig. Die Leute hier auf dem Land können arbeiten, verdienen passabel und schlafen gut – was braucht man mehr?“ Von Andrej kann man jedoch nicht sagen, dass er Scheuklappen aufhat. Durch ganz Polen und Tschechien ist der Hofbetreiber bereits gereist und einmal war er sogar in Deutschland: „Im Westen sind die Städte älter, es gibt mehr Sonne und Sehenswürdigkeiten“, räumt Andrej ein, aber woanders möchte er trotzdem nicht leben. „Ich bin in Belarus geboren. Hier ist meine Welt.“ Text: Agnieszka Hreczuk  Foto: Stefan Günther

65


Belarus  WIRTSCHAFT

Glücklich in der Nische Andrej Nischnik, Ökohof-Betreiber Andrej Petrowitsch Nischnik ist ein glücklicher Mensch. „Ich habe hier meinen Platz unter dem Himmel gefunden“, sagt der 45-Jährige mit einem breiten Lächeln und streichelt seinen Mischlingshund. Rich, der „Reiche“, habe es hier so gut, wie es sich einige Hunde im Westen nur wünschen könnten. Andrejs Haus ist modern, geräumig, gepflegt. „Alles mit eigenen Händen gebaut“, sagt der Besitzer stolz. Der gelernte Bauingenieur aus Minsk ist 2003 aufs Land gezogen und betreibt mit seiner Frau Alla einen Ökohof. Seine Produkte – Gemüse, Kompott oder Apfelsaft – kommen aus eigenem Anbau. Den Gästen tischt er nur traditionelle, belarussische Gerichte auf, wie Kohlsuppe, Kartoffelpuffer oder Kwas – ein Getränk aus getrocknetem Brot. Coca-Cola kommt bei ihm natürlich nicht auf den Tisch. Höfe wie jenen von Andrej findet man in Belarus zuhauf: 1.700 soll es im ganzen Land geben – mit steigender Tendenz. Der Staat fördert den Ökotourismus: Die Betreiber müssen keine Steuern zahlen und bekommen günstige Kredite. Die Touristen kommen aus Belarus und dem benachbarten Russland. Andrej ist damit zufrieden. Von der Politik hält er sich fern: „Wer behauptet, wir hätten in Belarus eine Diktatur, der tickt nicht richtig. Die Leute hier auf dem Land können arbeiten, verdienen passabel und schlafen gut – was braucht man mehr?“ Von Andrej kann man jedoch nicht sagen, dass er Scheuklappen aufhat. Durch ganz Polen und Tschechien ist der Hofbetreiber bereits gereist und einmal war er sogar in Deutschland: „Im Westen sind die Städte älter, es gibt mehr Sonne und Sehenswürdigkeiten“, räumt Andrej ein, aber woanders möchte er trotzdem nicht leben. „Ich bin in Belarus geboren. Hier ist meine Welt.“ Text: Agnieszka Hreczuk  Foto: Stefan Günther

65


Willkommen im Agrarstädtchen Krupiza bei Minsk ist eines von 1.500 Dörfern, aus denen der ehemalige Sowchose-Direktor Alexander Lukaschenko sogenannte „Agrarstädtchen“ machte: Mustersiedlungen mit verbesserten Lebensbedingungen für die relativ große Landbevölkerung. Seit 2010 ist der Fünfjahresplan „Wiedergeburt und Entwicklung des Dorfes“ abgeschlossen. Ein Besuch. Eine Fotostrecke von Stefan Günther


Willkommen im Agrarstädtchen Krupiza bei Minsk ist eines von 1.500 Dörfern, aus denen der ehemalige Sowchose-Direktor Alexander Lukaschenko sogenannte „Agrarstädtchen“ machte: Mustersiedlungen mit verbesserten Lebensbedingungen für die relativ große Landbevölkerung. Seit 2010 ist der Fünfjahresplan „Wiedergeburt und Entwicklung des Dorfes“ abgeschlossen. Ein Besuch. Eine Fotostrecke von Stefan Günther


68

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Farbige Betonzaunelemente entlang der Hauptstraße: Merkmal für den Aufstieg Krupizas zum „Agrarstädtchen“

Etwa jeder dritte Belarusse lebt auf dem Land.

69


68

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Farbige Betonzaunelemente entlang der Hauptstraße: Merkmal für den Aufstieg Krupizas zum „Agrarstädtchen“

Etwa jeder dritte Belarusse lebt auf dem Land.

69


70

Belarus  WIRTSCHAFT

Neue Wohnblöcke am Ortsausgang von Krupiza

Belarus  WIRTSCHAFT

Mit kostenlosen Billighäusern belohnt die Regierung loyale Landbewohner. Wegen Finanzierungsproblemen sind die Eigenheime kleiner als geplant.

71


70

Belarus  WIRTSCHAFT

Neue Wohnblöcke am Ortsausgang von Krupiza

Belarus  WIRTSCHAFT

Mit kostenlosen Billighäusern belohnt die Regierung loyale Landbewohner. Wegen Finanzierungsproblemen sind die Eigenheime kleiner als geplant.

71


72

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Das Ärztezentrum aus rotem Klinker versorgt auch die umliegenden Dörfer.

Ein orthodoxes Kreuz an der Hauptstraße

73


72

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Das Ärztezentrum aus rotem Klinker versorgt auch die umliegenden Dörfer.

Ein orthodoxes Kreuz an der Hauptstraße

73


74

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Im alten Teil von Krupiza stehen die für Belarus typischen farbig gestrichenen Holzhäuser.

Die Silos der ortsansässigen Kolchose, dem größten Arbeitgeber der Region

75

Stefan Günther, geboren 1974, ist Fotoredakteur beim n-ost-Artikeldienst. Er studierte Gestaltung in Potsdam und arbeitet als freier Fotograf in Berlin.


74

Belarus  WIRTSCHAFT

Belarus  WIRTSCHAFT

Im alten Teil von Krupiza stehen die für Belarus typischen farbig gestrichenen Holzhäuser.

Die Silos der ortsansässigen Kolchose, dem größten Arbeitgeber der Region

75

Stefan Günther, geboren 1974, ist Fotoredakteur beim n-ost-Artikeldienst. Er studierte Gestaltung in Potsdam und arbeitet als freier Fotograf in Berlin.


Foto: Andrei Liankevich

Raum für Idealismus Sie arbeiten in eiskalten Büros, saßen schon öfter im Gefängnis und wissen meist nicht, ob sie am nächsten Tag in ihre Redaktion zurückkehren können: Unabhängige Journalisten in Belarus arbeiten unter schwierigen Bedingungen. Journalistenporträts von Gerhard Gnauck, Ulrike Gruska und Diana Laarz

Blattproduktion auf 25 Quadratmetern in einem Minsker Wohnblock: Die Redaktion der Zeitung „Swobodnye Nowosti“


Foto: Andrei Liankevich

Raum für Idealismus Sie arbeiten in eiskalten Büros, saßen schon öfter im Gefängnis und wissen meist nicht, ob sie am nächsten Tag in ihre Redaktion zurückkehren können: Unabhängige Journalisten in Belarus arbeiten unter schwierigen Bedingungen. Journalistenporträts von Gerhard Gnauck, Ulrike Gruska und Diana Laarz

Blattproduktion auf 25 Quadratmetern in einem Minsker Wohnblock: Die Redaktion der Zeitung „Swobodnye Nowosti“


78

Belarus  MEDIEN

Belarus  MEDIEN

79

Eine Sonderausgabe von 34Mag ► CD am Ende des Hefts

Unpolitisches Underground-Multimedia-Projekt

Unabhängigkeit per Satellit

Iryna Vidanava gibt das Online-Magazin 34Mag heraus.

Michal Jantschuk arbeitet für den Sender „Belsat“, der aus Warschau sendet.

Text: Gerhard Gnauck  Foto: Stefan Günther

Text und Foto: Gerhard Gnauck

Iryna Vidanava, 33 Jahre, eine filigrane Person in einem karmesinroten Rollkragenpulli, sitzt im „Newton“, einem angesagten, erst im Sommer eröffneten Café in einem ehemaligen Fabrikgebäude aus der Zarenzeit. Vor dem Nachbargebäude steht immer noch eine Lenin-Büste, und Helden der Arbeit blicken streng aus ihren Bilderrahmen. Iryna klappt ihren Laptop auf und klickt sich durch die Internetzeitschrift 34mag.net, die sie herausgibt. Um den Namen zu entschlüsseln, ist fast so etwas wie Zahlenmystik nötig. Die Verfassung von Belarus hat einen Artikel 34, der in verdächtiger Ausführlichkeit, nämlich mit genau 75 Worten, umschreibt, dass in Belarus Informationsfreiheit herrscht. „Unpolitisches Underground-Multimedia-Projekt“ nennt sich Irynas Magazin.Was auf dem Schirm aufscheint, ist eine Art Stadtmagazin, aber mit Tiefgang. Ein bekannter Fotograf, ein Musiker, ein gerade freigelassener politischer Häftling erzählen in Videoclips über ihr Leben, ihre Gefühle, ihre Träume. Veranstaltungen werden angekündigt, ein neuer Club vorgestellt. „Aktiv sein, Kreativität ermutigen“, das ist Irynas Motto. „Wir bieten Unterhaltung mit eingebauter Kritik“, sagt die Redakteurin. Dann erzählt sie von einem Mitarbeiter, dessen Spezialität es ist, den Vertretern des offiziellen Kulturbetriebs unangemeldet ein Mikrofon unter die Nase zu halten. „Er hat den Kulturminister gefragt, ob der wisse, wer Banksy ist. Stellen Sie sich vor, er wusste

es nicht“, kichert Iryna. Durchaus einleuchtend, dass der subversive britische Graffiti-Künstler unter belarussischen Jugendlichen eine große Fangemeinde hat. Iryna hat Geschichte studiert und dann in den USA einen Master in Public Policy draufgesetzt. Jetzt ist sie zurück in ihrer Heimat. „Ich will, dass unsere Generation an Veränderungen mitwirkt. Unsere Eltern haben es versucht und sind gescheitert. Aber es ist interessant, dieses Online-Magazin zu machen, ein paar Schritte vor den anderen zu sein und zu sehen, dass man dieses System überwinden kann.“ Kann man wirklich? Man kann: „Unser Magazin hat im Durchschnitt 1.500 Leser pro Tag. Auf Facebook haben wir 2.700 Freunde. Das ist noch nicht viel. Aber die zehn beliebtesten unabhängigen Internetseiten haben zusammen so viele Leser pro Tag, wie das erste staatliche Fernsehprogramm Zuschauer hat, etwa 800.000.“ Unklar ist für Iryna Vidanava, welche Folgen die durch ein neues Gesetz vom Januar 2012 weiter verschärfte Kontrolle der Internetnutzung haben wird. Die Bloggerin vermutet, es werde verstärkt „punktuelle Repressalien“ geben. Sie erinnert an die CyberAttacken gegen die beliebte oppositionelle Internetseite Charter97. org. Doch die Internetnutzung geschehe überwiegend vom Heimcomputer aus, auf den der Staat schwer zugreifen könne. www.34mag.net

Michal Jantschuk ist erleichtert. Er findet seinen Arbeitsplatz so vor, wie er ihn gestern verlassen hat. Er stellt seine Tasche ab und setzt Wasser auf, um Tee zu kochen. „Wenn die nächste Krise kommt, müssen wir wieder umziehen“, sagt er. Der letzte Umzug fand Anfang 2011 statt, kurz nach den Präsidentenwahlen. Zuvor hatten die Männer von der Staatssicherheit nachts die Tür aufgesägt, Materialien beschlagnahmt, die Tür versiegelt und dem Mieter Hausverbot erteilt. Von außen verrät nichts, dass sich hinter der unscheinbaren Tür ein Fernsehsender verbirgt. In der Dreizimmerwohnung stehen eine Couchgarnitur und ein paar Laptops. Unter den Händen dreier junger Journalistinnen klickern die Tastaturen. „Belsat“ ist ein von Belarussen betriebenes und vom Staat unabhängiges Fernsehen, das von Warschau aus über Satellit sendet. Etwa 40 Journalisten arbeiten für den Sender in Belarus. Sie alle, so heißt es in der Redaktion in Warschau, hatten bereits Kontakt mit der Staatsgewalt: Verhöre, Festnahmen, vom Gericht verhängte Strafen. Mehrfach wurden Kameras und Laptops konfisziert. Der Sender darf die Übertragungswege des belarussischen Staatsfernsehens nicht nutzen. „Deshalb senden wir unsere Aufnahmen als komprimierte Videodateien nach Warschau“, erklärt Jantschuk. „Die Übertragung einer Datei dauert eine bis anderthalb Stunden. Immerhin können wir so täglich vier Nachrichtensendungen bestücken.“

Der 38 Jahre alte Jantschuk, der in Polen studiert hat und fließend Englisch spricht, sieht aber auch die Vorteile, die sein Sender genießt. „Gegen Satellitenfernsehen ist kein Kraut gewachsen. Störsender können uns nicht behindern. Und die Zahl der Antennenbesitzer in Belarus wächst. 2007, als wir auf Sendung gingen, waren es sieben, jetzt sind es 20 Prozent der Haushalte.“ Bei einem Durchschnittsverdienst von etwa 300 Dollar kommt eine Satellitenschüssel um 200 Dollar eine Familie teuer zu stehen. Trotzdem sieht man viele Schüsseln auf Dächern und Balkonen – nicht nur in Minsk. Vor ein paar Jahren versuchten die Behörden, die Antennenflut einzudämmen. Bald gaben sie es wieder auf. „Belsat“ finanziert sich aus polnischen und schwedischen Regierungsgeldern und nutzt in Warschau Räume und Technik des polnischen Fernsehens. Dort befindet sich der sogenannte „Uplink“, die Abschussrampe zum Satelliten. „Wir wollen zeigen: Es gibt ein anderes Belarus, und wir hoffen, dass es eines Tages unter dem Eis hervorkommen kann“, erklärt Bürochef Jantschuk seine Mission. Präsident Alexander Lukaschenko hat die Existenz von „Belsat“ auf seine Weise kommentiert: „Ich schaue diesen Sender nicht.“ www.belsat.eu


78

Belarus  MEDIEN

Belarus  MEDIEN

79

Eine Sonderausgabe von 34Mag ► CD am Ende des Hefts

Unpolitisches Underground-Multimedia-Projekt

Unabhängigkeit per Satellit

Iryna Vidanava gibt das Online-Magazin 34Mag heraus.

Michal Jantschuk arbeitet für den Sender „Belsat“, der aus Warschau sendet.

Text: Gerhard Gnauck  Foto: Stefan Günther

Text und Foto: Gerhard Gnauck

Iryna Vidanava, 33 Jahre, eine filigrane Person in einem karmesinroten Rollkragenpulli, sitzt im „Newton“, einem angesagten, erst im Sommer eröffneten Café in einem ehemaligen Fabrikgebäude aus der Zarenzeit. Vor dem Nachbargebäude steht immer noch eine Lenin-Büste, und Helden der Arbeit blicken streng aus ihren Bilderrahmen. Iryna klappt ihren Laptop auf und klickt sich durch die Internetzeitschrift 34mag.net, die sie herausgibt. Um den Namen zu entschlüsseln, ist fast so etwas wie Zahlenmystik nötig. Die Verfassung von Belarus hat einen Artikel 34, der in verdächtiger Ausführlichkeit, nämlich mit genau 75 Worten, umschreibt, dass in Belarus Informationsfreiheit herrscht. „Unpolitisches Underground-Multimedia-Projekt“ nennt sich Irynas Magazin.Was auf dem Schirm aufscheint, ist eine Art Stadtmagazin, aber mit Tiefgang. Ein bekannter Fotograf, ein Musiker, ein gerade freigelassener politischer Häftling erzählen in Videoclips über ihr Leben, ihre Gefühle, ihre Träume. Veranstaltungen werden angekündigt, ein neuer Club vorgestellt. „Aktiv sein, Kreativität ermutigen“, das ist Irynas Motto. „Wir bieten Unterhaltung mit eingebauter Kritik“, sagt die Redakteurin. Dann erzählt sie von einem Mitarbeiter, dessen Spezialität es ist, den Vertretern des offiziellen Kulturbetriebs unangemeldet ein Mikrofon unter die Nase zu halten. „Er hat den Kulturminister gefragt, ob der wisse, wer Banksy ist. Stellen Sie sich vor, er wusste

es nicht“, kichert Iryna. Durchaus einleuchtend, dass der subversive britische Graffiti-Künstler unter belarussischen Jugendlichen eine große Fangemeinde hat. Iryna hat Geschichte studiert und dann in den USA einen Master in Public Policy draufgesetzt. Jetzt ist sie zurück in ihrer Heimat. „Ich will, dass unsere Generation an Veränderungen mitwirkt. Unsere Eltern haben es versucht und sind gescheitert. Aber es ist interessant, dieses Online-Magazin zu machen, ein paar Schritte vor den anderen zu sein und zu sehen, dass man dieses System überwinden kann.“ Kann man wirklich? Man kann: „Unser Magazin hat im Durchschnitt 1.500 Leser pro Tag. Auf Facebook haben wir 2.700 Freunde. Das ist noch nicht viel. Aber die zehn beliebtesten unabhängigen Internetseiten haben zusammen so viele Leser pro Tag, wie das erste staatliche Fernsehprogramm Zuschauer hat, etwa 800.000.“ Unklar ist für Iryna Vidanava, welche Folgen die durch ein neues Gesetz vom Januar 2012 weiter verschärfte Kontrolle der Internetnutzung haben wird. Die Bloggerin vermutet, es werde verstärkt „punktuelle Repressalien“ geben. Sie erinnert an die CyberAttacken gegen die beliebte oppositionelle Internetseite Charter97. org. Doch die Internetnutzung geschehe überwiegend vom Heimcomputer aus, auf den der Staat schwer zugreifen könne. www.34mag.net

Michal Jantschuk ist erleichtert. Er findet seinen Arbeitsplatz so vor, wie er ihn gestern verlassen hat. Er stellt seine Tasche ab und setzt Wasser auf, um Tee zu kochen. „Wenn die nächste Krise kommt, müssen wir wieder umziehen“, sagt er. Der letzte Umzug fand Anfang 2011 statt, kurz nach den Präsidentenwahlen. Zuvor hatten die Männer von der Staatssicherheit nachts die Tür aufgesägt, Materialien beschlagnahmt, die Tür versiegelt und dem Mieter Hausverbot erteilt. Von außen verrät nichts, dass sich hinter der unscheinbaren Tür ein Fernsehsender verbirgt. In der Dreizimmerwohnung stehen eine Couchgarnitur und ein paar Laptops. Unter den Händen dreier junger Journalistinnen klickern die Tastaturen. „Belsat“ ist ein von Belarussen betriebenes und vom Staat unabhängiges Fernsehen, das von Warschau aus über Satellit sendet. Etwa 40 Journalisten arbeiten für den Sender in Belarus. Sie alle, so heißt es in der Redaktion in Warschau, hatten bereits Kontakt mit der Staatsgewalt: Verhöre, Festnahmen, vom Gericht verhängte Strafen. Mehrfach wurden Kameras und Laptops konfisziert. Der Sender darf die Übertragungswege des belarussischen Staatsfernsehens nicht nutzen. „Deshalb senden wir unsere Aufnahmen als komprimierte Videodateien nach Warschau“, erklärt Jantschuk. „Die Übertragung einer Datei dauert eine bis anderthalb Stunden. Immerhin können wir so täglich vier Nachrichtensendungen bestücken.“

Der 38 Jahre alte Jantschuk, der in Polen studiert hat und fließend Englisch spricht, sieht aber auch die Vorteile, die sein Sender genießt. „Gegen Satellitenfernsehen ist kein Kraut gewachsen. Störsender können uns nicht behindern. Und die Zahl der Antennenbesitzer in Belarus wächst. 2007, als wir auf Sendung gingen, waren es sieben, jetzt sind es 20 Prozent der Haushalte.“ Bei einem Durchschnittsverdienst von etwa 300 Dollar kommt eine Satellitenschüssel um 200 Dollar eine Familie teuer zu stehen. Trotzdem sieht man viele Schüsseln auf Dächern und Balkonen – nicht nur in Minsk. Vor ein paar Jahren versuchten die Behörden, die Antennenflut einzudämmen. Bald gaben sie es wieder auf. „Belsat“ finanziert sich aus polnischen und schwedischen Regierungsgeldern und nutzt in Warschau Räume und Technik des polnischen Fernsehens. Dort befindet sich der sogenannte „Uplink“, die Abschussrampe zum Satelliten. „Wir wollen zeigen: Es gibt ein anderes Belarus, und wir hoffen, dass es eines Tages unter dem Eis hervorkommen kann“, erklärt Bürochef Jantschuk seine Mission. Präsident Alexander Lukaschenko hat die Existenz von „Belsat“ auf seine Weise kommentiert: „Ich schaue diesen Sender nicht.“ www.belsat.eu


80

Belarus  MEDIEN

Belarus  MEDIEN

Korrespondent mit Ausreiseverbot Den Hunger stillen

Spaß am Kampf mit den Worten

Andrzej Poczobut, Korrespondent der polnischen „Gazeta Wyborcza“

Alexander Ulitjonok und seine Zeitung „Swobodnye Nowosti“

Wadim Barschtschewski, Chefredakteur beim „Witebski Kurier“

Text: Gerhard Gnauck  Foto: privat

Text und Foto: Gerhard Gnauck

Text und Foto: Diana Laarz

Jahrgang 1973, ist vermutlich der im Ausland bekannteste Bürger von Hrodna. Die Stadt liegt an der polnischen Grenze, sie ist auch unter ihrem polnischen und russischen Namen Grodno bekannt. Poczobut ist Korrespondent der renommierten polnischen „Gazeta Wyborcza“. Er ist Belarusse, auch wenn er, wie ein Fünftel der Einwohner dieser Stadt, der polnischen Minderheit angehört. Der kräftig gebaute Poczobut wirkt auf Fotos düster und abweisend. Im Umgang ist er anders, ein angenehmer Mann mit einem Sinn für Ironie. Andrzej Poczobut studierte Jura, während seines Studiums wurde Alexander Lukaschenko Präsident. Er ging dann in den Journalismus. Mehr Action und mehr Freiheit gebe es dort, sagt er. Er schrieb über heikle Themen, zum Beispiel darüber, dass das Sportstadion in seiner Stadt auf einem früheren jüdischen Friedhof angelegt wurde. Bei Bauarbeiten kamen 2003 Knochen und Schmuck zum Vorschein. Seit diesem Bericht für eine belarussische Zeitung gilt der Autor als Störenfried, dem die Behörden noch weniger Informationen geben als seinen Kollegen. Als 2006 der Korrespondent der „Gazeta Wyborcza“ bei Einreisen immer mehr schikaniert wurde, übernahm Poczobut dessen Job. Bald kam unter einem Vorwand die erste Arreststrafe: zehn Tage. Poczobut schreibt weiter. Anfang 2011, als der Staat nach den Präsidentenwahlen seine Repressionen verschärft, wird der Journalist verhaftet, geschlagen, nach 91 Tagen im Gefängnis zu drei Jahren Haft verurteilt, auf zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Straftat: Beleidigung des Präsidenten Lukaschenko (als „Diktator“) in der „Gazeta Wyborcza“ und auf seinem Blog. Später kommt noch ein Ausreiseverbot hinzu.

Alexander Ulitjonok, Jahrgang 1954, war in den letzten Jahren der Sowjetunion Korrespondent der Moskauer „Prawda“ in Belarus. Die große Wohnung im Zentrum von Minsk, die er damals bekam, bewohnt er noch heute. „Ich bin stolz auf diese Zeit, ich habe viel gelernt“, sagt er. Er schrieb damals den ersten großen Text über die Auswirkungen von Tschernobyl in Belarus. Wann das war? Zwei Jahre nach der Explosion des Reaktors, erzählt er, 1988. Erst damals hatten Gorbatschows Perestrojka und Glasnost richtig begonnen. Dann kam das Ende des alten Systems. Alexander und zwei Freunde gründeten eine Zeitung, deren Verleger und Redakteure sie bis heute sind: „Swobodnye Nowosti“ – Freie Nachrichten. Die Auflage erreichte 100.000 Exemplare. Bevor Präsident Alexander Lukaschenko 1994 an die Macht kam, arbeiteten dort 40 Redakteure. Heute liegt die Redaktion im 15. Stock eines Wohnblocks am Stadtrand von Minsk. Fünf Mitarbeiter teilen sich ein 25-Quadratmeter-Zimmer. Ein Redakteur verdient hier grob gerechnet 200 Euro im Monat. „Aber rechnen Sie vorsichtig“, lacht Alexander, „der Kurs ändert sich fast stündlich. Es ist Wahnsinn, wie Anfang der 1990er Jahre, das totale Chaos. Niemand weiß mehr, ob er reich ist oder arm.“ Dreimal wurde die Wochenzeitung verboten, dreimal gründete Alexander sie neu. Sie wurde aus dem Postvertrieb verdrängt, kann nur noch am Kiosk gekauft werden. Der Staatsmacht ist jede Schikane recht: Die regierungsnahen Blätter, rechnet Alexander vor, bekommen ihr Papier fast um die Hälfte billiger als die unabhängigen. Die Auflage ist auf 31.000 gesunken. „Aber die gehen am Kiosk alle weg“, sagt Alexander und nennt den Grund für den Erfolg seiner Zeitung: „Informationshunger. Sogar die Rentner sind hungrig, sie wollen wissen, was los ist, sie legen zusammen und kaufen eine Zeitung.“

Es ist Großkampftag, der Tag vor Redaktionsschluss beim „Witebski Kurier“. Ein paar Stunden zuvor ist Wadim Barschtschewski durch die Stadt gefahren, hat seine Redakteure eingesammelt, die am Straßenrand warteten. Am Ende hielt er vor einem heruntergekommenen Plattenbau am Stadtrand von Witebsk, einer Stadt im Norden von Belarus. Aus dem Kofferraum hievte er Beutel mit Broten, Käse und Keksen. In dem Raum, in dem die Redakteure nun sitzen, ist es bitterkalt. Die Layouterin hat eine Decke über die Schultern gelegt, Barschtschewski legt seine Lederkappe den ganzen Tag nicht ab. Allzu oft kommen die Mitarbeiter des „Witebski Kurier“ nicht in die Redaktion. „Es ist nicht ratsam, sich hier blicken zu lassen“, sagt der Chef. Das hat damit zu tun, dass der „Witebski Kurier“ eine nicht staatliche Zeitung ist. Sie ist in Russland registriert. Im Nachbarland wird sie gedruckt und bei Nacht über die Grenze geschafft. 10.000 Exemplare, dann ist das Auto voll. Einmal in der Woche erscheint der „Kurier“ – und ohne Barschtschewski gäbe es ihn vielleicht längst nicht mehr. So einen wie ihn muss man nämlich erst einmal finden. Einen, der über die KGB-Aufpasser vor der Redaktionstür Witze reißt. Der in den Text über das „Mädchen der Woche“ auf der letzten Seite genauso viel Herzblut steckt wie in den Leitartikel über Lukaschenkos „Diktatur“. Und der sich auch von Polizistenbesuch in den eigenen vier Wänden nicht abschrecken lässt. Wadim Barschtschewski macht der Kampf mit Worten Spaß. „Denken wir an andere Diktatoren. Wie lange hat Stalin durchgehalten? Na, da haben wir ja noch ein paar Jahre vor uns.“ Barschtschewskis heiseres Lachen geht in einen Hustenfall über. Er raucht zu viel, er weiß es – und steckt sich noch eine an.

www. poczobut.livejournal.com

www.sn-plus.com Gerhard Gnauck, geboren 1964, ist Korrespondent der „Welt“, in der auch ein Teil der hier gedruckten Porträts erscheint. Er ist Autor des Warschau-Buchs „Syrena auf dem Königsweg“ und von „Wolke und Weide“, einer kritischen Biografie Marcel Reich-Ranickis.

www.vitebsk-kurier.info Diana Laarz, geboren 1982, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet als freie Journalistin in Moskau. Ihre Reportagen und Berichte aus Osteuropa erscheinen unter anderem in „GEO“, „DIE ZEIT“ und der Zeitschrift „Kulturaustausch“.

81

Internet und Medien unter Druck Offiziell existieren in Belarus rund 30 unabhängige oder oppositionelle Zeitungen. Viele sind vom staatlich organisierten Vertrieb ausgeschlossen. Per Verwarnung können die Behörden die Veröffentlichung einer Zeitschrift verbieten. Nun schränkt Alexander Lukaschenko auch die Internetfreiheit immer weiter ein. Seit 2010 muss jeder Besucher eines Internetcafés seinen Ausweis vorzeigen. Die Betreiber müssen die Verbindungsdaten ein Jahr speichern. Als sich im Sommer 2011 tausende Belarussen über soziale Netzwerke zu Protesten verabredeten, waren etliche Seiten zeitweise nicht mehr zugänglich, vermutlich gesperrt durch den staatlichen Betreiber Beltelecom. Im Januar 2012 erschwerte Lukaschenko den Zugang zum Netz weiter. Kritische Blogs und Informationsseiten, die auf einer schwarzen Liste aufgeführt sind, sind in Cafés, Institutionen und anderen öffentlichen Orten verboten. Dazu gehören auch Seiten der aus dem Ausland agierenden Opposition.


80

Belarus  MEDIEN

Belarus  MEDIEN

Korrespondent mit Ausreiseverbot Den Hunger stillen

Spaß am Kampf mit den Worten

Andrzej Poczobut, Korrespondent der polnischen „Gazeta Wyborcza“

Alexander Ulitjonok und seine Zeitung „Swobodnye Nowosti“

Wadim Barschtschewski, Chefredakteur beim „Witebski Kurier“

Text: Gerhard Gnauck  Foto: privat

Text und Foto: Gerhard Gnauck

Text und Foto: Diana Laarz

Jahrgang 1973, ist vermutlich der im Ausland bekannteste Bürger von Hrodna. Die Stadt liegt an der polnischen Grenze, sie ist auch unter ihrem polnischen und russischen Namen Grodno bekannt. Poczobut ist Korrespondent der renommierten polnischen „Gazeta Wyborcza“. Er ist Belarusse, auch wenn er, wie ein Fünftel der Einwohner dieser Stadt, der polnischen Minderheit angehört. Der kräftig gebaute Poczobut wirkt auf Fotos düster und abweisend. Im Umgang ist er anders, ein angenehmer Mann mit einem Sinn für Ironie. Andrzej Poczobut studierte Jura, während seines Studiums wurde Alexander Lukaschenko Präsident. Er ging dann in den Journalismus. Mehr Action und mehr Freiheit gebe es dort, sagt er. Er schrieb über heikle Themen, zum Beispiel darüber, dass das Sportstadion in seiner Stadt auf einem früheren jüdischen Friedhof angelegt wurde. Bei Bauarbeiten kamen 2003 Knochen und Schmuck zum Vorschein. Seit diesem Bericht für eine belarussische Zeitung gilt der Autor als Störenfried, dem die Behörden noch weniger Informationen geben als seinen Kollegen. Als 2006 der Korrespondent der „Gazeta Wyborcza“ bei Einreisen immer mehr schikaniert wurde, übernahm Poczobut dessen Job. Bald kam unter einem Vorwand die erste Arreststrafe: zehn Tage. Poczobut schreibt weiter. Anfang 2011, als der Staat nach den Präsidentenwahlen seine Repressionen verschärft, wird der Journalist verhaftet, geschlagen, nach 91 Tagen im Gefängnis zu drei Jahren Haft verurteilt, auf zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Straftat: Beleidigung des Präsidenten Lukaschenko (als „Diktator“) in der „Gazeta Wyborcza“ und auf seinem Blog. Später kommt noch ein Ausreiseverbot hinzu.

Alexander Ulitjonok, Jahrgang 1954, war in den letzten Jahren der Sowjetunion Korrespondent der Moskauer „Prawda“ in Belarus. Die große Wohnung im Zentrum von Minsk, die er damals bekam, bewohnt er noch heute. „Ich bin stolz auf diese Zeit, ich habe viel gelernt“, sagt er. Er schrieb damals den ersten großen Text über die Auswirkungen von Tschernobyl in Belarus. Wann das war? Zwei Jahre nach der Explosion des Reaktors, erzählt er, 1988. Erst damals hatten Gorbatschows Perestrojka und Glasnost richtig begonnen. Dann kam das Ende des alten Systems. Alexander und zwei Freunde gründeten eine Zeitung, deren Verleger und Redakteure sie bis heute sind: „Swobodnye Nowosti“ – Freie Nachrichten. Die Auflage erreichte 100.000 Exemplare. Bevor Präsident Alexander Lukaschenko 1994 an die Macht kam, arbeiteten dort 40 Redakteure. Heute liegt die Redaktion im 15. Stock eines Wohnblocks am Stadtrand von Minsk. Fünf Mitarbeiter teilen sich ein 25-Quadratmeter-Zimmer. Ein Redakteur verdient hier grob gerechnet 200 Euro im Monat. „Aber rechnen Sie vorsichtig“, lacht Alexander, „der Kurs ändert sich fast stündlich. Es ist Wahnsinn, wie Anfang der 1990er Jahre, das totale Chaos. Niemand weiß mehr, ob er reich ist oder arm.“ Dreimal wurde die Wochenzeitung verboten, dreimal gründete Alexander sie neu. Sie wurde aus dem Postvertrieb verdrängt, kann nur noch am Kiosk gekauft werden. Der Staatsmacht ist jede Schikane recht: Die regierungsnahen Blätter, rechnet Alexander vor, bekommen ihr Papier fast um die Hälfte billiger als die unabhängigen. Die Auflage ist auf 31.000 gesunken. „Aber die gehen am Kiosk alle weg“, sagt Alexander und nennt den Grund für den Erfolg seiner Zeitung: „Informationshunger. Sogar die Rentner sind hungrig, sie wollen wissen, was los ist, sie legen zusammen und kaufen eine Zeitung.“

Es ist Großkampftag, der Tag vor Redaktionsschluss beim „Witebski Kurier“. Ein paar Stunden zuvor ist Wadim Barschtschewski durch die Stadt gefahren, hat seine Redakteure eingesammelt, die am Straßenrand warteten. Am Ende hielt er vor einem heruntergekommenen Plattenbau am Stadtrand von Witebsk, einer Stadt im Norden von Belarus. Aus dem Kofferraum hievte er Beutel mit Broten, Käse und Keksen. In dem Raum, in dem die Redakteure nun sitzen, ist es bitterkalt. Die Layouterin hat eine Decke über die Schultern gelegt, Barschtschewski legt seine Lederkappe den ganzen Tag nicht ab. Allzu oft kommen die Mitarbeiter des „Witebski Kurier“ nicht in die Redaktion. „Es ist nicht ratsam, sich hier blicken zu lassen“, sagt der Chef. Das hat damit zu tun, dass der „Witebski Kurier“ eine nicht staatliche Zeitung ist. Sie ist in Russland registriert. Im Nachbarland wird sie gedruckt und bei Nacht über die Grenze geschafft. 10.000 Exemplare, dann ist das Auto voll. Einmal in der Woche erscheint der „Kurier“ – und ohne Barschtschewski gäbe es ihn vielleicht längst nicht mehr. So einen wie ihn muss man nämlich erst einmal finden. Einen, der über die KGB-Aufpasser vor der Redaktionstür Witze reißt. Der in den Text über das „Mädchen der Woche“ auf der letzten Seite genauso viel Herzblut steckt wie in den Leitartikel über Lukaschenkos „Diktatur“. Und der sich auch von Polizistenbesuch in den eigenen vier Wänden nicht abschrecken lässt. Wadim Barschtschewski macht der Kampf mit Worten Spaß. „Denken wir an andere Diktatoren. Wie lange hat Stalin durchgehalten? Na, da haben wir ja noch ein paar Jahre vor uns.“ Barschtschewskis heiseres Lachen geht in einen Hustenfall über. Er raucht zu viel, er weiß es – und steckt sich noch eine an.

www. poczobut.livejournal.com

www.sn-plus.com Gerhard Gnauck, geboren 1964, ist Korrespondent der „Welt“, in der auch ein Teil der hier gedruckten Porträts erscheint. Er ist Autor des Warschau-Buchs „Syrena auf dem Königsweg“ und von „Wolke und Weide“, einer kritischen Biografie Marcel Reich-Ranickis.

www.vitebsk-kurier.info Diana Laarz, geboren 1982, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet als freie Journalistin in Moskau. Ihre Reportagen und Berichte aus Osteuropa erscheinen unter anderem in „GEO“, „DIE ZEIT“ und der Zeitschrift „Kulturaustausch“.

81

Internet und Medien unter Druck Offiziell existieren in Belarus rund 30 unabhängige oder oppositionelle Zeitungen. Viele sind vom staatlich organisierten Vertrieb ausgeschlossen. Per Verwarnung können die Behörden die Veröffentlichung einer Zeitschrift verbieten. Nun schränkt Alexander Lukaschenko auch die Internetfreiheit immer weiter ein. Seit 2010 muss jeder Besucher eines Internetcafés seinen Ausweis vorzeigen. Die Betreiber müssen die Verbindungsdaten ein Jahr speichern. Als sich im Sommer 2011 tausende Belarussen über soziale Netzwerke zu Protesten verabredeten, waren etliche Seiten zeitweise nicht mehr zugänglich, vermutlich gesperrt durch den staatlichen Betreiber Beltelecom. Im Januar 2012 erschwerte Lukaschenko den Zugang zum Netz weiter. Kritische Blogs und Informationsseiten, die auf einer schwarzen Liste aufgeführt sind, sind in Cafés, Institutionen und anderen öffentlichen Orten verboten. Dazu gehören auch Seiten der aus dem Ausland agierenden Opposition.


82

Belarus  MEDIEN

Belarus  MEDIEN

In der Sprache der Oppositionellen Aljaksandr Jaroschewitsch spricht auf „Radio Racya“ nur belarussisch. Text: Ulrike Gruska  Foto: Stefan Schocher

Aljaksandr Jaroschewitsch ist ein Quereinsteiger. Der 29-Jährige arbeitete als Englischlehrer und Übersetzer, bevor er über Umwege in den Journalismus fand. Seit ein paar Monaten ist er Minsk-Korrespondent für den belarussischen Auslandssender „Radio Racya“. „Ich habe meine Bewerbung hingeschickt, wurde zum Probearbeiten eingeladen – und nach einer Woche hat mir der Chef ein Aufnahmegerät in die Hand gedrückt“, erzählt er. „Radio Racya“ sendet sein Programm vom polnischen Bialystok aus. Es erreicht damit rund 2,5 Millionen Hörer beiderseits der Grenze: Der belarussischen Minderheit in Ostpolen liefert es Nachrichten aus der Heimat, und für die Menschen im westlichen Belarus bietet es eine der wenigen Möglichkeiten, sich abseits der staatlich gelenkten Massenmedien zu informieren. Aljaksandr Jaroschewitsch war vor Ort, als sich die Opposition im vergangenen Herbst zu Kundgebungen versammelte. Er berichtete über die Proteste von Umweltschützern gegen ein Energieabkommen mit Russland, das die Finanzierung des ersten belarussischen Atomkraftwerks sichert. Er sammelte Stimmen aus der Bevölkerung, als das Oberste Gericht zwei Männer zum Tode verurteilte, die für den Bombenanschlag auf die Minsker Metro im April 2011 verantwortlich gemacht wurden. Ebenso wichtig wie die Themenvielfalt seines Senders aber ist Aljaksandr Jaroschewitsch, dass „Radio Racya“ auf Belarussisch sendet. Auch seinen Namen spricht er belarussisch und nicht russisch aus. Die Sprache nutzen heute – zumindest öffentlich – vor allem Oppositionelle und Studenten. Auf der Straße und in den Amtsstuben dominiert das Russische. Deshalb führt auch Jaroschewitsch viele seiner Interviews auf Russisch. Doch seine Sendungen so zu produzieren, kann er sich nicht vorstellen: „Das wäre dann nicht mehr ‚Radio Racya‘.“ www.racyja.com

» Wir fühlen uns als Geiseln « Ein offener Brief an deutsche Journalisten von Irina Gerassimowitsch

Liebe Journalisten und Journalistinnen, seit vielen Jahren verfolge ich die deutsche Berichterstattung über Belarus und stelle mir immer wieder eine Frage: Warum gelingt es mir so selten, mich und meine Umgebung – Minsker Künstler und Intellektuelle –in den Beiträgen wiederzuerkennen? Manchmal fühlen wir uns wie Geiseln Eurer Berichterstattung. Immer sind die Küchen, in denen wir porträtiert werden, verraucht und die Häuser, in denen wir wohnen, grau und stalinistisch. Immer kreisen unsere Gedanken in den deutschen Texten darum, wie wir dem KGB entfliehen oder ob wir zur nächsten Demonstration gehen können. Dabei ist die Politik in unserer Arbeit gar nicht präsenter als in der deutscher Künstler. Wir wären so froh, wenn unsere Projekte einmal ohne den Schatten Lukaschenkos wahrgenommen würden, den Ihr ständig hinter uns werft, und der die Grundideen unserer Gedanken und Projekte bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Wie würden deutsche Künstler wohl reagieren, wenn in jedes ihrer Werke irgendeine Verbindung mit z.B. Angela Merkel interpretiert würde? Warum presst Ihr uns in ein Raster, das Ihr selber als absurd empfinden würdet? Ist das Sehnsucht nach Verfolgungsund Untergrundromantik? Oder gibt Euch der Vergleich Eurer eigenen Gesellschaft mit Belarus ein gutes Gefühl? Es gibt vieles, worauf man in Deutschland stolz sein kann, zum Beispiel die Meinungsvielfalt. Die Grenzen dieser Vielfalt setzen sich die Journalisten mit ihren klischeehaften Bildern selbst. Als Reaktion auf meine kritischen Anmerkungen schrieb mir kürzlich ein deutscher Journalist: „Es ist schwierig, im deutschen Rundfunk etwas unterzubringen, in dem die Position zur Regierung oder die Reaktion auf die Situation nicht zumindest andeutungsweise sichtbar wird.“ Das klingt nach einem „Muss“, nach einem „Anders geht es nicht“, also nach all dem, was wir aus unserer Presse kennen. In Eurem Fall sind wohl die eigenen Vorstellungen und die vermuteten Erwartungen Eurer Leser der beste Zensor. Warum traut Ihr diesen Lesern nicht mehr zu, als den Wunsch, immer nur die bereits bekannten Bilder bestätigt zu bekommen? Wäre es nicht eine lohnende und reizvolle Aufgabe für Euch, ein Belarus jenseits der bekannten Klischees zu zeigen? Das Problem unseres Landes ist, dass seine Gesellschaft hierarchisch und unflexibel ist. Viele Eurer Berichte zementieren aber genau diese Unflexibilität, indem sie die Vielfalt ausblenden. Bitte lasst die Diktatur-Lukaschenko-Brille einmal weg – Ihr werdet viel entdecken, was spannend für Euch ist und uns das Gefühl gibt, als die wahrgenommen zu werden, die wir sind. Irina Gerassimowitsch, geboren 1978, arbeitet als freie Übersetzerin und Kulturmanagerin in Minsk.

83


82

Belarus  MEDIEN

Belarus  MEDIEN

In der Sprache der Oppositionellen Aljaksandr Jaroschewitsch spricht auf „Radio Racya“ nur belarussisch. Text: Ulrike Gruska  Foto: Stefan Schocher

Aljaksandr Jaroschewitsch ist ein Quereinsteiger. Der 29-Jährige arbeitete als Englischlehrer und Übersetzer, bevor er über Umwege in den Journalismus fand. Seit ein paar Monaten ist er Minsk-Korrespondent für den belarussischen Auslandssender „Radio Racya“. „Ich habe meine Bewerbung hingeschickt, wurde zum Probearbeiten eingeladen – und nach einer Woche hat mir der Chef ein Aufnahmegerät in die Hand gedrückt“, erzählt er. „Radio Racya“ sendet sein Programm vom polnischen Bialystok aus. Es erreicht damit rund 2,5 Millionen Hörer beiderseits der Grenze: Der belarussischen Minderheit in Ostpolen liefert es Nachrichten aus der Heimat, und für die Menschen im westlichen Belarus bietet es eine der wenigen Möglichkeiten, sich abseits der staatlich gelenkten Massenmedien zu informieren. Aljaksandr Jaroschewitsch war vor Ort, als sich die Opposition im vergangenen Herbst zu Kundgebungen versammelte. Er berichtete über die Proteste von Umweltschützern gegen ein Energieabkommen mit Russland, das die Finanzierung des ersten belarussischen Atomkraftwerks sichert. Er sammelte Stimmen aus der Bevölkerung, als das Oberste Gericht zwei Männer zum Tode verurteilte, die für den Bombenanschlag auf die Minsker Metro im April 2011 verantwortlich gemacht wurden. Ebenso wichtig wie die Themenvielfalt seines Senders aber ist Aljaksandr Jaroschewitsch, dass „Radio Racya“ auf Belarussisch sendet. Auch seinen Namen spricht er belarussisch und nicht russisch aus. Die Sprache nutzen heute – zumindest öffentlich – vor allem Oppositionelle und Studenten. Auf der Straße und in den Amtsstuben dominiert das Russische. Deshalb führt auch Jaroschewitsch viele seiner Interviews auf Russisch. Doch seine Sendungen so zu produzieren, kann er sich nicht vorstellen: „Das wäre dann nicht mehr ‚Radio Racya‘.“ www.racyja.com

» Wir fühlen uns als Geiseln « Ein offener Brief an deutsche Journalisten von Irina Gerassimowitsch

Liebe Journalisten und Journalistinnen, seit vielen Jahren verfolge ich die deutsche Berichterstattung über Belarus und stelle mir immer wieder eine Frage: Warum gelingt es mir so selten, mich und meine Umgebung – Minsker Künstler und Intellektuelle –in den Beiträgen wiederzuerkennen? Manchmal fühlen wir uns wie Geiseln Eurer Berichterstattung. Immer sind die Küchen, in denen wir porträtiert werden, verraucht und die Häuser, in denen wir wohnen, grau und stalinistisch. Immer kreisen unsere Gedanken in den deutschen Texten darum, wie wir dem KGB entfliehen oder ob wir zur nächsten Demonstration gehen können. Dabei ist die Politik in unserer Arbeit gar nicht präsenter als in der deutscher Künstler. Wir wären so froh, wenn unsere Projekte einmal ohne den Schatten Lukaschenkos wahrgenommen würden, den Ihr ständig hinter uns werft, und der die Grundideen unserer Gedanken und Projekte bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Wie würden deutsche Künstler wohl reagieren, wenn in jedes ihrer Werke irgendeine Verbindung mit z.B. Angela Merkel interpretiert würde? Warum presst Ihr uns in ein Raster, das Ihr selber als absurd empfinden würdet? Ist das Sehnsucht nach Verfolgungsund Untergrundromantik? Oder gibt Euch der Vergleich Eurer eigenen Gesellschaft mit Belarus ein gutes Gefühl? Es gibt vieles, worauf man in Deutschland stolz sein kann, zum Beispiel die Meinungsvielfalt. Die Grenzen dieser Vielfalt setzen sich die Journalisten mit ihren klischeehaften Bildern selbst. Als Reaktion auf meine kritischen Anmerkungen schrieb mir kürzlich ein deutscher Journalist: „Es ist schwierig, im deutschen Rundfunk etwas unterzubringen, in dem die Position zur Regierung oder die Reaktion auf die Situation nicht zumindest andeutungsweise sichtbar wird.“ Das klingt nach einem „Muss“, nach einem „Anders geht es nicht“, also nach all dem, was wir aus unserer Presse kennen. In Eurem Fall sind wohl die eigenen Vorstellungen und die vermuteten Erwartungen Eurer Leser der beste Zensor. Warum traut Ihr diesen Lesern nicht mehr zu, als den Wunsch, immer nur die bereits bekannten Bilder bestätigt zu bekommen? Wäre es nicht eine lohnende und reizvolle Aufgabe für Euch, ein Belarus jenseits der bekannten Klischees zu zeigen? Das Problem unseres Landes ist, dass seine Gesellschaft hierarchisch und unflexibel ist. Viele Eurer Berichte zementieren aber genau diese Unflexibilität, indem sie die Vielfalt ausblenden. Bitte lasst die Diktatur-Lukaschenko-Brille einmal weg – Ihr werdet viel entdecken, was spannend für Euch ist und uns das Gefühl gibt, als die wahrgenommen zu werden, die wir sind. Irina Gerassimowitsch, geboren 1978, arbeitet als freie Übersetzerin und Kulturmanagerin in Minsk.

83


84

Belarus  MEDIEN

Belarus  MEDIEN

Paranoia 2.0

1  Ein Wortspiel. „Желтый дом“ heißt wörtlich übersetzt „gelbes Haus“, steht aber übertragen für „Irrenhaus“. Das KGB-Gebäude in Minsk hat tatsächlich eine gelbe Fassade.

Journalisten und Blogger entdecken im Internet Texte von sich, die sie nie geschrieben haben. Schwarze Listen kursieren ohne Unterschrift, Bücher verschwinden ohne Begründung aus den Regalen. Die Agenten des belarussischen KGB nutzen das Web 2.0 – und bleiben anonym. Text: Victor Martinovich

Am 30. August 2010 öffnete der ukrainische Journalist Michail Podoljak die Internetseite der belarussischen Wochenzeitung „Swobodnye Nowosti“ – und erstarrte. Michail betrieb seit einiger Zeit ein Portal, auf dem er Material über die „Silowiki“, eine Sicherheitselite des belarussischen Präsidenten sowie über die belarussischen Geheimdienste zusammenstellte. Und nun entdeckte er auf der Seite von „Swobodnye Nowosti“ ein Interview, das er nie gegeben hatte. Ein Interview, das mit viel Kenntnis über seinen Kiewer Alltag geschrieben war. Das Café, das Michail regelmäßig besuchte, wurde darin genauso erwähnt wie die Leute, mit denen er sich traf. Es enthielt sogar Auszüge aus Privatgesprächen, die eindeutig von jemandem belauscht worden waren. Michail war im Juni 2004 wegen seiner kritischen Texte vom belarussischen KGB aus Belarus ausgewiesen worden. Seitdem lebt er in Kiew. Er setzte sich mit dem Redakteur von „Swobodnye Nowosti“ in Verbindung. Dieser war nicht weniger verwundert: Es stellte sich heraus, dass jemand die Seite gehackt und den Artikel eingestellt hatte.

Ein Text mit Link zu einem Pornovideo Ein Jahr später, im Oktober 2011, entdeckte der bekannte Blogger Jewgeni Ogurzow in seinem Blog auf der Seite „Belorusski partisan“ einen Text, den er nie geschrieben hatte. Der Artikel war überschrieben mit „Ira! Wir stehen hinter dir!“ und drehte sich um das Leben von Irina Chalip – der Ehefrau von Andrej Sannikow, einem der wichtigsten Oppositionskandidaten bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010. Sannikow saß zu diesem Zeitpunkt übrigens im Gefängnis. Im Artikel führte ein direkter Link zu einem Pornovideo, welches Chalips Ruf schaden sollte. Muss man noch extra erwähnen, dass Ogurzow – ein anständiger Mensch und langjähriger Freund von Irina – diesen Text niemals geschrieben hatte? Auch die Redaktion des Blogs „Belorusski partisan“ hatte ihn nicht eingestellt. Der Text war mit beängstigendem Können von unsichtbarer Hand „untergeschoben“ worden. Es gibt massenweise solcher Geschichten aus Belarus. Man muss sich nur daran erinnern, wie der Botschafter eines europäischen Staates „bestraft“ worden war: Der Botschafter hatte es gewagt, das belarussische Regime zu kritisieren. Auf Youtube wurde ein Video eingestellt, dessen Link anonym an alle Medien gesendet und in den meistbesuchten Foren gepostet wurde. Das Video enthielt Ausschnitte

eines Telefongesprächs der Frau des Botschafters mit ihrem italienischen Liebhaber und außerdem die Videoaufzeichnung eines Spitzels, der ihr Treffen auf dem Flughafen gefilmt hatte.

Die Paranoia-Agenten bleiben anonym Die Frage, ob das Video echt ist, ist dabei zweitrangig. Entscheidend ist, dass Belarus ein Staat ist, der seinen Bürgern deutlich macht, dass sie in einem durchsichtigen Zuhause leben. Einem Zuhause ohne Wände. Einem Zuhause, vollgestopft mit Überwachungsgeräten. Einem Zuhause, aus dem jedes Detail – angefangen beim Gang zur Dusche bis hin zum Küchengespräch mit der Geliebten – irgendwann im Netz auftauchen kann. Warum gehen die Bürger nicht vor Gericht? Ganz einfach: Die „Paranoia-Agenten“ bleiben immer anonym – darin liegt ihre Schlagkraft. Es gibt keinen, den man verklagen könnte. Denn es ist völlig unklar, wer die Seiten hackt und wer die Pornofilmchen dreht. Man kann es sich denken. Aber es ist unmöglich, etwas zu beweisen. Außerdem ist diese unbestimmte Angst viel stärker als die Angst, die man hat, wenn man es mit einer konkreten Person zu hat, die über eine offizielle Adresse und eine Telefonnummer verfügt. Obwohl, nein, ich irre mich. Diese Transparenz des eigenen Lebens spürt nicht jeder. Darin besteht gerade der Unterschied der belarussischen Paranoia im Vergleich zur Paranoia, die sich innerhalb der Sowjetunion im Jahr 1937 entwickelt hatte, als alle Gesellschaftsschichten in den Terror verwickelt waren: In Belarus werden ausschließlich politische Aktivisten „ausgelöscht“. Irgendjemand in Belarus hat begriffen, dass es, um die ganze Gesellschaft unter Kontrolle zu halten, genügt, nur die wenigen zu terrorisieren, die sich für Politik interessieren. Die besten von ihnen. Die engagiertesten. Und so hat man im Dezember 2010 eine interessante Methode entwickelt. Wer aus politischen Gründen ins Gefängnis kommt, wird splitternackt ausgezogen und gefilmt. Davon haben mir sogar Leute aus Russland erzählt, die während der Schweigeproteste im Sommer 2011 zufällig festgenommen worden waren. Die meisten sprechen das übrigens nicht von selber an. Sondern nur, wenn man sie fragt, ob ihnen so etwas passiert sei, dann antworten sie, ja, es sei passiert. Wer redet schon gerne darüber, dass er eine Erniedrigung über sich ergehen lassen musste, die von einer düsteren Erfindungsgabe zeugt,

wie man sie etwa aus dem deutschen Film „Das Experiment“ kennt? Letztlich gibt es also von jedem, der theoretisch willens ist, es mit der Staatsspitze aufzunehmen, irgendwo ein Filmchen, das ihn völlig nackt, erniedrigt und verängstigt zeigt, kurz nachdem man ihn verhaftet hat. Ist das nicht clever? Warum sollte man da alle Bürger verschrecken? Wenn die Führungsfiguren schon diskreditiert sind?

Schwarze Listen ohne Unterschrift Im Übrigen gibt es sogar in der breiten Masse eine dunkle Ahnung davon, wie schnell alles auf einmal ganz schrecklich werden kann. Sprachlich drückt sich diese Ahnung in einer Phrase aus, die alles sagt über Belarus. Diese Phrase lautet: „Sie verstehen schon.“ Mit diesem Satz wird in Minsk der Verkauf von Büchern verboten, werden Konzerte abgesagt und Theaterstücke vom Spielplan abgesetzt. Einerseits zeigt diese Phrase, dass der Sprechende bestimmte Normen kennt und willens ist, sich ihnen unterzuordnen. Andererseits appelliert sie an die geradezu paranoide Bereitschaft des Zuhörers, mehr zu verstehen als gesagt wurde. Als in der Republik eine Liste von Musikern herumging, deren Musik nicht ausgestrahlt werden darf – ein Schreiben ohne Unterschrift und Stempel, einfach eine Auflistung von Familiennamen und Bezeichnungen – bemühte sich keiner zu sagen, dass diese Leute wohl gegen den Präsidenten vorgegangen wären oder Vaterlandsverräter seien. Stattdessen sagten sie: „Sie verstehen schon.“ Und es gibt noch einen Unterschied zwischen der belarussischen „nanotechnologischen“, „medialen“ Paranoia und dem, was wir in der Sowjetunion hatten oder in Deutschland, in der DDR: Vor 30 Jahren wusste jeder Schriftsteller, dass er kein Buch schreiben darf über die Weiße Garden im russischen Bürgerkrieg oder den „Holodomor“, die schreckliche Hungersnot in der Ukraine 1932/33. Das Buch würde verboten und er bestraft. Wird aber in Belarus ein Buch verboten, wird es schweigend aus dem Regal genommen: Überlege dir selbst, weswegen. Die Selbstzensur ist die effektivste Art der Zensur. Schließlich gründet sie auf dem paranoiden Wunsch, sich „rückzuversichern“, ja nicht zu viel zu sagen.

Paranoia wird zum Lebensbegleiter Wer schon mal zur Befragung im sogenannten „Gelben Haus“ 1 war – einem Gebäude im Stalinschen Zuckerbäckerstil, in dem die Zentrale des KGB untergebracht ist – für den wird die Paranoia zum Lebensbegleiter. Einige flüchten ihretwegen ins Ausland und irren für den Rest ihres Lebens in den Sportstudios, Abstellräumen und Auffanglagern des Auslands umher, nachdem sie in Minsk ihre Wohnungen und Autos zurückgelassen haben. Andere bleiben und werden verhaftet.

85

Ich erinnere mich noch, wie schockiert ich war, als der KGBUntersuchungsführer einige CDs aus einem ockerfarbenen Umschlag zog und mir Ausschnitte aus Gesprächen mit Freunden vorspielte. Ab und zu bat er mich, irgendeinen Spitznamen genauer zu erklären, einen Witz, eine bestimmte stichelnde Bemerkung, einen blödsinnigen Zwischenruf – und irgendetwas in mir drehte sich und starb. Ich bin kein Terrorist, ich bin kein Radikaler, sondern einfach einer, der Texte schreibt. Und zwar Texte über das Leben im Allgemeinen, nicht über Politik. Wenn sie selbst mich abhörten, dann heißt das, dass sie überhaupt jeden x-Beliebigen abhören. Seitdem führe ich am Telefon selten offene Gespräche. Nicht etwa aus Vorsicht, mich ja nicht zu verplappern, sondern aus der tieferen Gewissheit heraus, dass jedes Gespräch zwischen zwei Leuten, jede beliebige Diskussion über Fußball oder Kino, von jemand Dritten belauscht wird. Wohin führt das Leben unter einem solchen Regime? Ach ja, und es gab noch einen anderen Fall. Im Oktober 2009. Mein Roman „Paranoia“ war gerade auf den Markt gekommen und unterlag schon gleich einem geheimen, unerklärten Verbot. Ich befürchtete eine Verhaftung und entschied mich, das Land zu verlassen, um zu entspannen. Da stehe ich also am Flughafen. Die Kontrolle hatte ich schon passiert, da sehe ich zwei Typen mit ziemlich charakteristischem Aussehen auf mich zukommen, in schwarzen Anzügen, mit Funkgeräten, das Haar kurz geschoren. Eine Bekannte aus der Botschaft hatte mal gesagt, dass sie die sogar an den Schuhen erkennt, dass die Schuhe sie verraten: immer schwarz und meist vorne zugespitzt.

Belarus nicht im Ausland diskreditieren Und siehe da, ich sitze im Café im Abflugterminal, und sie stehen mir gegenüber, unterhalten sich miteinander, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Mir ist klar, dass sie mich jetzt festnehmen. Einer von ihnen kommt auf mich zu. Der Typ sagt: „Hör mal, Kumpel, wir folgen dir schon seit der Passkontrolle. Du siehst ganz okay aus. Kannst du uns helfen? Wir würden gerne einen Whiskey kaufen, können wir aber nicht, weil wir kein Bordticket haben. Aber du hast nichts gekauft, wie wir gesehen haben.“ Ich lache erleichtert auf: „Wenn ihr wüsstet, wie ihr mich erschreckt habt!“ „Erschreckt, womit?!“ „Ich dachte, ihr kommt, um mich zu verhaften.“ – Wir gingen als Freunde auseinander. Das heißt aber nicht, dass ich mich beim nächsten Mal, wenn ich einen Typen im schwarzen Anzug und mit Funkgerät sehe, nicht doch kurz erschrecke. Und noch ein letztes Wort dazu, was sie ausmacht, unsere belarussische Paranoia: Ich habe diesen Text geschrieben und ich weiß, dass ich darin kein Geheimnis preisgegeben und niemanden beleidigt habe. Aber gleichzeitig bin ich mir des ungeschriebenen Gesetzes bewusst, Belarus im Ausland nicht zu diskreditieren. Und ich weiß: Wenn dieser Text in Deutschland erschienen ist, dann werde ich bei jedem Klingeln an der Tür gequält zusammenzucken. Aus dem Russischen von Tamina Kutscher Victor Martinovich, geboren 1977, ist Autor des Romas „Paranoia“, der 2010 in St. Petersburg und den USA erschien. Er lehrt außerdem an der belarussischen Exil-Universität EHU in Litauen.


84

Belarus  MEDIEN

Belarus  MEDIEN

Paranoia 2.0

1  Ein Wortspiel. „Желтый дом“ heißt wörtlich übersetzt „gelbes Haus“, steht aber übertragen für „Irrenhaus“. Das KGB-Gebäude in Minsk hat tatsächlich eine gelbe Fassade.

Journalisten und Blogger entdecken im Internet Texte von sich, die sie nie geschrieben haben. Schwarze Listen kursieren ohne Unterschrift, Bücher verschwinden ohne Begründung aus den Regalen. Die Agenten des belarussischen KGB nutzen das Web 2.0 – und bleiben anonym. Text: Victor Martinovich

Am 30. August 2010 öffnete der ukrainische Journalist Michail Podoljak die Internetseite der belarussischen Wochenzeitung „Swobodnye Nowosti“ – und erstarrte. Michail betrieb seit einiger Zeit ein Portal, auf dem er Material über die „Silowiki“, eine Sicherheitselite des belarussischen Präsidenten sowie über die belarussischen Geheimdienste zusammenstellte. Und nun entdeckte er auf der Seite von „Swobodnye Nowosti“ ein Interview, das er nie gegeben hatte. Ein Interview, das mit viel Kenntnis über seinen Kiewer Alltag geschrieben war. Das Café, das Michail regelmäßig besuchte, wurde darin genauso erwähnt wie die Leute, mit denen er sich traf. Es enthielt sogar Auszüge aus Privatgesprächen, die eindeutig von jemandem belauscht worden waren. Michail war im Juni 2004 wegen seiner kritischen Texte vom belarussischen KGB aus Belarus ausgewiesen worden. Seitdem lebt er in Kiew. Er setzte sich mit dem Redakteur von „Swobodnye Nowosti“ in Verbindung. Dieser war nicht weniger verwundert: Es stellte sich heraus, dass jemand die Seite gehackt und den Artikel eingestellt hatte.

Ein Text mit Link zu einem Pornovideo Ein Jahr später, im Oktober 2011, entdeckte der bekannte Blogger Jewgeni Ogurzow in seinem Blog auf der Seite „Belorusski partisan“ einen Text, den er nie geschrieben hatte. Der Artikel war überschrieben mit „Ira! Wir stehen hinter dir!“ und drehte sich um das Leben von Irina Chalip – der Ehefrau von Andrej Sannikow, einem der wichtigsten Oppositionskandidaten bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010. Sannikow saß zu diesem Zeitpunkt übrigens im Gefängnis. Im Artikel führte ein direkter Link zu einem Pornovideo, welches Chalips Ruf schaden sollte. Muss man noch extra erwähnen, dass Ogurzow – ein anständiger Mensch und langjähriger Freund von Irina – diesen Text niemals geschrieben hatte? Auch die Redaktion des Blogs „Belorusski partisan“ hatte ihn nicht eingestellt. Der Text war mit beängstigendem Können von unsichtbarer Hand „untergeschoben“ worden. Es gibt massenweise solcher Geschichten aus Belarus. Man muss sich nur daran erinnern, wie der Botschafter eines europäischen Staates „bestraft“ worden war: Der Botschafter hatte es gewagt, das belarussische Regime zu kritisieren. Auf Youtube wurde ein Video eingestellt, dessen Link anonym an alle Medien gesendet und in den meistbesuchten Foren gepostet wurde. Das Video enthielt Ausschnitte

eines Telefongesprächs der Frau des Botschafters mit ihrem italienischen Liebhaber und außerdem die Videoaufzeichnung eines Spitzels, der ihr Treffen auf dem Flughafen gefilmt hatte.

Die Paranoia-Agenten bleiben anonym Die Frage, ob das Video echt ist, ist dabei zweitrangig. Entscheidend ist, dass Belarus ein Staat ist, der seinen Bürgern deutlich macht, dass sie in einem durchsichtigen Zuhause leben. Einem Zuhause ohne Wände. Einem Zuhause, vollgestopft mit Überwachungsgeräten. Einem Zuhause, aus dem jedes Detail – angefangen beim Gang zur Dusche bis hin zum Küchengespräch mit der Geliebten – irgendwann im Netz auftauchen kann. Warum gehen die Bürger nicht vor Gericht? Ganz einfach: Die „Paranoia-Agenten“ bleiben immer anonym – darin liegt ihre Schlagkraft. Es gibt keinen, den man verklagen könnte. Denn es ist völlig unklar, wer die Seiten hackt und wer die Pornofilmchen dreht. Man kann es sich denken. Aber es ist unmöglich, etwas zu beweisen. Außerdem ist diese unbestimmte Angst viel stärker als die Angst, die man hat, wenn man es mit einer konkreten Person zu hat, die über eine offizielle Adresse und eine Telefonnummer verfügt. Obwohl, nein, ich irre mich. Diese Transparenz des eigenen Lebens spürt nicht jeder. Darin besteht gerade der Unterschied der belarussischen Paranoia im Vergleich zur Paranoia, die sich innerhalb der Sowjetunion im Jahr 1937 entwickelt hatte, als alle Gesellschaftsschichten in den Terror verwickelt waren: In Belarus werden ausschließlich politische Aktivisten „ausgelöscht“. Irgendjemand in Belarus hat begriffen, dass es, um die ganze Gesellschaft unter Kontrolle zu halten, genügt, nur die wenigen zu terrorisieren, die sich für Politik interessieren. Die besten von ihnen. Die engagiertesten. Und so hat man im Dezember 2010 eine interessante Methode entwickelt. Wer aus politischen Gründen ins Gefängnis kommt, wird splitternackt ausgezogen und gefilmt. Davon haben mir sogar Leute aus Russland erzählt, die während der Schweigeproteste im Sommer 2011 zufällig festgenommen worden waren. Die meisten sprechen das übrigens nicht von selber an. Sondern nur, wenn man sie fragt, ob ihnen so etwas passiert sei, dann antworten sie, ja, es sei passiert. Wer redet schon gerne darüber, dass er eine Erniedrigung über sich ergehen lassen musste, die von einer düsteren Erfindungsgabe zeugt,

wie man sie etwa aus dem deutschen Film „Das Experiment“ kennt? Letztlich gibt es also von jedem, der theoretisch willens ist, es mit der Staatsspitze aufzunehmen, irgendwo ein Filmchen, das ihn völlig nackt, erniedrigt und verängstigt zeigt, kurz nachdem man ihn verhaftet hat. Ist das nicht clever? Warum sollte man da alle Bürger verschrecken? Wenn die Führungsfiguren schon diskreditiert sind?

Schwarze Listen ohne Unterschrift Im Übrigen gibt es sogar in der breiten Masse eine dunkle Ahnung davon, wie schnell alles auf einmal ganz schrecklich werden kann. Sprachlich drückt sich diese Ahnung in einer Phrase aus, die alles sagt über Belarus. Diese Phrase lautet: „Sie verstehen schon.“ Mit diesem Satz wird in Minsk der Verkauf von Büchern verboten, werden Konzerte abgesagt und Theaterstücke vom Spielplan abgesetzt. Einerseits zeigt diese Phrase, dass der Sprechende bestimmte Normen kennt und willens ist, sich ihnen unterzuordnen. Andererseits appelliert sie an die geradezu paranoide Bereitschaft des Zuhörers, mehr zu verstehen als gesagt wurde. Als in der Republik eine Liste von Musikern herumging, deren Musik nicht ausgestrahlt werden darf – ein Schreiben ohne Unterschrift und Stempel, einfach eine Auflistung von Familiennamen und Bezeichnungen – bemühte sich keiner zu sagen, dass diese Leute wohl gegen den Präsidenten vorgegangen wären oder Vaterlandsverräter seien. Stattdessen sagten sie: „Sie verstehen schon.“ Und es gibt noch einen Unterschied zwischen der belarussischen „nanotechnologischen“, „medialen“ Paranoia und dem, was wir in der Sowjetunion hatten oder in Deutschland, in der DDR: Vor 30 Jahren wusste jeder Schriftsteller, dass er kein Buch schreiben darf über die Weiße Garden im russischen Bürgerkrieg oder den „Holodomor“, die schreckliche Hungersnot in der Ukraine 1932/33. Das Buch würde verboten und er bestraft. Wird aber in Belarus ein Buch verboten, wird es schweigend aus dem Regal genommen: Überlege dir selbst, weswegen. Die Selbstzensur ist die effektivste Art der Zensur. Schließlich gründet sie auf dem paranoiden Wunsch, sich „rückzuversichern“, ja nicht zu viel zu sagen.

Paranoia wird zum Lebensbegleiter Wer schon mal zur Befragung im sogenannten „Gelben Haus“ 1 war – einem Gebäude im Stalinschen Zuckerbäckerstil, in dem die Zentrale des KGB untergebracht ist – für den wird die Paranoia zum Lebensbegleiter. Einige flüchten ihretwegen ins Ausland und irren für den Rest ihres Lebens in den Sportstudios, Abstellräumen und Auffanglagern des Auslands umher, nachdem sie in Minsk ihre Wohnungen und Autos zurückgelassen haben. Andere bleiben und werden verhaftet.

85

Ich erinnere mich noch, wie schockiert ich war, als der KGBUntersuchungsführer einige CDs aus einem ockerfarbenen Umschlag zog und mir Ausschnitte aus Gesprächen mit Freunden vorspielte. Ab und zu bat er mich, irgendeinen Spitznamen genauer zu erklären, einen Witz, eine bestimmte stichelnde Bemerkung, einen blödsinnigen Zwischenruf – und irgendetwas in mir drehte sich und starb. Ich bin kein Terrorist, ich bin kein Radikaler, sondern einfach einer, der Texte schreibt. Und zwar Texte über das Leben im Allgemeinen, nicht über Politik. Wenn sie selbst mich abhörten, dann heißt das, dass sie überhaupt jeden x-Beliebigen abhören. Seitdem führe ich am Telefon selten offene Gespräche. Nicht etwa aus Vorsicht, mich ja nicht zu verplappern, sondern aus der tieferen Gewissheit heraus, dass jedes Gespräch zwischen zwei Leuten, jede beliebige Diskussion über Fußball oder Kino, von jemand Dritten belauscht wird. Wohin führt das Leben unter einem solchen Regime? Ach ja, und es gab noch einen anderen Fall. Im Oktober 2009. Mein Roman „Paranoia“ war gerade auf den Markt gekommen und unterlag schon gleich einem geheimen, unerklärten Verbot. Ich befürchtete eine Verhaftung und entschied mich, das Land zu verlassen, um zu entspannen. Da stehe ich also am Flughafen. Die Kontrolle hatte ich schon passiert, da sehe ich zwei Typen mit ziemlich charakteristischem Aussehen auf mich zukommen, in schwarzen Anzügen, mit Funkgeräten, das Haar kurz geschoren. Eine Bekannte aus der Botschaft hatte mal gesagt, dass sie die sogar an den Schuhen erkennt, dass die Schuhe sie verraten: immer schwarz und meist vorne zugespitzt.

Belarus nicht im Ausland diskreditieren Und siehe da, ich sitze im Café im Abflugterminal, und sie stehen mir gegenüber, unterhalten sich miteinander, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Mir ist klar, dass sie mich jetzt festnehmen. Einer von ihnen kommt auf mich zu. Der Typ sagt: „Hör mal, Kumpel, wir folgen dir schon seit der Passkontrolle. Du siehst ganz okay aus. Kannst du uns helfen? Wir würden gerne einen Whiskey kaufen, können wir aber nicht, weil wir kein Bordticket haben. Aber du hast nichts gekauft, wie wir gesehen haben.“ Ich lache erleichtert auf: „Wenn ihr wüsstet, wie ihr mich erschreckt habt!“ „Erschreckt, womit?!“ „Ich dachte, ihr kommt, um mich zu verhaften.“ – Wir gingen als Freunde auseinander. Das heißt aber nicht, dass ich mich beim nächsten Mal, wenn ich einen Typen im schwarzen Anzug und mit Funkgerät sehe, nicht doch kurz erschrecke. Und noch ein letztes Wort dazu, was sie ausmacht, unsere belarussische Paranoia: Ich habe diesen Text geschrieben und ich weiß, dass ich darin kein Geheimnis preisgegeben und niemanden beleidigt habe. Aber gleichzeitig bin ich mir des ungeschriebenen Gesetzes bewusst, Belarus im Ausland nicht zu diskreditieren. Und ich weiß: Wenn dieser Text in Deutschland erschienen ist, dann werde ich bei jedem Klingeln an der Tür gequält zusammenzucken. Aus dem Russischen von Tamina Kutscher Victor Martinovich, geboren 1977, ist Autor des Romas „Paranoia“, der 2010 in St. Petersburg und den USA erschien. Er lehrt außerdem an der belarussischen Exil-Universität EHU in Litauen.


Sonnenstadt der Träume Breite Boulevards, wuchtige Gebäude im Zuckerbäckerstil und Straßen im Schachbrettmuster: Die Sowjets verwirklichten in Minsk ihre architektonischen Träume. Fotoessay von Artur Klinau  Text: Carmen Eller


Sonnenstadt der Träume Breite Boulevards, wuchtige Gebäude im Zuckerbäckerstil und Straßen im Schachbrettmuster: Die Sowjets verwirklichten in Minsk ihre architektonischen Träume. Fotoessay von Artur Klinau  Text: Carmen Eller


88

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Der kobaltblaue Himmel über dem Palast der Republik (Fotomontage)

Artur Klinau beherrscht ein unglaubliches Kunststück. Er führt durch einen Ort, den es gar nicht gibt: Minsk, die Sonnenstadt der Träume. So heißt auch sein Buch, in dem er der sozialistischen Utopie von der idealen Stadt ein literarisches Denkmal setzt. In Worten und Bildern beschreibt der 1965 in Minsk geborene Künstler und Architekt eine Stadt der Lichter und Schatten, zerstört und wiederaufgebaut von den Sowjets, gedacht als Raum der Glückseligkeit. Hinein in die Sonnenstadt geht es über den Torplatz. Der Hauptbahnhof dort erinnert Klinau an „eine gigantische Krake“. Dann führt er zum Leninplatz, auf dem, wie er schreibt, eine ganze Kleinstadt errichtet werden könnte. Er zeigt auf den Regierungspalast, dessen Fenster an „hunderte rechteckige Augen“ denken lassen, Symbol einer Macht, die alles über dich weiß.

Schon als Kind baute der spätere Architekt Spielzeugstädte, besiedelte sie mit Plüschbären und Plastikhasen. Die Besucher sehen ihm beim beliebtesten Spiel der Sonnenstadt über die Schulter, dem „Kinderkrieg mit den Deutschen“. Er taucht ab in das Minsk der Toten, erzählt von unzähligen Friedhöfen. Von Schädeln aus Kriegszeiten, die sich um seinen Häuserblock herum sammeln. Kinder buddeln sie aus Baugruben. Einen Schädel nimmt der junge Kunststudent für eine anatomische Zeichnung mit nach Hause, später schreibt er: „In der Stadt herrschte kein Mangel an echten Totenköpfen zum Studium der Architektur der Gaumenhöhle.“

89


88

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Der kobaltblaue Himmel über dem Palast der Republik (Fotomontage)

Artur Klinau beherrscht ein unglaubliches Kunststück. Er führt durch einen Ort, den es gar nicht gibt: Minsk, die Sonnenstadt der Träume. So heißt auch sein Buch, in dem er der sozialistischen Utopie von der idealen Stadt ein literarisches Denkmal setzt. In Worten und Bildern beschreibt der 1965 in Minsk geborene Künstler und Architekt eine Stadt der Lichter und Schatten, zerstört und wiederaufgebaut von den Sowjets, gedacht als Raum der Glückseligkeit. Hinein in die Sonnenstadt geht es über den Torplatz. Der Hauptbahnhof dort erinnert Klinau an „eine gigantische Krake“. Dann führt er zum Leninplatz, auf dem, wie er schreibt, eine ganze Kleinstadt errichtet werden könnte. Er zeigt auf den Regierungspalast, dessen Fenster an „hunderte rechteckige Augen“ denken lassen, Symbol einer Macht, die alles über dich weiß.

Schon als Kind baute der spätere Architekt Spielzeugstädte, besiedelte sie mit Plüschbären und Plastikhasen. Die Besucher sehen ihm beim beliebtesten Spiel der Sonnenstadt über die Schulter, dem „Kinderkrieg mit den Deutschen“. Er taucht ab in das Minsk der Toten, erzählt von unzähligen Friedhöfen. Von Schädeln aus Kriegszeiten, die sich um seinen Häuserblock herum sammeln. Kinder buddeln sie aus Baugruben. Einen Schädel nimmt der junge Kunststudent für eine anatomische Zeichnung mit nach Hause, später schreibt er: „In der Stadt herrschte kein Mangel an echten Totenköpfen zum Studium der Architektur der Gaumenhöhle.“

89


90

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

91

Hinter den Fassaden: armselige Hinterhöfe, in denen sich Kinder, Säufer und Flaschensammler tummeln


90

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

91

Hinter den Fassaden: armselige Hinterhöfe, in denen sich Kinder, Säufer und Flaschensammler tummeln


92

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Leerer Oktoberplatz vor dem Palast der Republik

Klinaus Minsk ist aber nicht nur eine Nekropolis, sondern auch die Stadt der Paläste. Er nennt sie „riesige Biskuittorten, die von der bereits sengenden Morgensonne gebacken wurden“. Meilensteine einer Kulissenstadt. Denn auf der Rückseite der Fassaden gibt es nur armselige Hinterhöfe, in denen sich je nach Tageszeit Kinder, Säufer und Flaschensammler tummeln. Klinaus Minsk, das sind aber auch Geschichten vom tot geglaubten Vater, der eines Tages betrunken ins Zimmer seines Sohnes stürzt. Es ist eine Stadt von Licht und Schatten, die Klinau als Fotograf meisterlich in Szene setzt.

Der mächtige Offizierspalast

„Als Kind erschreckten mich die riesigen freien Flächen der Sonnenstadt“, schreibt Klinau. „Du spürst, dass dein Körper eine vernachlässigbare Größe ist.“ Ab und an, „wenn die Sonne, die Wolken und die Fläche, auf der du stehst, in eine gerade Linie geraten, gleitet ein riesiger Schatten über den Platz“. Nirgendwo, sagt Klinau, habe er solche Schatten gesehen wie in der Sonnenstadt. Europäische Städte seien dafür „zu klein, zu vollgestellt“. Fasziniert ist Klinau auch vom kobaltblauen Himmel über Minsk, aus dem die Sonne gnadenlos auf die Menschen hinunterbrennt. Gleichwohl bleibt die Sonnenstadt des Glücks eine Utopie, und in Klinaus Fotografien spürt man die Spannung zwischen der erbauten und der erträumten Stadt. „Die Utopie kann nicht Realität werden“, schreibt der Künstler, „die Illusion, die Utopie zu verwirklichen, hingegen schon.“

93


92

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Leerer Oktoberplatz vor dem Palast der Republik

Klinaus Minsk ist aber nicht nur eine Nekropolis, sondern auch die Stadt der Paläste. Er nennt sie „riesige Biskuittorten, die von der bereits sengenden Morgensonne gebacken wurden“. Meilensteine einer Kulissenstadt. Denn auf der Rückseite der Fassaden gibt es nur armselige Hinterhöfe, in denen sich je nach Tageszeit Kinder, Säufer und Flaschensammler tummeln. Klinaus Minsk, das sind aber auch Geschichten vom tot geglaubten Vater, der eines Tages betrunken ins Zimmer seines Sohnes stürzt. Es ist eine Stadt von Licht und Schatten, die Klinau als Fotograf meisterlich in Szene setzt.

Der mächtige Offizierspalast

„Als Kind erschreckten mich die riesigen freien Flächen der Sonnenstadt“, schreibt Klinau. „Du spürst, dass dein Körper eine vernachlässigbare Größe ist.“ Ab und an, „wenn die Sonne, die Wolken und die Fläche, auf der du stehst, in eine gerade Linie geraten, gleitet ein riesiger Schatten über den Platz“. Nirgendwo, sagt Klinau, habe er solche Schatten gesehen wie in der Sonnenstadt. Europäische Städte seien dafür „zu klein, zu vollgestellt“. Fasziniert ist Klinau auch vom kobaltblauen Himmel über Minsk, aus dem die Sonne gnadenlos auf die Menschen hinunterbrennt. Gleichwohl bleibt die Sonnenstadt des Glücks eine Utopie, und in Klinaus Fotografien spürt man die Spannung zwischen der erbauten und der erträumten Stadt. „Die Utopie kann nicht Realität werden“, schreibt der Künstler, „die Illusion, die Utopie zu verwirklichen, hingegen schon.“

93


94

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

95

Blick über die Dächer zum Bahnhofsplatz mit seinen beiden Türmen


94

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

95

Blick über die Dächer zum Bahnhofsplatz mit seinen beiden Türmen


96

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Die alte Universität in der Nähe des Bahnhofs

97

Blick von einem der Türme des „Tors von Minsk“

Bilder aus Artur Klinau: „Горад Сонца, ein visuelles Gedicht in drei Teilen“, Minsk 2009. Textpassagen zitiert nach: „Minsk, Sonnenstadt der Träume“, bei Suhrkamp 2006. Artur Klinau, geboren 1965, ist Architekt, Schriftsteller und Herausgeber des einzigen Magazins für zeitgenössische Kunst in Belarus „pARTisan“. Er lebt in Minsk. Carmen Eller, geboren 1976, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet als freie Redakteurin und Autorin, u.a. für „Zeit Online“, „Spiegel Geschichte“ und „Kulturaustausch“. Zuvor schrieb sie aus Moskau.


96

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Die alte Universität in der Nähe des Bahnhofs

97

Blick von einem der Türme des „Tors von Minsk“

Bilder aus Artur Klinau: „Горад Сонца, ein visuelles Gedicht in drei Teilen“, Minsk 2009. Textpassagen zitiert nach: „Minsk, Sonnenstadt der Träume“, bei Suhrkamp 2006. Artur Klinau, geboren 1965, ist Architekt, Schriftsteller und Herausgeber des einzigen Magazins für zeitgenössische Kunst in Belarus „pARTisan“. Er lebt in Minsk. Carmen Eller, geboren 1976, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet als freie Redakteurin und Autorin, u.a. für „Zeit Online“, „Spiegel Geschichte“ und „Kulturaustausch“. Zuvor schrieb sie aus Moskau.


98

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

99

Wenig Gage, viel Inspiration

Schere im Kopf, Kartoffeln auf der Bühne Das Minsker Korniag-Theater hat weder Geld noch einen festen Spielort. Junge Schauspieler träumen trotzdem davon, hier aufzutreten. Denn hier können sie sich weiterentwickeln und experimentieren. Text: Carmen Eller  Foto: Elena Zhukova Lazonga

Wital Krauczenka legt die DVD ins Laufwerk und drückt auf Play. Das Spiel beginnt: Auf einer dunklen Bühne schälen vier Schauspieler Kartoffeln. Gebückt kauern sie auf roten Stühlen. Über ihnen auf einem Hochsitz thront eine Gestalt mit grünen Lippen, die ohne Worte zu sprechen beginnt. Nur Laute schreit sie heraus, ihre Stimme klirrt wie zersplitterndes Glas. Die Frauen und Männer, die eben noch Kartoffeln geschält haben, versam-

meln sich ehrfürchtig unter dem Hochsitz. „Amtsantritt“ nennt sich diese Szene im Schauspiel Nr. 7. Krauczenka stoppt die Aufnahme aus dem Republikanischen Theater für belarussische Dramaturgie, an dem das Stück drei Gastspiele hatte. Auf die Beine gestellt hat es das Minsker KorniagTheater. Der 27-jährige Krauczenka ist einer der Schauspieler. Mal fällt er auf der Bühne vom Stuhl, mal schlägt er sich die Hand vor

Das Korniag-Theater ist so etwas wie ein kleines Wunder in der belarussischen Kulturszene. Es hat keinen festen Spielort, kein festes Ensemble, keine finanzielle Basis und bewegt sich doch. Von einer Bühne zur anderen. Im November wurde das Schauspiel Nr. 7 zum ersten Mal in Deutschland gezeigt – beim internationalen Theater- und Musikfestival JULA in München. Fragt man Korniag nach Sponsoren, schüttelt er den Kopf und sagt: „In Belarus ist das nicht angebracht und sogar verboten.“ Für die Proben am Theater kann das Theater den Schauspielern keine Gagen zahlen. Nur für die Aufführung gab es pro Kopf umgerechnet 17 Euro. Trotzdem träumen junge Schauspieler davon, mit Korniag zu arbeiten. Auch Krauczenka musste nicht überlegen, als Korniag ihm eine Rolle anbot. „Was Jewgeni für Belarus macht, ist einzigartig“, sagt der Schauspieler. „Das Korniag-Theater ist ein Ort für Menschen, die experimentierfreudig sind und sich beruflich weiterentwickeln wollen.“ Dann geht Krauczenka noch einmal zum Laptop, spult die DVD vor und drückt wieder auf Play. „Seid ihr glücklich?“, ruft jetzt eine junge Frau auf Englisch ins Mikrofon. Zuvor hatte sie mit den anderen Schauspielern noch Kartoffeln geschält. „Seid ihr glücklich?“, wiederholt sie einen Tick strenger, als keine Antwort kommt. Leises Kichern im Publikum. Der Mensch auf dem Hochsitz schweigt. „Ihr seid glücklich!“, ruft sie dann. „Ich bin glücklich! Wir sind glücklich“, deklamiert sie mechanisch wie eine aufgezogene Sprechpuppe. Bis sie schließlich mit einem Aufschrei von der Bühne flüchtet. Später tritt auch Krauczenka als Bühnenfigur vor dieses Mikrofon. Aber es kommen ihm keine Worte über die Lippen. Er schaut nur ins Publikum und schweigt.

Glück und leere Transparente den Mund oder geht im Kreis herum. „Wir sprechen in unserem Metier nicht mit Sprache, sondern mit dem Körper“, sagt er, „aber das Interessante bei diesem Theater besteht darin, dass die Körpersprache nicht ohne die innere Stimme funktioniert.“ Gründer und Regisseur des Bewegungstheaters aus Belarus ist Jewgeni Korniag, ein junger Mann mit dunklen Haaren. „Für das Schauspiel Nr. 7 musste ich zwei Versionen entwickeln“, erzählt er. „Die eine habe ich im Kopf, wenn ich an der Inszenierung arbeite, die andere wird nach außen kommuniziert.“ Bezüge zwischen seinen Aufführungen und der politischen Realität in Belarus stellt Korniag öffentlich nicht her. Wenn einheimische Journalisten etwa wissen wollen, wer der schreiende Mensch auf dem Hochsitz sei, sagt Korniag: „Er verkörpert das Schicksal.“ Die vagen Aussagen sind eine Vorsichtsmaßnahme. Mit einer Gefängnisstrafe wegen missliebiger Aufführungen müsse er nicht rechnen, „aber das Stück könnte verboten werden“. Ohnehin sei es nicht notwendig, viel zu erklären. „Die Zuschauer können sich ihren Teil denken.“

„Früher habe ich an einer staatlichen Bühne gearbeitet“, erzählt Krauczenka später. Für den jungen Belarussen eine ernüchternde Erfahrung: „Es ist ja in Ordnung, Stücke aus dem 18. und 19. Jahrhundert aufzuführen. Aber dies in einer Art und Weise zu tun, wie es im 18. oder 19. Jahrhundert üblich war, das ist ein Verbrechen.“ Er kündigte. Am Korniag-Theater schätzt er die Aktualität und Professionalität der Arbeit. Sein Geld jedoch verdient er heute vor allem mit Puppentheater. Gegen Ende des Schauspiels Nr. 7 demonstrieren die Bühnenfiguren mit leeren, weißen Transparenten. Zögerlich halten sie diese in die Höhe und lassen sie dann doch wieder sinken. Auch für diese Szene hat Korniag eine offizielle Interpretation parat. „Es geht hier nicht um uns Belarussen“, würde er sagen, „es geht um Koreaner.“ Schere im Kopf, Kartoffeln auf der Bühne – es klingt hart, aber weder der Schauspieler noch der Regisseur wirken hoffnungslos. „In meinen Stücken gibt es auch viele Schwangere“, sagt Korniag. „Ich habe immer das Gefühl, dass etwas Neues auf die Welt kommen wird.“


98

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

99

Wenig Gage, viel Inspiration

Schere im Kopf, Kartoffeln auf der Bühne Das Minsker Korniag-Theater hat weder Geld noch einen festen Spielort. Junge Schauspieler träumen trotzdem davon, hier aufzutreten. Denn hier können sie sich weiterentwickeln und experimentieren. Text: Carmen Eller  Foto: Elena Zhukova Lazonga

Wital Krauczenka legt die DVD ins Laufwerk und drückt auf Play. Das Spiel beginnt: Auf einer dunklen Bühne schälen vier Schauspieler Kartoffeln. Gebückt kauern sie auf roten Stühlen. Über ihnen auf einem Hochsitz thront eine Gestalt mit grünen Lippen, die ohne Worte zu sprechen beginnt. Nur Laute schreit sie heraus, ihre Stimme klirrt wie zersplitterndes Glas. Die Frauen und Männer, die eben noch Kartoffeln geschält haben, versam-

meln sich ehrfürchtig unter dem Hochsitz. „Amtsantritt“ nennt sich diese Szene im Schauspiel Nr. 7. Krauczenka stoppt die Aufnahme aus dem Republikanischen Theater für belarussische Dramaturgie, an dem das Stück drei Gastspiele hatte. Auf die Beine gestellt hat es das Minsker KorniagTheater. Der 27-jährige Krauczenka ist einer der Schauspieler. Mal fällt er auf der Bühne vom Stuhl, mal schlägt er sich die Hand vor

Das Korniag-Theater ist so etwas wie ein kleines Wunder in der belarussischen Kulturszene. Es hat keinen festen Spielort, kein festes Ensemble, keine finanzielle Basis und bewegt sich doch. Von einer Bühne zur anderen. Im November wurde das Schauspiel Nr. 7 zum ersten Mal in Deutschland gezeigt – beim internationalen Theater- und Musikfestival JULA in München. Fragt man Korniag nach Sponsoren, schüttelt er den Kopf und sagt: „In Belarus ist das nicht angebracht und sogar verboten.“ Für die Proben am Theater kann das Theater den Schauspielern keine Gagen zahlen. Nur für die Aufführung gab es pro Kopf umgerechnet 17 Euro. Trotzdem träumen junge Schauspieler davon, mit Korniag zu arbeiten. Auch Krauczenka musste nicht überlegen, als Korniag ihm eine Rolle anbot. „Was Jewgeni für Belarus macht, ist einzigartig“, sagt der Schauspieler. „Das Korniag-Theater ist ein Ort für Menschen, die experimentierfreudig sind und sich beruflich weiterentwickeln wollen.“ Dann geht Krauczenka noch einmal zum Laptop, spult die DVD vor und drückt wieder auf Play. „Seid ihr glücklich?“, ruft jetzt eine junge Frau auf Englisch ins Mikrofon. Zuvor hatte sie mit den anderen Schauspielern noch Kartoffeln geschält. „Seid ihr glücklich?“, wiederholt sie einen Tick strenger, als keine Antwort kommt. Leises Kichern im Publikum. Der Mensch auf dem Hochsitz schweigt. „Ihr seid glücklich!“, ruft sie dann. „Ich bin glücklich! Wir sind glücklich“, deklamiert sie mechanisch wie eine aufgezogene Sprechpuppe. Bis sie schließlich mit einem Aufschrei von der Bühne flüchtet. Später tritt auch Krauczenka als Bühnenfigur vor dieses Mikrofon. Aber es kommen ihm keine Worte über die Lippen. Er schaut nur ins Publikum und schweigt.

Glück und leere Transparente den Mund oder geht im Kreis herum. „Wir sprechen in unserem Metier nicht mit Sprache, sondern mit dem Körper“, sagt er, „aber das Interessante bei diesem Theater besteht darin, dass die Körpersprache nicht ohne die innere Stimme funktioniert.“ Gründer und Regisseur des Bewegungstheaters aus Belarus ist Jewgeni Korniag, ein junger Mann mit dunklen Haaren. „Für das Schauspiel Nr. 7 musste ich zwei Versionen entwickeln“, erzählt er. „Die eine habe ich im Kopf, wenn ich an der Inszenierung arbeite, die andere wird nach außen kommuniziert.“ Bezüge zwischen seinen Aufführungen und der politischen Realität in Belarus stellt Korniag öffentlich nicht her. Wenn einheimische Journalisten etwa wissen wollen, wer der schreiende Mensch auf dem Hochsitz sei, sagt Korniag: „Er verkörpert das Schicksal.“ Die vagen Aussagen sind eine Vorsichtsmaßnahme. Mit einer Gefängnisstrafe wegen missliebiger Aufführungen müsse er nicht rechnen, „aber das Stück könnte verboten werden“. Ohnehin sei es nicht notwendig, viel zu erklären. „Die Zuschauer können sich ihren Teil denken.“

„Früher habe ich an einer staatlichen Bühne gearbeitet“, erzählt Krauczenka später. Für den jungen Belarussen eine ernüchternde Erfahrung: „Es ist ja in Ordnung, Stücke aus dem 18. und 19. Jahrhundert aufzuführen. Aber dies in einer Art und Weise zu tun, wie es im 18. oder 19. Jahrhundert üblich war, das ist ein Verbrechen.“ Er kündigte. Am Korniag-Theater schätzt er die Aktualität und Professionalität der Arbeit. Sein Geld jedoch verdient er heute vor allem mit Puppentheater. Gegen Ende des Schauspiels Nr. 7 demonstrieren die Bühnenfiguren mit leeren, weißen Transparenten. Zögerlich halten sie diese in die Höhe und lassen sie dann doch wieder sinken. Auch für diese Szene hat Korniag eine offizielle Interpretation parat. „Es geht hier nicht um uns Belarussen“, würde er sagen, „es geht um Koreaner.“ Schere im Kopf, Kartoffeln auf der Bühne – es klingt hart, aber weder der Schauspieler noch der Regisseur wirken hoffnungslos. „In meinen Stücken gibt es auch viele Schwangere“, sagt Korniag. „Ich habe immer das Gefühl, dass etwas Neues auf die Welt kommen wird.“


Belarus  KULTUR

Von der Freiheit singen und bleiben Ljawon Wolski, Ikone der belarussischen Rockmusik Über den Musiker Ljawon Wolski gibt es viel zu erzählen, doch er selbst spricht am liebsten über seinen Papagei. Der heißt Richard – Wolski legt Wert auf die französische Aussprache des Namens – und ist der beste Freund der Familie. „Er mag es, wenn wir alle zusammen sind, beschützt uns, bringt uns zum Lachen“, sagt Wolski. Dann verzieht sich sein breites Jungengesicht zu einem Grinsen. „Außerdem kann er sagen: Es lebe Belarus!“ Diesen Slogan riefen auch tausende Demonstranten, die im Winter 2010 gegen das Regime demonstrierten. Ljawon Wolski ist nicht so laut wie sein Papagei. Mit schüchternen Bewegungen streicht er sein Haar immer wieder aus den Augen. Er ist einer, der lange zögert, bevor er seine Gedanken formuliert. Oft geht es dabei um Hoffnung, Vergeben und Liebe. Mit seinen Liedtexten lehrt er die Staatsführung das Fürchten. „In vielen meiner Lieder geht es darum, dass ich aus Belarus komme und auch hier bleibe“, sagt der 46-Jährige. Im Moment steht er wieder einmal – zum zweiten Mal in seiner Karriere – auf einer schwarzen Liste. Die kursiert im Internet und benennt die Musiker, die nicht mehr in großen Hallen auftreten dürfen und deren Stücke nicht mehr gespielt werden sollen. Niemand kann sagen, woher diese Liste kommt, aber viele glauben, dass Lukaschenko persönlich dahintersteckt. Wolski, der schon zur Zeit der Orangenen Revolution auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew bei Eiseskälte vor 500.000 Menschen von der Freiheit sang, muss sein Land manchmal wie ein Gefängnis empfinden. Den Gedanken an einen Ausbruch weist er trotzdem von sich. „Ich fühle mich verantwortlich für diejenigen, die mit meinen Liedern aufgewachsen sind. Meine Auswanderung wäre für sie ein Signal, dass das Land verloren ist.“ Wann würde jemand wie Ljawon Wolski sein Land aufgeben? „Wenn bei uns Panzer auf den Straßen führen.“ Text: Diana Laarz  Foto: Masha Stahlberg

101


Belarus  KULTUR

Von der Freiheit singen und bleiben Ljawon Wolski, Ikone der belarussischen Rockmusik Über den Musiker Ljawon Wolski gibt es viel zu erzählen, doch er selbst spricht am liebsten über seinen Papagei. Der heißt Richard – Wolski legt Wert auf die französische Aussprache des Namens – und ist der beste Freund der Familie. „Er mag es, wenn wir alle zusammen sind, beschützt uns, bringt uns zum Lachen“, sagt Wolski. Dann verzieht sich sein breites Jungengesicht zu einem Grinsen. „Außerdem kann er sagen: Es lebe Belarus!“ Diesen Slogan riefen auch tausende Demonstranten, die im Winter 2010 gegen das Regime demonstrierten. Ljawon Wolski ist nicht so laut wie sein Papagei. Mit schüchternen Bewegungen streicht er sein Haar immer wieder aus den Augen. Er ist einer, der lange zögert, bevor er seine Gedanken formuliert. Oft geht es dabei um Hoffnung, Vergeben und Liebe. Mit seinen Liedtexten lehrt er die Staatsführung das Fürchten. „In vielen meiner Lieder geht es darum, dass ich aus Belarus komme und auch hier bleibe“, sagt der 46-Jährige. Im Moment steht er wieder einmal – zum zweiten Mal in seiner Karriere – auf einer schwarzen Liste. Die kursiert im Internet und benennt die Musiker, die nicht mehr in großen Hallen auftreten dürfen und deren Stücke nicht mehr gespielt werden sollen. Niemand kann sagen, woher diese Liste kommt, aber viele glauben, dass Lukaschenko persönlich dahintersteckt. Wolski, der schon zur Zeit der Orangenen Revolution auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew bei Eiseskälte vor 500.000 Menschen von der Freiheit sang, muss sein Land manchmal wie ein Gefängnis empfinden. Den Gedanken an einen Ausbruch weist er trotzdem von sich. „Ich fühle mich verantwortlich für diejenigen, die mit meinen Liedern aufgewachsen sind. Meine Auswanderung wäre für sie ein Signal, dass das Land verloren ist.“ Wann würde jemand wie Ljawon Wolski sein Land aufgeben? „Wenn bei uns Panzer auf den Straßen führen.“ Text: Diana Laarz  Foto: Masha Stahlberg

101


Der Himmel von Minsk über Berlin Ob ihre Kunst politisch sein soll, darüber scheiden sich die Geister. Einig sind sie sich aber darin, dass sie sich von den Staatsideologen in Minsk nichts vorschreiben lassen wollen: Atelierbesuche bei vier belarussischen Künstlern im Berliner Exil. Fotos: Constanze Flamme  Text: Jutta Blume


Der Himmel von Minsk über Berlin Ob ihre Kunst politisch sein soll, darüber scheiden sich die Geister. Einig sind sie sich aber darin, dass sie sich von den Staatsideologen in Minsk nichts vorschreiben lassen wollen: Atelierbesuche bei vier belarussischen Künstlern im Berliner Exil. Fotos: Constanze Flamme  Text: Jutta Blume


104

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

„Politik ist Politik, Kunst ist Kunst“, sagt Igor Kaschkurjewitsch heute. Doch in den 1980er und 1990er Jahren war er einer der wichtigsten oppositionellen Künstler in Belarus. In seinem Berliner Atelier schaut den Besucher ein kleines Volk von Steingesichtern an. Manche blicken aufmerksam, andere senken verträumt die Lider. Kaschkurjewitsch sucht die Findlinge selbst auf den Feldern und bearbeitet sie. Nicht jeder Stein erzählt etwas, meint er. Aber diejenigen, die etwas erzählen, strahlen eine tiefe Ruhe aus. Während seines Studiums an der Minsker Kunstakademie war schon der Stil seiner Skulpturen eine politische Provokation.

105


104

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

„Politik ist Politik, Kunst ist Kunst“, sagt Igor Kaschkurjewitsch heute. Doch in den 1980er und 1990er Jahren war er einer der wichtigsten oppositionellen Künstler in Belarus. In seinem Berliner Atelier schaut den Besucher ein kleines Volk von Steingesichtern an. Manche blicken aufmerksam, andere senken verträumt die Lider. Kaschkurjewitsch sucht die Findlinge selbst auf den Feldern und bearbeitet sie. Nicht jeder Stein erzählt etwas, meint er. Aber diejenigen, die etwas erzählen, strahlen eine tiefe Ruhe aus. Während seines Studiums an der Minsker Kunstakademie war schon der Stil seiner Skulpturen eine politische Provokation.

105


106

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

„Belarus ist Stille. Man darf nicht mal mehr auf der Straße in die Hände klatschen.“ Der Fotograf und Videokünstler Andrej Loginow fährt inzwischen selten nach Minsk, wo seine Mutter noch lebt. Er sagt zwar, als Künstler keinen Einfluss auf Politik und Leben in seiner alten Heimat zu haben, doch seine Fotos erzählen etwas anderes. Die Serie „New Heroes“ zeigt Porträts von Minsker Obdachlosen vor strahlend blauem Himmel. „Sie schauen alle nach links, also positiv in die Zukunft“, erklärt Loginow die ironische Anspielung auf die heroische Bildsprache des Sozialistischen Realismus. (siehe Foto Seite 102/103)

Die großformatigen Gemälde von Alexander Rodin füllen ein ganzes Stockwerk im Berliner Kunsthaus Tacheles. Während er malt, wandeln Touristen durch sein Atelier und er signiert zwischendurch bereitwillig Drucke seiner Bilder. Rodin genießt die offene Atmosphäre und das Interesse an seiner Kunst. „Es gibt keinen vergleichbaren Ort“, schwärmt er. „In meinem Land denken die Leute mehr über materielle Dinge nach, wie es sich am besten überleben lässt.“ Zu Sowjetzeiten malte er sprichwörtlich im Untergrund, in einem fensterlosen Luftschutzbunker. Parallel arbeitete er in einer Fabrik, denn wer nicht arbeitete, kam ins Gefängnis.

107


106

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

„Belarus ist Stille. Man darf nicht mal mehr auf der Straße in die Hände klatschen.“ Der Fotograf und Videokünstler Andrej Loginow fährt inzwischen selten nach Minsk, wo seine Mutter noch lebt. Er sagt zwar, als Künstler keinen Einfluss auf Politik und Leben in seiner alten Heimat zu haben, doch seine Fotos erzählen etwas anderes. Die Serie „New Heroes“ zeigt Porträts von Minsker Obdachlosen vor strahlend blauem Himmel. „Sie schauen alle nach links, also positiv in die Zukunft“, erklärt Loginow die ironische Anspielung auf die heroische Bildsprache des Sozialistischen Realismus. (siehe Foto Seite 102/103)

Die großformatigen Gemälde von Alexander Rodin füllen ein ganzes Stockwerk im Berliner Kunsthaus Tacheles. Während er malt, wandeln Touristen durch sein Atelier und er signiert zwischendurch bereitwillig Drucke seiner Bilder. Rodin genießt die offene Atmosphäre und das Interesse an seiner Kunst. „Es gibt keinen vergleichbaren Ort“, schwärmt er. „In meinem Land denken die Leute mehr über materielle Dinge nach, wie es sich am besten überleben lässt.“ Zu Sowjetzeiten malte er sprichwörtlich im Untergrund, in einem fensterlosen Luftschutzbunker. Parallel arbeitete er in einer Fabrik, denn wer nicht arbeitete, kam ins Gefängnis.

107


108

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Marina Naprushkina engagiert sich mit ihrem Berliner „Büro für Antipropaganda“ gegen das Regime von Alexander Lukaschenko. So lief sie etwa mit einem Porträt des Präsidenten unter dem Arm durch Minsk und beobachtete die Reaktionen der Passanten, sie karikierte Propaganda-Plakate und kritisierte die unfreien Präsidentschaftswahlen 2010 in einem Comic. „Mit der Kunst außerhalb der Politik zu bleiben, ist quasi unmöglich“, findet sie. Seit den Wahlen im vergangenen Dezember und der darauffolgenden Repressionswelle hat sie zwar Angst, nach Belarus zu fahren, doch sie glaubt fest an Veränderung durch Aktion.

109

Comic von Marina Naprushkina ► Seite 56

Constanze Flamme, geboren 1981, ist n-ost-Mitglied und arbeitet als freie Fotografin mit Schwerpunkt Porträt und Dokumentationen zu Gesellschaft und Umwelt. Jutta Blume, geboren 1972, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet als freie Autorin u.a. für die „WochenZeitung“, „fluter.de“ und „Neues Deutschland“.


108

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Marina Naprushkina engagiert sich mit ihrem Berliner „Büro für Antipropaganda“ gegen das Regime von Alexander Lukaschenko. So lief sie etwa mit einem Porträt des Präsidenten unter dem Arm durch Minsk und beobachtete die Reaktionen der Passanten, sie karikierte Propaganda-Plakate und kritisierte die unfreien Präsidentschaftswahlen 2010 in einem Comic. „Mit der Kunst außerhalb der Politik zu bleiben, ist quasi unmöglich“, findet sie. Seit den Wahlen im vergangenen Dezember und der darauffolgenden Repressionswelle hat sie zwar Angst, nach Belarus zu fahren, doch sie glaubt fest an Veränderung durch Aktion.

109

Comic von Marina Naprushkina ► Seite 56

Constanze Flamme, geboren 1981, ist n-ost-Mitglied und arbeitet als freie Fotografin mit Schwerpunkt Porträt und Dokumentationen zu Gesellschaft und Umwelt. Jutta Blume, geboren 1972, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet als freie Autorin u.a. für die „WochenZeitung“, „fluter.de“ und „Neues Deutschland“.


110

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Lasst uns nicht im Stich! Der Europäischen Union mangelt es an Interesse und an Strategien für den Umgang mit dem autoritären Nachbarn Belarus. Damit schadet sie weniger dem Regime Lukaschenko als dem Volk. Ein Appell von Maryna Rakhlei

Belarus ist kein Mitglied des Europarates und hat auch nie einen Beitritt zur Europäischen Union in Erwägung gezogen. Dagegen gibt es eine Menge integrativer Projekte mit seinem östlichen Nachbarland Russland: die Russisch-Belarussische Union etwa oder die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft. Sobald ein Projekt scheiterte oder stagnierte, kam ein anderes. Das neueste Vorhaben des Kreml ist die Eurasische Wirtschaftsunion von Russland, Belarus und Kasachstan. Während Russland also vor Ideen sprüht, um das Nachbarland an sich zu binden, hat die EU bislang keine Strategie für den Sonderfall Belarus entwickelt. Sie reagiert bestenfalls auf die Ereignisse im Land, ohne selbst Initiative zu ergreifen. Das vereinigte Europa glaubt, alle Mittel ausprobiert und eingesetzt zu haben. Wegen Menschenrechtsverletzungen in Belarus wurden die bilateralen Beziehungen seit 1996 allmählich kalt und kälter, bis schließlich die Eiszeit ausbrach. Etwa hundert Beamte und Präsident Lukaschenko standen zwischenzeitlich auf der schwarzen Liste und durften nicht in die EU einreisen, ihre Konten in EU-Ländern waren gesperrt.

Sanktionen ohne Wirkung Wesentliche Wirkung haben die Sanktionen aber nie gezeigt. Sobald 2008 auf westlichen Druck hin alle damaligen politischen Gefangenen freigelassen wurden, begann das Tauwetter – der sogenannte „Dialog über den Dialog“. 2009 wurde Belarus zusammen mit Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau und der Ukraine in die Östliche Partnerschaft aufgenommen, das EU-Programm für wirtschaftliche Anbindung und politische Annäherung mit seinen östlichen Nachbarn. Vor den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 reisten sogar einige westliche Politiker nach Minsk, unter ihnen auch der deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Diese Zuckerbrot-Strategie versagte sehr spektakulär: Nach den Präsidentschaftswahlen wurden in der Nacht zum 19. Dezember

2010 etwa 700 Menschen willkürlich festgenommen, darunter alle oppositionellen Präsidentschaftskandidaten. Viele sitzen immer noch in Haft. Seitdem herrscht wieder Eiszeit.

Russland als unsichtbarer Dritter Brüssel und Minsk haben bis heute keinen bilateralen Vertrag abgeschlossen und unterhalten keine offiziellen politischen Beziehungen. Der Belarus-Ansatz der EU läuft weiter zweispurig: Sanktionen gegen Menschenrechtsverletzungen und das Regime, Geld für die Zivilgesellschaft – also für Nicht-Regierungsorganisationen, unabhängige Medien und die Opposition. Parallel dazu schließt die EU eine strategische Partnerschaft mit dem „lupenrein demokratischen“ Russland ab und bietet den Russen sogar Visafreiheit an. Durch diese doppelten Standards fühlen wir Belarussen uns erst recht ignoriert. Russland bleibt der unsichtbare Dritte in den Beziehungen zwischen der EU und Minsk. Nicht umsonst droht Minsk mit einer Übernahme durch den Moskauer Kreml, um die verhängten Sanktionen zu mildern. Andererseits gehört die wirtschaftliche Expansion Russlands zum belarussischen Alltag: Russische Großunternehmen interessieren sich wenig dafür, wie demokratisch das belarussische Regime ist. Moskau hat es zwar nicht eilig damit, belarussische Firmen zu übernehmen, will davon aber auch nicht gänzlich absehen.

EU hat keine Strategie In der europäischen Außenpolitik dagegen gehört Belarus wohl kaum zu den Prioritäten. Davon zeugt der jüngste Vorfall mit Polen und Litauen. Die nächsten europäischen Nachbarn des Landes sind gleichzeitig die wichtigsten Partner der belarussischen Opposition. Ausgerechnet die Staatsanwaltschaften Litauens und Polens lieferten ihren belarussischen Kollegen Informationen über die Bank-

konten von 400 belarussischen Oppositionellen. Dies hat die belarussische Regierung genutzt, um den Menschenrechtler Ales Beljazki im August 2011 wegen Steuerhinterziehung zu inhaftieren und andere Oppositionelle unter Druck zu setzen. Der EU mangelt es nicht nur an Interesse an Belarus, sondern auch an Strategien im Umgang mit seinem europäischen Nachbarn. Das von den Farbrevolutionen in Ost- und Mitteleuropa sowie von der „Arabellion“ inspirierte Brüssel erwartet anscheinend, dass sich die Situation in Belarus von selbst verändert. Und zwar bald. Die EU setzt auf die prekäre Lage Lukaschenkos angesichts der Wirtschaftskrise und hofft, dass der Regierungschef gezwungen sein wird, das starre System zu liberalisieren, um westliche Kredite zu erhalten. Doch abgesehen davon, dass sie ein paar Unternehmen boykottieren, die das System unterstützen, importieren Deutschland und die Niederlande mittlerweile mehr Ölprodukte aus Belarus als noch im vergangenen Jahr, vor der Wahl.

EU soll die Bürger unterstützen Im Sommer 2011 bot Brüssel der belarussischen Regierung außerdem an, die Visaregelungen zu vereinfachen. Dazu gibt es bis heute keine Rückmeldung aus Minsk. Die EU nimmt das einfach schulterzuckend hin. Viele westlich orientierte Belarussen fühlen sich deswegen von der EU im Stich gelassen. Sie erwarten weitere Signale aus Brüssel, hoffen auf eine verantwortungsvolle Haltung der EU. Die belarussische Zivilgesellschaft zählt nämlich weiterhin auf die Unterstützung Europas. Um die belarussische Regierung zum politischen Entgegenkommen zu bewegen, muss die EU einheitlich und koordiniert handeln, klare langfristige Ziele setzen, unbürokratisch agieren. Die EU muss Ausbildungsprogramme und Universitäten für die belarussische Jugend öffnen, da Belarus langfristig plant, sich dem Bologna-Prozess anzuschließen. Die EU muss eine offene Visapolitik anbieten, Austauschprogramme für Wissenschaftler, Künstler, Experten, Beamte, Landwirte organisieren. Statt mit Lukaschenko zu sprechen, muss Brüssel die Bürger des Landes unterstützen und an sich binden. Denn nur die Despoten kommen und gehen. Das Volk bleibt. Maryna Rakhlei, geboren 1980 in Minsk, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet seit 2004 bei der belarussischen unabhängigen Informationsagentur Belapan und war dpa-Korrespondentin in Minsk.

111


110

Belarus  KULTUR

Belarus  KULTUR

Lasst uns nicht im Stich! Der Europäischen Union mangelt es an Interesse und an Strategien für den Umgang mit dem autoritären Nachbarn Belarus. Damit schadet sie weniger dem Regime Lukaschenko als dem Volk. Ein Appell von Maryna Rakhlei

Belarus ist kein Mitglied des Europarates und hat auch nie einen Beitritt zur Europäischen Union in Erwägung gezogen. Dagegen gibt es eine Menge integrativer Projekte mit seinem östlichen Nachbarland Russland: die Russisch-Belarussische Union etwa oder die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft. Sobald ein Projekt scheiterte oder stagnierte, kam ein anderes. Das neueste Vorhaben des Kreml ist die Eurasische Wirtschaftsunion von Russland, Belarus und Kasachstan. Während Russland also vor Ideen sprüht, um das Nachbarland an sich zu binden, hat die EU bislang keine Strategie für den Sonderfall Belarus entwickelt. Sie reagiert bestenfalls auf die Ereignisse im Land, ohne selbst Initiative zu ergreifen. Das vereinigte Europa glaubt, alle Mittel ausprobiert und eingesetzt zu haben. Wegen Menschenrechtsverletzungen in Belarus wurden die bilateralen Beziehungen seit 1996 allmählich kalt und kälter, bis schließlich die Eiszeit ausbrach. Etwa hundert Beamte und Präsident Lukaschenko standen zwischenzeitlich auf der schwarzen Liste und durften nicht in die EU einreisen, ihre Konten in EU-Ländern waren gesperrt.

Sanktionen ohne Wirkung Wesentliche Wirkung haben die Sanktionen aber nie gezeigt. Sobald 2008 auf westlichen Druck hin alle damaligen politischen Gefangenen freigelassen wurden, begann das Tauwetter – der sogenannte „Dialog über den Dialog“. 2009 wurde Belarus zusammen mit Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau und der Ukraine in die Östliche Partnerschaft aufgenommen, das EU-Programm für wirtschaftliche Anbindung und politische Annäherung mit seinen östlichen Nachbarn. Vor den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 reisten sogar einige westliche Politiker nach Minsk, unter ihnen auch der deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Diese Zuckerbrot-Strategie versagte sehr spektakulär: Nach den Präsidentschaftswahlen wurden in der Nacht zum 19. Dezember

2010 etwa 700 Menschen willkürlich festgenommen, darunter alle oppositionellen Präsidentschaftskandidaten. Viele sitzen immer noch in Haft. Seitdem herrscht wieder Eiszeit.

Russland als unsichtbarer Dritter Brüssel und Minsk haben bis heute keinen bilateralen Vertrag abgeschlossen und unterhalten keine offiziellen politischen Beziehungen. Der Belarus-Ansatz der EU läuft weiter zweispurig: Sanktionen gegen Menschenrechtsverletzungen und das Regime, Geld für die Zivilgesellschaft – also für Nicht-Regierungsorganisationen, unabhängige Medien und die Opposition. Parallel dazu schließt die EU eine strategische Partnerschaft mit dem „lupenrein demokratischen“ Russland ab und bietet den Russen sogar Visafreiheit an. Durch diese doppelten Standards fühlen wir Belarussen uns erst recht ignoriert. Russland bleibt der unsichtbare Dritte in den Beziehungen zwischen der EU und Minsk. Nicht umsonst droht Minsk mit einer Übernahme durch den Moskauer Kreml, um die verhängten Sanktionen zu mildern. Andererseits gehört die wirtschaftliche Expansion Russlands zum belarussischen Alltag: Russische Großunternehmen interessieren sich wenig dafür, wie demokratisch das belarussische Regime ist. Moskau hat es zwar nicht eilig damit, belarussische Firmen zu übernehmen, will davon aber auch nicht gänzlich absehen.

EU hat keine Strategie In der europäischen Außenpolitik dagegen gehört Belarus wohl kaum zu den Prioritäten. Davon zeugt der jüngste Vorfall mit Polen und Litauen. Die nächsten europäischen Nachbarn des Landes sind gleichzeitig die wichtigsten Partner der belarussischen Opposition. Ausgerechnet die Staatsanwaltschaften Litauens und Polens lieferten ihren belarussischen Kollegen Informationen über die Bank-

konten von 400 belarussischen Oppositionellen. Dies hat die belarussische Regierung genutzt, um den Menschenrechtler Ales Beljazki im August 2011 wegen Steuerhinterziehung zu inhaftieren und andere Oppositionelle unter Druck zu setzen. Der EU mangelt es nicht nur an Interesse an Belarus, sondern auch an Strategien im Umgang mit seinem europäischen Nachbarn. Das von den Farbrevolutionen in Ost- und Mitteleuropa sowie von der „Arabellion“ inspirierte Brüssel erwartet anscheinend, dass sich die Situation in Belarus von selbst verändert. Und zwar bald. Die EU setzt auf die prekäre Lage Lukaschenkos angesichts der Wirtschaftskrise und hofft, dass der Regierungschef gezwungen sein wird, das starre System zu liberalisieren, um westliche Kredite zu erhalten. Doch abgesehen davon, dass sie ein paar Unternehmen boykottieren, die das System unterstützen, importieren Deutschland und die Niederlande mittlerweile mehr Ölprodukte aus Belarus als noch im vergangenen Jahr, vor der Wahl.

EU soll die Bürger unterstützen Im Sommer 2011 bot Brüssel der belarussischen Regierung außerdem an, die Visaregelungen zu vereinfachen. Dazu gibt es bis heute keine Rückmeldung aus Minsk. Die EU nimmt das einfach schulterzuckend hin. Viele westlich orientierte Belarussen fühlen sich deswegen von der EU im Stich gelassen. Sie erwarten weitere Signale aus Brüssel, hoffen auf eine verantwortungsvolle Haltung der EU. Die belarussische Zivilgesellschaft zählt nämlich weiterhin auf die Unterstützung Europas. Um die belarussische Regierung zum politischen Entgegenkommen zu bewegen, muss die EU einheitlich und koordiniert handeln, klare langfristige Ziele setzen, unbürokratisch agieren. Die EU muss Ausbildungsprogramme und Universitäten für die belarussische Jugend öffnen, da Belarus langfristig plant, sich dem Bologna-Prozess anzuschließen. Die EU muss eine offene Visapolitik anbieten, Austauschprogramme für Wissenschaftler, Künstler, Experten, Beamte, Landwirte organisieren. Statt mit Lukaschenko zu sprechen, muss Brüssel die Bürger des Landes unterstützen und an sich binden. Denn nur die Despoten kommen und gehen. Das Volk bleibt. Maryna Rakhlei, geboren 1980 in Minsk, ist n-ost-Korrespondentin und arbeitet seit 2004 bei der belarussischen unabhängigen Informationsagentur Belapan und war dpa-Korrespondentin in Minsk.

111


112

Belarus

Belarus

113

Impressum Wir danken den Autorinnen und Autoren sowie den Fotografinnen und Fotografen, die uns ihre Texte und Fotos teilweise unentgeltlich zur Verfügung gestellt haben. Herausgeber n-ost Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung e.V. Neuenburger Straße 17 10969 Berlin n-ost@n-ost.org www.n-ost.org Redaktionsleitung: Sonja Volkmann-Schluck Textredaktion und Lektorat: Marion Bacher, Hanno Gundert, Thorsten Herdickerhoff, Tamina Kutscher, Sonja Volkmann-Schluck, Anke Zeitschel Fotoredaktion: Stefan Günther Artdirektion und Design: Anton Sokolowski Druck: print24 GmbH

Agentur für Osteuropa-Inhalte, Netzwerk für Journalisten in Ost und West, NGO für starken Auslandsjournalismus

Friedrich-List-Straße 3, 01445 Radebeul Titelbild: Andrei Liankevich

Die n-ost Medienwerkstatt 2011 in Minsk

Links

An der siebten internationalen n-ost Medienwerkstatt vom 5.–9. Oktober 2011 in Minsk nahmen mehr als 100 Journalisten aus Deutschland, Belarus, Polen, Russland und Litauen teil. In über 70 Hintergrundgesprächen, auf Exkursionen, in Diskussionen und durch die Begegnung mit ihren belarussischen Kollegen machten sich die ausländischen Journalisten ein Bild über Lage und Stimmung in dem Land.

www.kulturama.org Kulturportal aus Osteuropa

Fotografinnen und Fotografen und ihren

www.ostpol.de Osteuropa-Blog

Verlagen und n-ost.

www.legalleaks.info Informationsfreiheitsprojekt

sischen Namen richtet sich nach der Duden-

www.n-ost.org/minsk

www.eurotopics.net Europäische Presseschau

© n-ost e.V., Berlin 2012 Das Copyright für die Fotos liegt bei den

■  n -ost vernetzt rund 250 Journalisten, Fotografen, Experten und Wissenschaftler, die sich stark machen für die Berichterstattung über und die Medienfreiheit in Osteuropa. ■  n -ost versorgt täglich rund 200 Redaktionen sowie Stiftungen und politische Institutionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit differenzierter und aktueller Berichterstattung über die Region.

■  n -ost setzt sich mit alternativen Bezahlmodellen für einen fairen und starken Auslandsjournalismus ein. ■  n -ost engagiert sich für das Recht auf Informationszugang in Osteuropa, etwa durch Trainings von Journalisten und Bloggern. ■  Im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung produziert n-ost täglich die europäische Presseschau euro|topics.

■  Seit 2007 vergibt n-ost den n-ost Reportagepreis, an herausragende Reportagen aus Osteuropa – ab 2012 in den Kategorien Text, Radio und Foto/Audioslideshow. ■  Einmal jährlich bringt die internationale n-ost Medienwerkstatt ost- und westeuropäische Journalisten zu Dialog und gemeinsamer Recherche zusammen.

Agenturen. Das Copyright für die Texte liegt bei den Autorinnen und Autoren, den

Die Schreibung der russischen und belarusTranskription. In Einzelfällen haben wir uns nach den Wünschen der betreffenden Personen gerichtet und andere Schreibweisen verwendet. ISBN  978-3-943646-00-9

THINK GLOBAL. ACT LOCAL. MORE THAN 2,100 TIMES. AROUND 280,000 EMPLOYEES. MORE THAN 2,100 STORES. 33 COUNTRIES. 1 COMPANY.

28 Länder - 300 Medien - 1 Presseschau Die euro|topics-Presseschau: Der tägliche Blick in europäische Kommentare aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – in drei Sprachen. www.eurotopics.net

METRO GROUP is the world’s most international retail and wholesale company. We offer private and professional customers a wide range of products and services. Working with strong brands enables us to grow further. And enables others to grow with us. www.metrogroup.de


112

Belarus

Belarus

113

Impressum Wir danken den Autorinnen und Autoren sowie den Fotografinnen und Fotografen, die uns ihre Texte und Fotos teilweise unentgeltlich zur Verfügung gestellt haben. Herausgeber n-ost Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung e.V. Neuenburger Straße 17 10969 Berlin n-ost@n-ost.org www.n-ost.org Redaktionsleitung: Sonja Volkmann-Schluck Textredaktion und Lektorat: Marion Bacher, Hanno Gundert, Thorsten Herdickerhoff, Tamina Kutscher, Sonja Volkmann-Schluck, Anke Zeitschel Fotoredaktion: Stefan Günther Artdirektion und Design: Anton Sokolowski Druck: print24 GmbH

Agentur für Osteuropa-Inhalte, Netzwerk für Journalisten in Ost und West, NGO für starken Auslandsjournalismus

Friedrich-List-Straße 3, 01445 Radebeul Titelbild: Andrei Liankevich

Die n-ost Medienwerkstatt 2011 in Minsk

Links

An der siebten internationalen n-ost Medienwerkstatt vom 5.–9. Oktober 2011 in Minsk nahmen mehr als 100 Journalisten aus Deutschland, Belarus, Polen, Russland und Litauen teil. In über 70 Hintergrundgesprächen, auf Exkursionen, in Diskussionen und durch die Begegnung mit ihren belarussischen Kollegen machten sich die ausländischen Journalisten ein Bild über Lage und Stimmung in dem Land.

www.kulturama.org Kulturportal aus Osteuropa

Fotografinnen und Fotografen und ihren

www.ostpol.de Osteuropa-Blog

Verlagen und n-ost.

www.legalleaks.info Informationsfreiheitsprojekt

sischen Namen richtet sich nach der Duden-

www.n-ost.org/minsk

www.eurotopics.net Europäische Presseschau

© n-ost e.V., Berlin 2012 Das Copyright für die Fotos liegt bei den

■  n -ost vernetzt rund 250 Journalisten, Fotografen, Experten und Wissenschaftler, die sich stark machen für die Berichterstattung über und die Medienfreiheit in Osteuropa. ■  n -ost versorgt täglich rund 200 Redaktionen sowie Stiftungen und politische Institutionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit differenzierter und aktueller Berichterstattung über die Region.

■  n -ost setzt sich mit alternativen Bezahlmodellen für einen fairen und starken Auslandsjournalismus ein. ■  n -ost engagiert sich für das Recht auf Informationszugang in Osteuropa, etwa durch Trainings von Journalisten und Bloggern. ■  Im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung produziert n-ost täglich die europäische Presseschau euro|topics.

■  Seit 2007 vergibt n-ost den n-ost Reportagepreis, an herausragende Reportagen aus Osteuropa – ab 2012 in den Kategorien Text, Radio und Foto/Audioslideshow. ■  Einmal jährlich bringt die internationale n-ost Medienwerkstatt ost- und westeuropäische Journalisten zu Dialog und gemeinsamer Recherche zusammen.

Agenturen. Das Copyright für die Texte liegt bei den Autorinnen und Autoren, den

Die Schreibung der russischen und belarusTranskription. In Einzelfällen haben wir uns nach den Wünschen der betreffenden Personen gerichtet und andere Schreibweisen verwendet. ISBN  978-3-943646-00-9

THINK GLOBAL. ACT LOCAL. MORE THAN 2,100 TIMES. AROUND 280,000 EMPLOYEES. MORE THAN 2,100 STORES. 33 COUNTRIES. 1 COMPANY.

28 Länder - 300 Medien - 1 Presseschau Die euro|topics-Presseschau: Der tägliche Blick in europäische Kommentare aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – in drei Sprachen. www.eurotopics.net

METRO GROUP is the world’s most international retail and wholesale company. We offer private and professional customers a wide range of products and services. Working with strong brands enables us to grow further. And enables others to grow with us. www.metrogroup.de


114

Belarus

Ein interaktiver Stadtplan

Die buntesten, klingendsten und eigensinnigsten Ecken von Minsk Verrückt in Belarus

Ob mit Gitarre, Farbspraydose oder Gummiseil – junge Künstler stehen kopf Hinschauen und Zuhören

Musik fernab des Mainstream ist oft hart, verspielt und nackt Der Tristesse entfliehen

Mit welchen Spielen sich Oppositionelle die Zeit im Gefängnis vertreiben Selbstreflexion auf belarussisch

Zwei Clips über Nabelschau, Vorurteile und Superhelden

Osteuropa-Berichterstattung stärken Europa ins Gespräch bringen Journalisten in Ost und West vernetzen Pressefreiheit verankern Qualitätsjournalismus fördern Unterstützen Sie unsere Arbeit! Machen Sie durch Ihre Spende n-ost-Projekte möglich: ■  investigative Recherche ■  Trainings zu Datenschutz und Informationsfreiheitsrechten ■  Einsatz für eine faire Vergütung von Journalismus ■  Vernetzung von Journalisten aus ganz Europa n-ost-Spendenkonto: Kontonummer: 1119100900 BLZ 43060967 GLS Gemeinschaftsbank Verwendungszweck: Spende n-ost ist ein gemeinnütziger Verein. Ihre Spenden sind damit steuerlich abzugsfähig. Gerne senden wir Ihnen auf Wunsch eine Spendenbescheinigung zu. Regelmäßigen Spendern bieten wir ein Förderabo des n-ost-Artikeldienstes an. Unter spenden@n-ost.org oder 030-259 32 83-0 beantworten wir Ihre Fragen. Mehr außerdem unter: www.n-ost.org/spenden

www.34mag.net



Wir bringen den Osten Der n-ost-Artikeldienst informiert Sie täglich über den halben Kontinent zwischen Polen, dem Balkan und Zentralasien. Wir ergänzen die tägliche Berichterstattung mit authentischen und sorgfältig recherchierten Reportagen, Analysen und Interviews. Aus nächster Nähe und mit nüchterner Distanz berichten unsere Korrespondenten über Hintergründe und aktuelle Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Abonnieren Sie den n-ost-Artikeldienst. Abopreis für Privatpersonen: 30 Euro pro Jahr. Abopreis für Medien und Institutionen auf Anfrage. Mehr unter abo@n-ost.org oder 030-259 32 83-0 ISBN  978-3-943646-00-9


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.