n-ost REPORTAGE PREIS 2013
n-ost reportagepreis 2013
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n-ost Reportagepreis 2013 • VORWORT
VORWORT Das also sind sie, die Besten des Jahrgangs! Aus 117 Einreichungen haben die Juroren des n-ost-Reportagepreises 2013 die überzeugendsten Reportagen ausgewählt: Texte aus Rumänien, Russland und Nagorni Karabach. Radioreportagen über das Dubrovniker Orchester, Ungarns wechselvolle Geschichte und das Schicksal einer bosnisch-montenegrinischen Familie. Fotos, die Kriegstraumata greifbar mache und Bilder, die augenzwinkernd ukrainische Fitness-Freaks porträtieren. An alle Autoren – die Shortgelisteten, die Nominierten und die drei Preisträger – gehen unsere herzlichen Glückwünsche! Wer die Autoren und Fotografen sind und welche bemerkenswerten Geschichten sie erzählen, erfahren Sie auf den folgenden Seiten. Der n-ost-Reportagepreis zeichnet nicht nur herausragenden Print-, Radio- und Fotojournalismus aus, sondern ist zugleich auch Aufforderung und Ansporn: Ansporn für alle Autoren und Fotografen, die Augen offenzuhalten und sich in Osteuropa gerade an die Themen zu wagen, die nicht schon zigmal bearbeitet wurden. Ansporn für Redakteure und Verlage, solchen abseits liegenden Geschichten Platz und Finanzierung zu bieten. Ansporn auch für Stiftungen, die Förderung von Qualitätsjournalismus als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe zu erkennen. Und Aufforderung schließlich an die Leser, zu verinnerlichen, dass guter Journalismus etwas kostet. Auch die siebte Auflage des n-ost-Reportagepreises wurde durch das Engagement vieler Menschen und Institutionen ermöglicht: Danke deshalb an die Mitglieder der Vorjurys und Jurys für ihren Einsatz und ihr kompetentes Urteil. Danke an die Robert Bosch Stiftung und die Metro AG für die erneute großzügige Unterstützung des Preises. 2
Die Grundlage für den diesjährigen n-ost-Reportagepreis haben schließlich all die Autoren und Leser gelegt, die uns ihre Osteuropa-Reportagen zugeschickt haben. Danke fürs Mitmachen und wir freuen uns schon jetzt auf Ihre Lieblingstexte und Fundstücke 2014!
Sarah Portner, Projektleiterin
n-ost Reportagepreis 2013 • INHALT
INHALT
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TEXTREPORTAGE
RADIOREPORTAGE
FOTOREPORTAGE
06 07 08 16
22 Vorjury 23 Jury 24 Preisträgerin 28 Nominierte
35 Jury 36 Preisträger 46 Nominierte
Vorjury Jury Preisträgerin Nominierte
54 Förderer 56 Über n-ost 57 Shortlist 58 Impressum
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Textreportage 2013 Andrea Roedig Urs Mannhart Andreas Schneitter
„Macht, dass ihr rüberkommt!“ | Gazprom heizt ein | Bauland
n-ost Reportagepreis 2013 • TEXT
✍ textreportage Vorjury
Tobias Kühn Redakteur, Jüdische Allgemeine
Barbara Oertel Leitung Auslandsredaktion der taz
Monika Pater Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft, Universität Hamburg
Nina Weller Slawistin und freie Lektorin
Hubert Wolf Reporter, WAZ
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n-ost Reportagepreis 2013 • TEXT
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Fotos: privat (5), Marko Priske (1)
textreportage jury
Christian Böhme
Werner D’Inka
Henrik Kaufholz
Journalist, ehem. Chefredakteur Jüdische Allgemeine
Herausgeber Frankfurter Allgemeine Zeitung
Redakteur Politiken, Kopenhagen
Sonja Margolina
Uwe Neumärker
Horst Pöttker
Publizistin und Autorin
Direktor Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas
Professor am Institut für Journalistik, TU Dortmund
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n-ost Reportagepreis 2013 • TEXT
textreportage PREISTRÄGERIN
✍ „macht, dass ihr rüberkommt!“ Von andrea roedig Der Standard ALBUM, 04.08.2012 Was sagt uns die Geschichte einer Flucht aus dem Rumänien der Ceauşescu-Zeit – heute, fünfzig Jahre später? Viel, wenn man sie so erzählt wie Andrea Roedig. Denn jede Entscheidung vernichtet Optionen. Wer geht, kann nicht zugleich bleiben. Und wer etwas gewinnt, gibt auch etwas auf. Wann und wo auch immer Menschen ihre Heimat verlassen, freiwillig oder unter Druck, wird das so sein. Davon handelt Andrea Roedigs Reportage, geschrieben in einer klaren Sprache, die sich auf die Menschen einlässt, aber immer respektvolle Distanz wahrt. Werner D'Inka, Herausgeber Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Macht, dass ihr rüberkommt!“ und andere Reportagen und Essays von Andrea Roedig sind auch zu lesen in ihrem Buch „Über alles, was hakt. Obsessionen des Alltags“, erschienen 2013 im Klever-Verlag. 8
Foto: Alexandra Grill
Andrea Roedig Andrea Roedig (*1962) promovierte im Fach Philosophie an der Freien Universität Berlin; sie war Geschäftsführerin der „Grünen Akademie“ der Heinrich-Böll-Stiftung und leitete von 2001 bis 2006 in Berlin die Kulturredaktion der Wochenzeitung Freitag. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Wien. Als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Alltagsreportage und Kulturessay schreibt sie für österreichische, deutsche und schweizerische Tageszeitungen und Magazine wie Standard, Neue Zürcher Zeitung, Freitag, taz. Sie ist Textchefin bei der österreichischen Zeitschrift „Welt der Frau“ und euro|topics-Korrespondentin.
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„Macht, dass ihr rüberkommt!“
von Andrea Roedig
Eine Flucht aus Siebenbürgen in Rumänien Ende der 60er-Jahre erzählt die Geschichte zweier Schwestern, einer, die mitging, und einer, die verlorenging.
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E
in Radio-Feature hätte nicht daraus werden können. Direkt neben dem Mikrofon klopft Marlenes* rechte Hand auf den Tisch, immer wieder, und sie streicht über das helle Tuch, als wische sie da Frühstückskrümel weg oder als wolle sie etwas glätten, glatt ziehen eben. Marlene spricht mit dieser dunklen, warmen und gesetzten Stimme einer sehr gebildeten Person. Erfolgreich ist sie, hat Karriere gemacht, das kann man sagen. Nur die Hand ist eine konstante Unruhe, die später auf dem Tonband zu hören sein wird. Marlene erzählt den einen Teil jener Geschichte, die Stoff genug bietet für einen ganzen Roman. Es ist die politische Geschichte einer Flucht aus dem Rumänien Ceauşescus der späten 1960er Jahre, in der Marlene, die Ältere, „nicht das Privileg der Emotionalität“ hatte, wie sie sagt. Die Wut, die Verzweiflung, die Kränkung, das Aufbegehren, die Lebendigkeit des Gefühls aber auch, liegen anderswo. Denn es gibt zwei Schwestern in der Geschichte, eine, die mitging, und eine, die verloren ging. Die Eckdaten sind schnell erzählt. Die Steinbecks gehören zu den Siebenbürger Sachsen, der uralten deutschsprachigen Minderheit in Rumänien. Wir schreiben die 1960er Jahre.
*Namen geändert
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rasch nachholen. Das kann nicht länger als sechs Monate dauern, denkt sie. Der Plan geht nicht auf. Die Flucht der Steinbecks ist aktenkundig, die Kleine darf nicht mehr ausreisen. Nun sitzt die Mutter mit einer ihrer Töchter im ersehnten Deutschland fest, als hätte sie die andere willig geopfert für die Flucht. „Sie wollte zurück, ewig ging es, dass sie sagte, ‚wir müssen das Kind herausholen‘“, erzählt Marlene. Man hätte aber die Mutter bei der Rückkehr sofort verhaftet. „Was hätte das gebracht? Ich hier, Mutter im Gefängnis, Theresa drüben.“ Man konnte nichts tun. Was an Theresa auffällt, ist ihr Lachen. „Wie ein Honigkuchenpferd“, so heißt das doch, wenn ein Lachen über das ganze Gesicht geht, und Theresas Augen werden ganz klein dabei, sie werden zu schmalen Lachschlitzen über den sich rundenden Wangen. Sie war der Sonnenschein, schon immer. Ähnelt ihre Stimme der der Schwester? Man hört und sieht die Verwandtschaft, sie haben auch einen ähnlichen Beruf ergriffen, die Schwestern, beide sind erfolgreich darin. Doch Theresa ist die Jüngere, die Aufbegehrende, diejenige, die verletzt ist und verletzt sein darf, man merkt das. Man spürt ihre dünne Haut an gewissen Stellen. Und man denkt auch: Sie brauchte dieses Lachen, um zu überleben. Sie musste ja lächeln. Zu Wettkämpfen in den Westen Als Kind war sie immer viel draußen, unterMarlene, die ältere der Schwestern beginnt wegs, sie war ungebunden. Seit dem Tod des Vaters mit dem Leistungssport. Sie wird eine gute Läu- gab es nicht mehr das eine Nest für sie, sondern ferin, und als Sportkader fährt sie zu Wettkämpfen viele. Es gab die Großmutter im benachbarten Dorf auch in den Westen. Fünf Jahre nach dem Tod und ihr „Kränzchen“, „Krintzken“ so nannte man ihres Mannes gelingt es Frau Steinbeck, genau die Freundescliquen auf Siebenbürgisch. Immer für den Zeitpunkt einer der Auslandswettkämpfe spielte Theresa bis in den Abend hinein draußen in ihrer Tochter ein Besuchsvisum für Deutschland der Wohnsiedlung. Früher, wenn es dunkel wurde, zu bekommen. Sie passt die jetzt 15-jährige Mar- rief die Mutter ihren Namen laut und lang gezolene überraschend ab und bleibt mit ihr im Westen. gen über den ganzen Platz, „Thereesaaa“. Wie eine Theresa, die zurückgelassene Zehnjährige, will sie Tigermutter, die ihr Junges ruft. Es war dieser Ruf,
Die vierköpfige Familie lebt in einer Kleinstadt mitten im Siebenbürgischen Gebiet, das mit seinen sanften Hügeln, dem Wechsel von Wiesen, Wäldern und kleinen bunten Ortschaften mit Stadttor und Wehrturm dazwischen an ein idyllisches Märchenzwergenland erinnert. Die Verbundenheit der Siebenbürger Sachsen untereinander ist stark, man spricht Deutsch, geht auf deutsche Schulen, lernt Rumänisch nur als offizielle Sprache und hält eine gewisse Distanz zur rumänischen Bevölkerung. Vater Steinbeck, ein Naturwissenschaftler, arbeitet als Lehrer. Mutter Steinbeck kommt aus besseren Verhältnissen, sie sei, heißt es, als Kind mit einer Kutsche durch den Ort gefahren worden. Diese Herkunft wird ihr zum Nachteil im kommunistischen Regime, mit ihrem „schlechten Dossier“ kann sie weder studieren noch eine Arbeit finden. Im Alter von 34 Jahren stirbt der Vater Steinbeck an Krebs, da sind seine Töchter fünf und zehn Jahre alt. Er lässt sie zurück mit einer nicht sehr stabilen Mutter, die sich und die Kinder kaum alleine durchbringen kann. Der Fluchtpunkt ist der Westen. „Macht, dass ihr rüberkommt“ , hatte der Vater im Verlauf seiner Krankheit immer wieder gesagt und auch der „Familienrat“ unterstützte das Ziel. Raus hier. Die Zeit der Ostverträge hat gerade begonnen.
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der sie glücklich machte. Jedoch, dass die Mutter irgendwann verschwunden blieb, nicht mehr zurückkam aus dem Westen, hat Theresa – damals – schnell verkraftet. Mit zehn ist man schon gar nicht mehr so klein. Sie wechselte nicht den Ort. Onkel und Tante mit einem kleinen Säugling zogen in die verwaiste Wohnung der Steinbecks ein und übernahmen Theresa gleich mit. Theresa wollte nicht nach Deutschland schreiben. Es war schwierig mit der Tante. Sie mochte den Onkel mehr als der Tante lieb war. Was sie hasste, war das Mitleid. Auf Nimmerwiedersehen Es ist die Perfidie der Freiheit, dass sie das Leben in einen Konjunktiv setzt, aus dem es kein Zurückkommen gibt. Wenn einmal die Möglichkeit aufscheint, wirst du immer auch etwas verlieren, egal wie du dich entscheidest. Wer will da von Schuld reden? Auch Marlene ist nicht gefragt worden, es wurde über sie verfügt. Sie hatte nur ihr Sportköfferchen für drei Tage dabei, als die Mutter sie im Westen abholte und mitnahm aufs Nimmerwiedersehen. „Ich wollte gleich zurück, die Uhr zurückdrehen“, sagt Marlene, und das Trauma heißt bei ihr, ganz im akademischen Duktus, „der durch die Flucht bedingte Abriss“. Abriss heißt, man kann nicht anknüpfen. Niemand hier wird verstehen, woher du kommst und niemand dort wird begreifen, wohin du gegangen bist. Und du selbst wirst dazwischen sein, wirst nicht mehr zu denen gehören wollen, die du verlassen hast. Marlene erinnert sich an das erste Essen im goldenen Westen, es gab 30 Mark Begrüßungsgeld und einen Karton. Mach ihn auf! Es war Hühnchenbrust darin und Tomaten, das erinnert sie genau. „Und es schmeckte nicht.“ Sie schluckt immer noch schwer vor Enttäuschung und Entsetzen, wenn sie daran denkt. Denn es war 12
September, die Zeit, in der doch alles reif ist. Aber es schmeckte nicht. Die Freiheit ist ein Monster. Man kämpfte sich durch das übliche Spätaussiedler-Schicksal. Erst Übergangslager, dann eine winzige Wohnung, in der Marlene mit der Mutter lebte, später kam noch die nachgereiste Großmutter hinzu. Und ewig kreiste man um das Problem, ausgelebt in „dramatischen Heulsessions“: „Wir müssen das Kind herausholen.“ Marlene hatte ihre Mutter, sie hatte den Westen, sie hatte den besseren Part erwischt. Aber er schmeckte nicht. Immer wollte die Mutter zurückfahren, das Kind holen, die verlorene, die geopferte Tochter. Die vorhandene Tochter wurde zum Mann-Ersatz. Sie musste den kühlen Kopf bewahren, es übernimmt ja jeder eine der notwendigen Rollen im Drama. Schon seit dem Tod des Vaters, noch in Rumänien, hatte Marlene immer Angst um die Mutter. „Ich dachte mir: Wenn die mir jetzt auch noch abhandenkommt, dann ist das selbst für meine Omnipotenz zu viel.“ Dreizehn und riesig Nach drei Jahren endlich konnte Theresa ausreisen. Es war ein komplizierter Deal, im Grunde wurde sie gegen eine Ladung Fleisch getauscht. 13 Jahre war sie jetzt und riesig, 1,74 Meter groß. „Nachdem ich in Deutschland war, bin ich nicht mehr weiter gewachsen“, sagt Theresa trocken. Sie wollte eigentlich nicht in den Westen. Sie hatte ihr Leben in Rumänien, sie hatte sich gewöhnt, sie hatte sich verliebt, sie war jetzt mitten in der Pubertät. Als sie auf dem Flughafen in Frankfurt ankam, war die Mutter nicht da. Man hatte sich verpasst. Theresa stand allein mit ihrem roten Koffer unter der großen Uhr in der Flughafenhalle. Noch heute kann sie plötzliche Panikattacken bekommen auf Bahnsteigen und in Flughäfen, so als könne sie jederzeit verloren gehen. Am roten Koffer
haben Schwester und Mutter sie schließlich er- mit der unguten NS-Vergangenheit zu konfrontiekannt. Theresa fiel der Mutter um den Hals, sie zog ren. Es ist das Aufbegehren der Kleinen, das gegen an ihren Haaren, weil die so komisch aussahen, und die Vernunft rast, das die Schuld wittert, die hinter hielt eine Perücke in Händen. Alle lachten wie er- jeder Ordnung steckt und den Preis benennt, der leichtert. Die Mutter trug tatsächlich eine Perücke. zu zahlen war. Wie ist es, wenn das zu lang Erwartete eintritt? Das Privileg zu rasen Unter die Freude legt sich ein kühler Hauch nicht aufzuhebender Fremdheit. Als sei das Glück schal Denn irgendwie musste auch der Mutter klar geworden, wie versehrt durch den Aufschub. Aber niemand darf das benennen. Dass das, was einmal gewesen sein, dass Gefahr für Theresas Ausreise verloren ist, nicht wiedergefunden werden kann, bestand. Mindestens vorbewusst, als böse Ahnung auch wenn man es dann erneut in Händen hält, musste die Mutter gefühlt haben, dass sie den Verlust der Tochter notfalls in Kauf nahm, um den davon erzählt diese Geschichte auch. „Sie war so groß“, sagt Marlene. „Sie rauchten Auftrag ihres Mannes und des „Familienrates“ zu und sie redeten Hochdeutsch“, erzählt Theresa, erfüllen. Ihn an der Tochter zu exekutieren. „Ich die Hochdeutsch nur als Amtssprache kannte. Sie bin nicht mitgenommen worden“, heißt das ewibewunderte fortan und für lange Zeit ihre große ge Rasen Theresas. Wut hilft gegen Verzweiflung. Schwester, die zur einzigen Orientierung wurde im Man hat sie stehen lassen, schon zur Beerdigung Westen. Und für Marlene war die wiedergewonne- des Vaters ist sie nicht mitgenommen worden. In ne Kleine ein Geschenk. „Was ich ihr alles zeigen ihr vermischt sich sein Tod mit dem Verlassenwerkann“, dachte sie. Zu Hause lebte die Familie in den von später. Und nun will sie, dass die Mutter der verordneten Harmonie wiedergefundener Ein- sich entschuldigt. Sie hat das schmerzliche Privileg heit. Aber in der Schule war Theresa unbezähmbar, der Emotionalität, das Privileg zu rasen gegen alle verwildert irgendwie und „bis an die Grenzen der anderen. Diese Erlaubnis hat Marlene nicht, sie mussUnverschämtheit frech“. Der richtige Schmerz kommt, wie die Wahr- te auf die Seite der Vernunft. Hätte sie tauschen heit, immer erst später. Lange hat Theresa die Ge- wollen? Möchte man tauschen? „Ich hatte das Geschichte aus der Perspektive ihrer Mutter erzählt. fühl: es ist halt so“, sagt Marlene, und dann weint Dass es so richtig war, dass es keine andere Chan- sie. „Warum würdigt eigentlich niemand meine ce gab. Auch für Marlene ist das so. Sie hat nicht Schmerzen, die da drinhängen?“ Der Schmerz, dieentschieden. Aber wenn sie hätte entscheiden müs- ser Schmerz, ist nicht wegzuwischen. Man hätte sen, hätte sie – „ich glaube“, sagt sie – „ähnlich ge- aber damals, für nichts in der Welt, darüber reden handelt“ wie die Mutter. Erst viel später, als Theresa können. Vielleicht war die Kleine, Theresa, ja nicht nur 30 war, kam die Wut. Es ist eine Wut, die Marlene nicht verstehen kann. „Dieses Bohren, dieses nicht die Geisel des rumänischen Staates, sondern auch Aufhören wollen“, sagt sie, „Theresa forderte, dass ein Pfand der Mutter. Ein Symbol für etwas, das die Mutter sich entschuldigt. Aber die hatte doch da bleiben durfte, nicht weggehen musste. Denn es nur das Gute gewollt.“ Theresa begann, Familien- gibt ja immer die beiden Seiten, und wie soll man feste zu stören, die ausgewanderten Angehörigen entscheiden, wenn man gegen die Logik der Welt 13
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das eine will und das andere auch. Die Heimat und die Fremde. Das Beständige und die Chance. Das Gefühl und die Vernunft. Die Kleine und die Große. Was heißt es, wenn die eine die Mutter ganz für sich bekommt und die andere sie verliert? „Wir waren wie ein Karussell, die Frage war immer, wer von uns dreien rausfliegt“, sagt Theresa. Es geht rund. Notfalls lass los, du kennst das schon. „Ich stand immer mitten im Konflikt zwischen ihr und der Mutter“, sagt Marlene. Halt aus, halte zusammen, was sonst auseinander bricht. Hat die Mutter die Töchter geliebt? Auf jeden Fall, sagt Marlene ohne zu zögern und wird dann genauer: „Ich war geschätzt-geliebt. Theresa war geliebt-geliebt.“ Es klingt nichts Bedauerndes darin, sie ist eben die Leistungssportlerin, Theresa der Sonnenschein. Das zurückgelassene Kuckuckskind blieb für die Mutter immer das Symbol einer Ungebundenheit, eines Eigensinns. „Letztlich liebte mich meine Mutter dafür“, sagt Theresa, „es ist paradox, den Auftrag zu haben, frei zu sein.“ Manchmal möchte sie sich an der mächtigen großen Schwester rächen, immer noch, und sie weiß auch, wie das geht. Die Kleinen haben ihre Mittel, auch wenn sie schon erwachsen sind. Schon früh gab es die Szenen böser Kämpfe, Theresa soll ihre Schwester mit einem großen Kellerschlüssel k.o. geschlagen haben. Das erinnert sie selber nicht, es wurde erzählt, „aber möglich ist es“, meint sie. Tauschen möchte auch sie nicht. Keine der Schwestern möchte tauschen. Aber man fragt sich schon, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn die Große in Rumänien geblieben wäre und die Kleine mitgegangen nach Deutschland. Das ergäbe eine komplett andere Erzählung. Es gab die Phasen der Gleichgültigkeit, der Symbiose, der Wut und Abgrenzung zwischen den Schwestern. Heute sind sie eng verbunden mitei14
nander in jeweils ihrer Weise, die Konkurrenz hat aufgehört, die Streits nicht immer. „Sie ist der wichtigste Mensch“, sagt Marlene. Komisch, dass die Älteren die Jüngeren vielleicht mehr brauchen als umgekehrt. Die Schwestern verreisen gemeinsam, sie sehen sich oft, obwohl sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr in derselben Stadt und nicht im selben Land wohnen. Marlene lebt immer noch in Deutschland, doch sie richtet ihr Leben so ein, dass sie jederzeit auch weg könnte. Theresa ist schon vor etlichen Jahren nach Österreich gezogen. Keine der Schwestern hat eine neue Familie gegründet. Die rumänische Landschaft bleibt für beide die Heimat, sie weckt ein Gefühl, das nichts anderes auslösen kann. Wenn sie dort ist, tanzt Theresa über die Wiesen. 2003 sind die Schwestern mit der schwerkranken Mutter gemeinsam hingefahren, es war wie ein Aufbruch. Kurz vor ihrem Tod hat die Mutter sich bei Theresa entschuldigt. „Sie hat nicht gesagt, ich tue ihr Leid, sondern es tut ihr Leid“, sagt Theresa, das sei der entscheidende Unterschied. Familienzusammenführung Die Mutter ist drüben begraben, in Rumänien, und genau das wollen die Schwestern auch. Sie haben einen Pakt geschlossen, dass sie sich dort unter die Erde bringen lassen, gemeinsam mit Vater und Mutter. „Es ist eine Familienzusammenführung über's Grab“, sagt Theresa, und das klingt ganz zuversichtlich und fröhlich. Als ob das Karussell dann zum Stillstand käme, als ob drüben im Osten der Kreis sich schließe, als ob nur das Ende den Anfang heilen könne. Der Standard, 04.08.2012
„Es ist die Perfidie der Freiheit, dass sie das Leben in einen Konjunktiv setzt, aus dem es kein Zurückkommen gibt.“
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textreportage nominierter
✍ gazprom heizt ein Von urs mannhart Reportagen, Juni 2012 Teriberka am russischen Nordmeer versinkt jeden Winter unter Schneemassen und in der Einsamkeit. In der beinahe fiebrigen Hitze des Boilers malt sich Dorfheizer Wolodja eine bessere Zukunft aus – mit Gazproms Plänen zur Erschließung des Shtokman-Gasfeldes hat diese wenig zu tun. Die Traurig- und Ausweglosigkeit, die Missachtung von Mensch und Natur im heutigen Russland bündelt Urs Mannhart mit eingängigen Sprachbildern wie in einem Brennglas. Uwe Neumärker, Direktor Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas
Grafik: Martin Woodtli, www.woodt.li
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Foto: Francesca N. Moeri
Urs Mannhart Urs Mannhart (*1975) bildet zusammen mit Christoph Simon und Lorenz Langenegger die Literaturgruppe „dieAutören“. Im Bilgerverlag erschienen die Romane „Luchs“ und „Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola“. Als Beitrag im Velokurierbuch veröffentlichte er 2008 die „Kuriernovelle oder Der heimlich noch zu überbringende Schlüsselbund der Antonia Settembrini“. Als Reporter berichtet Urs Mannhart unter anderem aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weißrussland und der Ukraine. Er lebt als Schriftsteller im bernischen Langenthal und in anderen Ortschaften, zu denen hin und wieder, sei es auch außerplanmäßig, ein Zug rollt.
n-ost Reportagepreis 2013 • TEXT
textreportage nominierter
✍ bauland von Andreas Schneitter Reportagen, Februar 2012 Armen de Shoushi, gebürtiger Franzose mit armenischen Wurzeln, ist als junger Studienabbrecher aus Marseille nach Bergkarabach gekommen, um beim Aufbau des Landes zu helfen. Von ihm lässt sich Andreas Schneitter begleiten auf seiner Erkundungsreise durch dieses aus der Zeit gefallene und vom Sezessionskrieg verwüstete Gebiet Aserbaidschans, wo die schwindende Bevölkerung zerrissen ist zwischen Lethargie und Zukunftssehnsucht. Bauland ist ein ergreifender, historisch fundierter Bericht über Zweifel, Ausdauer und Hoffnung eines kleinen Volkes - und eines trotzigen Europäers, der nicht aufgeben will. Sonja Margolina, Publizistin und Autorin
Grafik: Simon Trüb, www.hekuzuku.ch
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Foto: privat
Andreas Schneitter Andreas Schneitter (*1978) studierte Philosophie und Religionswissenschaften in Basel und Hamburg. Zum Journalismus kam er en passant über die klassische Hochschufterei: Praktikum, Lokaljournalismus, Kulturjournalismus, Reportagen. Er arbeitet als freier Journalist sowie als Redakteur für das Wochenmagazin Tachles in Basel und ab Sommer 2013 in Israel. Auf die Hauptfigur der Geschichte „Bauland“ stieß er während der Nationalfeier zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit des „Staates“ Nagorny Karabach in der Hauptstadt Stepanakert.
Radioreportage 2013 Elke Windisch Stephan Ozsváth Rainer Schwochow
Bruder Europäer – Das Dubrovniker Symphonieorchester Budapest, 15. März 2012, Nationalfeiertag. Ungarn auf der Suche nach sich selbst Geduldet – Leben im Zwischenraum
n-ost Reportagepreis 2013 • RADIO
Radioreportage VOrjury Mareike Aden Freie Korrespondentin in Moskau
christian kühn Lektor der Robert Bosch Stiftung in Tiflis
Marc Lehmann Osteuropa-Korrespondent des SRF in Prag
Thilo Schmidt Freier Journalist und Autor, Lehrbeauftragter für den Masterstudiengang Kulturjournalismus, UdK Berlin
Hendrik Sittig rbb - Rundfunk Berlin-Brandenburg, Programmdirektion
Linda Vierecke Reporterin/Redakteurin für Deutsche Welle TV
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n-ost Reportagepreis 2013 • RADIO
Fotos: privat
Radioreportage jury
Sabine Adler
Silke engel
Uwe Leuschner
Korrespondentin in Warschau, Deutschlandfunk
Korrespondentin im ARDHauptstadtstudio, rbb
Vice-President Business Development CIS, DB Schenker Logistics
Jürgen Webermann
Marianne Wendt
Reporter NDR Info
Autorin und Regisseurin für Theater, Hörfunk und Film
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n-ost Reportagepreis 2013 • RADIO
radioreportage PREISTRÄGERin
Bruder Europäer – Das Dubrovniker Symphonieorchester von elke windisch DLF, 12.06.2012 | 43:50 Eine großartige Allegorie auf die Vielvölker-Familie Europa! Die trotz aller Konflikte und Zerrissenheit Identität stiftet. Wie in den Reihen des Symphonieorchesters Dubrovnik. Die Musiker sind so bunt wie die Stadt selbst, offen, tolerant. Sogar während des Kriegs im damaligen Jugoslawien halten sie die europäischen Idee hoch: indem sie Beethovens „Neunte“ einstudieren. Die Aufführung gelingt dem Orchester zwar erst 20 Jahre später, doch der Weg dorthin bleibt beispielhaft und zeigt, was Europa im Kern zusammenhält. Welch schöne Geschichte – eindrucksvoll, mitreißend und dicht erzählt! Silke Engel, Korrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio, rbb
Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/radio_2013
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Foto: Marinko Vlašic
Elke Windisch Elke Windisch studierte Slawistik und Turkologie an der Humboldt-Universität Berlin und arbeitet seit 1992 als Journalistin, Filmemacherin und Autorin in Moskau – unter anderem für den Tagesspiegel, das ZDF und das Deutschlandradio. Ausgedehnte Reisen führten sie außerdem nach Zentralasien, in den Kaukasus und nach Afghanistan; immer wieder berichtete sie auch aus Krisen- und Kriegsgebieten. In Dubrovnik verliebt hat sich Elke Windisch bei ihrem ersten Besuch 1981 – damals als Übersetzerin. Seit 2010 hat sie ihren Zweitwohnsitz in der Adria-Stadt und arbeitet dort an einem Buch mit dem Arbeitstitel „Gesichter meiner Stadt“. 25
n-ost Reportagepreis 2013 • RADIO
Das Dubrovniker Symphonieorchester Sprecher 1
42:13/43:50
Dirigent Ðelo Jusic (O-Ton Kroatisch)
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Also für mich ist es ein Glück. Ich bin viel in der Welt herumgekommen, oft in Deutschland gewesen und mit meinen Troubadouren dort auch im Fernsehen aufgetreten. Trotzdem freue ich mich. Denn künftig kann ich einfach meine Noten nehmen, und ohne Grenzkontrollen, sagen wir mal, nach München kommen und den Symphonikern sagen: Meine Herren, ich würde gerne mit Ihnen spielen, ich komme aus einem Land in der Europäischen Union. Ich bin Euer Bruder. Bitte sagen Sie jetzt einfach: Ja.
»
Sprecher 3
»
10:37/43:50
Geiger Pero Šiša (O-Ton Kroatisch) Sogar in unseren ehemaligen Räumen, da wo jetzt die Universität ist, sind im Krieg Granaten eingeschlagen. Eine hat das Klavier getroffen. Einen Steinway-Flügel. Das ist ziemlich symbolträchtig. Die haben wirklich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Musikinstrumente geschossen.
»
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n-ost Reportagepreis 2013 • RADIO
Sprecher 2
06:12/43:50
Waldhornist Ildous Galioulline (O-Ton Russisch)
»
Jeder Musiker wartet darauf, dass er einmal die Neunte spielen darf. Das ist eine Hymne an den Menschen, eine an die ganze Welt. Etwas, das man nicht in Worte fassen kann. Das Größte, was ein Mensch je erschaffen hat. Ich weiß nicht, war Beethoven überhaupt ein Mensch? Wer weiß? Vielleicht war er so etwas wie Mohammed? Oder Jesus. Der Heiland. Der Erlöser für die Musik. Wenn man den Tag erleben darf, an dem man das spielen kann, dann glaubt man die Grenzen des Universums zu ertasten.
»
18:03/43:50 ------- Atmo ------Straßenmusiker mit dem größten Hit der Troubadoure, Menschen klatschen und singen mit, Lachen, Schritte auf blankpoliertem Marmor, der kleine OnofrioBrunnen rauscht im Hintergrund.
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n-ost Reportagepreis 2013 • RADIO
radioreportage nominierter
Budapest, 15. März 2012, Nationalfeiertag Ungarn auf der Suche nach sich selbst von stephan ozsvÁth RBB, MDR, WDR, 2012 | 54:52 Stephan Ozsváths Reportage spannt den Bogen weit: vom Aufstand 1848, der den Ungarn die Freiheit bringen sollte, über Revolution, Faschismus, Kommunismus bis in die Gegenwart mit ihren neuen Herausforderungen. Ein lebendiges Landesporträt entsteht, dessen Protagonisten aus der eigenen Familie stammen. Es macht den Hörer mit der wechselvollen – mal farbigen, mal düsteren – Vergangenheit Ungarns bekannt, die die Gegenwart besser verstehen hilft. Eine fesselnde europäische Geschichtsstunde. Sabine Adler, Korrespondentin in Warschau, Deutschlandfunk
Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/radio_2013
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Foto: Karin Straka
Stephan Ozsváth Stephan Ozsváth, geboren 1965 in Andernach. Mutter Rheinländerin, Vater Ungar. Lehrjahre in Berlin, Granada, Debrecen und Madrid. Ausbildung zum Kommunikationstrainer (NLP), Trainer in der Aus- und Weiterbildung von Journalisten. Seit 1992 „on air“ für die ARD, zuletzt bei rbb-Inforadio und Deutschlandradio Kultur. Gleichzeitig Reporter für deutschsprachige Printmedien. 2006 als Mitbegründer des Radiodienstes und Ungarn-Korrespondent bei n-ost gelandet. Seit 2006 regelmäßige Einsätze im ARD-Studio Südosteuropa in Wien, seit September 2012 ARD-Hörfunk-Korrespondent eben dort.
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n-ost Reportagepreis 2013 • RADIO
radioreportage nominierter
Geduldet – Leben im Zwischenraum von rainer schwochow DLF, HR, 2012 | 53:27 Das Stück verdichtet den Wahnsinn des Bosnienkriegs in der Geschichte einer bosnisch-montenegrinischen Familie. Den Kämpfen kann sie entkommen – nicht aber den Absurditäten der Bürokratie. Das Stück verknüpft die verschiedenen Spielorte und Ebenen so geschickt miteinander, dass der Hörer spielend leicht in die Handlung eintaucht. Durch ihre Erzählhaltung glänzen auch die Protagonisten – vor allem die Kinder der Familie, die längst nicht mehr wissen, wo sie hingehören. Ihr Auftritt ist so authentisch, dass es unter die Haut geht. Jürgen Webermann, Reporter NDR Info
Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/radio_2013
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Foto: privat
Rainer Schwochow Rainer Schwochow, geboren 1952 in Berlin. Physik- und Informatikstudium in Dresden, Exmatrikulation wegen Republikfluchtversuchs, anschließend drei Jahre Industriehilfsarbeiter. 1975 bis 1980 Studium der Theaterwissenschaft in Leipzig, Theater- und Hörspieldramaturg. Seit 1989 freier Journalist, seit 1990 Hörfunkund Sachbuchautor. In den letzten 15 Jahren vorwiegend lange Radiofeatures für diverse ARD-Anstalten. Schwerpunkte: soziale und gesellschaftspolitische Themen. Zusammen mit seiner Frau Heide Schwochow viele Reise- und andere Features. Deutscher Sozialpreis 2003 und Europäischer Medizin-Journalistenpreis 2005 gemeinsam mit Heide Schwochow. 31
Fotoreportage 2013 Meinrad Schade Kirill Golovchenko Helena Schätzle
Nagorni Karabach – Der lange Schatten des Unabhängigkeitskrieges Kachalka. Muscle Beach | 9645 Kilometer Erinnerung
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Die eingesandten Arbeiten zeigen die ganze Vielfalt des visuellen Geschichtenerz채hlens.Von klassischer Reportagefotografie bis hin zu dokumentarisch distanzierten Langzeitbetrachtungen, sind die Erz채hlweisen und Stilmittel vielseitig und individuell. Daniel Nauck, Fotograf und Multimediaproducer bei 2470media
n-ost Reportagepreis 2013 • FOTO
Fotos: privat (6), Mathias Bothor (1)
FOtoreportage jury
Lars Bauernschmitt
Michael Biedowicz
Tomasz Dabrowski
Professor für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover
Bildchef ZEITmagazin
Direktor des Polnischen Instituts Berlin
Pepa Hristova
Ute Mahler
Daniel Nauck
Freie Fotografin
Professorin für Fotografie an der HAW Hamburg, Fotografin
Fotograf und Multimediaproducer bei 2470media
Michael Trippel Fotoreporter
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n-ost Reportagepreis 2013 • FOTO
fotoreportage PREISTRÄGER
Nagorni Karabach Der lange Schatten des Unabhängigkeitskrieges Von Meinrad Schade Neue Zürcher Zeitung, 01. – 05.10.2012 Der Foto-Essay von Meinrad Schade verwirrt den Betrachter, weil er keine einfache, schnell lesbare Information liefert. Die Bilder sind nicht bequem konsumierbar, sondern verunsichern durch scheinbare Widersprüche und zwingen so zur längeren Auseinandersetzung mit dem Dargestellten. Die Brüche in den Fotos dienen als visuelle Übersetzungen der Stimmung in der Region. Den Betrachtern stellen sich Fragen, deren Antworten offen bleiben – so offen wie die weitere Entwicklung des Staates Nagorny Karabach, den bisher niemand anerkennt. Lars Bauernschmitt, Professor für Fotojournalismus an der Hochschule Hannover
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Foto: Marc Latzel
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Meinrad Schade Meinrad Schade, geboren 1968 in Kreuzlingen, entschied sich nach seinem Biologie-Studium an der Universität Zürich für die Fotografie. Die Ausbildung zum Fotografen erfolgte 1997 bis 1998 über die Gruppe Autodidaktischer FotografInnen in Zürich und 1999 bis 2000 durch den ersten Lehrgang für Pressefotografie an der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern. Seit 2003 arbeitet Meinrad Schade als selbstständiger Portraitund Reportagefotograf und für die Agentur Lookat Photos. 2006, 2008 und 2011 war er für den Swiss Photo Award nominiert (ewz.selection) und gewann 2011 den Kategorienpreis „Redaktionelle Fotografie“. 2008 und 2011 landete er auch auf der Shortlist des Henri-Nannen-Preises.
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09.05.2012 Stepanakert, Bergkarabach Am 9. Mai präsentiert sich die Armee Bergkarabachs der Bevölkerung. Nach der großen Militärparade können sich interessierte Bürger von Armeeangehörigen verschiedene Waffen zeigen lassen. Der 9. Mai ist einer der wichtigsten nationalen Feiertage in Bergkarabach und vereint gleich drei Gedenktage: den Sieg über Hitlerdeutschland, die Gründung der Karabach-Armee sowie die Befreiung von Schuschi, einer strategisch wichtig gelegenen Stadt.
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06.09.2011 Hin Taghlar, Bergkarabach Mitarbeiter der Entminungsorganisation „Halo Trust“ laufen mit Metalldetektoren ein Feld ab. Sie machen eine sogenannte BAC (Battle Area Clearance). In der Nähe des Dorfes Hin Taghlar befand sich zu Zeiten des Karabach-Krieges ein wichtiger Armeeposten, welcher häufig das Ziel von Luft- und anderen Angriffen war. Fast 20 Jahre nach Kriegsende ist Bergkarabach bei Weitem noch nicht vollständig entmint und von gefährlichen Munitionsresten gereinigt. In der Folge kommt es immer wieder zu Unfällen. Weil die Region stark von der Landwirtschaft abhängig ist, kommt der Urbarmachung des Bodens durch Entminung eine zentrale Bedeutung zu.
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10.09.2011 Stepanakert, Bergkarabach Schüler der 9. Klasse in der Schule Nr. 10 in Stepanakert schießen während des Unterrichts „Militärische Vorbereitung“ mit einem Luftgewehr. Inhalt der Lektionen sind unter anderem die Struktur der Streitkräfte von Armenien und Bergkarabach sowie praktische Übungen, welche den Umgang mit dem Gewehr vermitteln sollen. Am Ende des Schuljahres halten die Jugendlichen eine Schießübung mit scharfer Munition ab. Diese Art des Unterrichts war früher überall in der Sowjetunion fester Bestandteil des Lehrplans. In Bergkarabach wurde er lediglich an die heutigen Gegebenheiten angepasst.
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07.09.2011 Stepanakert, Bergkarabach Ein Helfer des Skulpteurs Robert Askarian bearbeitet mit einer Schleifmaschine den Stein für eine Skulptur, die für den Denkmalkomplex in Auftrag gegeben wurde, der auch den Heldenfriedhof umfasst.
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04.09.2011 Stepanakert, Bergkarabach Erik Asratian (*1992) und Christine Danilian (*1994) am Tag ihrer Hochzeit. Christine geht noch zur Schule und Erik leistet seinen zweijährigen Militärdienst.
Der Auszug aus der Bildserie „Nagorni Karabach“ wurde mit freundlicher Genehmigung von Meinrad Schade und der NZZ veröffentlicht.
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fotoreportage nominierter
Kachalka. Muscle Beach Von Kirill Golovchenko Geo (Erstveröffentlichung), Neon u. a., 2012 „Wie der Stahl gehärtet wurde“ heißt ein sowjetischer KomsomolzenRoman aus den 1930er Jahren, Pflichtlektüre in den Oberschulen der DDR. Kirill Golovchenko zeigt uns eine Menge Stahl, an dem sich heute Männer und Frauen aus der Ukraine abhärten. Kirill ist ein feinsinniger Beobachter, das kennzeichnet viele gute Fotografen. Es gibt aber nur wenige, die mit solchem subtilen Humor erzählen können. Das macht die Serie für mich einzigartig. Michael Biedowicz, Bildchef ZEITmagazin
Das Buch „Kachalka. Muscle Beach“ ist 2012 im Kehrer Verlag erschienen. 48
Foto: privat
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Kirill Golovchenko Kirill Golovchenko, geboren 1974 in Odessa, ist ukrainischer Fotograf. Er lebt in Deutschland und in der Ukraine und ist Mitglied der Agentur Focus. Für seine Diplomarbeit „7km - Field of wonders“ an der Hochschule Darmstadt gewann er den Dokumentarfotografie Förderpreis der Wüstenrot Stiftung 07/08. 2009 erschien sie als Buch im Snoeck Verlag. Es folgten VG Bild-Kunst- und DAAD-Stipendien, die ihm weitere Fotoprojekte ermöglichten. 2013 erhielt er den European Photo Exhibition Award 02 und den Berthold-Roland-Fotokunstpreis. Seine Arbeiten wurden international ausgestellt – u. a. in: Museum Folkwang, Essen; Deichtorhallen, Hamburg; Uferhallen, Berlin; Goethe Institut, Paris; Photo Espana, Madrid und Photoville in New York.
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„Kachalka“ ist ein Open-Air-Fitness-Studio in Kiew. Es wurde ab den frühen 1970er Jahren nach und nach in Eigeninitiative aufgebaut. Heute gibt es auf 10.000 qm über 200 Geräte.
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Der Auszug aus der Bildserie „Kachalka“ wurde mit freundlicher Genehmigung von Kirill Golovchenko, Geo und dem Kehrer Verlag veröffentlicht.
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fotoreportage nominierte
9645 Kilometer Erinnerung Von Helena Schätzle Verlag Nimbus Kunst und Bücher, 2012 „9645 Kilometer Erinnerung“ zeigt stille Bilder der Sehnsucht, eine unbekannte Zeit zu ergründen und Verborgenes an die Oberfläche zu bringen. Zurückhaltung und eindringliche Beobachtung oder Inszenierung als Kombination unterschiedlicher Erzählweisen sowie die Zusammenstellung verschiedener Formate und Papiere im Buch machen diese Arbeit beachtenswert einmalig und zeitgenössisch. Helena Schätzles sensible Annäherung an eine fremde und beängstigende Phase im Leben ihres Großvaters hinterlässt in mir ein respektvolles Gefühl gegenüber den porträtierten Menschen und ihren Schicksalen. Pepa Hristova, freie Fotografin
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Foto: Katrin Streicher
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Helena Schätzle Helena Schätzle (*1983) unternimmt seit Jahren ausgedehnte Reisen in verschiedene Länder, wo sie über längere Zeiträume hinweg lebt und intensiv an einzelnen Themen arbeitet. In den vergangenen Jahren ging es zumeist im Winter nach Osteuropa und im Sommer nach Indien. Ihre Arbeiten, die international ausgestellt werden, wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. durch „gute aussichten“, „Stiftung Buchkunst“, „The Aftermath Projekt“. Ihren Abschluss an der Kunsthochschule Kassel machte Helena Schätzle 2009. Sie arbeitet als freie Fotografin für verschiedene Magazine und Zeitungen und wird vertreten durch die Fotoagentur laif.
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Slatki, Russland
Der Auszug aus der Bildserie „9645 Kilometer Erinnerung“ wurde mit freundlicher Genehmigung von Helena Schätzle und dem Nimbus Verlag veröffentlicht.
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„In der Nähe von Krakau entdeckten wir ein Dorf, in dem sehr viele Panzer und moderne Waffen lagerten. Wir sahen, dass sich eine andere sowjetische Einheit von dem Dorf zurückzog, und so rannten auch wir davon. Doch ein Kommandant stoppte uns und befahl, auf die flüchtende Einheit zu schießen. Ich dachte, wie kann ich meine eigenen Leute erschießen? So schossen wir in die Luft und verschwanden dann sehr schnell, bevor der Kommandant merkte, dass wir nicht richtig gezielt hatten.“ Zitat von Ivan Danilovich Yatsenko
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n-ost Reportagepreis 2013 • FÖRDERER
Die METRO GROUP zählt zu den bedeutendsten internationalen Handelsunternehmen. Sie erzielte im Jahr 2012 einen Umsatz von rund 67 Mrd. Euro. Das Unternehmen ist in 32 Ländern an rund 2.200 Standorten tätig und beschäftigt rund 280.000 Mitarbeiter. Die Leistungsfähigkeit der METRO GROUP basiert auf der Stärke ihrer Vertriebsmarken, die selbstständig am Markt agieren: Metro/Makro Cash & Carry – international führend im Selbstbedienungsgroßhandel, Real-SBWarenhäuser, Media Markt und Saturn – europäischer Marktführer im Bereich Elektrofachmärkte, sowie Galeria Kaufhof Warenhäuser. Osteuropa ist eine der Kernwachstumsregionen für den Konzern. In der Region Osteuropa waren die Vertriebslinien der METRO GROUP 2012 mit 560 Standorten vertreten und erwirtschafteten einen Umsatz von 17,8 Mrd. Euro. www.metrogroup.de
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Die Robert Bosch Stiftung ist eine der großen unternehmensverbundenen Stiftungen in Deutschland. Ihr gehören 92 Prozent des Stammkapitals der Robert Bosch GmbH. Sie wurde 1964 gegründet und setzt die gemeinnützigen Bestrebungen des Firmengründers und Stifters Robert Bosch (18611942) fort. Die Stiftung konzentriert sich in ihrer Arbeit auf die Bereiche Völkerverständigung, Wissenschaft, Gesundheit, Bildung, Gesellschaft und Kultur. Sie betreibt in Stuttgart das Robert-Bosch-Krankenhaus, das Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für klinische Pharmakologie und das Institut für Geschichte der Medizin. Von 1964 bis 2012 gab die Stiftung 1,2 Milliarden Euro für die Förderung aus. Im Jahr 2012 wurden rund 69 Millionen Euro bewilligt. www.bosch-stiftung.de
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n-ost Reportagepreis 2013
n-ost bringt Journalisten, Osteuropa-Experten und Medieninitiativen aus über 40 Ländern zusammen. Seine Mitglieder verbindet ein europäischer Blick und das Interesse, die Berichterstattung aus und über Osteuropa zu stärken.
Qualität im Journalismus möglich machen: Den Qualitätsjournalismus und rechercheaufwändige Formate wie Reportagen stärkt n-ost durch die Organisation von Journalistenreisen, die Vergabe von Stipendien und die jährliche Verleihung des n-ost-Reportagepreises.
Gemeinsam stärker: Journalisten vernetzen und weiterbilden: Die Mitglieder des Netzwerks setzen sich ein gegen wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Journalisten in Ost und West bietet n-ost Trainings, Einschränkungen journalistischer Arbeit. Gemein- Vernetzung und Recherchemöglichkeiten – etwa sam haben sie die Möglichkeit, auf eine faire Ver- auf der n-ost-Medienkonferenz, die jährlich in gütung hinzuwirken, zusätzliche Ressourcen für wechselnden osteuropäischen Städten stattfindet. aufwändige Recherchen zu erschließen und sich Das Informationsfreiheitsprojekt Legal Leaks zeigt Journalisten, wie sie ihre gesetzlich verankerten Ausgegenseitig zu qualifizieren. kunftsrechte gegenüber Behörden für ihre RecherNeue Bilder, Texte und Töne aus Osteuropa: che einsetzen können. (>>> www.legalleaks.info) Der Artikel-, Radio- und Fotodienst von n-ost beFür unabhängigen Auslandsjournalismus: liefert Zeitungen und Hörfunkanstalten, Stiftungen und Unternehmen. Zusätzliche Akzente in der Mit medienpolitischen Veranstaltungen, PublikatiBerichterstattung über Osteuropa setzt n-ost mit onen und Stellungnahmen engagiert sich n-ost für seinem neuen Online-Magazin ostpol.de. Es bietet einen aufgeklärten Auslandsjournalismus. Lesern und Abonnenten aktuelle Berichte, hintergründige Reportagen, Foto-Strecken und spannen- www.n-ost.org de Multimedia-Formate. (>>> www.ostpol.de) Zeigen, worüber Europa spricht: Täglich bietet n-ost in drei Sprachen einen Überblick über die europäischen Kommentarspalten – mit der Presseschau euro|topics, die n-ost im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung produziert. (>>> www.eurotopics.net)
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n-ost Reportagepreis 2013 • SHORTLIST
n-ost-REPORTAGEPREIS 2013 Shortlist aus 55 eingereichten TEXTREPORTAGEN:
Shortlist aus 42 eingereichten RADIOREPORTAGEN:
Simon Book: Wenn keiner eine Grube gräbt, Financial Times Deutschland, 27.07.2012
Johanna Herzing und Melanie Longerich: In Auschwitz zuhause. Eine Ortsbestimmung zwischen Erinnerung und Alltag, DLF, 28.04.2012
MAIK BRANDENBURG: Soweit der Himmel reicht, mare, Oktober 2012 Christiane Holch: Finde Haika!, chrismon, 01.10.2012 Philipp Lichterbeck: Die Gruber-Brüder und das Gold, Das Magazin, September 2012 Urs Mannhart: Gazprom heizt ein, Reportagen, Juni 2012 (NOMINIERTER) Rainer Merkel: Das ist das Blut, das vergessene Blut, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 01.01.2012 Christian-Lorenz Müller: Orange auf dem Unabhängigkeitsprospekt, Literatur und Kritik, 23.11.2012
Uli Hufen: Russland: Per Twitter in die Demokratie?, WDR5, 10.06.2012 Jörn Klare: Made in Moldova – Vom Nierenhandel in Europa, NDR Info, 21.10.2012 Thies Marsen: Ungarn: Rechts unten in Europa – Eine Reise in ein zerrissenes Land, BR2, 18.02.2012 Mechthild Müser: Welcome to the City of Jezevac – Mädchen in einem bosnischen Flüchtlingslager, BR, DLF, 2012 Stephan Ozsváth: Budapest, 15. März 2012, Nationalfeiertag. Ungarn auf der Suche nach sich selbst, RBB, MDR, WDR, 2012 (NOMINIERTER)
Sabine Riedel: Admir, Reportagen, Juni 2012
Rainer Schwochow: Geduldet – Leben im Zwischenraum, DLF, HR, 2012 (NOMINIERTER)
Andrea Roedig: „Macht, dass ihr rüberkommt“, Der Standard ALBUM, 04.08.2012 (PREISTRÄGERIN)
Christiane Seiler: Ein Hof in den Karpaten, RBB, 05.08.2012
Andreas Schneitter: Bauland, Reportagen, Februar 2012 (NOMINIERTER)
Horst Widmer: Der Heimholer, Ö1, 03.11.2012 Elke Windisch: Bruder Europäer – Das Dubrovniker Symphonieorchester, DLF, 12.06.2012 (PREISTRÄGERIN)
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Impressum Herausgeber: n-ost Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung Neuenburger Str. 17 10969 Berlin Tel + 49-30-259 3283 0 Fax + 49-30-259 3283 24 www.n-ost.org Projektleitung: Sarah Portner Stefan Günther Artdirektion und Design: Armen Vanetsyan www.cargocollective.com/avd Druck: print24 © n-ost Juni 2013
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