n-ost REPORTAGE PREIS 2014
n-ost reportagepreis 2014
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n-ost Reportagepreis 2014 • VORWORT
VORWORT Maidan-Proteste, Janukowitsch-Sturz, Krimkrise, Unruhen im Osten des Landes: Wenn der n-ost-Reportagepreis in diesem Jahr zum achten Mal verliehen wird, steht die Ukraine bereits für ungewöhnlich lange Zeit im Fokus der Medien. Die Umbrüche sind massiv. Mittlerweile könnte die Preisträger-Reportage aus dem ukrainischen Donaudelta so nicht mehr geschrieben werden. Konrad Schuller hat sie vor einem Jahr veröffentlicht. Der F.A.Z.-Korrespondent berichtet derzeit weiter aus der Region, die er so gut kennt wie nur wenige andere. Nah dran, differenziert und unerwartet – das Motto des n-ost-Reportagepreises trifft auch auf alle anderen nominierten und preisgekrönten Beiträge aus Russland, Kosovo, Estland und über den Balkan im New Yorker Stadtteil Queens zu. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, wie wichtig es ist, Regionen über lange Zeit zu beobachten, auch abseits von Medienhypes: Wie im Fall der Ukraine greifen sonst überholte Denk- und Argumentationsmuster, die Grautönen, vielschichtigen Realitäten und verworrenen Zusammenhängen nicht gerecht werden. Wie Untote geistern dann vermeintlich längst zu Grabe getragene Freund- und Feindbilder durch Kommentare und Leserbriefspalten. Weil Recherche aber nicht nur den berühmten langen Atem, sondern auch Geld braucht, freuen wir uns, dass in diesem Jahr gleichzeitig mit dem Reportagepreis erstmals auch der Recherchepreis Osteuropa vergeben wird. n-ost ist Partner dieses Stipendiums von Renovabis und Brot für die Welt. Es ist mit bis zu 7.000 Euro dotiert und ermöglicht jährlich die Produktion einer aufwändigen Reportage. 4
Wir bedanken uns herzlich bei den Jurymitgliedern, Förderern und Partnern des n-ost-Reportagepreises 2014. Genauso gilt unser Dank allen Journalisten, Fotografen und Lesern, die uns ihre Lieblingsreportagen von 2013 zugesandt haben. Insgesamt 128 Texte, Radiofeatures, Fotostrecken und Audioslideshows sind in diesem Jahr eingegangen. Nicht nur im Hinblick auf die Ukraine sind wir besonders gespannt auf Ihre Einsendungen im kommenden Jahr. Viel Spaß bei der Lektüre!
Tamina Kutscher, Projektleiterin
n-ost Reportagepreis 2014 • INHALT
INHALT
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TEXTREPORTAGE
RADIOREPORTAGE
FOTOREPORTAGE / AUDIOSLIDESHOW
06 07 08 16 28
40 Vorjury 41 Jury 42 Preisträger 44 Nominierte 46 Nominierte
51 Jury 52 Preisträger 66 Nominierter 70 Nominierter
Vorjury Jury Preisträger Nominierter Nominierter
74 Recherchepreis Osteuropa 75 Förderer 76 Über n-ost 77 Shortlist 78 Impressum
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Textreportage Konrad Schuller Wolfgang Bauer Philipp KohlhĂśfer
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Warten auf Beluga | Ein Staat sperrt sich ein | Killer als Retter
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n-ost Reportagepreis 2014 • TEXT
✍ textreportage Vorjury
Carmen Eller Freie Journalistin und Autorin
Petra Hemmelmann Institut für Journalistik, Universität Eichstätt
Tobias Kühn Redakteur, Jüdische Allgemeine
Carla Schulte-Reckert Leiterin der FES-Journalistenakademie
Nina Weller Slawistin und freie Lektorin
Hubert Wolf Reporter bei der WAZ
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Fotos: privat (6), Frank Rothe
textreportage jury
Christian Böhme
Fabian Dietrich
Werner D’Inka
Redakteur, Der Tagesspiegel
Chefredakteur, Dummy Magazin
Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Henrik Kaufholz
Sonja Margolina
Uwe Neumärker
Redakteur, Politiken, Kopenhagen
Publizistin und Autorin
Direktor der Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas
Jana Simon Schriftstellerin und Autorin, Die Zeit
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textreportage PREISTRÄGER
✍ Warten auf Beluga von Konrad Schuller Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.06.2013 Literarischer Journalismus oder journalistische Literatur? Diese Frage steht sofort im Raum, lässt sich allerdings auch nach mehrfacher Lektüre kaum eindeutig beantworten. Doch fraglos ist Konrad Schullers Reportage vor allem eines: hohe Kunst. Denn der Autor beschreibt einfühlsam, stilsicher und mit viel Liebe zum Detail die ganz besondere Welt eines Ortes am Rande Europas. Ja, er führt uns diese Welt im besten Sinne des Wortes vor Augen. Flüsse, Fische und Frauen – daraus macht Schuller eine Geschichte jenseits der Zeitläufe. Mit Menschen als Protagonisten, deren Leben nur Alltag kennt. Und wie Konrad Schuller sich ihnen in „Warten auf Beluga“ nähert, das ist großes, gedrucktes Kino. Christian Böhme, Redakteur, Der Tagesspiegel
Konrad Schuller hat die Revolution in der Ukraine direkt begleitet, vor Ort in Kiew, in Lemberg, auf der Krim oder im Osten. Der Band „Ukraine. Chronik einer Revolution“ (edition fotoTAPETA, Berlin 2014) versammelt seine Reportagen, Berichte und Analysen aus der Zeit von November 2013 bis Ende Mai 2014. 10
Fotos: Yulia Serdyukova
Foto: Yulia Serdyukova
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Konrad Schuller Konrad Schuller (*1961) ist Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Osteuropa und berichtet aus den Baltischen Ländern, Polen und der Ukraine. Seine bisherige Arbeit wurde mit dem Liberty-Award und mit dem Deutsch-Polnischen Journalistenpreis ausgezeichnet. Die Leute von Wilkowo, wo seine Reportage „Warten auf Beluga“ handelt, lernte er durch die Hilfe der ukrainischen Dokumentarfilmer und Fotografen Yulia Serdyukova und Oleksandr Techynskyy kennen.
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Warten auf Beluga
von Konrad Schuller In Wilkowo ist der Belugastör noch heute Stoff für Legenden. Der Fang ist zwar streng verboten, aber bei Schwarzmarktpreisen von bis zu tausend Dollar je Kilo widerstehen nicht alle Fischer der Versuchung des schnellen Glückes.
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s bimmelt über dem Fluss, es wummert und dröhnt, was die Glockenstühle hergeben, durch den Morgendunst der Lagunen, über die Inseln, die Kanäle und über das Fahrwasser, aber wenn es nach Walerija geht, können die bimmeln, bis sie schwarz werden. Aus allen Richtungen sind sie unterwegs, in ihren schwarzen Kähnen aus geteertem Holz, die mit ihrem spitzen Bug aussehen wie aus einem Wikingerfilm. Sie kommen von den Schilfbänken und vom toten Wasser, aus den Erdbeerdatschen, den Fischerhütten hinter der Kolchose, immer diesem Bimmeln nach. Walerija denkt nicht daran, die Gummischlappen anzuziehen und mitzuziehen. Ljoba hat Hering gebracht, der muss geputzt werden, Bimmeln hin oder her. Das Messer reißt den Bauch auf, faucht durch die Schuppen, dass es spritzt. Man kann vieles sagen über Walerija, aber nicht, dass sie faul rumsitzen würde. Eine schöne Frau ist sie, trotz allem, drahtig und blondiert, und wenn sie vorne noch mehr Zähne hätte, würde keiner glauben, dass sie die Vierzig hinter sich hat. Weiß Gott, was sie schon alles erlebt hat. In ihrer unverblümten Sprache, halb im postsowjetischen Gossenslang, halb der lipowe12
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nische Dialekt des Deltas, ist sie schnell wie eine Scheiterhaufen der Moskauer Zaren. Das Delta Natter und derb wie ein Sergeant von den Grenz- lag damals im Einflussbereich der Türken, und die truppen, und wenn es ums Arbeiten geht, stellt sie Flussgabelung, an der Wilkowo liegt, war ideal für jedes Pferd in den Schatten. Gerade schlitzt sie die eine Siedlung. Der Arm von Kilia, der nördliche Hauptstrom Heringe, gespannt und konzentriert auf ihrem Hocker über dem blutigen Bottich, und nur ab und zu der Donau, teilt sich hier in den Starostambulskojemacht sie Pause, um sich den Zigarettenrauch aus und den Otschakowskoje-Kanal, beides mächtige Wasser, die es leicht mit Rhein oder Elbe aufnehden Augen zu wedeln. Sie feiern den heiligen Nikolaj in Wilkowo, im men könnten, und als viertes kommt noch der äußersten südwestlichen Zipfel der Ukraine, wo kleinere Belgorod-Dnjestrowskoje hinzu, ein etwas die Donau nach mehr als 2.800 Flusskilometern breiterer Bach, mit Brücken leicht zu überspannen, noch einmal in die Weite geht, sich an der rumä- und wie geschaffen, um rechts und links ein paar nisch-ukrainischen Grenze in Hunderte von Ar- goldbekuppelte Kirchlein und ein paar Hütten zu men und Ärmchen teilt, um dann noch einmal 14 bauen. Die Kirchen erreicht man heute über holKilometer weiter unten all die Wasser Europas, die perige Straßen aus Betonplatten, die Hütten weiter sie zwischen Alpen und Karpaten gesammelt hat, draußen über ein dichtes Netz von weitverzweigten zwischen Budapest und Bukarest, den Gletschern Kanälen. Im Delta sind die Gassen aus Wasser, die des Engadin und den Tümpeln der Walachei, ohne Gehsteige aber sind blanke Bretter auf Holzpfählen, die ohne Handlauf und Geländer oft kilometerweit einen Seufzer ins Meer zu vergießen. Schnell, lautlos, bei Tag und bei Nacht, bringt durch die Sümpfe führen. der Strom hier die Sedimente eines halben KontiPhantastische Skulpturen aus Schrott nents mit sich, gelöst in warmem Schlamm ‒ die Obsessionen des Balkans, die Verzweiflungen des Heute sind nicht nur die Zaren Geschichte, alten Ostblocks, die Hoffnungen des vereinten Europa. Am Ende, wo dieses Läuten auf den Wassern sondern auch die Macht, die nach ihnen kam, die kaum noch zu hören ist, gießt er dann alles ins Sowjetunion. Wer über das Wasser auf Wilkowo Weite, zweihundert Kubikkilometer im Jahr oder zufährt, wird schon von weitem ihre Leitfossilien fünf Milliarden Tanklastwagen. Draußen im Meer erblicken: phantastische Skulpturen aus Schrott, kommt dann alles zur Ruhe. Sand setzt sich ab, aus zerfallende Fabrikhallen, Busse, Röhren, SchiffsSchlamm wächst jungfräuliches Land, bis zu vier- rümpfe. Sie zeugen davon, dass Wilkowo bis vor zig Meter im Jahr: neues Europa, wo gerade noch nicht ganz fünfundzwanzig Jahren beileibe nicht nur ein verschlafenes Nest im Schilf war. Statt offenes Wasser war. Die Boote erreichen die Kirche, die Männer seiner heute etwa 10.000 Einwohner lebten hier am Steuer, die Frauen an den Rudern ‒wie immer, 17.000 Menschen. Die örtliche Fischereiflotte fuhr nicht nur ins seit hier vor zweihundertfünfzig Jahren die ersten Siedler ankamen, „Altgläubige“, aus dem inneren Schwarze Meer hinaus, nach Batumi und SuchuRussland, flüchtige Anhänger einer verfolgten or- mi, Odessa und Sewastopol, sondern bis in den thodoxen Glaubensrichtung, die in den Schilf- Atlantik, in den Indischen Ozean. Die Fischkoldickichten des Deltas Zuflucht fanden vor den chose „W.I. Lenin“ verarbeitete nicht nur den Fang 13
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der eigenen Kutter, sondern zusätzlich in Kühlzügen herangefahrenen Fisch aus der Ostsee und aus Murmansk am Weißen Meer. Frachtschiffe gingen bis China und Vietnam, Schleppverbände am Fluss bis Regensburg oder Passau. Das tägliche Brot, die Lotterie und der Jackpot Heute zerfallen die Ruinen in der feuchten Luft. Die Fischkolchose zerbröselt, die Reparaturwerft versinkt, die Kutter sind weiß Gott wohin verscherbelt worden. Die Fischer aber sind noch da, und weil ein Fischer eben fischen muss, haben sie ihre Kähne aus Großvaterzeiten wieder herausgeholt, diese geteerten Holzungetüme mit schnabelförmigem Bug, die ja sowieso jedem modernen Motorboot überlegen sind – nicht nur, weil sie schlank genug sind, in die schmalste Rinne einzufahren, sondern auch, weil jeder sie flicken kann, wenn sie mal leck sind, weil sie nicht sinken, wenn sie mal kippen, und weil man sich auf Holzplanken, anders als auf einer Bootshaut aus Blech, nicht die Seele aus dem Leib friert, wenn man im Winter mal draußen übernachten muss. In diesen Kähnen geht es dann hinaus ins Delta, im Winter, im Frühling, im Sommer. Im Fluss gibt es Karpfen und Hechte, Zander und Welse, Butte und Karauschen, aber vor allem gibt es den Hering, der jedes Frühjahr vom Meer hochkommt, um im Fluss seinen Laich abzulegen. Es ist eine Lotterie mit diesem Hering. Manchmal gehen tagelang nur ein paar Dutzend Fische ins Netz, und manchmal, wenn zum Beispiel die Grenzer vom Stützpunkt Ismail nach ein paar Flaschen zu viel wieder einmal ihre Motorboote mitten durch die Netze gejagt haben, fängt einer auch mal gar nichts. Manchmal aber sind es gleich 200 Kilo, und wenn der Ljoba dann mit dem vollen Boot landet, 14
kommt Walerija gar nicht mehr nach mit dem Schuppen und Schlitzen. Ende Mai ist der Hering dann durch. Dann geht es in die Erdbeeren, und im Winter dann ziehen die Männer in Gummistiefeln und wattierten Jacken hinaus ins wässrige Eis der Sümpfe. Schilf für die Reetdächer in Deutschland und in den Niederlanden ist eine neuentdeckte Marktlücke. Das Donaudelta hat die größten zusammenhängenden Schilfgründe der Welt, und ab Dezember wird geschnitten – manchmal mit der „Kombajn“, einer Art Mähmaschine mit Schwimmrädern, manchmal aber, wenn die Flächen zu klein sind, auch per Hand mit der Sichel, wie damals, als die ersten Siedler kamen. Die Expeditionen gehen oft über Tage, die Männer schlafen im Zelt, und zum Wärmen nehmen sie Zigaretten mit, vor allem aber den „Nowak“, ihren hausgemachten Rotwein, der hier in jedem Garten wächst. Er schmeckt alles andere als subtil, dafür aber dunkel und kräftig nach schwarzen Johannisbeeren, wahlweise auch nach Stachel-, Him- und Preiselbeeren. Billiger als jeder Wodka, wird er anders als die verzärtelten Weine des Westens nicht endlos im Mund hin- und her gewälzt, sondern in einem Zug gekippt, worin er dann doch wieder dem Wodka gleicht. Das Schilf ist das tägliche Brot, der Hering ist die Lotterie – und dann gibt es noch das Wort vom „Jackpot“. Wer den „Jackpot“ knackt, wird reich, er kann sich das Gebiss richten, er kann nach Primorskoje zu den Mädchen, und er muss nie mehr durch den Eiswasserbrei zu den Schilfgründen. Jeder weiß, wie der „Jackpot“ aussieht, mit seinen Panzerplatten am schlanken, muskulösen Körper, mit seinem schnurrbärtigen Rammbugmaul, seiner angriffslustigen Torpedoform, manchmal, in Legenden, so lang wie ein ganzes Boot. Im Museum von Wilkowo ist ja schließlich einer zu bestaunen, 300 Kilo ausgestopft hinter Glas: der Beluga.
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Das Geld wächst nicht in den Weiden
verpacken. An der Brücke über den Kanal, wo die Plattenstraße nach Odessa beginnt, eine staubige Endlosigkeit durch die Steppen Bessarabiens, liegt die zentrale Trinkbude der Stadt, der „Anker“ mit seinen wackligen Tischen, seiner dudelnden Radiomusik und seinem reichlich mürrisch durch ein Wandloch gereichten Bier. Gestern Abend war Walerija noch da, mit frisch aufgelegtem Lippenstift. Sie hat eine Zigarette geraucht, sie hat den Jungs ein wenig zugezwinkert, und sie hat mit vipernschneller Zunge den neuesten Dorftratsch kommentiert. Dann ist sie früh heimgegangen, denn das Geld wächst nicht in den Weiden. Jetzt kommt alles zum Gottesdienst. Was weiblich ist, hat ein geblümtes Kopftuch auf, wie es sich für rechtgläubige Frauen gehört, die Männer tragen nach altrussischer Sitte das Hemd frei hängend, mit einem Strick gegürtet. Viele der Frauen sind schon im Morgengrauen dagewesen, um das Bankett vorzubereiten. Sie haben Kartoffeln geschält und Zwiebeln gehackt, sie haben Heringe geschnitten, und sie haben hinter der Kirche gewaltige Kessel geheizt, mit Holz, wie früher, für den Fischborschtsch.
Der Beluga, lateinisch „Huso Huso“, ist seit Jahrhunderten ein Fisch der Legenden. Früher, als es noch keine Dämme gab, zog er vom Schwarzen Meer bis nach Bayern hinauf, um in den Flüssen Mitteleuropas seinen Rogen abzulegen, den sagenumwobenen Beluga-Kaviar. Bis zu hundert Jahre wird ein solcher Fisch, und alte Holzschnitte zeigen ihn als Begleiter von kaiserlichen Flussfahrten. Der Beluga ist das goldene Fischlein aus dem russischen Märchen. Kaum einer hat je einen gesehen, aber wem einer ins Netz geht, der hat alle Wünsche frei, die ein Fischer in Wilkowo überhaupt erträumen kann. Weil der Beluga fast ausgestorben ist, drohen jedem, der ihn fängt, zwar strenge Strafen, aber aus demselben Grund lockt auch unvorstellbares Glück. Ein Beluga kann bis zu 30 Kilo Kaviar enthalten, und auf dem Schwarzmarkt gibt es für jedes Kilo bis zu 1.000 Dollar. Eigentlich ist er stark und wendig, ein Fischerboot ist kein Gegner für ihn, aber wenn er den Bauch voll Eier hat, ist er schwer und träge, dann kann der letzte Säufer ihn in der Unterhose fanWenn er mittleren Pegel hat, gen. Manchmal kommt das vor. Keiner redet dann ist es am besten darüber, aber wenn ein armer Schlucker plötzlich einen Außenbordmotor anschafft oder wenn er seiJetzt aber, während langsam auch die großen ne Frau sitzen lässt und nur noch betrunken durch die Amüsierbuden von Primorskoje zieht, draußen Glocken einsetzen, kommt die ganze Gemeinde. am Meer, wo im Sommer die geschminkten Dje- Am „Anker“ legen die Boote an, und nur wer sich wotschkas über die Promenade stöckeln, dann weiß den Luxus leisten kann, an einer echten, trockenen Straße zu wohnen, kommt mit dem Auto oder mit man in Wilkowo, was die Stunde geschlagen hat. Der Beluga ist Sünde, aber heute feiert man dem Fahrrad. Sie bekreuzigen sich beim Anblick der den heiligen Nikolaj, und für die Lipowaner von Kirche, sie bekreuzigen sich beim Eintritt durch das Wilkowo (so nennen die altgläubigen Siedler sich mit Plastikblumen geschmückte Tor, sie bekreuziselbst) ist die Sünde an diesem Tag wie weggebla- gen sich beim Anblick der Ikonen, immer nur mit sen. Mittlerweile sind alle da. Die Glocken läuten zwei Fingern, nach guter altorthodoxer Art, weil über die Anlegestelle, gleich an der Kirche, bei den der Erlöser ja ganzer Gott war und ganzer Mensch, Resten der alten Fischfabrik, wo sie heute Schilf und nicht mit dreien, wie die Neugläubigen. 15
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Einer nach dem anderen ziehen sie ein. Der pensionierte Kapitän Panfil Ilarijonowitsch Murtschenko ist da, ein runzliger, energischer Seebär mit seiner ebenso runzligen und energischen Gattin. Früher fuhr er bis zum Kaukasus und in das Asowsche Meer, heute zieht er Gurken und Wein an der Lagune. Während der Kapitän und seine Frau ins Gotteshaus einziehen (er durch das Männertor, sie durch die Frauentüre), hat der Bettler Grigori Michajlowitsch Domaskin, ein Mann mit zerzaustem Bart und olivfarbener Haut, im Hof Position genommen. Hier zeigt er sich erbötig, für jeden Christenmenschen, der sich seiner durch einen angemessenen Geldschein erbarmt, ein Gebet an die Ikone der Muttergottes zu richten. Sein Töchterchen Olga Grigorjewna, dünn und olivbraun wie er, das Jüngste von elf Kindern, ist zusammen mit ihm in aller Herrgottsfrühe im Bus von Kilia angereist. So ein heiliger Nikolaj bringt eben mehr als die paar Touristen zu Hause, die immer den Esel fotografieren wollen, und so hat sie zum Fest ein beinahe neues Kleidchen angezogen, rot mit Giraffendekor. Als einziges weibliches Wesen weit und breit trägt sie kein Tuch, aber keiner regt sich auf – jeder Stand hat seine Privilegien. Nur Walerija ist lieber zu Hause geblieben. Die ganzen Leute da in der Kirche, die drücken sich ja nur vor dem Arbeiten, sagt sie. Nicht, dass sie, Walerija, nicht auch Ikonen an der Wand hätte, sie hat sogar mehrere, zwischen dem Wandteppich mit den Hirschen und dem mit der Flamencotänzerin, aber im Grunde, sagt sie, und dieses Argument ist wohl mindestens ebenso wichtig wie das mit den Heringen, hat sie es nicht so mit dem lieben Gott oder er nicht mit ihr. Wie soll man nicht sündigen in so einer Welt. Sie ist nicht aus schlechter Familie, ihr Vater war Kapitän wie der alte Panfil Ilarijonowitsch, aber dann 16
ist ja alles drunter und drüber gegangen, mit der Stadt, mit den Kuttern, mit dem Leben. Von ihren drei Kindern lebt jedenfalls nur noch eins bei ihr. Eine Tochter ist bei ihrem Vater geblieben, eine andere bei der Großmutter, und nur der Jüngste, den sie vom Ljoba hat, ist bei ihr geblieben. Der Ljoba, mit dem sie jetzt lebt, ist zwar kein Beluga unter den Männern, aber er ist acht Jahre jünger als sie, er ist kräftig, und seine zerschlagene Nase zeugt von Wehrhaftigkeit. Andererseits geht es mit den Zähnen auch bei ihm schon rapide abwärts, und auch sonst ist es nicht immer leicht mit ihm. Wenn er zu wenig getrunken hat, ist er schlechter Laune, und wenn er mal zu viel genommen hat, will er nur noch alle umarmen und küssen und erschreckt sogar die Hunde am Zaun. Es ist mit dem Ljoba halt wie mit dem Fluss: Wenn er mittleren Pegel hat, ist es am besten. Dann bringt er an manchen Tagen vier Zentner Hering mit, und im Winter, wenn es ins Schilf geht, hält er es mit ein paar Flaschen „Nowak“ auch mal fünf Frostnächte im Zelt aus. Wenn er dann wiederkommt und sich im Fluss gewaschen hat, ist alles gut. Belugas hat man lange keine mehr gesehen Gerade jetzt ist so ein Tag. Der Fang war nicht schlecht, der Ljoba hat mittleren Pegel, und Walerija putzt Hering, was das Zeug hält: Schuppen ab, Bauch auf, dann die Leber ins linke Einmachglas für den Sonntag, aus der Pfanne mit Zwiebeln, die Eier ins rechte, für die Restaurants in Odessa, die für Heringsrogen gar nicht schlecht zahlen. Noch die Kiemen in den Eimer, fürs Schwein, und ab mit der Ware in einen wasserdichten Topf. Im Bus nach Odessa kennen sie den Fahrer, der nimmt das Zeug für ein paar Hriwna schwarz im Stauraum mit. Auf dem Kirchhof geht das Bankett zu Ende. Sie hatten in feierlicher Prozession die Kirche umrundet, im
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Uhrzeigersinn natürlich, nicht wie die Neuorthodoxen gegen die Uhr, sie hatten auf hohen Stangen die Ikonen mit sich geführt, sie hatten im Wechselgesang die endlose Liturgie der Altgläubigen zelebriert, die Frauen im Sopran, die Männer im Bass, und sie hatten den Popen die Hände geküsst, alle, sogar das Bettelmädchen ohne Kopftuch. Dann hatten sie sich an die langen Tische mit den bunten Plastiktischtüchern gesetzt, und während die Popen sangen, hatten die Frauen aufgetragen, was die Kessel so hergaben: den Fischborschtsch mit Roter Beete, Kohl und Möhren, die Fischklopse, den Karpfen in Knoblauchsud sowie den Hering, wahlweise geräuchert oder gesalzen. Als Nachtisch gab es Rosinenreis mit gedörrten Aprikosen und Vanillezucker. Abends ging es dann wieder auf den Fluss. Der runzlige alte Kapitän kaufte seiner Kapitänsfrau an der Anlegestelle noch ein Eis, dann verschwand ihr Boot in der Dämmerung, sie an den Rudern, er hinten am Steuer, wie immer, seit es Männer und Frauen gibt. Schnell, still, in tausend Armen, rollt der Fluss hinunter. Bayern und das Burgenland, Donauwörth und Debrecen, Transsilvanien und Transkarpatien, hier im Delta wird alles eins. Belugas aber hat man lange keine mehr gesehen. Der Ljoba sagt zwar, wenn ihm mal einer ins Netz geht, dann wird die Walerija schon merken, was es heißt, wenn eine alte Frau einen jungen Mann hat, dann lässt er sich die Zähne richten und geht zu den Djewotschkas in Primorskoje, aber Walerija, die gerade Hering schabt, braucht bei solchen Sprüchen nicht einmal die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. „Red du nur. Bis so einer wie du einen Beluga fängt, kriegst du längst keinen mehr hoch.“ Schrapp, sind die Schuppen ab, platsch, sind die Kiemen im Eimer. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.06.2013 17
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textreportage nominierter
✍ Ein Staat sperrt sich ein von Wolfgang Bauer Zeit Magazin, 27.12.2013 Wahrscheinlich wäre es eine eigene Geschichte wert, darüber zu berichten, wie es dem Reporter überhaupt gelungen ist, Zutritt zu diesem geheimnisvollen Ort irgendwo kurz hinterm Ural zu bekommen. Die Rote Zone, auch Besserungskolonie 13 genannt, ist ein russisches Spezialgefängnis, in dem die einsitzen, die früher mal auf der Seite der Verwaltung standen. Ob das nun der Beweis dafür ist, dass Putin die Korruption in seinem Land erfolgreich bekämpft, oder doch nur eine Einrichtung, in der dem man unliebsame Beamte verschwinden lassen kann, lässt Wolfgang Bauer offen. Die Insassen, egal ob schuldig oder nicht, dürfen selber sprechen und ihre Version der Wahrheit präsentieren. In geschickt verwobenen Monologen zeichnet Wolfang Bauer ein wunderbar paranoides Innenbild des russischen Staates. Fabian Dietrich, Chefredakteur, Dummy Magazin
Fotos: Stanislav Krupar
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Foto: Stanislav Krupar
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Wolfgang Bauer Wolfgang Bauer (*1970). Geborener Hamburger. Im äußersten Norden und Süden Deutschlands aufgewachsen. Bundeswehr, Zeitsoldat, Kriegsdienstverweigerung. Abitur auf dem Abendgymnasium, währenddessen Fremdenführer, Postbote, Müllsortierer. Viel an der Universität Tübingen studiert, Islamwissenschaft, später Geographie und Geschichte, alles jedoch abgebrochen. Seit 1994 als freier Journalist tätig. Das Schreiben gelernt beim Schwäbischen Tagblatt (Tübingen). Ressortunabhängiger Reporter bei Der Zeit. Seit 1997 immer wieder Recherchen in Osteuropa und Russland. Wohnt im südwestdeutschen Reutlingen.
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Ein Staat sperrt sich ein von Wolfgang Bauer Unter Wladimir Putin hat in Russland die Korruption dramatisch zugenommen. Ein Besuch im Sondergefängnis Kolonie 13, in dem Beamte und Polizisten einsitzen.
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rei Tore gehen auf, die eines auf das andere folgen. Das erste Tor mit seinem Netzgitter ist so hoch, als wollte es selbst die Wolken am Himmel aufhalten. Ruckelnd bewegt sich das Gatter auf doppelläufigen Schienen. Eine Frau hinter Glas drückt einen Knopf, sie sieht nur flüchtig zu uns auf. Das zweite Tor: schmaler, niedriger, mit einem Schäferhund davor. Es öffnet sich mit einem Summton. Der Hund reißt kläffend an seiner Kette, springt in Richtung der Besucher. Das dritte Tor ist eine enge Abfolge von Käfigen, jeder mit zwei Türen versehen. Das Gatter hinaus öffnet sich erst, wenn das Gatter hinein ins Schloss gefallen ist. Ein weiterer Blick hinter einer Glasscheibe, eine Frau wieder, die unsere Dokumente prüft. Sie nimmt uns die Handys ab, verteilt dafür Metallplaketten. „Nicht verlieren“, sagt sie dringlich. Noch einmal öffnet sich mit elektrischem Klick eine Stahltür, sie springt auf und gibt den Blick frei auf das, was sie die Rote Zone nennen und was im Amtsjargon Besserungskolonie 13 heißt. Eine schmale asphaltierte Straße führt in das Innere, ein Korridor aus Metall, links und rechts verbeulte Eisenwände. 20
An seinem Ende stehen mehrere Reihen zweistöckiger Ziegelhäuser aus der Stalin-Zeit, deren frischer Anstrich nicht verbergen kann, wie marode sie in Wirklichkeit sind. Zwischen der Ostsee und Wladiwostok am Japanischen Meer unterhält die Russische Föderation 1.029 Strafanstalten, aber nur sieben sind wie diese hier. Die Kolonie 13 mit ihren 1.750 Häftlingen beherbergt diejenigen, die Gefängnisse normalerweise bewachen und betreiben – Polizisten, Paramilitärs, Amtsdiener aller Art. Knapp 10.000 von ihnen sitzen in den Sonderknästen in ganz Russland ein. Diese sind nicht nur zu ihrer Strafe, sondern auch zu ihrem Schutz gedacht. In den „schwarzen Zonen“, wie Russlands Gefängnisse für gewöhnliche Kriminelle im Jargon heißen, müssten die Insassen der Kolonie 13 täglich um ihr Leben fürchten. In Marschformationen begegnen uns die Delinquenten auf den Lagerstraßen, die Hände hinterm Rücken, die Köpfe gesenkt. Sie sind angehalten, beim Laufen diese Demutshaltung anzunehmen. Die, die einst Recht sprachen oder es durchsetzten, tragen jetzt schwarze Häftlingskluft
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Platz 46, den es im Jahr 1996 hielt, auf zuletzt Platz 133. Es liegt damit weit hinter dem Bürgerkriegsland Sierra Leone und nur knapp vor dem desolaten Kongo. Die Korruption ist Russlands zweites Selbst. Die Regierung von Wladimir Putin gibt offiziell vor, sie zu bekämpfen, tatsächlich wuchs die Korruption unter ihr so heftig wie noch nie. Putin herrscht seit vielen Jahren mit einem System aus Freundschaft und Gefälligkeiten. Dieses System reproduziert sich auf allen Ebenen der Macht. Es heißt, nur wer die Korruption verstehe, könne Russland verstehen. Die Verurteilten der Kolonie 13 sind hier, weil sie es übertrieben, weil sie zu dreist waren oder im politischen Machtkampf unterlagen. Oder weil sie gar das System zum Besseren ändern wollten. Wer hier schuldig ist und wer nicht, ist oft schwer zu sagen. Denn die, die sie hierher brachten, gelten als besonders korrupt. Russlands Gerichte. Dieser Lesesaal ist der ideale Ort, um das Monstrum Korruption aus der Nähe zu betrachten. Ein Observatorium am Rande eines Schwarzen Loches, das alles an sich zu reißen versucht. Nagutschew Ruslan Salimolwitsch: „Mich haben sie drangekriegt. Ich wurde gefickt. Ich war erst bei der Antikorruptionseinheit und später beim Liegenschaftsamt meiner Gemeinde in der Nähe von Sotschi am Schwarzen Meer. Eines Tages kam ein Fremder zu mir, der mich mit Freundlichkeiten einwickelte. So ein Angeber mit Luxusschlitten und teurer Rolex-Uhr. Er wollte ein Grundstück, das er bereits gekauft hatte, als Eigentum ins Grundbuch eingetragen bekommen. Das dauert legal nämlich alles sehr lange in Russland. Der traf uns über acht Monate. Immer wieder. Er lud mich und die zwei anderen Kollegen zum Essen ein. Er trug „Ich bin hier wegen meiner Gier“, eine schicke Krawatte, eine Krawattennadel, und in beginnt er und lächelt. der Nadel war eine Kamera. Herrje, ich hab den ganAuf dem internationalen Corruption Percepti- zen Scheiß im Gerichtssaal mit angesehen! Der Mann on Index befand sich Russland in den letzten zwei war Mitarbeiter der Antikorruptionseinheit. Der hat Jahrzehnten im freien Fall. Das Land rutschte vom sogar gefilmt, wie er uns ins Bordell eingeladen hatte.
mit reflektierenden Streifen an Beinen, Brust und Schultern. Selten gewähren die Behörden Journalisten Zutritt zu diesem Lager. Seine Existenz ist eine Schande, gleichzeitig aber auch ein Beweis, dass unter Wladimir Putin der russische Staat gegen die Korruption vorgeht. Das Lager ist nicht etwa ein Symbol des Zerfalls staatlicher Macht, sondern das ihrer Widerstandskraft. So wollen es die Justizbehörden verstanden wissen, die uns den Besuch der Kolonie genehmigten. Das Lager befindet sich am Ortsrand der Stahlstadt Nischni Tagil, kurz hinterm Ural, Standort der größten Panzerfabrik der Welt. Das Kupfer der Freiheitsstatue in New York soll, so heißt es stolz in der Stadt, einst aus Nischni Tagil geliefert worden sein. Vor dem Besuch der „Zeit“ hat die Gefängnisleitung offenbar die Gebäude neu streichen lassen, man sieht noch Kübel mit weißer Farbe. Die Gespräche mit den Gefangenen finden im Lesesaal des „Kulturhauses“ statt. Knarrendes Parkett. Ein langer Tisch, an dessen Ende sich zwei junge Offiziere der Wachmannschaften positionieren, Elias und Oleg. Der Direktor hat sie für diese Aufgabe abkommandiert. Beide scheinen darüber nicht sehr glücklich zu sein. Sie bitten darum, ihre Nachnamen nicht zu drucken. Als erster Häftling tritt Nagutschew Ruslan Salimolwitsch in den Raum, 50, Ex-Polizist, eilig in all seinen Bewegungen, so wie er es in der Kolonie verinnerlicht hat. Er legt sein Käppi ab. Das Verbrechen, das ihn an diesen Ort gebracht hat, ist eines, das sie fast alle hier begangen haben.
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Drei Stunden Video. Scheiße, waren wir auf diesen Aufnahmen besoffen, unsere Gespräche bestanden zu 90 Prozent aus Schimpfwörtern. Wir haben für ihn alle Formalitäten erledigt, das war ein Haufen Arbeit, von A bis Z, und haben dafür 500.000 Rubel bekommen. 500.000 Rubel für ein halbes Jahr Arbeit, das ist doch nichts! Wir wurden dann im Juni 2011 verhaftet, als wir in einem Café saßen, 15 der schweren Jungs kamen, die Spezialeinheiten. Wofür? Ich versteh’ das nicht. Wir sind doch keine Riesen, nur Zwerge der Korruption. Meine Kinder haben meine Verhaftung im Fernsehen gesehen und geweint. Die Medien haben sofort alles gebracht, die echten Namen, Fotos, alles, ganz Russland hat es gesehen. Artikel 290, Paragraf 5. Vier Jahre habe ich bekommen. Ich habe mich arrangiert. Es ist für mich nicht so schlimm. Ich male. Als Kind habe ich die Kunstschule besucht, und ich bedanke mich beim Personal von ganzem Herzen, dass ich die Möglichkeit habe, zu malen. Sie hängen hier meine Bilder überall auf und verkaufen sie auch. Früher habe ich surreale Kunst gemocht, jetzt male ich eher Natur. Wozu brauchen wir hier noch surreale Bilder? Surreal ist aggressiv. Naturbilder entspannen. Heute male ich gerade an einem Bild, das zeigt ein Weizenfeld und einen Bauern. Da gibt es sehr viele helle Farben, das wirkt optimistisch. Meine drei Söhne hängen sehr an mir. Die zwei Jüngeren sind erst sieben und acht Jahre alt. Ich darf von hier aus ja telefonieren. Ich lass die erzählen und erzähl wenig von mir. Ich will sie nicht belasten. Wer neu in die Kolonie kommt, muss ein paar Regeln beachten. Ich sag allen, bleib, wie du bist. Sei kein Angeber. Es kommt nicht gut, wenn du überall erzählst, was für ein großer Hecht du draußen warst. Störe niemanden. Bewege dich so vorsichtig, dass du den anderen noch nicht mal leise mit der Schulter berührst, wenn du an ihm vorbeigehst. Sonst riskierst du Prügel. Und man darf den Humor nicht verlieren. Was bleibt 22
uns sonst? Das Geschrei über die Korruption ist übertrieben. Das macht die Politik nur, damit sie in den Internationalen Währungsfonds reinkommt. Ich kenne niemanden, der sich über die Korruption beklagt. Meine Bekannten beklagen sich über schlechte Straßen – darüber, dass es kein Wasser und keinen Strom gibt, aber nicht über bestechliche Polizisten. Wenn mir einer Geld auf den Tisch legt und dann einfach geht, ist das für mich keine Korruption. Ich betrachte das als ein Geschenk.“ Am korruptesten sind die Kindergärten Die beiden Offiziere Elias und Oleg verfolgen in den zwei Tagen unseres Besuchs die Gespräche zunächst angespannt, bald aber beginnt sich Elias zu langweilen, er bringt Illustrierte zum Schmökern mit. Den Oberkörper halb über die Tischfläche geschoben, den Kopf auf eine Hand gestützt, blättert er in den Magazinen. Oleg bleibt konzentriert, lauscht den Berichten. In manchen Momenten sieht er fassungslos seine Gefangenen an, mal aus Empörung, dann wieder aus Mitleid, bleibt aber stumm. Der, den sie immer noch Richter nennen, ist nahezu kahlköpfig, besitzt einen festen Händedruck, schaut mit festem Blick in die Augen des Gegenübers. Waleri Anatoljewitsch Krjukow, 64, spricht mit einer Stimme, die gewohnt ist, zu einer größeren Menschenmenge zu sprechen. Das ist ihm von den Jahren der Macht geblieben. Der Rücken ist ihm aber krummer geworden, der Kopf zwischen die Schultern gesunken. Er ist Vorsitzender des Gefangenenrates und fühlt sich in der Rolle des Gastgebers. Waleri Krjukow: „Wollen Sie Kekse? Einen Kaffee vielleicht? Ich bringe Ihnen etwas aus unserer Cafeteria. Wir waren hier alle früher auf der anderen Seite. Ich habe fast 20 Jahre lang für unseren Rechtsstaat
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gearbeitet. Auf der Universität war ich einer der Besten meines Jahrgangs. 1975 wurde ich zum Richter gewählt, damals wurde man noch gewählt und nicht ernannt wie heute. Ich habe mich hochgearbeitet, vom Amtsgericht zum Berufungsgericht meines Bezirkes. Ich war dort von zwölf Richtern der jüngste. Mir haben sie die härtesten Fälle gegeben. Jetzt bin ich hier. Mein Fall füllt 43 Aktenordner mit jeweils 300 Seiten. Ich hatte vor einigen Jahren als Richter gekündigt und war Geschäftsmann geworden. Viele aus meinem Jahrgang arbeiteten mittlerweile in der Ölindustrie. Ich hatte Kontakte. Ich begann damit, Öl in meine Region zu bringen, und eröffnete Tankstellen. Ich bin hier, weil man mir Betrug vorwirft. Zu neun Jahren verurteilt. Paragraf 159, Absatz 4. So steht es auf einem Zettel, den sie mir auf meinen Bettrahmen geklebt haben. Ich soll 44 ehemalige Angestellte gezwungen haben, für mich Kredite aufzunehmen, 50 Millionen Rubel. In der Kolonie bin ich der Vorsitzende des Ältestenrates. Ich habe mein eigenes Büro. Das Lager ist in Arbeitsbrigaden unterteilt. Es gibt für jede Arbeitsbrigade einen Leiter, 17 sind es insgesamt. Hier im Lesesaal des Clubs sitzen wir dann zusammen, um die Aufgaben zu lösen, die uns von den Wachmannschaften vorgegeben werden. In deinem Leben in der Kolonie gibt es zwei Phasen. Die Anfangsphase und die jetzt. Am Anfang waren nur Zorn, Wut und Schrecken. Ich habe im Gerichtssaal den Richter angeschrien. Ich kenne das Gesetz leider sehr viel besser als die heutigen Richter. Aber jetzt sehe ich es philosophisch. Ich büße hier nicht für das Vergehen, für das man mich bestraft, sondern wegen der vielen kleinen Dinge, die in meinem Leben ungesühnt blieben. Ich sage den Neuankömmlingen: Nehmt euer Schicksal an. Akzeptiert’s. Ich habe als Richter 7.500 Verhandlungen geleitet und 9.000 Menschen verurteilt. Und jetzt putze ich den Boden dieses Raumes. Aber was soll’s. Was soll’s.“
Die Korruption durchdringt in Russland alles. Am korruptesten sind die Kindergärten. In einer Studie des russischen Forschungsinstituts Lewada gaben zwölf Prozent aller jungen Eltern an, Kindergärtnerinnen bestochen zu haben. Wer zahlt, bekommt den Platz für sein Kind prompt, ohne Warteliste. Die Erzieherinnen stehen gleichauf mit den Gemeinderäten. Es folgen mit zehn Prozent die Gerichte, mit acht Prozent die Wohnungsämter, mit sechs Prozent Schulen und Krankenhäuser. Die Korruption folgt ausschließlich ihren eigenen Regeln. Alle anderen Regeln hebelt sie aus. Die Gesetze, die der Staat offiziell erlässt, dienen in der Praxis vor allem dazu, die Höhe der Schmiergelder zu bemessen – die jene Gesetze außer Kraft setzen. Korruption verschmilzt Kapitalismus mit Anarchie. Korruption lähmt und beschleunigt. Sie ist die Wunderwaffe des einfachen Bürgers und seine schlimmste Geißel. Ein weiterer Häftling öffnet die Eingangstür zum Lesesaal, zögerlich umgreift seine Hand die Türkante. Ein älterer Herr, graue kurze Haare. Vorsichtig lächelnd steht er vor uns. Oleg winkt ihn schroff herein. Er war vor seiner Verurteilung der Direktor der Steuerbehörde von Nischni Nowgorod, einer Millionenstadt an der Wolga, der Chef von 140 Finanzbeamten. Er bittet darum, seinen Namen nicht zu nennen, damit er später in Freiheit, in vielen Jahren, nicht noch mehr Erniedrigungen erfahre. Er braucht viel Kraft für dieses Gespräch. Alles an seinem Körper ist erschlafft. Die Schultern, die Hände, die Wangen. Die Demütigung des tiefen Falls ist ihm auf den Leib geschrieben. Direktor des Steuerbehörde: „Sie wollen sicher wissen, warum einer wie ich hier ist? Die meisten Gefangenen, mit denen Sie sprechen, werden Sie anlügen. Ich hab keinen Grund dazu. Die Sache bei mir ist gelaufen. Mein Urteil lautet auf 14 Jahre. Schluss. Fertig. Kein anderer hier hat eine so lange Haftstrafe. 23
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Im März 2013 hat das oberste Berufungsgericht in Moskau mich abgewiesen. Seit Juni 2007 bin ich eingesperrt. Sie haben mich von zu Hause mitgenommen. Wissen Sie, dass ich Doktor der Wirtschaftswissenschaften bin? Hab eine Arbeit geschrieben mit dem Titel: ‚Prinzipien und Methoden wirtschaftlicher Analysen kleiner Unternehmen im Gebiet Nischni Nowgorod’. Ich war Dozent, bin mein Leben lang schnell auf der Karriereleiter vorangekommen. Vor meiner Zeit bei der Steuerbehörde hab ich sogar für den Bürgermeisterposten kandidiert. Meine Losung hieß: ‚Gemeinsam ins 21. Jahrhundert!’ Ich hab verloren. Meine Frau hat mich gedrängt, beim Finanzamt aufzuhören, so unsauber ging es da zu. Sie hat gesehen, wie nervös ich war. Immer unter Druck. Und dann kam eines Tages die Revision des Ministeriums. Sie haben in meinem Verantwortungsbereich sehr viele Verstöße festgestellt und mir vorgeworfen, ich hätte den Staat um 190 Millionen Rubel betrogen. Sie brauchten einen Sündenbock. Ich habe meiner Stellvertreterin zu sehr vertraut. Die hat sich mit einer Unternehmerin zusammengetan und falsche Mehrwertsteuer-Bescheinigungen ausgestellt. Diese Unternehmerin hatte 18 Scheinfirmen gegründet. Die gab’s nur auf dem Papier, doch sie hat Umsatz vorgetäuscht und sich dafür Mehrwertsteuer zurückerstatten lassen. Ich weiß genau, wie es lief. Sie hat die Papiere bei uns eingereicht, die bekommt ein Steuerinspektor, der die prüft. Der schreibt dann seine Empfehlung, die dann noch im Haus von vier weiteren Leuten unterschrieben werden muss. Als Leiter hab ich nie irgendwelche Dokumente unterschrieben. Als Leiter habe ich von diesen Papieren gar nichts gesehen. Aber die Staatsanwaltschaft hat vor Gericht so argumentiert, als wenn ich das alles organisiert hätte. Ich muss leider sagen, es ist mir nicht gelungen, das Gegenteil zu beweisen. Die Stellvertreterin wurde auch verhaftet. Ihre Strafe wurde aber ausgesetzt, sie hat gegen mich ausgesagt. Mich allein 24
beschuldigt. Sie hatte acht Anwälte, ich nur einen, einen schlechten. Ich hatte kein Geld. Sie hat sieben Jahre Haft bekommen, aber man hat sie ihr erlassen, weil sie eine 14-jährige Tochter hat. Das ist die offizielle Begründung. Und was ist mit meinen Töchtern? Die jüngste ist zwölf! Die 190 Millionen Rubel sind verschwunden. Vermutlich hat sich meine Stellvertreterin mit einem Teil der Summe freigekauft. Sie hat mich zehnmal verraten, dabei hab ich sie selbst ernannt. Hier in der Kolonie leite ich das Psychologische Labor. Ich bin dort für die Sauberkeit zuständig, außerdem verteile ich die psychologischen Testbögen. Alle Insassen werden alle drei Monate getestet. Die wollen so Selbstmorde vermeiden. Sonst habe ich nicht so viel zu tun. Ach ja, ich muss auch die Wellensittiche füttern. Nach Feierabend werden die Stühle auf die Tische gestellt, und der Boden wird gewienert. Wir sind zu zweit. Der andere ist ein ehemaliger Verkehrspolizist. Verurteilt wegen Amtsmissbrauchs. Er hatte einen Festgenommenen geschlagen. In einem halben Jahr wird er entlassen. Meine 14 Jahre finde ich sehr ungerecht. Aber schon die Untersuchungsrichterin hat mir gesagt, ‚dein Urteil ist bezahlt, deswegen kriegst du das volle Programm’. Alle Geschworenen, die sich bei den Beratungen für mich ausgesprochen hatten, wurden kurz vor dem Urteil ausgetauscht. Das hab ich auch dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg geschrieben. Die haben meinen Fall übrigens auch abgelehnt. Ich bin jetzt 59 Jahre alt. Ich werde hier drinnen immer dümmer. Die geistige Entwicklung ist gestoppt. Ich sehe fern oder lese. Natürlich gibt es hier keine sehr guten Bücher. Es war schwierig, mich an das Gefängnis zu gewöhnen. Wie würden Sie sich fühlen!? Ich habe einen Hochschulabschluss, bekleidete eine hohe Führungsposition. Ich bin ein gehorsamer und ordentlicher Bürger dieses Staates gewesen, mein Leben lang. Aber ich hab es verstanden, ich bin im Gefängnis, ich bin wie jeder andere, ich muss mich an die Regeln halten.“
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Die Tür fällt hinter dem Direktor ins Schloss, Oleg streckt sich gähnend. Er verschränkt die Arme im Nacken. „Ich habe sein Urteil von vorne bis hinten gelesen“, sagt er. „Ich konnte darin keinen Beweis für seine Schuld erkennen. Aber vielleicht habe ich es nur nicht begriffen.“ Die Regeln der Kolonie haben offenbar vor allem ein Ziel: den Häftlingen die Individualität zu nehmen. Zwischen den Bereichen des Lagers dürfen sie sich nur in Marschformationen bewegen. Es gilt als Privileg, einzeln laufen zu dürfen, kenntlich gemacht durch einen weißen Streifen am Ärmel, ein Recht, das man sich durch das Einhalten vieler anderer Regeln verdienen muss. Der Bettenbau muss millimetergenau sein. Das Produktionssoll in den Werkstätten der Kolonie muss erreicht werden. In der Gießerei, der Dreherei, der Schreinerei. Der Boden muss nach Vorschrift geschrubbt, die Wachmänner müssen militärisch korrekt gegrüßt werden. Die Regeln füllen ein dickes Buch, sie hängen an den Wänden der Schlafsäle, in der Kantine, den Toiletten und werden der Kolonie jeden Vormittag von 8 bis 12 Uhr über ein Dutzend Megafone vorgelesen. Was die Mauern der Kolonie 13 für den Körper, sind ihre Regeln für den Kopf. Er kommt mit nur mühsam kontrollierter Wut, fast benimmt er sich wie der, der er einst war. Chodytsch Alexander Michajlowitsch, 36, setzt sich, und sofort versucht der frühere Polizei-Oberstleutnant, meinen Blick niederzuringen. In der Region Kuschtschjowskaja am Schwarzen Meer, aus der er stammt, ist er Legende. Er füllte dort die Titelseiten der Zeitungen. „Der Patenonkel“ wird er dort genannt. Als Leiter einer Antiterroreinheit soll er jahrelang Teil einer der grausamsten Mafiabanden Südrusslands gewesen sein. Die beängstigendste Form der Korruption. In vielen Bezirken sind Polizei und Mafia miteinander verschmolzen. Der eine nährt den anderen. Nachdem die Bande mit dem
Namen Zapok am 4. November 2010 zwölf Mitglieder einer mit ihr verfeindeten Familie umbrachte, darunter Frauen und Kinder, wurde Chodytsch von Spezialkräften aus Moskau verhaftet. Chodytsch Michajlowitsch: „Die Polizei war von Anfang an meine Welt. Ich habe in meiner Laufbahn zwölf Auszeichnungen und Orden bekommen. Ich war Meister im Kickboxen und der Präsident des Schwerathletenverbandes in meiner Region. Ich hatte zunächst die Abteilung Bekämpfung des Organisierten Verbrechens unter mir, dann die Antiterroreinheit. Alle anderen Dienststellen mit Ausnahme des FSB (der Nachfolger des KGB, Anm. d. Red.) waren verpflichtet, mir Bericht zu erstatten. Eine meiner Aufgaben ist es zum Beispiel gewesen, zu prüfen, ob Kandidaten für öffentliche Ämter charakterlich geeignet sind. Wissen Sie, in meinem Leben war alles gut, ich war zufrieden, wirklich, bis zu dem Tag, an dem diese zwölf Leute getötet wurden. Ich war als Ermittler am Tatort, ich sage Ihnen, grässlich, Frauen und Kinder, mit Klebebändern gefesselt, die Hände und Beine, dann alle erstochen, mit gewöhnlichen Küchenmessern, und hinterher mit Benzin übergossen und verbrannt. Das war der Skandal. Der Gouverneur brauchte einen Sündenbock. Ein Schlachtopfer. Schon Tage vor meiner Verhaftung kamen TV-Teams an mein Haus und fragten: Wieso bist du noch nicht verhaftet? Das Innenministerium hat in meiner Vergangenheit geforscht, nichts konnten sie finden, gar nichts! Dann kamen sie irgendwann mit dem Vorwurf daher, ich hätte einem Freund sein Auto abgepresst. Der hatte mir Geld geschuldet, 18.000 Euro, und ich habe ihm angeboten, stattdessen sein Auto zu nehmen. Deswegen haben sie mich offiziell verhaftet, lächerlich! Solche Sachen haben die ausgegraben. Noch ein, zwei ähnliche Dinge, bei denen ich mich bereichert haben soll. Wegen dieser Absurdität bin ich jetzt zu acht Jahren verurteilt. Mein Urteil fiel vor laufender Kamera, mich hatten sie im Gericht in einen Käfig gesperrt. 25
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Davor saß meine Frau und weinte. Stellen Sie sich das vor! Ich hatte keinen Anwalt zu meiner Verteidigung, und auch kein Menschenrechtler war damit befasst. Die Verhandlung dauerte nur einen Tag. Sie wollten einen schnellen Prozess. Im Gericht haben sie mir gesagt, wenn du deine Schuld anerkennst, kriegst du nur drei Jahre. Aber ich hab’s nicht gemacht! Ich hab’s nicht gemacht! Diese Absurdität kostete mich acht Jahre. Und alles nur, weil der Anführer der Bande, Sergej Zapok, der Patenonkel meines Sohnes ist. Ich passte am besten, ich kannte jeden der Zapok-Bande, das ist doch klar, ich bin mit denen aufgewachsen. Sergej war lange ein hoch geachteter Mann, Doktor der Soziologie, Mitglied in Putins Vaterlandspartei. Ich sitze wirklich unschuldig hinter Gittern. Aber meine Frau stützt mich. Sie schickt mir Geld. Hier in der Kolonie ist es meine Aufgabe, die Marschkolonnen der Gefangenen zu begleiten. Ich laufe vor ihnen her, gebe die Richtung vor, ich registriere, wer wann wohin geht. Ich bitte Sie, fragen Sie beim Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof nach, ob die sich um meinen Fall kümmern. Die müssen ihn vorrangig bearbeiten! Niemand hört dich als Häftling. Niemand hilft dir!“ Oleg sieht ihm schmunzelnd hinterher, als Chodytsch zur Tür hinausgeht. Ob er unschuldig sei, wie er behaupte, frage ich ihn. „Wenn er so unbestechlich war, wie er sagt“, meint der Wachmann, „woher hat er dann als einfacher Polizist 18.000 Euro, die er verleihen konnte?“ Um zu verhindern, dass Insassen sich umbringen, gibt es sechs Psychologen in der Kolonie. Fast alle, die hier landen, waren Menschen mit Macht, die diese Macht jetzt im Knast radikal verloren. Die Psychologen begutachten die Neueinweisungen in der „Quarantäne“, einem eigens abgeriegelten Block im Lager, wo die Neuen die ersten vier Wochen verbringen. Sie setzen sie vor PC-Schirme und starten per Mausklick die Software des 26
Psychologietests. Dieser Computertest wird dann alle drei Monate wiederholt. Entdecken sie Auffälligkeiten, laden sie die Sträflinge zu Gesprächen ein. Die einfachen Dienstgrade begegneten ihrem Angebot offen, erzählt einer aus dem Psychologenteam, die höheren lehnten meist ab. 27 Häftlinge seien derzeit akut suizidgefährdet, ihnen sei die Nachtarbeit verboten, ständig habe sie jemand im Auge. Am wichtigsten jedoch sei die Arbeit im Lager. Es gibt eine Gießerei, eine Nudelfabrik, eine Anlage für Viehzucht. Im Unterschied zu normalen Gefangenen wissen die verurteilten Staatsdiener nicht, was sie nach ihrer Haftentlassung tun. Der Weg zurück in den Staatsdienst bleibt ihnen auf immer verwehrt. Ein Leben in Freiheit bedeutet für viele von ihnen ein Ende als Säufer. Herausgehobene Tätigkeiten müssen die Gefangenen bezahlen Unter den Häftlingen herrschen strenge Hierarchien. Ganz unten sind die Polizisten, die HIVinfiziert oder tuberkulosekrank sind. Sie leben im Lager in nochmals separat umzäunten Gebäuden und dürfen sie nicht verlassen. Knapp über ihnen folgt die Gruppe der Tschetschenen, Mitglieder der russischen Spezialkräfte im Kaukasus, denen Mord und Vergewaltigung zur Last gelegt wird. An der Spitze der Gesellschaftspyramide stehen die, die früher auch oben waren, die hohen Offiziere und Richter und Direktoren. Sie haben das Geld, sich im Lager möglichst angenehme Bedingungen zu schaffen. „Für vieles muss man zahlen“, sagt einer, der zehn Jahre in der Kolonie war und jetzt in Freiheit ist. Für den Posten eines Brigadeleiters müssten zwischen 80.000 und 90.000 Rubel gezahlt werden. Dafür bekommt er ein Einzelzimmer und darf über Skype mit seinen Verwandten sprechen. Die meisten Insassen leben in Sälen mit 90 bis 120
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Betten. Für die Unterbringung in kleineren Zellen muss man bis zu 30.000 Rubel zahlen. Das Geld werde von Verwandten oder Freunden in Freiheit an Mittelsleute des Gefängnispersonals überwiesen. Die Korruption, die sie hierherbrachte, führt zu noch mehr Korruption. In einem anderen Polizistengefängnis, der Kolonie 3 in Irkutsk, kam es im Juni zu einem Aufstand, bei dem sich 400 Insassen gegen zu hohe Bestechungsgelder wehrten. Beim Morgenappell schnitten sich 38 von ihnen die Arme auf. Oleg ist nach dem Interview aufgestanden und sieht durch die vergitterten Fenster zum Hof hinaus, wo die Lautsprecher mittlerweile „Peer Gynt“ spielen. Klassische Musik soll die Häftlinge beruhigen. Die Tage in der Kolonie sind eine Abfolge von Sinfonien. „Der Kampf gegen die Korruption soll nur ablenken“, sagt Oleg am Fenster. „Von zehn Verkehrsunfällen wird nur einer von einem Besoffenen verursacht. Die anderen von den schlechten Straßen.“ Das Problem der Korruption in Russland ist deshalb ein so großes, weil es nicht als Problem erkannt wird. Die Studie des Lewada-Instituts von 2012 ergab, dass nur 29 Prozent der Befragten die Kultur der Korruption kritisierten – im Jahr 1999 waren es gar nur drei Prozent. Das Problem beginnt an der Spitze. Hartnäckig halten sich Gerüchte um die Reichtümer, die Wladimir Putin angehäuft haben soll. Bei einem offiziellen Jahreseinkommen von 140.000 Dollar soll er über ein Vermögen von 40 Milliarden verfügen. Fragen nach der Herkunft seiner teuren Uhren und des teuren Schmucks seiner Frau bleiben unaufgeklärt. Der Anteil der Korruption am Bruttosozialprodukt beläuft sich nach Schätzungen der renommierten Idem-Stiftung auf 25 Prozent. Die Summe der gezahlten Bestechungen stieg zwischen 2001 und 2005 von 33 Milliarden auf 316 Milliarden Dollar
und wird gegenwärtig auf 300 Milliarden taxiert. Die Wirtschaft gibt diese Mehrkosten weiter, die Verbraucherpreise steigen. Der Anteil der Korruption an den Kosten eines Einfamilienhauses beträgt mittlerweile 30 Prozent. Offiziell ist der Kampf gegen die Korruption ein wichtiges Anliegen der Regierung Putin. In Wahrheit hat sie unter ihr stark zugenommen. Sehr effizient nutzt er die Antikorruptionskampagne immer wieder, wenn es darum geht, unliebsame Opponenten auszuschalten. „Wir hätten da noch einen“, sagt Oleg am Ende eines langen Tages und lässt Konstantin Janowitsch Ljudi, 39, herein. Mehrere Stunden hat er vor der Tür warten müssen. Konstantin Janowitsch Ljudi: „Ach, das macht nichts, ich hab hier ja nicht so viel zu tun. Wir könnten uns auch auf Englisch unterhalten, aber das wollen die Beamten nicht. Dann können sie uns nicht verstehen. Ich war bis zu meiner Verhaftung im Jahr 2011 der stellvertretende Minister für Information im Gebiet Krasnodarski Kraj. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte mir ungesetzlich ein Grundstück angeeignet. Ein Vorwand. Tatsächlich hatte ich in meinem Amt einen Konflikt mit dem FSB. Damals gab es aus Moskau Gelder für Frühwarnanlagen in einem Hochwassergebiet. Die Sache fiel in meine Zuständigkeit, es war jedoch auch der FSB involviert, weil es da ja um die öffentliche Sicherheit ging. Ich hatte eine offene Ausschreibung geplant, wie es auch gesetzlich vorgeschrieben ist. Aber der Vertreter des FSB hat gesagt, er wolle eine geschlossene Ausschreibung. Natürlich sollte eine Firma aus Moskau gewinnen, die der FSB offenbar schon ausgesucht hatte. Ich weiß nicht, ob in der betroffenen Region jemals etwas gemacht wurde. Ich weiß nur, dass es im Juni 2012 eine schwere Hochwasserkatastrophe gegeben hat, bei der über 200 Menschen starben. Aber da war ich schon im Gefängnis. Es ist eine Intrige, um mich mundtot zu machen. Jeder, der sich mit dem FSB anlegt, gerät in diesen 27
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Strudel. Der FSB wollte mich loswerden, ich war zu im Internet gelöscht wurden. Ich werde ihn später unbequem. Mir wurde direkt gesagt, ich hätte keine im Hotel googeln. „Wir haben in Russland einen Chance. Also habe ich meine Schuld anerkannt, um alten Spruch“, sagt Oleg: „Gib mir einen Menschen, die Minimalstrafe von vier Jahren zu bekommen. Ich und ich finde dir den passenden Paragrafen.“ Oleg kenne mich da ja aus. Bevor ich Minister wurde, war hat früher viel darüber nachgedacht, sagt er, wen er ich Staatsanwalt. Ich war der ermittelnde Staatsan- hier bewache. Schuldige, Unschuldige, Menschen, walt nach dem Massaker in der Schule von Beslan. die womöglich nur zu wenig Kapital hatten und Die BBC hat damals eine Dokumentation über mich im Wettstreit der Schmiergelder unterlagen. Wer gemacht. In unseren Medien wurde über meine Fest- in der Kolonie für seine Schuld büße, und an wem nahme nicht berichtet. Unsere Medien berichten ja sich der Staat schuldig mache. Oleg sagt, er habe nur, was ihnen vorgeschrieben wird. Fast alle Inter- längst aufgehört, solchen Gedanken nachzuhängen neteintragungen über mich sind gelöscht. Sie werden – weil es einfach zu nichts führe. Aus den Lautsprechern spielt Rachmaninow, kaum etwas finden! Schauen Sie nach! Sie haben mich so weit weg geschickt, wie sie nur als wir die Kolonie verlassen. Ein fließender dunkkonnten. Ich war im Gefängniszug zwei Wochen lang ler Klangteppich über dem Lagergelände. Die unterwegs. Von ganz im Süden bis hierher in den Nor- Wachfrau in der Sicherheitsschleuse gibt uns mit den. Ich habe jetzt ein Jahr und acht Monate hinter der Andeutung eines Lächelns die Mobiltelefone mir. Ich zähle nicht die Tage. Jeder Tag hier ist gleich. zurück. Der Hund reißt abermals an der Kette und Sechs Uhr aufstehen, Betten bauen, Frühstück, kur- schnappt in Richtung der Hosenbeine. Eine Tür ze Pause, rasieren, um acht Uhr der Appell, abzählen, nach der anderen fällt hinter uns ins Schloss. dann gehe ich hier in den Club, wo ich putze. Mein Zeit Magazin, 27.12.2013 Dienst dauert bis 21 Uhr, danach ist Abendkontrolle, um 22 Uhr geh ich schlafen. Ich habe mein Urteil akzeptiert. Ich versuche nicht, mich zu verteidigen, weil das meine Lage nur verschlechtern würde. Meine Kinder sind zehn und sieben Jahre alt, sie glauben, der Papa würde in London arbeiten. Ich sehe für mich und meine Familie in Russland keine Zukunft. Nach meiner Entlassung werden wir ins Ausland übersiedeln. Wenn das alles vorbei ist, lade ich Sie auf einen Kaffee auf dem Paradeplatz in Zürich ein.“ Das Interview wird unterbrochen, die Zeit für unseren Besuch ist um, auf die Minute genau. Sechzehn Stunden, verteilt auf zwei von Moskau genehmigte Tage. Oleg rückt den Stuhl vom Tisch. Elias, der zweite Wachmann, nimmt seinen Stapel Illustrierte unter den Arm. „Wie den haben wir viele hier“, sagt Oleg beim Hinausgehen über den Minister, über den tatsächlich fast alle Eintragungen 28
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textreportage nominierter
✍ Killer als Retter von Philipp Kohlhöfer Geo, 09/2013 Bakteriophagen essen Infektionen auf. Das klingt wie Science Fiction, ist aber seit hundert Jahren bekannt. Im Westen gibt es teure Antibiotika, in Georgien gibt es Phagen – Arzneien für wenig Geld in jeder Apotheke. Hilfe oder Hokuspokus? Philipp Kohlhöfer nimmt uns mit auf eine Reise von Thüringen nach Tiflis und zurück, und wir kommen aus dem Staunen nicht heraus. So muss eine Reportage sein. Werner D’Inka, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Fotos: Claudius Schulze
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Foto: Kai Loeffelbein
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Philipp Kohlhöfer Aufgewachsen in einem Dorf im hessischen Nichts zwischen Gießen und Frankfurt, zieht Philipp Kohlhöfer (*1973) Ende der 1990er nach Hamburg und studiert dort alles mögliche: BWL, Geschichte, Germanistik, Jura und Politik. Letzteres zu Ende. Was aber tun als Politologe? Das Ausschlussprinzip ergibt: Schreiben. Mehrere Monate in Long Beach verbracht, in Los Angeles gearbeitet. Kohlhöfer ist Chefredakteur des von ihm erfundenen Magazins WALD. Er hat zwei Bücher geschrieben, Magazine und TV- Konzepte entwickelt und einmal eine Wissenssendung auf ZDF neo moderiert (nach dem ersten Versuch eingestellt). Zudem immer mal wieder nominiert für diverse Journalistenpreise wie den Reporterpreis, den Hansel-Mieth-Preis und den Henri-Nannen-Preis. Mit dem Magazin WALD 2014 nominiert beim ADC und dem BCP. Abgesehen von einem Papphaus von Nivea 1979 und einem Nussknacker 1982 noch nichts gewonnen. 31
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Killer als Retter von Philipp Kohlhöfer Antibiotika, Allzweckwaffen der Medizin, verlieren an Schlagkraft. Alternativen? Dringend gesucht. In Georgien gehen Ärzte einen ungewöhnlichen Weg: Sie behandeln Kranke mit Viren, die krankmachende Bakterien befallen. Eine Lösung auch für uns?
✍ I. Luisenthal, Thüringen
A
m Tag, als Carola Hofmann sich von ihrem Bein verabschiedet, wird alles anders. Sie sieht fern, das Bein hat sie hochgelegt; es pocht, die Entzündung hämmert immer neue Bakterien in immer neues Gewebe. So ist das, seit sie sich erinnern kann. Sicher, sagt sie, es gab ein Davor, aber das liegt begraben unter einer schweren Decke von Schmerz.Das Bein nässt. Das Telefon klingelt. Sie steht auf, zwei Krücken braucht sie dazu. Sie weiß nicht, ob sie sich beeilen soll. Sie ist nervös, wenn das Telefon klingelt. Ihr Mann ist Soldat, er dient in Afghanistan. Was, wenn jemand von der Bundeswehr am Apparat ist? Wenn ihr Mann bei ihr war, in Gedanken, und deswegen die Sprengfalle nicht bemerkt hat? Das verdammte Bein, es wäre auch noch daran schuld. Carola Hofmann, 51, hat die Stimmen ihrer Ärzte im Ohr: Die emotionale Belastung hilft der Heilung nicht. Sie werden sterben, wenn wir das 32
Bein nicht amputieren. Blutvergiftung. Man könne der Entzündung zusehen, wie sie sich im Knochen nach oben frisst, verbrannte Erde hinterlässt, Krieg gegen ihren Körper führt. Krieg ist gut, denkt sie, wenn die wüssten, was das ist, Krieg. „Nein, das Bein wird nicht amputiert“, sagt sie. Bis vor zehn Jahren hat es sie gut durchs Leben getragen, ihr Bein. Dann ein Winterspaziergang, eine Zerrung. Keine große Sache, so schien es. Aber das Bein schwoll nicht ab. Diagnose: Die Kniescheibe hatte keinen ausreichenden Halt mehr, eine kleine Operation, und das war’s. War es aber nicht: Komplikationen, chronische Knochenhautentzündung, fast 100 Eingriffe. Und: Infektion mit Staphylococcus aureus, einem kleinen Bakterium, das fast überall vorkommt, auch auf der Haut von etwa einem Drittel aller Menschen. Eine Mikrobe, die keinen Schaden anrichtet, wenn man gesund ist. Aber wenn nicht, dann löst sie Entzündungen von Herz, Haut, Muskel und Lunge aus, toxische Schocks und Blutvergiftung.
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Und: „Alle Mikrobiologie basiert auf Bakteriophagen.“ Bakteriophagen, kurz Phagen, sind Viren, die Bakterien infizieren. Und nur sie. Ihr Name ist abgeleitet von phagos, griechisch für „Fresser“, und macht klar, was ein Phage tut: Er tötet die wesentlich größeren Bakterien. Er dockt mit seinen Schwanztentakeln auf deren Zellhülle an, injiziert sein Erbgut und übernimmt die Kontrolle. Die Proteinmaschine des Bakteriums produziert von nun an Phagenpartikel. Am Ende platzt die Wirtszelle und setzt Hunderte von neuen Viren frei, die wiederum nach Bakterien Ausschau halten. Phagen vermehren sich schnell: im Durchschnitt alle 20 bis 60 Minuten. Selbst wenn zunächst nur wenige Phagen auf die Bakterien treffen, gewinnen sie daher binnen Kurzem die Oberhand. Sind alle Bakterien getötet, fehlt den Viren die Lebensgrundlage – und sie verschwinden ebenfalls, von ganz allein. Das passiert ständig, überall. In uns und auf uns, in salzigen Lebensräumen, in sauren und in alkalischen, selbst in der Tiefsee. Vermutlich regulieren Phagen mit ihrer Gefräßigkeit das Gleichgewicht der Bakterienflora. Auch im und auf dem menschlichen Körper. Warum das Potenzial dieser Mikroorganismen nicht nutzen? Kutateladze macht eine Pause, damit der nächste Satz seine Wirkung entfalten kann: „In II. Tiflis, Georgien 98 Prozent der Fälle, die wir positiv auf MRSA geMzia Kutateladze sitzt in einem grauen Büro, testet haben, haben unsere Phagen die Bakterien vor dem Fenster knallt die Sonne vom Himmel. zerstört.“ Ein gesprochenes Ausrufezeichen. „Wir Frühling. Mzia Kutateladze sagt: „Ich bin stolz auf nutzen das seit Jahrzehnten.“ Tatsächlich verkauft jede besser sortierte Apodas, was ich für das Institut und mit den Phagen geleistet habe. Ich bin nie von hier weggegangen. theke in Georgien Phagenprodukte zur Therapie. Es gibt Tabletten und Salben, Saft und Spray, InjektiWir Georgier können das nicht so gut.“ Mzia Kutateladze, Mikrobiologin, seit 1987 onen und selbst Tampons. „Um Bakterien-Resistenam Eliava-Institut für Mikrobiologie und Virolo- zen zu entgehen, entwickeln wir Cocktails, in degie in Tiflis, Georgien, lächelt. „Head of Science“ nen bis zu 40 verschiedene Phagen gemischt sind.“ steht auf ihrer Karte, „Scientist at heart“, sagt sie. Die Herstellung von Phagenarzneien ist seit fast
In diesem Fall war der Keim besonders zäh, und er nutzte – pure Evolution – jede Behandlung mit Antibiotika, um noch zäher zu werden. Carola Hofmann hatte einen MRSA-Keim. MRSA, Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus. Umgangssprachlich ist es mittlerweile ein Synonym für Bakterien, die gegen drei oder mehr Antibiotika resistent sind. 30.000 Menschen sterben allein in Deutschland jährlich an Krankenhausinfektionen, 400.000 infizieren sich in Kliniken – meist sind multiresistente Erreger beteiligt. Ein Fünftel der Patienten in deutschen Hospitälern ist Träger der Mikroben, Tendenz steigend. Seit Mitte der 1990er Jahre in einem japanischen Krankenhaus zum ersten Mal MRSA-Keime aufgetreten sind, nimmt ihre Zahl weltweit rapide zu. „Die Welt steht am Rande eines postantibiotischen Zeitalters, in dem Infektionen wieder unvermindert töten werden“, warnte die Weltgesundheitsorganisation WHO schon 2011. „Vielleicht“, sagt Carola Hofmann, „wäre es ja doch eine Erlösung, kein Bein mehr zu haben.“ Das Bein fühle sich ohnehin an, als gehöre es jemand anderem. Sie nimmt das Telefon ab. Ihr Bruder ist dran, sie ist erleichtert. „Was dein Bein angeht“, sagt er, „da habe ich eine Idee.“
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100 Jahren bekannt – auch im Westen. Nur wurde das Potenzial der Fresser dort wieder vergessen, weil die Infektionsbekämpfung mit Antibiotika viel leichter funktionierte. Und noch ein anderer Grund hat wohl die Karriere der Phagen gebremst: Die großen Firmen sind eher daran interessiert, ein Medikament für eine chronische Krankheit zu entwickeln als eines, das sofort hilft und dann nicht mehr gebraucht wird. Zudem ist die Herstellung der Phagen nicht patentierbar. In der ehemaligen UdSSR hingegen mangelte es immer an Antibiotika, Alternativen waren notwendig. Das Eliava-Institut war das Zentrum der Phagentherapie. Und nach dem Zerfall der Sowjetunion war es der Ort, an dem der Behandlungsansatz bis heute überdauert hat. Nun aber steigt das Interesse im Westen: Die Aussicht darauf, dass im Osten eine Waffe gegen Antibiotika-Resistenzen existieren könnte, ist verlockend. „2007“, sagt Kutateladze, „hatten wir sechs Anfragen aus dem Ausland, in den ersten beiden Monaten 2013 waren es schon 60.“ Es geht voran. Phagen sind zwar im Westen nicht zur Therapie an Menschen zugelassen, aber immerhin hat die US-amerikanische Lebensmittelund Arzneibehörde FDA 2011 ein Spray zur Behandlung von Lebensmitteln freigegeben. Es dient dazu, Fleisch im Schlachthaus einzusprühen, das aufgrund der irrwitzigen Antibiotika-Gaben in der Massentierhaltung oft mit multiresistenten Keimen verseucht ist. Die Mischung aus drei Phagenstämmen reduziert die Menge der E.-coli-Bakterien auf dem Fleisch um 95 Prozent. Im März 2013 folgte ein Mittel gegen Salmonellen. Der Chefwissenschaftler der Firma ist Georgier. Aber helfen Phagen auch bei Menschen? Kutateladze stöhnt, beinahe resigniert. Wieder so einer aus dem Westen, der nicht glaubt, was sie hier seit Jahrzehnten erleben. Gibt es Studien? Wenn ja, wo 34
sind die? Mzia Kutateladze steht auf, geht zur Tür. Gegenfrage: Warum muss man immer von vorn anfangen? „Kommen Sie mit“, sagt sie, „ich zeige Ihnen was.“ „Sie werden mir hier helfen“ Ein Wartezimmer, Dutzende Patienten, plärrendes georgisches Fernsehen, niemand sieht hin. Die Menschen husten und zittern. Mariam Aualiani lächelt. „Sie werden mir hier helfen“, sagt sie. „Ich habe immer Fieber, es frisst mich auf, und ich weiß nicht mehr weiter. Meine Lunge, mein Magen, alles in Ordnung, aber mein Hals ist so rau wie eine verrostete Reibe.“ Mariam Aualiani, Schülerin, 16 Jahre alt, ist mit ihrem Vater aus Batumi am Schwarzen Meer angereist, fünf Autostunden Fahrt, fünf Autostunden Hoffnung. Was, wenn die Ärzte hier nichts finden? „Sie werden“, sagt der Vater. Es ist etwas Bakterielles, hatten die Mediziner ihnen zu Hause gesagt, „wir wissen nicht, was, aber wir wissen, wer Ihnen helfen kann“. „Wir“, sagt Nana Topuria. Sie ist Chefin über drei Behandlungsräume und 30 Wissenschaftler, davon neun Ärzte. Kutateladzes Labor ist knapp 300 Meter entfernt. Topuria testet hier die Viren, die Kutateladze zum Beispiel aus dem Wasser des nahe gelegenen Flusses Kura isoliert. Sie ist die Frontfrau im Kampf gegen die Bakterien. Zahlen? Sie geht in ihr Büro, um ihren Hals baumelt ein großes Handy, sie sucht auf ihrer Festplatte: 32.386 Patienten waren 2012 da. Natürlich wurden die alle gesund, sagt sie, nur bei 40 von ihnen mussten wir länger nach passenden Phagen suchen. Sie hatten Bakterien, gegen die die sechs Präparate, die wir vorrätig haben, nicht halfen. Die sechs Präparate sind Phagenkombinationen, zusammengestellt nach Erfahrungswerten. Sie kosten
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maximal zehn Lari, etwa fünf Euro, für die Bakterienanalyse sind noch einmal 18 Lari zu zahlen – von Georgiern. Ausländer zahlen 5.000 Dollar. In der Praxis machen die Ärzte zuerst einen Abstrich der infizierten Körperstelle. Das gewonnene Material wird auf Bakterien untersucht, diese werden mit den vorhandenen Phagen getestet. Schlagen die an, gut. Anderenfalls suchen die Mikrobiologen im Umfeld des Patienten nach schlagkräftigen Bakterienfressern. Bevorzugt da, wo sich die meisten tummeln: im Abwasser. Topuria sagt selbstsicher: „Phagen haben immer schon geholfen. In Zukunft werden sie der Schlüssel sein, um MRSA-Keime zu bekämpfen.“ Das sei klar. Studien? Sie lächelt die Frage weg. Als Mariam Aualiani an der Reihe ist, geht es schnell. Sie hat nichts Besonderes, Streptokokken. Deren Phagen sind Teil der vorrätigen Medikamenten-Cocktails. „Das ist in einer Woche vorbei“, sagt die behandelnde Ärztin. Um sicherzugehen, werden die Mediziner noch eine Bakterienkultur anlegen, Phagen dazugeben, abwarten. Hellt sich die trübe Suppe in der Schale auf, funktioniert es. Topuria ist überzeugt: Natürlich wird es funktionieren. Hat es ja immer schon. „Wir waren mal groß, richtig groß“, erzählt die Ärztin. Ihr selbstsicheres Lächeln: weg. „200 Tonnen Phagenwirkstoff haben wir produziert, pro Woche. In erster Linie für die Rote Armee, aber auch für die Bevölkerung. An jeder Ecke konnte man Phagen kaufen.“ Heute, wenn es gut läuft, stellt das Institut zwei Tonnen Lösung im Jahr her. Früher arbeiteten hier 1.000 Menschen, heute sind es 130 Nana Topuria steht auf, geht zum Fenster: Am gegenüberliegenden Gebäude fehlt der Putz, hier und dort eine Fensterscheibe. Weiter hinten hat
jemand Bauschutt abgeladen; der Park, in dem das Institut steht, 17 Hektar groß, ist sich selber überlassen. Um Geld zu sparen, sind ein paar Gebäude auf dem Gelände verkauft worden, eines an einen Privatradiosender, der sein Geld damit verdient, dass er Roxette spielt und Duran Duran und all die anderen, deren große Zeit mindestens so weit zurückliegt wie die der Phagenforschung in der Sowjetunion. Würden nicht die Fahnen Georgiens, der EU und der USA über dem Eingangsgebäude wehen, es sähe aus, als hätte der Mensch hier kapituliert und sich zurückgezogen. Wieso die Fahne der EU? Warum die der USA? Topuria wartet eine Sekunde, aber sie muss nichts sagen, man weiß es auch so: Weil ohne deren Geld hier nichts läuft. Bis heute kann ein Mikrobiologe am Eliava-Institut nicht überleben, zumindest nicht von dem, was der Staat bezahlt. Das staatliche Budget des Instituts beträgt 300.000 Dollar im Jahr. „Mit dem Zerfall der Sowjetunion verloren wir alles: das Geld, den Markt, das Wissen der Forscher und oft sogar das Vertrauen der Patienten“, sagt Topuria. „Kurz nach dem Umbruch hatten wir nicht einmal mehr Elektrizität, um die Phagen zu kühlen; wir nahmen sie mit nach Hause und stellten sie dort in den Kühlschrank.“ Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, betont sie: „Niemand will die alte Zeit zurück.“ Sie sieht auf die Uhr. Sie muss eine Konferenz vorbereiten. „Ich bringe Sie zur Tür.“ Der Weg zurück zu Mzia Kutateladze führt durch den Labortrakt. Langer Gang, Zimmer gehen ab, jemand züchtet Kräuter unter einem Fenster. Kabel hängen herunter, sie verschwinden in Sicherungskästen, die so offen daliegen wie klaffende Wunden. Die umgebende Wand ist schwarz von Ruß. Dass der Putz fehlt – ein Mitarbeiter zuckt mit den Schultern, Standard. 35
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Rechts eine Tür, sie ist angelehnt, ein Schild: „Attention Biohazard“. Dahinter steht jemand und isst ein Brot, dick belegt mit Wurst. Ein paar Räume weiter: eine Sicherheitstür, aus Holz, sie schließt nicht richtig. Im Zimmer werden Flaschen ausgekocht, in die später per Hand die Phagenlösungen gefüllt werden. Desinfiziert wird in abgenutzten Keramiktöpfen, Haushaltsware, Blumen auf manchen, an anderen ist die Keramik nur noch zu erahnen. Die Töpfe stehen auf einem alten Gasherd. Und dann das: Ein Teil des Gebäudes ist neu. Neue Türen, das Licht funktioniert auf Schalterdruck. Wie kommt das? Sehr beiläufig sagt Kutateladze später: DTRA. Die Defense Threat Reduction Agency ist eine ans US-Verteidigungsministerium angegliederte Behörde, involviert unter anderem in die Forschung zum Schutz vor biologischen Kampfstoffen. Die oft Bakterien sind: Cholera, Typhus, die Pest, Milzbrand. Und Bakteriophagen töten Bakterien. „Ja“, sagt Kutateladze, „wir arbeiten mit den Amerikanern zusammen. Übrigens nicht nur mit denen.“ Sie reicht zum Abschied die Hand, ihr Griff ist zupackend. „2008, Georgien führte Krieg mit Russland, da haben wir einen großen Teil unserer Phagen außer Landes gebracht. In Sicherheit.“ Wohin? „Nach Braunschweig.“ III. Braunschweig, Niedersachsen Susanne Thiele steht im Keller vor einer Wand aus Stahlbeton und drückt ihren Transponderchip gegen eine Hartplastikscheibe. „Eine Sekunde“, sagt sie, und genau eine Sekunde später fährt eine Stahlschublade aus der Wand, darin ein Schlüssel. Hinter der Tür: große Räume, in denen Stahlschränke stehen, darauf Nummern, 11383-11447, 14648-14829. In jeder Schublade 24 Fächer, in jedem Fach Dutzende Glasröhrchen, in denen 36
jeweils eine gefriergetrocknete braune Tablette liegt, mit drei Verschlüssen gesichert. Mikroorganismen. Die DSMZ, Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen des Leibniz-Instituts, versteckt sich nahe der Autobahnabfahrt Braunschweig-Stöckheim; man ist stolz auf eine der ältesten Feuerwehren des Landes, etwas über 6.000 Einwohner, unscheinbar. Niemand würde auf die Idee kommen, dass hier 20.000 Bakterienstämme lagern, solche aus der Tiefsee und aus arktischen Eishöhlen, Krankheitserreger, menschliche und tierische Zelllinien, Pflanzenviren. Und Bakteriophagen. Wissenschaftler können hier Material für ihre Forschung bestellen – und müssen neu beschriebene Arten aus ihren Forschungsergebnissen hinterlegen. Die DSMZ ist die Patenthinterlegungsstelle für biologisches Material – und Europas wichtigstes Bioressourcen-Zentrum. Sie hat so viele Mitarbeiter wie das Eliava-Institut in Tiflis, aber fast sieben Millionen Euro mehr Budget. Ein Stockwerk höher, nächste Stahltür, mehr Mikroorganismen, Phagen. Vor der Tür wartet eine Frau. „Christine Rohde“, stellt sie sich vor, kühl, kontrolliert, Kuratorin der Sammlung von Phagen und E. coli, Schwerpunkt Biologie der Phagen und Biogefahrenabwehr. „Ich würde mir wünschen, dass Bakteriophagen auch in Westeuropa einen Platz in der Behandlung von Infektionen finden“, sagt sie. Warum passiert das nicht? Weil Alexander Fleming 1928 entdeckte, dass das Zellgift des Schimmelpilzes Penicillium notatum Bakterienwände auflöst. Wer brauchte da noch die umständlicher herzustellenden Phagen? 1969 erklärte der Leiter der US-Gesundheitsbehörde: „Es ist so weit, das Buch der Infektionskrankheiten zu schließen und den Krieg gegen die Seuchen als gewonnen zu erklären.“ Dank der Antibiotika.
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Dabei waren die Phagen in den 1920er Jahren grandios gestartet, hatten auch im Westen in den 1930er Jahren eine kurze goldene Zeit. Aber während sie im Osten en vogue blieben, verloren sie in Amerika und Europa an Terrain, gerieten in Vergessenheit. „Das ändert sich gerade“, sagt Christine Rohde. Im Moment werde viel geforscht. Sie öffnet die Tür, auch daran ein „Biohazard“-Zeichen. Im Raum fünf Fässer, Mülltonnen ähnlich, darin kleine Dosen, in denen wiederum Röhrchen stehen, manche seit Jahrzehnten, mit Flüssigstickstoff gekühlt, mehrfach gegen Stromausfall gesichert. Rohde öffnet eines der Fässer, schwerer Nebel quillt heraus. Sie zieht Spezialhandschuhe an und holt eine der Dosen mit einer Zange heraus. Sie sieht sie an, mit einer Mischung aus Verliebtheit und Routine. Dann sagt sie: „Wir haben einen Phagen hier, der schlägt alles kurz und klein.“ Sie erschrickt über die Emotion. Sie sieht Susanne Thiele an, kann man das so sagen? Thiele nickt. Kann man. Inhaltlich stimmt es ja auch. Rohde räuspert sich. Was ich meinte, sagt sie: „Wir haben hier einen Virus, der lysiert fast alle Staphylococcus-aureus-Bakterien.“ Dennoch: Ob Phagen jemals im großen Maßstab kommerziell genutzt werden können, ist unklar. So gibt es zu ihrer Wirksamkeit inzwischen zwar jede Menge Untersuchungen im Reagenzglas und an Tieren. Aber bis heute nur wenige klinische Studien an Menschen, die den westlichen medizinischen Standards entsprechen. Eine der ersten wurde vom University College London durchgeführt und 2009 veröffentlicht. Die Ärzte behandelten zwölf Patienten mit chronischer, teilweise jahrzehntelanger Mittelohrentzündung. Sechs Wochen nach Beginn der Behandlung waren drei Patienten völlig geheilt, acht hatten nur noch geringe Beschwerden, nur bei einem schlug die Therapie gar nicht an. Um die
richtigen Phagen zu isolieren, hatten die Forscher mehr als 100 Bakterienviren getestet. Am Ende wählten sie sechs aus, die gegen 90 Prozent aller an der Entzündung beteiligten Krankheitserreger halfen. Zurzeit läuft die nächste Phase der Studie mit 300 Patienten. Allerdings wird die Zulassung solcher Präparate nicht leicht: Um grünes Licht für den Einsatz zu erhalten, muss der Wirkmechanismus eines Medikaments detailliert offengelegt werden. Das Zusammenspiel zwischen Virus und Bakterium ist aber nicht genau geklärt. Die Erforschung steht erst am Anfang. Zudem muss der Produzent die Unbedenklichkeit des Arzneimittels beweisen. Ein Virus kann immer mal mutieren. Weil sich alle Phagen auf bestimmte Bakterien spezialisiert haben, muss man den jeweils zu bekämpfenden Erreger sehr genau kennen, um ein treffsicheres Präparat herzustellen. So ist Staphylococcus aureus nur zu eliminieren, wenn die genauen Subtypen bekannt sind. Wobei sich dieses Problem mit Phagen-Cocktails in den Griff bekommen lässt. Aber dann wird die Zulassung noch schwieriger, schließlich besteht das Medikament dann nicht mehr nur aus einem Wirkstoff, sondern aus vielen verschiedenen. Solange sich an den Zulassungskriterien nichts ändert, wird es vermutlich keine Phagenpräparate auf dem deutschen Markt geben. IV. Hildesheim, Niedersachsen Vielleicht findet hier eine Revolution statt, aber wenn das so ist, dann versteckt sie sich gut. Das Klinikum Hildesheim, Klinik für Unfall- und orthopädische Chirurgie, Endoprothetikzentrum, sieht aus, wie Krankenhäuser aussehen: lange Gänge, gestrichen in ockergelb oder beige, in denen Apfelsaft auf Rollwagen steht. Weiter hinten sitzt 37
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jemand und löst Kreuzworträtsel. Patienten schlurfen, Ärzte rennen. Carola Hofmann ist seit einer Woche hier. Als sie kam, war das Bein geschwollen und rot, entzündet von der Ferse bis zum Knie. Morgen wird sie entlassen. Von einer Schwellung ist nichts mehr zu sehen, die Entzündung bis auf eine kleine Stelle in der Mitte des Beines abgeklungen. Sie sitzt auf dem Bett, Tränen in den Augen. „Man kann fast zusehen“, sagt sie. Und Burkhard Wippermann nickt. „Sieht ganz gut aus“, sagt er, bemüht reserviert. Er will nicht die Hoffnung auf ein Wunder schüren, er ist Arzt, kein Schamane, er glaubt an Studien und nicht an Anekdoten. Professor Doktor Burkhard Wippermann, Chefarzt, Chirurg, akkurat frisiert, engagiert in der CDU, des Punks unverdächtig, sagt: „Es ist grundsätzlich sinnvoll, so etwas zu benutzen.“ Wippermann probierte die Phagentheraphie schon vor Jahren aus, als ihn alle dafür verlachten, an der Medizinischen Hochschule in Hannover. Dort hatte er einen Arzt aus Georgien kennengelernt, der ihm von den Phagen erzählte. Kontakt haben sie bis heute – wenn Wippermann extreme Fälle wie den von Carola Hofmann behandeln soll. Wippermann schneidet ihren Verband auf und legt einen neuen an. Der ist mit einer Phagenlösung eingestrichen. Das ist alles? Er nickt. „Sieht nicht so aus, als ob man amputieren muss“, sagt er. Carola Hofmann rutscht nach vorn, sie setzt zu einer Umarmung an, lässt sich dann doch zurückfallen und gluckst die Last von zehn Jahren weg. Zwar sind Bakteriophagen als Medikamente weder in Deutschland noch in der gesamten EU oder den USA zugelassen, aber das bedeutet nicht, dass ihr Einsatz illegal ist. Ihre Anwendung findet unter dem Schirm der Deklaration von Helsinki statt, verabschiedet 1964, die als Standard ärztlicher Ethik gilt. Die Phagentherapie wird als letzte Patrone im Magazin angewandt, als Notmittel, 38
wenn sonst nichts geholfen hat. Voraussetzung: Der Patient kümmert sich selber. Und findet einen Arzt, der das Risiko des Unbekannten trägt. Und der die dann üblichen Fragen beantwortet: Wer bezahlt die Therapie? Wer haftet, wenn etwas schiefgeht? Wo bekommt man die Phagen überhaupt her? Wippermann weiß das. Und das führt Patienten zu ihm, bei denen Kollegen die Hoffnung schon verloren haben. Wenn Carola Hofmann geht, kommt ein neuer Leidensgenosse, Infektion in der Ferse, seit Jahren. „Dass es jetzt funktioniert“, sagt Wippermann, „heißt nicht, dass es immer funktioniert. Einzelfälle bedeuten gar nichts.“ Trotzdem wird Wippermann den Mann behandeln. In den kommenden Tagen hat er aber keine Zeit, da ist er außer Landes. Er packt die restlichen Phagen in einen kleinen Pappkarton, den er später in ein Regal räumen wird. Phagen sind pflegeleicht. Dann bricht Wippermann auf. Sein Flugzeug geht am nächsten Morgen. Über Istanbul nach Tiflis, Georgien. Geo, 09/2013
Radioreportage Urs Spindler und Arne Schulz Gisela Erbslöh David Zane Mairowitz und Malgorzata Zerwe
Milaims Traum. Junge Kosovaren und die Sehnsucht nach Europa Grosny – Alltag einer europäischen Stadt Balkankriege in Queens. Das unvermeidliche Schicksal der Marshall Bar
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n-ost Reportagepreis 2014 • RADIO
Radioreportage VOrjury Simone Böcker Freie Hörfunkkorrespondentin, Belgrad
Marc Lehmann Osteuropa-Korrespondent des SRF in Prag
Annett Müller Freie Radiojournalistin, Leipzig/Bukarest
Christoph Rasch Pressesprecher Greenpeace Energy, ehem. Redaktion Wirtschaft & Sozialpolitik, NDR Info
Thilo Schmidt Freier Journalist, Lehrbeauftragter für Kulturjournalismus, UdK, Berlin
Hendrik Sittig Referent der Programmdirektorin, rbb – Rundfunk Berlin-Brandenburg
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n-ost Reportagepreis 2014 • RADIO
Radioreportage jury
Marion Czogalla
Silke engel
Uwe Leuschner
Künstlerische Mitarbeiterin am Lehrstuhl Experimentelles Radio, Bauhaus-Universität Weimar
Korrespondentin im ARDHauptstadtstudio, rbb – Rundfunk Berlin-Brandenburg
Vice-President Business Development CIS, DB Schenker Logistics
Rainer Schwochow
Fotos: privat
Freier Autor und Hörfunkproduzent
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n-ost Reportagepreis 2014 • RADIO
radioreportage PREISTRÄGER
Milaims Traum Junge Kosovaren und die Sehnsucht nach Europa von Urs Spindler und Arne Schulz NDR Info, 07.07.2013 | 53:43 Milaim ist 23. Er wohnt in einer überfüllten Studenten-WG in Pristina, spricht neben Albanisch Deutsch mit bayerischem Akzent und braucht dringend einen Ferienjob in Deutschland, um sein Studium, seine Mutter und Geschwister unterstützen zu können. Sein größter Traum ist es, wieder in Deutschland leben zu können – so wie damals, als er und seine Familie während des Kosovo-Krieges in Nürnberg für sieben Jahre ein neues Zuhause fanden. Vor der Abschiebung. „Eine verlorene Generation“, so bitter urteilt Milaims Dozentin über diejenigen, die sein Schicksal teilen. In der Reportage von Arne Schulz und Urs Spindler lernen wir Milaim kennen, teilen seinen Alltag und erleben hautnah, wie der junge Mann allen Widrigkeiten zum Trotz um sein Glück und um seine Zukunft kämpft. Marion Czogalla, Künstlerische Mitarbeiterin am Lehrstuhl Experimentelles Radio, Bauhaus-Universität Weimar
Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/radio_2014 44
Foto: Torben Weiß
Urs Spindler
Arne Schulz
Urs Spindler (*1988) hat in Münster und Hamburg Kom-
Arne Schulz (*1987) arbeitet als freier Journalist für
munikationswissenschaft studiert und arbeitet als freier
NDR Hörfunk und Fernsehen. Nach dem Studium der
Journalist und Autor. Seine Reportagen aus der Ukraine,
Kommunikationswissenschaft in Münster und Kaunas
Kosovo, Tansania und Island sind unter anderem bei taz,
absolvierte er ein Volontariat beim NDR. 2012 wurde er
Freitag und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschie-
mit einem KAUSA-Medienpreis ausgezeichnet. In Pristi-
nen. Das NDR Hörfunkfeature „Milaims Traum“ ist sein
na gefielen ihm vor allem die ausgedehnten Macchiato-
erstes, größeres Radiostück. Den Protagonisten Milaim
Nachmittage in Nexhis Café. Die Niederlagen gegen
Jashari hat er bei Burger King an der Autobahnraststätte
Milaim beim Fußball auf der Playstation hätte er sich da-
Göttingen West kennengelernt. Sein Nachname kam ihm
gegen lieber erspart. Für ihr nächstes Radiofeature wer-
sofort bekannt vor: Der Flughafen in Pristina ist nach
den Arne Schulz und Urs Spindler nach Griechenland rei-
dem umstrittenen UCK-Veteranen Adem Jashari be-
sen. Geplant ist ein Porträt der griechischen Gesellschaft.
nannt. Ein entfernter Verwandter, wie sich herausstellte. 45
n-ost Reportagepreis 2014 • RADIO
radioreportage nominierte
Grosny – Alltag einer europäischen Stadt von Gisela Erbslöh DLF, 14.06.2013 | 49:13 Funkelnd, modern, weltoffen – so empfängt die tschetschenische Hauptstadt Grosny ihre Besucher. Vordergründig. Doch der Feature-Autorin Gisela Erbslöh gelingen seltene (Ein-)Blicke hinter die glänzenden Fassaden, um den pompösen Wiederaufbau als Ablenkungs-Kulisse zu entlarven. Indem sie der Angst eine Stimme gibt, entblättert sie behutsam das wahre Gesicht Grosnys. Im Zentrum: der allgegenwärtige Herrscher Ramsan Kadyrow, der alles kontrolliert, Kritiker verfolgt, Andersdenkende drangsaliert und vor allem selbständige Frauen demütigt. So offenbart ihr Feature das klassische Dilemma zwischen Schein und Sein in tschetschenischen Farben. Die glitzernd-moderne Grosny-Silhouette überdeckt den Schrecken der Kriege, aber erstickt zugleich den Aufbruch nach ersehnter Freiheit. Silke Engel, Korrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio, rbb – Rundfunk Berlin-Brandenburg
Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/radio_2014 46
Foto: privat
Gisela Erbslöh Gisela Erbslöh (*1950) studierte Slawistik und Amerikanistik in München, Oberlin (USA) und Moskau. Nach spannender Arbeit an deutschen Theatern kam noch Spannenderes: die sowjetische Glasnost, und damit die Lust, Land und Leute neu zu erkunden – vor allem für den Hörfunk, vom Weißen bis ans Kaspische Meer, von Belarus über die Ukraine bis nach Transsibirien. Auf den Spuren geflohener tschetschenischer Ärzte reiste sie 2006 erstmals in den Nordkaukasus. Kontakte aus dieser Zeit zu inguschischen, tschetschenischen und ossetischen Frauen halten bis heute. Ihr Mut, ihre Wärme und Lebenskraft ziehen die Autorin immer wieder in ihre Gegenden – auch ins neue Grosny. 47
n-ost Reportagepreis 2014 • RADIO
radioreportage nominierte
Balkankriege in Queens Das unvermeidliche Schicksal der Marshall Bar von David Zane Mairowitz und Malgorzata Zerwe DLF, 23.08.2013 | 49:45 In der Marshall-Bar in Queens, New York, lebt der Traum vom alten Jugoslawien wieder auf: Friedlich hören Serben, Bosniaken, Kroaten und Montenegriner miteinander Musik, sie tanzen, flirten, essen und trinken. Doch allmählich brechen Konflikte auf: Die Musik der einen verletzt die Gefühle der anderen, man grenzt sich ab, provoziert, und schließlich bricht jener Hass aus den jungen Leuten heraus, der vor 20 Jahren zum Krieg führte. Akustisch eindrucksvoll erzählt die Sendung von einer Generation, die das Trauma des Krieges genau wie den gescheiterten Traum vom multinationalen Jugoslawien auch in der Fremde nicht hinter sich lassen kann. Rainer Schwochow, freier Autor und Hörfunkproduzent
Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/radio_2014 48
Foto: Stefan Günther
David Zane Mairowitz
Malgorzata Zerwe
David Zane Mairowitz (*1943) ist freier Schriftsteller
Malgorzata Zerwe (*1954) arbeitet seit 1996 als Kultur-
und Radioregisseur. In den letzten 30 Jahren hat er als
redakteurin für Radio Gdansk. Sie macht auch Radiofea-
unabhängiger Produzent von Hörspielen und Dokumen-
tures, die in Polen mehrfach ausgezeichnet wurden. Sie
tarsendungen für BBC, ABC und in mehr als 20 euro-
war auch mehrmals für internationale Preise nominiert,
päischen Ländern gearbeitet. Er erhielt u.a. Prix Italia,
u.a. Premios Ondas, Prix Italia, Prix Marulic und den
Prix Europa, Prix Futura, Prix Ostankino, Prix Marulic.
Deutsch-Polnischen Journalistenpreis. Sie arbeitet oft
Über die Protagonisten seines Features „Balkankriege in
mit ihrem Ehemann David Mairowitz zusammen und lebt
Queens“ hat er zuerst in der Zeitung gelesen. Danach ist
hauptsächlich in Gdansk, mit Koffer in Berlin.
er nach New York gereist, um sie kennenzulernen. Mairowitz lebt in Avignon und in Berlin. 49
Fotoreportage Audioslideshow Michael Heck Moritz Küstner Gordon Welters
Tolstoi ‒ Das Haus der Träumer | HIV in Estland | Menschen, die keiner will 51
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n-ost Reportagepreis 2014 • FOTO
Fotos: privat (8), Stefan Günther
FOtoreportage Audioslideshow jury
Lars Bauernschmitt
Michael Biedowicz
Ann-Christin Bertrand
Professor für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover
Bildchef beim Zeit Magazin
Kuratorin, C/O Berlin Foundation
Michael Hauri
Pepa Hristova
Misha Kominek
Fotograf und Multimediaproducer, 2470media
Freie Fotografin
Fotograf und Galerist
Petra Schrott
Barbara Stauss
Bildredakteurin bei der Taz
Bildchefin bei der Zeitschrift Mare 53
n-ost Reportagepreis 2014 • AUDIOSLIDESHOW
Audioslideshow PREISTRÄGER
Tolstoi – das Haus der träumer Von Michael Heck geo.de, 08/2013 Der Schriftsteller Lew Tolstoi hatte sich in seinen letzten Lebensjahren einem religiös-anarchistischen Leben verschrieben und lehnte jeglichen Besitz ab. „Tolstoi“ nennt sich ein Haus in Estland, in dem Studenten, Kreative und allerlei Freigeister ungezwungen leben. Der Name des Schutzpatrons des Hauses ist zugleich der Titel der preisgekrönten Audioslideshow. „Man kann nicht für sich allein leben. Das ist der Tod“, schreibt Tolstoi 1889 in sein Tagebuch. Und genau darum geht es in der Fotoreportage von Michael Heck: Um das Zusammenleben von Menschen unter einem Dach, in einer Gemeinschaft von Individualisten. Es ist das Gegenteil von Tod, das pralle Leben. Und noch einmal ein Zitat von Lew Tolstoi: „Wo Inhalt ist, fügen sich die Formen von selbst.“ Michael Heck ist nicht der neutrale Beobachter, sondern ein anteilnehmender Gestalter. Michael Biedowicz, Bildchef beim Zeit Magazin
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Die Audioslideshow können Sie sich ansehen unter www.ostpol.de
Foto: Johan Huimerind
Michael Heck Michael Heck (*1986) ist in Heidelberg geboren. Nach dem Abitur und einem Lehrjahr Fotografie, begann er 2009 Fotojournalismus in Hannover zu studieren. Auf der Suche nach einer Bleibe während seines Auslandssemesters in Estland fand er sich eher zufällig zwischen jungen Studenten und alten Kachelöfen in einem von kalten Wintern verwitterten Holzhaus in Tartu wieder. Inspiriert von der Gemeinschaft der Hausbewohner begann er, deren Alltag in Bildern festzuhalten. Seit seinem Abschluss im Frühjahr 2014 arbeitet er als freier Fotograf für verschiedene Magazine und Zeitschriften in- und außerhalb Deutschlands.
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Die meisten von uns sch 56
ließen ihre Türen nicht ab 57
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„Ich bin jetzt in mein nicht lächeln und mich freu 62
em Zuhause und muss ndlich mit dir unterhalten!“ 63
Aber... das ist schon in gab es meinetwegen au 64
Ordnung. Und bis jetzt ch noch keinen Skandal. 65
n-ost Reportagepreis 2014 • FOTO
FOTOREPORTAGE nominierter
HIV in Estland Von Moritz Küstner Zeit Online, 09.04.2013 Der Foto-Essay „HIV in Estland – Margarita Prigorina verschweigt ihre HIV-Infektion“ zeigt in sensiblen Bildern ein drängendes sozialpolitisches Thema anhand eines estnischen Familienlebens auf. Die Stärke der Serie liegt dabei nicht nur in einer klaren bildhaften Erzählweise, sondern auch und vor allem in einer ästhetischen Sprache. Diese reicht bewusst immer wieder über das rein Dokumentarische hinaus und vermag es, eindringliche Bilder von hoher ästhetischer Qualität sowie großer Poesie und Sensibilität zu schaffen. Inhalt und Form vereinen sich damit auf besonders überzeugende Art und Weise. Ann-Christin Bertrand, Kuratorin C/O Berlin
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Foto: privat
Moritz Küstner Moritz Küstner (* 1989) interessierte sich schon in seiner Jugend für Fotografie. Seit 2010 studiert er an der Hochschule Hannover Fotojournalismus und Dokumentarfotografie. Er absolvierte 2012/13 ein Auslandsjahr an der Danish School of Media and Journalism in Aarhus, in der Zeit entstand die Arbeit „HIV in Estland“. Seit jeher fasziniert ihn der Osten Europas. Das Projekt, an dem er aktuell arbeitet, zeigt die Lebenswelt osteuropäischer Pflegekräfte in deutschen Haushalten. 2013 gewann Moritz Küstner den zweiten Platz im studentischen internationalen Wettbewerb CPOY in der Kategorie International Picture Story. Des Weiteren wurden seine Arbeiten für die Sony World Photography Awards 2014 und den Felix Schöller Photo Award 2013 nominiert.
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n-ost Reportagepreis 2014 • FOTO
Die Einzimmerwohnung bietet der Familie wenig Platz.
Margarita spielt mit ihrer ältesten Tochter Lisa vor der Wohnung im Schnee. 68
n-ost Reportagepreis 2014 • FOTO
Margarita (30) weiĂ&#x; seit 2001, dass sie HIV-positiv ist.
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n-ost Reportagepreis 2014 • FOTO
Fotoreportage nominierter
Menschen, die keiner will von Gordon Welters Chrismon, 27.08.2013 Die Fotografien von Gordon Welters führen uns in eine staatliche Einrichtung für Kinder mit geistiger und körperlicher Behinderung in Russland. Fotograf Welters schafft es, intime Momente der Zuneigung und des Glücks festzuhalten, dabei gleichzeitig auch Überforderung und soziale Vernachlässigung zu zeigen. Warum sehen wir nicht weg, sondern wollen gar in jedem einzelnen dieser Bilder verweilen? Welters’ Fotografien wollen weder abschrecken noch Mitleid erzeugen, sie lassen keinen flüchtigen Blick zu. Diese Bilder haben eine ungeheure Kraft, von jedem geht ein Sog aus, die Facetten dieser Geschichte in der Tiefe verstehen zu wollen. Barbara Stauss, Bildchefin bei der Zeitschrift Mare
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Foto: Björn Jettka
Gordon Welters Es ist die Neugier aufs Leben, die Gordon Welters (*1974) immer wieder zu seinen Protagonisten und ihren Geschichten führt. Seit 1998 arbeitet er als freier Fotojournalist für nationale und internationale Kunden. In enger Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen dokumentiert er soziale Missstände und Umweltschäden weltweit. Darüber hinaus widmet er sich regelmäßig eigenen Projekten und erzählt in einfühlsamen Reportagen über das Menschsein. Seine Bildserien wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Hansel-Mieth-Preis, UNICEF und Henri Nannen Preis. Er wird durch die Fotoagenturen laif und Redux Pictures vertreten.
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Geburtstag auf der Station
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n-ost Reportagepreis 2014 • FOTO
Spaziergang am Wasser: Laura kümmert sich um Andrej.
Laura ist groß, viele Behinderte sind ziemlich klein. Trotzdem macht ihr die Arbeit auch körperlich zu schaffen.
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n-ost Reportagepreis 2014 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA
Recherchepreis Osteuropa
DIE Jury
Erstmals wird in diesem Jahr der Recherchepreis Osteuropa vergeben: n-ost ist Partner dieses Stipendiums von Renovabis und Brot für die Welt. Der Preis ermöglicht jährlich die Produktion einer rechercheaufwändigen Reportage für deutschsprachige Printmedien. Er ist mit bis zu 7.000 Euro dotiert.
• Holger Gertz, Reporter Seite Drei, Süddeutsche Zeitung • Burkhard Haneke, Leiter der Abteilung Kommunikation und Kooperation von Renovabis • Kerstin Holm, Feuilleton-Redakteurin, Frankfurter Allgemeine Zeitung, ehemalige Kulturkorrespondentin in Moskau • Tamina Kutscher, Redakteurin und Projektleiterin bei n-ost • Dieter Pool, Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Kooperation bei Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst
Der Recherchepreis Osteuropa 2014 geht an Astrid Viciano. Sie recherchiert über Waisenkinder in Rumänien und überrascht mit dem differenzierten Zugang, den sie zu dem emotionalen Thema findet: So trifft sie unter anderem den HarvardWissenschaftler Charles Nelson und wird dabei sein, wenn er die Betroffenen in Bukarest untersucht. Sie spricht mit ehemaligen Heimkindern, ihren Adoptiv-Eltern, mit Wissenschaftlern, Sozialarbeitern, Psychologen und Einwohnern. „Ich möchte die Geschichte jener Jahre nachzeichnen und zeigen, was aus diesen Kindern und deren Eltern geworden ist. Die Leser meines Artikel werden dadurch viel über die Geschichte Rumäniens und die Veränderungen erfahren – ebenso wie sie lernen werden, wie wichtig die menschliche Bindung und Fürsorge in den ersten Lebensjahren für ein gesundes Gedeihen des Kindes ist.“
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www.n-ost.org/recherchepreis_osteuropa
n-ost Reportagepreis 2014 • FÖRDERER
Wir danken unseren Förderern
Die Robert Bosch Stiftung ist eine der großen unternehmensverbundenen Stiftungen in Deutschland. Ihr gehören 92 Prozent des Stammkapitals der Robert Bosch GmbH. Sie wurde 1964 gegründet und setzt die gemeinnützigen Bestrebungen des Firmengründers und Stifters Robert Bosch (18611942) fort. Die Stiftung konzentriert sich in ihrer Arbeit auf die Bereiche Völkerverständigung, Wissenschaft, Gesundheit, Bildung, Gesellschaft und Kultur. Von 1964 bis 2013 gab die Stiftung 1,234 Milliarden Euro für die Förderung aus. Im Jahr 2013 wurden rund 70 Millionen Euro bewilligt. www.bosch-stiftung.de
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n-ost Reportagepreis 2014
n-ost bringt Journalisten, Osteuropa-Experten und Medieninitiativen aus über 40 Ländern zusammen. Seine Mitglieder verbindet ein europäischer Blick und das Interesse, die Berichterstattung aus und über Osteuropa zu stärken.
Qualität im Journalismus möglich machen: Den Qualitätsjournalismus und rechercheaufwändige Formate wie Reportagen stärkt n-ost durch die Organisation von Journalistenreisen, die Vergabe von Stipendien und die jährliche Verleihung des n-ost-Reportagepreises.
Gemeinsam stärker: Journalisten vernetzen und weiterbilden: Die Mitglieder des Netzwerks setzen sich ein gegen wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Journalisten in Ost und West bietet n-ost Trainings, Einschränkungen journalistischer Arbeit. Gemein- Vernetzung und Recherchemöglichkeiten – etwa sam haben sie die Möglichkeit, auf eine faire Ver- auf der n-ost-Medienkonferenz, die jährlich in gütung hinzuwirken, zusätzliche Ressourcen für wechselnden osteuropäischen Städten stattfindet. aufwändige Recherchen zu erschließen und sich Das Informationsfreiheitsprojekt Legal Leaks zeigt Journalisten, wie sie ihre gesetzlich verankerten Ausgegenseitig zu qualifizieren. kunftsrechte gegenüber Behörden für ihre RecherNeue Bilder, Texte und Töne aus Osteuropa: che einsetzen können. (>>> www.legalleaks.info) Der Artikel-, Radio- und Fotodienst von n-ost beFür unabhängigen Auslandsjournalismus: liefert Zeitungen und Hörfunkanstalten, Stiftungen und Unternehmen. Zusätzliche Akzente in der Mit medienpolitischen Veranstaltungen, PublikatiBerichterstattung über Osteuropa setzt n-ost mit onen und Stellungnahmen engagiert sich n-ost für seinem neuen Online-Magazin ostpol.de. Es bietet einen aufgeklärten Auslandsjournalismus. Lesern und Abonnenten aktuelle Berichte, hintergründige Reportagen, Foto-Strecken und spannen- www.n-ost.org de Multimedia-Formate. (>>> www.ostpol.de) Zeigen, worüber Europa spricht: Täglich bietet n-ost in drei Sprachen einen Überblick über die europäischen Kommentarspalten – mit der Presseschau euro|topics, die n-ost im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung produziert. (>>> www.eurotopics.net)
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n-ost Reportagepreis 2014 • SHORTLIST
n-ost-REPORTAGEPREIS 2014 Shortlist aus 61 eingereichten TEXTREPORTAGEN:
Shortlist aus 45 eingereichten RADIOREPORTAGEN:
Wolfgang Bauer: Ein Staat sperrt sich ein, Zeit Magazin, 27.12.2013 (NOMINIERT)
Mario Bandi: Roismans Rezept. Anti-Drogenkampf im Ural, DLF, 08.03.2013
Alice Bota und Annabel Wahba: Grenzen der Barmherzigkeit, Die Zeit/Dossier, 06.06.2013
Patrick Batarilo: Es sind Zimmer frei. Kroatien, ein Land auf der Selbstsuche, SWR2, NDR Kultur, 23.06.2013
Ann-Dorit Boy: Retter und Hooligans, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.06.2013 Philipp Kohlhöfer: Killer als Retter, Geo, 09/2013 (NOMINIERT) Diana Laarz: Aufbruch Nord, Geo, 01/2013 Michael Martens: Müll. Eine schmutzige Geschichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.2013 Melanie Mühl: Land unter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2013 Konrad Schuller: Warten auf Beluga, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.06.2013 (PREISTRÄGER) Adelheid Wölfl: Ein Berg der Toten wird abgetragen, Der Standard, 18.12.2013 Ariana Zustra: Nichts als die Wahrheit, GO-Magazin, 30.09.2013
Gisela Erbslöh: Grosny – Alltag einer europäischen Stadt, DLF, 14.06.2013 (NOMINIERT) Thomas Franke: Russlands Gotteskrieger. Renaissance des Kosakentums, DLF, 26.11.2013 Olga Kapustina: Dekabristinnen – Die Frauen russischer Gefangener, SWR2, 15.05.2013 Jörn Klare: Die makellose Professionalität des Andrej Smolenskij, NDR Info, 03.02.2013 Ulla Lachauer: Steppenbeben – Augenzeugen der sowjetischen Atomtests erzählen, Deutschlandradio Köln, 10.09.2013 David Zane Mairowitz und Malgorzata Zerwe: Balkankriege in Queens. Das unvermeidliche Schicksal der Marshall Bar, DLF, 23.08.2013 (NOMINIERT)
Urs Spindler und Arne Schulz: Milaims Traum. Junge Kosovaren und die Sehnsucht nach Europa, NDR Info, 07.07.2013 (PREISTRÄGER) Maya Kristin Schönfelder: Mein Vater, der Nomade. Eine Suche in Kasachstan, SWR2, 08.04.2013
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Impressum Herausgeber: n-ost Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung Neuenburger Str. 17 10969 Berlin Tel + 49-30-259 3283 0 Fax + 49-30-259 3283 24 www.n-ost.org Projektleitung: Tamina Kutscher Projektassistenz: Mia Kumric Bildredaktion: Stefan Günther
Artdirektion und Design: Armen Vanetsyan www.cargocollective.com/avd Druck: print24 © n-ost Juni 2014
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Schlägt das Herz Europas in der Ukraine? Wer sind die russischen Fans von Conchita Wurst? Und wo gibt es Cevapcici zum Après-Ski? ostpol ist das Online-Magazin für Osteuropathemen. Unsere Korrespondenten und Fotografen sind Beobachter vor Ort – in über 20 Ländern. Ihre Reportagen und Bildstrecken zeigen Ihnen, wo Osteuropa ähnlich ist und wo ganz anders als erwartet. Werfen Sie einen Blick hinter die Kulissen. Erfahren Sie, wie osteuropäische Intellektuelle von innen auf ihr Land und die Welt schauen. Kommen Sie mit auf eine Reise durch den halben Kontinent zwischen Polen und Sibirien.
Entdecken Sie die andere Hälfte Europas. www.ostpol.de Abo bestellen: abo@ostpol.de oder (030) 259 32 83-0 | 2,50 € pro Monat | ISSN 2199 3394