natur&land 3/2015

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Es fällt mir schwer die richtigen Worte zu finden, angesichts der menschlichen Tragödien, die sich dieser Tage auf den Bahnhöfen, in Flüchtlingslagern und an europäischen Küsten abspielen. Die Bilder von erschöpften Menschen, verängstigten Kindern und vom kleinen toten Buben aus Kobane, ertrunken auf der Flucht und angeschwemmt an der türkischen Küste, verdrängen alles andere. Ein gewisser Trost für mich ist die Hilfsbereitschaft vieler Einzelner, die sich immer mehr zeigt. Das Glück, so lange in Frieden und demokratischen Verhältnissen leben zu können, macht viele hart und vergessen, was Krieg, was Verfolgung, was wirtschaftliche Not heißt. Es fällt mir schwer zur Tagesordnung überzugehen, aber es ist auch eine Hilfe. Vor gut 25 Jahren befreite sich Europa von seinem Eisernen Vorhang, der Westen empfing die Befreiten mit offenen Armen und bekam ein Lebensband für Natur und Mensch geschenkt, das „Grüne Band Europa“, das sich der Naturschtuzbund auf österreichischer Staatsfläche zu erhalten vorgenommen hat. Viele der über die Naturfreikaufaktion erworbenen Naturjuwelen liegen auf diesem Grünen Band – in der Beilage zu diesem Heft finden Sie einige dieser Gebiete näher beschrieben. Gehen Sie auf Entdeckungsreise durch unser Land!

EDITORIAL

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Ihre

Ingrid Hagenstein Chefredakteurin

TÖDLICHE VIEHSPERREN. Hans Kapeller von der Biotopschutzgruppe Pinzgau des Naturschutzbundes hat uns auf ein akutes Problem aufmerksam gemacht: Viele Viehsperren werden zu Todesfallen für kleine Tiere, wie Kröten, Frösche, Unken, Kleinsäuger etc.. Sie können sich aus der Grube unter dem Gitter meist nicht selbstständig befreien. Der Naturschutzbund appelliert daher insbesondere an Grundeigentümer und Wegerhalter, aber auch Wanderer, einfache Maßnahmen zur Rettung der Kleintiere zu unternehmen. Als einfache Ausstiegshilfe dienen beispielsweise schräg in einer Ecke platzierte Bretter. Fotos: Hans Kapeller; Feri Robl

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AKTUELL

Zur Diskussion

MOUNTAINBIKEN – FREIE FAHRT AUF ALLEN FORSTSTRASSEN? Seit Monaten tobt ein Streit zwischen Befürwortern und Gegnern in Sachen freie Fahrt für Mountainbikes auf allen österreichischen Forststraßen. Die Befürworter – Alpinvereine, Radclubs, Touristiker – argumentieren damit, dass es zu wenige Mountainbikestrecken gäbe, die Gegner – Grundeigentümer, Wanderer – sehen ihr Eigentum gefährdet und mit Haftungsansprüchen konfrontiert bzw. Nachteile für Nichtbiker und die Natur. Hierzulande hat jeder das Recht zum freien Betreten des Waldes zur Erholung. 20 % des heimischen Waldes sind öffentliches Gut (Bundesforste, Gemeinden, Länder), 80 % sind in Privatbesitz. Zum Vergleich: In der Schweiz sind 71 % öffentlicher Wald, in Deutschland 52 %, in Italien 44 %. Aktivitäten, wie Radfahren, Reiten, Zelten oder das Anlegen von Langlaufloipen sind nur mit Zustimmung des Grundeigentümers erlaubt. Hier kommen Regina Hrbek von den Naturfreunden, Martin Höbarth vom Österreichischen Forstverein und unser Präsident Roman Türk zu Wort.

SICHERHEIT IM WALD FÜR ALLE – JA

Aktuell gibt es rund 27.000 km Mountainbike-Routen auf rechtlich abgesicherter Basis – eine Streckenlänge von Graz bis Peking; Tendenz steigend. Das Forstgesetz gibt einen ausreichenden Spielraum, um den Bedarf an Mountainbikerouten auch künftig zu decken. Es ist blauäugig zu glauben, dass an Singletrails interessierte Mountainbiker auf Forststraßen bleiben, wenn diese erst einmal freigegeben sind. Vielmehr werden diese als „Aufstiegshilfe“ genutzt werden, um dann über Waldwege ins Tal abzufahren. Eine generelle Freigabe der Forststraßen öffnet Tür und Tor zur flächigen Befahrung des Waldes. Der Druck der Gesellschaft auf die Natur ist groß. Wenn erst einmal das Mountainbiken erlaubt ist, hätten wohl auch Reiter, E-Biker oder gar Trailfahrer ein Recht auf uneingeschränkte Erholung im Lebensraum Wald; dieser darf keinesfalls zum „Fitnesscenter“ degradiert werden. Eine generelle Forststraßenöffnung würde weit umfangreichere, flächige Sperren mit sich bringen als bisher. Wesentlich zielführender ist Forststraßen aber auch Waldwege auf vertraglicher Basis

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dort freizugeben, wo der konkrete Bedarf besteht und auch keine naturschutzfachlichen Bedenken bestehen. Der Aktionsradius eines Mountainbikers ist enorm, die letzten Ruhezonen für Wildtiere dürfen nicht verloren gehen. Verstärkte Konflikte mit anderen Erholungssuchenden wären vorprogrammiert. Satte 93 % der ÖsterreicherInnen nutzen den Wald in erster Linie zum Spazieren gehen und wandern. Eskalationen zwischen Wanderern und Mountainbikern –wie im benachbarten Deutschland- können nur durch die Möglichkeit zur gezielten Besucherlenkung vermieden werden. Die haftungsrechtliche Frage betrifft alle Waldbesucher. Allgemeines Schadenersatzrecht und Strafrecht sind rechtlich nicht ausschließbar. Sogenannte „Fair-Play-Regeln“ stellen ein „rechtliches Nichts“ dar, weil nicht vollziehbar. Auf Basis zahlreicher Argumente (siehe Homepage) hat der Österreichische Forstverein folgende Unterschriftenaktion gestartet: www.sicherheitimwaldfueralle.at

DI Martin Höbarth Geschäftsführer Österreichsicher Forstverein m.hoebarth@lk-oe.at

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EINGESCHRÄNKTES MOUNTAINBIKEN IN SENSIBLEN GEBIETEN

Foto: Hermann Erber

Eine generelle Freigabe von Forststraßen für Mountainbiker halte ich für eine gefährliche Entwicklung, denn viele Forststraßen führen in ökologisch äußerst sensible Gebiete. Forststraßen an sich sind in vielen Landschaftselementen schon Störzonen im Hinblick z. B. auf das Kleinklima oder das Wanderverhalten von Tieren aus den verschiedensten systematischen Gruppen. Sie sind auch Wanderpfade für invasive Arten aus dem Pflanzenreich. Mountainbiken ist bei hoher Frequenz ein zusätzlicher Stressfaktor und damit eine intensivere Naturnutzung als Wandern. Damit wird der Druck auf die naturnah bewirtschafteten Forstökosysteme auf allen Ebenen erhöht. Deshalb sollte das Mountainbiken in naturschutzfachlich wertvollen Gebieten entsprechend eingeschränkt bleiben. Denn auch die Natur braucht nicht nur im Winter, sondern auch in der Vegetationszeit Urlaub und Ruhephasen.

Univ.-Prof. i.R. Dr. Roman Türk, Präsident des Naturschutzbundes Österreich praesident@naturschutzbund.at

NATURFREUNDE ÖSTERREICH FORDERN FREIE FAHRT FÜR BIKER AUF FORSTSTRASSEN!

Bewegung in der freien Natur aufgrund körperlicher Aktivität ist ein wichtiges gesellschaftliches und soziales Anliegen. Die Palette der Erholungs- und Freizeitaktivitäten der Menschen ist heute wesentlich vielfältiger als im vorigen Jahrhundert. Als 1975 nach langem Kampf der Naturfreunde, anderer alpinen Vereine und der Arbeiterkammer das freie Betretungsrecht des Waldes im Forstgesetz verankert wurde, war Mountainbiken als Sportart noch kein Thema. Heute liegt Mountainbiken im Trend und ist eine gesundheitsfördernde Ausdauersportart. Darüber hinaus emittieren Personen auf Rädern nichts, sondern sind Erholungssuchende, die sich naturnahe und ökologisch fortbewegen. Sie sind genauso Erholungssuchende wie Spaziergänger, Nordic-Walker, Läufer, Wanderer, Kletterer, Schwammerlsucher und Schitourengeher. Wildökologische Studien haben ergeben, dass das Wild sich sehr schnell an die Frequenz auf bestehenden Wegen gewöhnt. Erfolgsfaktor für die Gewöhnung der Tiere ist vor allem die regelmäßige Wiederholung des Störreizes. Beim Bergabfahren auf den geschotterten Forststraßen verursachen Mountainbiker Abrollgeräusche, die sicher lauter sind als die Geräusche

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eines einzelnen Wanderers. Der Vorwurf, dass das Wild durch lautlose und mit hoher Geschwindigkeit herannahende Mountainbiker gestört wird, ist für uns daher nicht haltbar. Betretungs- und Fahrverbote sollen selbstverständlich für Einstands-, Aufzucht - oder Balzplätze gelten. Gemäß den Fair-Play-Regeln befahren Biker die Forststraßen ausschließlich zu genehmigten Zeiten. Damit hat das Wild die so wichtige Zeit und den Raum für Beruhigung und Rückzug. Wir sind uns bewusst, dass wir nur Gast in der Natur sind und dementsprechend verhalten wir uns! Ziel der Naturfreunde ist es, eine klare, zeitgemäße gesetzliche Regelung für das Mountainbiken auf Forststraßen und eine vernünftige Besucherlenkung im Wald zu erwirken, die auch alle (wild-)ökologischen und forstwirtschaftlichen Notwendigkeiten berücksichtigt. Die Naturfreunde stehen für ein friedliches und respektvolles Miteinander und für eine sachliche Diskussion!

DI Regina Hrbek, Naturfreunde Österreich Leiterin der Umweltabteilung regina.hrbek@naturfreunde.at

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BEOBACHTUNGSTIPP Legen Sie kleine Mengen Nüsse oder Samen an geschützten Stellen im Garten aus. Rötelmäuse nutzen diese künstlichen Futterstellen gerne und regelmäßig und gewöhnen sich schnell an menschliche Anwesenheit. Wenn man sich ganz ruhig verhält und etwas Geduld mitbringt, können die Tiere schon bald aus nächster Nähe beobachtet werden.

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Foto: Wolfgang Schruf

Eine Rötelmaus beim Verspeisen eines Buchenkeimlings. Diese Wühlmäuse können auch tagsüber im Unterholz beobachtet werden.

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THEMA

KLEINE SÄUGETIERE IN UNSEREN GÄRTEN Ein Huschen von Strauch zu Strauch, ein Poltern im Dachboden, rätselhaft durchwühlte Erde. Dies sind Hinweise auf eine interessante Gruppe kleiner Mitbewohner in unseren Gärten und Häusern. CHRISTINE BLATT & STEFAN RESCH ur selten bekommt man die flinken und scheuen Tiere zu Gesicht. Oft sind es nur ihre Spuren, die sie verraten. Auch ihre Vielfalt ist kaum bekannt: In Österreich zählen rund 40 Arten aus den Familien der Nagetiere (Rodentia), der Spitzmausartigen (Soricomorpha) und der Igel (Erinaceidae) zu den Kleinsäugern.

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Wühlmäuse: Spezialisten für Tiefbau Wühlmäuse sind mit ihrem walzenförmigen Körperbau und dem relativ kurzen Schwanz leicht zu erkennen. Sie leben unterirdisch und können ausgezeichnet graben. In Gärten können häufig Rötelmäuse (Myodes glareolus) im Unterholz beobachtet werden, auf kurz gehaltenen Wiesen Feldmäuse (Microtus arvalis) und in feuchten Hochgraswiesen Erdmäuse (M. agrestis). Besonders auffallend sind die großen Erdhügel der Bergschermaus (Arvicola scherman) in Obstgärten. Das Durchwühlen der Erde, mag es uns auch häufig im Garten stören, führt zur Verbesserung der Zersetzungs- und Bodenbildungsprozesse und schafft Kleinstlebensräume für andere Tiere.

Waldmäuse – mutige Athleten

BEOBACHTUNGSTIPP Waldmäuse können an ihrem braunen Rücken, dem weißen Bauchfell und dem Kehlfleck (Waldmaus) bzw. Kehlband (Gelbhalsmaus) erkannt werden. Die Waldmaus sucht im Winter gerne menschliche Behausungen auf, wo sie oft mit der Hausmaus (Mus musculus) verwechselt wird. Im Garten trifft man die flinken Nager meist in der Abenddämmerung an Futterstellen an.

Die Gelbhalsmaus mit dem charakteristischen gelben Kehlband und weißen Bauch

Alle echten Mäuse, so auch Waldmäuse (Apodemus sp.), sind durch große Augen und Ohren sowie einen langen, nackt wirkenden Schwanz gekennzeichnet. Die vorwiegend dämmerungs- und nachtaktiven Tiere können ausgezeichnet klettern und springen. Von den in Österreich vorkommenden Arten sind die Gelbhalsmaus (Apodemus flavicollis) und die Waldmaus (A. sylvaticus) besonders häufig in

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KLEINE SÄUGETIERE IN GÄRTEN

unseren Gärten anzutreffen. Letztgenannte gilt als regelrechte Pionierart, welche in vielen unterschiedlichen Lebensräumen mit offener Kraut- und Strauchschicht anzutreffen ist. Die Gelbhalsmaus bevorzugt hingegen Mischwälder und ist auch im Garten auf Hecken und Sträucher angewiesen.

Hausmäuse und Hausratten – Weltbürger Beide Arten können das ganze Jahr über in menschlichen Behausungen angetroffen werden. Ursprünglich in Steppen und Halbwüsten beheimatet, nutzt die Hausmaus bei uns oft Stallungen und Scheunen. Während Hausmäuse aber gelegentlich auch im Freiland leben, sind die aus den Tropen stammenden Hausratten ausschließlich in Gebäuden zu finden, wo sie der kalten Witterung entgehen. Die bis in die 50er Jahre häufige „Dachratte“ ist heute in Europa selten geworden und wird in einigen nationalen Roten Listen wie z. B. in Deutschland als eine vom Aussterben bedrohte Art geführt.

BEOBACHTUNGSTIPP Hausmäuse und Waldmäuse werden auf den ersten Blick häufig verwechselt, leider auch bei der »Bekämpfung«. Hausmäuse sind jedoch meist kleiner, besitzen ein dunkleres Fell und einen nackten Schwanz. Ob es sich um eine Hausratte oder Wanderratte handelt, verrät das Spurenbild. Denn nur die Hausratte trägt ihren Schwanz beim Laufen gehoben, sodass dieser keinen Abdruck hinterlässt.

Hausmaus auf Entdeckungstour.

Bilche - Geschickte Kletterer Alle bei uns heimischen Bilcharten (Baumschläfer Dryomys nitedula, Gartenschläfer Eliomys quercinus, Haselmaus Muscardinus avellanarius und Siebenschläfer Glis glis) können in naturnahen Gärten angetroffen werden. Mit zunehmendem Lebensraumverlust sind Baumschläfer und Haselmaus selten geworden und daher international durch die FFH-Richtlinie der Europäischen Union geschützt. Beide Arten sind auf strauchreiche Flächen angewiesen, die ihnen Schutz und Nahrung bieten. Der Siebenschläfer ist vermutlich der häufigste Bilch in unseren Gärten, auch wenn gelegentlich Bestandseinbrüche eintreten. Der Siebenschläfer gilt als stimmfreudiger Bilch, dessen krächzende Laute in der Dämmerung deutlich wahrgenommen werden können. Die Haselmaus baut Kugelnester aus Gras, die vor allem im Herbst nach Rückgang der Vegetation gut in den Sträuchern oder im Hochgras zu erkennen sind. Auch ihre Fraßspur an Haselnüssen (ein kreis-

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KLEINE SÄUGETIERE IN GÄRTEN

BEOBACHTUNGSTIPP Künstliche Quartiere stellen für die Tiere eine große Hilfe dar und bieten auch die Möglichkeit zur Beobachtung. Wie Sie selbst einen Bilchkobel bauen können, finden Sie im Internet: kleinsaeuger.at/download.html

Der Siebenschläfer, ein häufiger Bilch in unseren Gärten und Dachböden.

rundes Loch mit parallel zum Lochrand verlaufenden Bissspuren) verrät ihre Anwesenheit.

Maulwurf – Leben im Untergrund Mit seinem samtartigen schwarzen Fell, der spitzen Schnauze und dem kurzen Schwanz, den fehlenden Ohrmuscheln und den zu Grabschaufeln umgeformten Vorderfüßen ist der Maulwurf unverwechselbar. In ihrem Gangsystem orientieren sich Maulwürfe mit ihrem Tastsinn und mit Hilfe des Geruch- und Hörsinns. Ihre Augen sind vergleichsweise schlecht entwickelt. Noch bis zum 20. Jahrhundert vorwiegend wegen ihrer Felle gejagt, stellen den geschützten Tieren heute meist nur noch Landwirte und Gärtner nach.

BEOBACHTUNGSTIPP Wer gräbt in meinen Garten - Maulwurf oder Schermaus? Ob es sich bei den Erdhügeln im Garten um das Werk eines Maulwurfs oder einer Schermaus handelt, ist leicht zu erkennen: Der Maulwurf gräbt seine runden Gänge so tief, dass zwischen den Erdhügeln keine Verbindungsgänge sichtbar sind, während die ovalen und knapp unter dem Boden verlaufenden Gänge der Schermaus die Hügel sichtbar verbinden. Das bei manchen Hügeln noch sichtbare Loch befindet sich seitlich am Erdhaufen, beim Maulwurf hingegen in der Mitte, auch finden sich bei der Schermaus oft noch Reste von angefressenen Pflanzenteilen im Auswurf, der Maulwurf ernährt sich dagegen ausschließlich von tierischer Kost.

Der Baueingang vom Maulwurf befindet sich in der Hügelmitte, nicht seitlich wie bei der Schermaus. Herbstausgabe | natur&land | 101. JG. – Heft 3-2015

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KLEINE SÄUGETIERE IN GÄRTEN

BEOBACHTUNGSTIPP Spitzmäuse sind anhand ihrer rüsselförmigen Schnauze leicht zu erkennen und zu bestimmen und auch tagsüber anzutreffen. Wer Glück hat, kann eine sogenannte „Spitzmauskarawane“ beobachten. Jungtiere beißen dabei in das Fell an der Schwanzbasis des Vordertieres (Beißkarawane) oder bleiben in engen Körperkontakt (Tastkarawane) und folgen so dem Muttertier in einer Reihe. Spitzmäuse, wie die abgebildete Sumpfspitzmaus, kann man gut an ihrer rüsselförmigen Schnauze erkennen.

TIPPS FÜR DIE KLEINSÄUGERFREUNDLICHE GARTENGESTALTUNG V Heimische Straucharten bevorzugen, diese bieten nicht nur Schutz, sondern auch Nahrung! V Laubhaufen und Geäst liegen lassen, dadurch entstehen wichtige Nist- und Versteckmöglichkeiten! V Beim Rasenmähen kleine Hochgrasstreifen stehen lassen, um Lebens raum zu schaffen! V Bilchkobel an Sträuchern und Bäumen montieren, um Quartiermöglichkeiten anzubieten! V Frei zugängliche Futterstellen für Vögel und Enten nur an Stellen errichten, wo auch Kleinsäuger geduldet werden!

Spitzmäuse: Flinke Jäger Auch wenn Spitzmäuse (Soricidae) mausähnlich aussehen, haben sie mit Echten Mäusen und Wühlmäusen nur wenige Gemeinsamkeiten. So ernähren sie sich zum Beispiel vorwiegend von tierischer Kost und besitzen eine sehr hohe Stoffwechselrate, die sie zur ständigen Nahrungssuche drängt. Innerhalb der Rotzahnspitzmäuse (Soricinae) sind die anpassungsfähigen Zwergspitzmäuse (Sorex minutus) und Waldspitzmäuse (S. araneus) häufig in Gärten mit dichtem Pflanzenbewuchs anzutreffen. In kleinen, naturnahen Teichen und Bächen finden Sumpfspitzmäuse (Neomys anomalus) und Wasserspitzmäuse (N. fodiens) ein Zuhause. Die hervorragenden Taucher und Schwimmer sind jedoch mit der Verbauung und Regulierung unserer Fließgewässer selten geworden. Von den durch reinweiße Zähne gekennzeichneten Weißzahnspitzmäusen (Crocidura) sind in Österreich drei Arten verbreitet: Feldspitzmaus (Crocidura leucodon), Gartenspitzmaus (C. suaveolens) und die in Vorarlberg verbreitete Hausspitzmaus (C. russula). Wie ihre Namen bereits vermuten lassen, sind alle drei Arten keine Seltenheit in unseren Gärten. Um der kalten Witterung im Winter zu entgehen, suchen die Tiere auch gerne Gebäude auf. Häufig empfinden Katzen den moschusartigen Geruch und strengen Geschmack, der von den Sekreten der Seitendrüsen ausgeht, als unangenehm, sodass sie die Tiere zwar jagen aber nicht fressen. Literatur (Auszug) Grimmberger, E., & Rudloff, K. (2009): Atlas der Säugetiere Europas, Nordafrikas und Vorderasiens. Natur und Tier-Verlags GmbH, Münster. Grimmberger, E. (2014): Die Säugetiere Deutschlands: Beobachten und Bestimmen. Quelle & Meyer, Wiebelsheim. Jenrich, J., Löhr, P.-W. & Müller, F. (2010): Kleinsäuger: Körper- und Schädelmerkmale, Ökologie. Beiträge zur Naturkunde in Osthessen (Hrsg.: Verein für Naturkunde in Osthessen e.V.). Michael Imhof Verlag, Fulda Spitzenberger, F. (2001): Die Säugetierfauna Österreichs. Grüne Reihe des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Band 13. Austria Medien Service, Graz. Macdonald, D. (2004): Die große Enzyklopädie der Säugetiere. Könemann (Tandem Verlag), Königswinter.

Kleinsäugerfunde einfach bestimmen und melden! Das Projekt »GeoMaus« sammelt Informationen über die Verbreitung von Kleinsäugern. Naturinteressierte sind eingeladen, ihre Beobachtungen über ein Fundformular zu melden: www.kleinsaeuger.at

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Text & Fotos: ARGE Kleinsäugerforschung GesbR Dr. Christine Blatt & Dr. Stefan Resch arge@kleinsaeuger.at

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MÄHGUTÜBERTRAGUNG

Fotos v. o.: Gabriele Pfundner; Wolfgang Schruf (2)

SAMENSPENDE FÜR ARTENARME WIESEN er Naturschutzbund hat gemeinsam mit den Österreichischen Bundesforsten ein Pilotprojekt zur Mähgutübertragung gestartet. Dabei werden artenreiche Blumenwiesen zu „Samenspendern“ für nahe gelegene, artenarme Flächen. Die Samen gelangen so auf natürlichem Weg in die Erde und können sich zu starken Pflanzen entwickeln. Nach dieser Methode wurde im Juni 2015 das Mähgut einer artenreichen Wiese auf einer nahegelegenen Brache des Forstbetriebes Donauauen ausgebracht.

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Bunte, artenreiche Blumenwiesen werden immer seltener, Löwenzahn und Hahnenfuß prägen häufig das Landschaftsbild. Damit Tiere und Pflanzen wieder mehr geeignete Lebensräume finden, muss der Artenverarmung dringend gegengesteuert werden – und zwar am besten mit heimischen Wildpflanzen. Regionaltypische Pflanzen haben sich über Generationen hinweg an die Klima- und Standortbedingungen vor Ort angepasst. Daher unterscheidet sich eine Pflanze im Montafon von einer in der pannonischen Tiefebene, auch wenn beide zur gleichen Art gehören. Blühmischungen sollten also immer regionales Saatgut und kein gebietsfremdes enthalten. Doch Saatgutmischungen aus dem Handel können diesen Anforderungen kaum gerecht werden. Die Vorteile des regionalen Saatgutes liegen auf der Hand: robuste Pflanzen und dadurch weniger Ausfälle sowie bessere Anwuchsergebnisse. Auch überstehen sie Schädlingsbefall oder extreme Witterungsverhältnisse wesentlich besser. Die Artenvielfalt erhöht sich und die Transportwege sind kurz. Nun heißt es abwarten, ob aus der „Samenspende“ in den nächsten Jahren eine bunte Wiese entstehen wird, die Bienen, Schmetterlingen und Co. Lebensraum und Nahrung bietet.

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Mitarbeiterinnen des Naturschutzbundes – Ingrid Hagenstein, Christine Pühringer und Gabi Pfundner (v. l.) – verteilten gemeinsam mit dem freiwilligen Helfer Wolfgang Schruf und Wildbienenfachmann Johann Neumayer das Mähgut auf dem Acker.

Ein Projekt im Rahmen der Initiative NATUR VERBINDET, einer Kooperation von Naturschutzbund, BMLFUW, LWK Österreich, Österr. Bundesforsten und MUTTER ERDE


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Knubbli, der Skorpion Fortsetzung einer Geschichte von Gloria Petrovics. Zeichnung (Knubbli) nach einer Vorlage von Rudolf Klein Zeichnung von Wolfgang Schruf

5. Jetzt erst recht Einige Tage später hielt ein großer Wagen vor ihrem Häuschen. Anita wunderte sich, wieso er nicht in dem schmalen Weg, der zu ihnen führte, stecken geblieben war. Ein gut angezogener Mann stieg aus und ging auf das Häuschen zu. Anita war allein zu Hause. Sie saß gerade vor dem Häuschen bei einem Tischchen und spielte das Hütchenspiel mit Knubbli. Sie hatte drei undurchsichtige Plastikbecher aufgestellt, unter einem war ein Stückchen Futter und Knubbli musste erraten, unter welchem. Knubbli hatte keinerlei Problem damit, er roch natürlich das Futter. Aber wenn es Anita Spaß machte, dann machte er gerne mit. Der Mann kam auf die beiden zu und grüßte. Höflich grüßte Anita zurück und schaute fragend. „Sind deine Eltern zu Hause?“ fragte der fremde Mann. „Nein, leider, was möchten Sie denn von ihnen?“ wollte Anita wissen. Der Mann zögerte – sollte er überhaupt mit dem Mädchen reden? Das war doch etwas für Erwachsene. Andererseits geht es ja um Geld für das behinderte Kind, dachte er. Wenn ich ihr den Mund wässrig mache, wie gut es ihr mit dem Geld gehen könnte, dann löchert sie vielleicht ihre Eltern, dass sie einwilligen... Er holte tief Luft und begann: „Die Firma, die das Spitzmittel Kill All herstellt, schickt mich. Meine Chefs haben natürlich von euren Schwierigkeiten in der Zeitung gelesen und die Berichte im Fernsehen gesehen. Das alles finden sie sehr traurig und sie möchten euch gerne helfen. Sie möchten euch so viel Geld geben, dass ihr eure Schwierigkeiten los seid und alle behinderten Kinder die beste Behandlung bekommen“. „Die beste Behandlung wird bei mir nichts nützen“, sagte Anita trocken. „Ich bin und bleibe behindert, basta“. „Aber ein Superturboelektrorollstuhl wäre doch eine prima Sache“, lockte der Fremde. Naja, da hatte er schon recht. Ein Elektrorolli mit allen Schikanen, das war schon lange ihr unerfüllbarer Traum, schließlich hatte sie nicht einmal einen Rolli mit Handbetrieb. „Und was möchten Sie als Gegenleistung?“ fragte sie, weil sie inzwischen ganz genau wusste, dass große Firmen nur ganz selten etwas aus lauter Menschenfreundlich-

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keit tun. „Eigentlich gar nichts“, antwortete der Mann. „Es ist nur so: in den vielen Sendungen und Zeitungsberichten wird unser wunderbares Unkrautmittel Kill All immer wieder erwähnt. Werbung ist zwar gut und wichtig für uns, aber nicht, wenn das Mittel im Zusammenhang mit Problemen genannt wird. Ich möchte natürlich ausdrücklich betonen, dass unser Mittel völlig harmlos ist. Das haben wir in vielen wissenschaftlichen Studien ja nachgewiesen“. Anita verzog das Gesicht. „Ja, und wieso sind dann ausgerechnet bei uns so viele Kinder krank und behindert?“, dachte sie, schwieg aber. „Ja, also“, druckste der Mann ein bisschen herum, „äh, wir hätten also gerne, dass das Herumgerede über unser nützliches Spritzmittel aufhört. Und so möchten wir euch ein Angebot machen“. „Ich höre“, sagte Anita. „So ein Quatsch“, dachte der Mann. „Wieso rede ich wirklich mit der Kleinen wie mit einer Erwachsenen? Die ist behindert, sitzt da und spielt mit Plastikbechern, die versteht mich doch gar nicht“. „Nun, haben Sie vergessen, was Sie sagen wollten?“ spöttelte Anita. Der Mann gab sich einen Ruck. Also gut, wenn sie unbedingt wollte... „Okay. Wir geben euch 10.000 Dollar, das ist riesig viel Geld. Da könnt ihr alle Kinder gut versorgen und es bleibt noch genug Geld für eine neue Schule. Die braucht ihr doch dringend, damit auch alle behinderten Kinder ohne Schwierigkeiten in die Schule gehen können, oder? Aber das muss unser Geheimnis bleiben, das braucht niemand zu wissen und ihr müsst außerdem dafür versprechen, dass ihr nie wieder etwas über unser Spritzmittel zu den Zeitungen und dem Fernsehen sagt. Na, ist das ein Angebot?“ Er strahlte über das ganze Gesicht, wie der Weihnachtsmann wirkte er in dem Moment. „Und die Spritzerei über unserem Dorf hört für immer auf?“ fragte Anita. „Hmmm najaaa, das ist eine andere Sache. Darauf haben wir keinen Einfluss. Außerdem ist doch unser Spritzmittel völlig harmlos, das habe ich ja schon gesagt. Aber denk doch an das viele schöne Geld. Sag deinem Vater, er soll mich unbedingt anrufen, hier ist meine Visitenkarte. Dein Vater ist ja Lehrer, der kann das sicher auch den anderen Dorfbewohnern gut erklären“. Herbstausgabe | natur&land | 101. JG. – Heft 3-2015


KINDERSEITE

Anita war normalerweise recht schlagfertig, aber diesmal blieb ihr wirklich die Sprache weg. Er war also hier, um das Schweigen der Dorfbewohner um einen Spottpreis zu kaufen und die Firma würde so weiter machen wie bisher. 20 behinderte Kinder gab es im Dorf. Sie rechnete schnell im Kopf nach. Das waren gerade einmal 500 Dollar pro Kind, wie sollte man davon teure Behandlungen bezahlen? Ein einzelner Elektrorolli kostete bereits mehr als 10.000 Dollar. Das durfte doch nicht wahr sein! „Und die übrige Umwelt und die Tiere?“ fragte Anita. „Was geschieht mit denen? Die Frösche, die Schmetterlinge, die Würmer, die Skorpione?“ „Ach, wegen ein bisschen Ungeziefer, das gehört ohnehin ausgerottet“, meinte der Mann verächtlich. Verärgert dachte er: „Was soll denn das, was bildet sich die Kleine ein? Quatscht über die Umwelt, dabei müsste sie doch froh sein, wenn sie überhaupt etwas bekommt, so arm wie ihre Eltern sind“. Knubbli bewegte sich unbehaglich hinter seinen Plastikbechern. Sicherlich waren 10.000 Dollar schon eine Menge Geld, das wusste man schon als gebildeter, behinderter Skorpion. Wenn die Firma aber so weiter machen durfte, was wäre wirklich dann mit den Tieren, die ebenfalls behindert würden oder sogar am Gift sterben müssten? „Würde ich dann auch einen flotten Elektrorolli bekommen?“ dachte er und wackelte mit seinem Schwanz missmutig hin und her. „Du würdest auch wunderschönes Spielzeug bekommen und müsstest nicht mehr mit den schäbigen Bechern spielen“, lockte der Mann wieder. Dabei machte er eine Handbewegung in Richtung der Becher und stieß zwei davon um, so dass Knubbli sichtbar wurde. „Um Himmels willen, was ist denn das für eine Missgeburt! So ein widerliches Vieh auf einem Tisch, ihr Indios seid doch wirklich ein ungebildetes, schmutziges Volk!“ rief der Mann aufgebracht, als er den behinderten Skorpion sah. Jetzt reichte es Knubbli. Ihn als Missgeburt zu bezeichnen, das hätte er ja noch verkraftet, aber das Volk der Indios schmutzig und ungebildet zu nennen – das war zuviel. Er schoss mit einer unglaublichen Geschwindigkeit über den Tisch, man sah seine Stummelbeinchen kaum, so schnell bewegte er sie. Dann zwickte er mit seiner kleinen Schere am Schwanzende den Mann in den Finger, so fest, wie er noch nie zugezwickt hatte. Der Mann brüllte auf, hielt sich den Finger, schrie wütend: „Das wird ein Nachspiel haben! Ihr werdet Herbstausgabe | natur&land | 101. JG. – Heft 3-2015

noch von uns hören“, rannte zu seinem Auto, ließ den Motor aufheulen und fuhr unter Hinterlassung einer riesigen Staubwolke davon. Anita sah ihm nach, schüttelte den Kopf und beruhigte Knubbli, der ganz aufgeregt kreuz und quer über den Tisch trappelte. Dann grinste sie über das ganze Gesicht. „Dem hast du es ordentlich gegeben!“ sagte sie. Zur Antwort schwenkte Knubbli seinen Schwanz stolz hin und her. Anita wandte sich ihrer Aufgabe zu. Mit Knubbli konnte sie ja später wieder spielen. Als ihre Eltern heimkamen, musste sie natürlich sofort ihr aufregendes Erlebnis erzählen. Ihre Eltern waren über die Gemeinheit und Skrupellosigkeit der Firma furchtbar empört. Als ihnen Anita aber erzählte, wie Knubbli die Ehre der Indios verteidigt hatte, lachten sie aus vollem Hals und streichelten Knubbli. Er knabberte ganz zart an ihren Händen, es kitzelte sie und so lachten sie noch mehr. Eine Versammlung der Dorfbewohner wurde einberufen. Anita durfte erzählen. Als sie zu der Stelle kam, wo der Mann so über die Indios geschimpft hatte, ging ein böses Murren durch die Menge. „Was glauben die eigentlich, wer sie sind?“ rief ein junger Bauer, dessen zweijähriges Baby auch behindert war. „Für die sind wir wohl der letzte Dreck. Aber wir werden es ihnen zeigen!“ Er hob die Hand und formte das „V“ mit den Fingern – das Victoryzeichen für Sieg. Alle sprangen auf und machten es ihm nach. „Wir werden kämpfen und wir werden gewinnen! Für unsere Kinder!“ Und Knubbli, der wie immer dabei war, schwenkte kampfesmutig den Schwanz. „Schaut“, rief Anita, „die Schere von unserem Skorpion, die sieht aus wie das Victoryzeichen“. „Er hat ja wirklich schon einen Sieg gegen den Firmenvertreter errungen!“ meinte Frau Fernandez. Das fanden die Dorfbewohner auch und so erklärten sie Knubbli zu ihrem offiziellen Maskottchen. Sie machten sich Aufkleber mit seinem Bild. Jeder (und es waren inzwischen viele Menschen), der den Kampf der Dorfbewohner um Gerechtigkeit unterstützen wollte, klebte sich Knubblis Bild auf die Kleidung. Bevor der Prozess stattfinden konnte, gab es noch viel zu tun. Die Kinder mussten genau untersucht werden, von allen Dorfbewohnern wurden Blutproben genommen, von ihren Tieren ebenfalls, Pflanzen aus dem Dorf wurden auf das genaueste untersucht. Erde wurde in kleine Säckchen gefüllt und in Labors geschickt, viele Wissenschaftler saßen nächtelang bei ihren Geräten, um dann lange wissenschaftliche Gutachten zu schreiben. „Ein solcher Prozess muss gut

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vorbereitet werden“, erklärte Herr Fernandez Anita und einem interessiert lauschenden Knubbli, der natürlich zuhören durfte. „Die große Firma hat sehr viel Geld und kann sich die besten Rechtsanwälte und Wissenschaftler, sogenannte Gutachter leisten. Gutachter nennt man die, weil sie Gutachten schreiben – das sind lange Beschreibungen, wie etwas ist und warum es so geworden ist – oder auch nicht. Die Richter können ja nicht selbst alles wissen, und so müssen sie sich auf die Gutachten verlassen. Je nachdem, welches Gutachten ihnen glaubhafter erscheint, demjenigen Prozessgegner werden sie dann eher Recht geben“. „Aber wenn etwas wissenschaftlich genau untersucht wird, dann müsste man doch die Wahrheit herausfinden, oder?“ überlegte Anita. „Ja, wenn“, sagte Herr Fernandez, „aber manchmal gibt es auch unterschiedliche Meinungen unter den Wissenschaftlern, das wäre noch nichts Böses. Schlimm wird es nur, wenn sich Wissenschaftler von Firmen oder anderen reichen Leuten kaufen lassen und falsche oder schlampige Gutachten erstellen. Solche, die nicht richtig sind, aber demjenigen nützen, der sie bezahlt. Ich fürchte, die große Firma wird alles tun, um irgendwie Gutachten zu bekommen, dass ihre Produkte und die Spritzerei völlig ungefährlich sind. Sie werden es so darstellen, als könnte man das Zeug zum Baden für Kleinkinder verwenden“, fügte er bekümmert hinzu. Anita schwieg, dann aber hob sie den Kopf und sagte mit fester Stimme: „Wir werden kämpfen und gewinnen, du hast ja mich und unseren Skorpion!“ „Stimmt“, antwortete ihr Vater und strich ihr über den Kopf. Knubbli richtete sich zu voller Größe auf und reckte seinen Schwanz mit der Victoryschere in die Höhe. Er würde nach Kräften zum Sieg beitragen!

6. Der Tag der Entscheidung Am Tag vor dem Prozess fuhr die Familie Fernandez zusammen mit den anderen Dorfbewohnern schon in die Stadt, die Entfernung war nämlich zu weit für eine Anreise am gleichen Tag. Sie hatten zwei Autobusse gemietet und sangen auf der Fahrt gemeinsam muntere Lieder. Knubbli saß wie gewohnt in seinem Reisekäfig und genoss die Abwechslung. In der folgenden Nacht taten die meisten Dorfbewohner kein Auge zu. Die Spannung, wie der Prozess wohl verlaufen würde, war zu groß. Knubbli schlief auch nicht, obwohl er sich zu Hause dem Tagesrhythmus der Menschen angepasst hatte. Normalerweise schlief er inzwischen so wie sie in der Nacht und blieb am Tag munter, aber diesmal war auch er die ganze Nacht putzmunter und trappelte umher. Zum Glück war der Boden mit Teppichen belegt, sonst hätte er am Ende mit seinem Getrappel noch die anderen Gäste geweckt. Anita schlief schließlich doch vor Erschöpfung ein. Sie

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träumte, dass sie im Gerichtssaal wäre und der Prozess begonnen hätte. Auf der Richterbank saßen drei große Skorpione, alle mit Scheren und einem großen Giftstachel und auf der Anklagebank fünf Herren mit Anzügen. Diese jammerten und bettelten um Gnade. Der mittlere Skorpion stand auf und sagte mit tiefer Stimme: „Sie werden zu 25 Jahren Haft in Gesellschaft von Skorpionen mit Giftstachel verurteilt! Dagegen gibt es keine Berufung. Außerdem bekommen Sie jeden Sonntag eine Flasche Kill All zum Frühstück und müssen es vollständig austrinken“. Dann erwachte Anita völlig verwirrt – wo war sie eigentlich? Langsam erinnerte sie sich, sie war ja im Hotelzimmer und morgen war der Prozess – oder war es schon heute? Das Läuten des Weckers beendete ihre Überlegungen und sie begann, sich anzuziehen. Sie setzte Knubbli in seinen Käfig und war reisefertig. Aber zuerst ging es noch zum Frühstück. Sie waren in einem guten Hotel, der Hotelbesitzer hatte die Dorfbewohner eingeladen und war stolz darauf, so bekannte und berühmte Leute und den berühmten Skorpion bei sich zu haben. Er bestand auch darauf, mit Anita und Knubbli fotografiert zu werden. Das Frühstücksbuffet hätte Knubbli gerne näher inspiziert, es roch verführerisch, aber da musste er leider im Käfig bleiben – Herr Fernandez wollte lieber doch nicht ausprobieren, ob alle übrigen Gäste unbedingt einen Skorpion beim Frühstück dabeihaben wollten. Nach dem Frühstück ging es zum Gericht. Als sie in das Gebäude gingen, liefen dort unzählige Reporter herum, die alle noch schnell ein Interview oder einen Kommentar wollten, Fernsehkameras, wohin man schaute, weil nachher im Gerichtssaal Kameras verboten waren. Dann stellte sich heraus, dass es gar nicht so einfach war, in den Verhandlungssaal hineinzukommen. Zuerst wollten die Gerichtsbeamten Anita und Knubbli nicht hineinlassen. „Kinder und Tiere sind im Gericht verboten“, sagten sie. Aber der Rechtsanwalt der Dorfbewohner behauptete, dass beide Beweisstücke seien und er sie für den Prozess brauche. Die Beamten hatten zwar ihre Zweifel, dass ein behindertes Kind und ein Skorpion Beweisstücke sein können, aber dann gaben sie doch nach und die beiden durften auf dem Arm des Anwalts in den Gerichtssaal. Endlich war es so weit. Viele Menschen waren gekommen, um zuzuhören, der Saal war voll. Sie alle warteten ungeduldig auf den Beginn. Der Richter erhob sich und alle Anwesenden taten es ihnen gleich – das heißt fast alle, weil Anita und Knubbli sitzen blieben. Die Menschen setzten sich wieder und der Prozess begann. Der Richter rief die Zeugen der Reihe nach auf. Alle wurden darauf aufmerksam gemacht, dass sie die Herbstausgabe | natur&land | 101. JG. – Heft 3-2015


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Wahrheit sagen müssten und dass es ein Verbrechen sei, vor Gericht zu lügen. Alle gelobten, die Wahrheit zu sagen. Die Gutachter erklärten, wie sie in ihrem Gutachten zu dieser oder jener Schlussfolgerung gekommen waren. Die Gutachter, die die große Firma engagiert hatte, behaupteten, dass das Spritzmittel vollkommen ungefährlich sei. Es werde schon jahrelang auf der ganzen Welt verwendet, ohne dass jemals ein einziger Mensch krank geworden sei. Die Behinderungen und Krankheiten der Kinder im Dorf, die wären nur Zufall oder würden von unsauberen Brunnen kommen. Die Gutachter, die Professor Chapela dagegen geholt hatte, konnten bis ins kleinste Detail beweisen, dass praktisch überall, im Blut der Dorfbewohner, im Blut ihrer Tiere, im Wasser, in den Pflanzen, im Boden Reste vom Spritzmittel „Kill All“ waren. Sie konnten auch wissenschaftliche Studien vorweisen, die belegten, dass das Spritzmittel sehr wohl giftig ist und man davon krank wird. Die vielen und sehr teuren Anwälte der Firma versuchten mit aller Kraft, die Dorfbewohner und die von ihnen bestellten Gutachter als unglaubwürdig hinzustellen. Jedes Ergebnis wurde angezweifelt, alle Gutachter als vollkommen unfähig hingestellt, so dass sogar der Richter irgendwann genug hatte und die Anwälte anfuhr: „Dass Sie ihre Klienten bestmöglich verteidigen, das ist Ihre Pflicht und in Ordnung. Dass Sie die Gutachten infrage stellen, ist auch Ihr Recht und in Ordnung. Aber dass Sie die gegnerischen Gutachter, die alle bekannte Wissenschaftler sind, ununterbrochen in jeder Hinsicht als dumm und unfähig bezeichnen, das geht jetzt doch zu weit“. Heuchlerisch beteuerte einer der Anwälte: „Aber wir können doch diesen schlimmen Vorwurf nicht auf uns sitzen lassen, dass uns das egal ist, wenn Menschen krank werden. Unsere Firma zeigt sich doch ohnehin immer in jeder Hinsicht großzügig. Auch wenn sie keine Schuld an einem Unglück trifft, hilft sie den armen Menschen. So ist es doch auch hier. Im übrigen sind von Professor Chapela Untersuchungsergebnisse und Bilder über den angeblich behinderten Skorpion vorgelegt worden, der ja auch in allen Zeitungen und im Fernsehen war. Sie sehen ja selbst, Herr Richter, mit welchen unseriösen Methoden hier gearbeitet wird. So ein Vieh gibt es überhaupt nicht! Das ist eine glatte Fälschung!“ Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal. „Ruhe!“ rief der Richter, „Ruhe, sonst lasse ich den Saal räumen“. Er wartete, bis es wieder ruhig war, dann wandte er sich an den Anwalt der Dorfbewohner. „Sie wollten etwas sagen?“ „Ja, Herr Richter, ich möchte gerne ein Beweisstück vorlegen“. „Bitte sehr“, sagte der Richter. Der Anwalt ging zu Anita, nahm sie auf den Arm, während sie den Käfig weiter im Arm hielt und setzte sie auf einen Sessel vor dem Richtertisch. Sie Herbstausgabe | natur&land | 101. JG. – Heft 3-2015

stellte den Käfig ab. „Was ist das?“ fragte der Richter. „Das ist der nicht existierende gefälschte behinderte Skorpion“, antwortete Anita und öffnete den Käfig. Der Richter zuckte zurück. „Skorpione sind doch gefährlich“, sagte er. „Der nicht“, entgegnete Anita und hielt Knubbli den Finger hin. Knubbli knabberte ganz zart an Anitas Finger, dann drehte er sich um und trappelte zum Richter. Der hielt ihm zuerst etwas ängstlich, dann mutiger auch den Finger hin, den Knubbli ganz zart beknabberte. Dann drehte sich der behinderte Skorpion im Kreis, dass ihn der Richter ganz genau betrachten konnte und schwenkte zum Schluss stolz seinen Schwanz mit der Schere zum Victoryzeichen. „Sie meinen also alle, meine Herren, dass ich Gespenster sehe, wenn ich behaupte, hier einen ziemlich eigenartigen und offensichtlich behinderten Skorpion vor mir zu sehen“, sagte der Richter zu den Anwälten der Firma. Sofort beteuerten die Anwälte, dass der Richter natürlich keinerlei Gespenster sähe, sondern einen echten, nur etwas eigenartigen Skorpion. „Und was die Gutherzigkeit der Firma betrifft, die armen Menschen helfen will, auch wenn sie nicht an deren Unglück schuld ist – versuchen Sie nicht eher die Leute mit einem Geldbetrag, der für Sie ein Taschengeld bedeutet, abzufertigen und vor allem zum Schweigen zu bringen?“ fragte der Anwalt der Dorfbewohner. Das gab eine große Empörung bei den Anwälten der Firma. „Wie kommen Sie denn darauf? Das würde die Firma nie tun!“ „Sie haben wirklich niemanden geschickt, der mit den Dorfbewohnern reden und sie unter Druck setzen sollte?“ „Natürlich nicht!“ „Aber es war doch ein Firmenvertreter im Dorf und hat mit Anita gesprochen, das ist das Mädchen mit dem Skorpion“. „Niemals! Halten Sie etwa ein behindertes Kind für glaubwürdig?“ „So“, meinte der Anwalt der Dorfbewohner trocken. „Darf ich?“ wandte er sich an den Richter und hielt ein kleines Gerät hoch. Der nickte nur. Der Anwalt drückte einen Knopf. Man hörte eine Männerstimme „Sind Deine Eltern zu Hause?“ und Anitas Antwort „Nein, leider, was möchten Sie denn von ihnen?“ Dann lief das ganze Gespräch, das Anita und der Mann von der Firma geführt hatten, vor allen Anwesenden ab. Bei den Worten „ihr Indios seid doch wirklich ein ungebildetes schmutziges Volk“ gab es einen Riesenwirbel im Saal, der Richter musste unterbrechen und die Leute zweimal ermahnen, bevor wieder Ruhe im Saal war. Der Richter hörte sich die Aufnahme zu Ende an, dann fragte er: „Als der Mann so geschrien und mit einem Nachspiel gedroht hat, was genau ist da gesche-

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hen?“ Der Anwalt lächelte. „Fragen Sie bitte die Produzentin der Aufnahme“, sagte er und wies auf Anita. „Du hast das aufgenommen? Du bist ein kluges Mädchen“, staunte der Richter. „Ja, das Gerät lag zufällig auf dem Tisch, weil ich Vogelstimmen aufnehmen wollte“, entgegnete Anita bescheiden. „Und das war so: anscheinend hat der Mann meinen Skorpion so wild gemacht, dass er auf ihn losgeschossen ist und ihn mit seiner Schere am Schwanz kräftig in den Finger gezwickt hat“. „Würde ich auch tun, wenn mich jemand eine Missgeburt nennt“, meinte der Richter, während seine Mundwinkel verdächtig zuckten. Dann klopfte er mit seinem Hammer auf den Tisch. „Die Verhandlung wird bis nachmittag um 14 Uhr vertagt“, verkündete er und erhob sich. „Wieso hast Du mir gar nichts gesagt, dass Du das Gespräch aufgenommen hast?“ fragte Herr Fernandez. „Ich wusste bis gestern nicht, dass ich es habe“, antwortete Anita. „Erst gestern im Hotel wollte ich etwas Musik hören und da habe ich es bemerkt. Ich wollte es Dir erzählen, habe aber in der ganzen Aufregung darauf vergessen. Heute vor dem Gericht, als mir der Anwalt geholfen hat, hineinzukommen, ist es mir wieder eingefallen und ich habe mir gedacht, vielleicht kann er es brauchen.“ „Du bist wirklich ein fantastisches Mädchen“, stellte Herr Fernandez fest, „gut, dass Dein Gerät zufällig gelaufen ist, als der Mann kam.“ „Ist es aber nicht“, sagte Anita nachdenklich, „ich habe an dem Tag vorher schon Vogelstimmen aufgenommen, aber ich weiß auch ganz sicher, dass ich es abgestellt hatte, bevor ich mit dem Skorpion das Hütchenspiel begann. Ich habe es hinter die Becher gelegt“. „Aber wie dann – der Skorpion?“ „Ist die einzige Möglichkeit. Außerdem war das Gerät nachher wieder abgeschaltet, als ich es ins Haus genommen habe“ verkündete Anita. „Auch der Skorpion?“ Anita zuckte die Achseln. Beide blickten auf Knubbli, der still in seinem Käfig saß und sich bemühte, völlig unbeteiligt dreinzuschauen. Die Mittagspause war vorbei, alle versammelten sich wieder im Gerichtssaal. Die Rechtsanwälte hielten ihre Schlussreden, das sogenannte Plädoyer. Die Anwälte der Firma versuchten noch einmal, ihre Firma als völlig unschuldig, ja sogar wohltätig hinzustellen. Der Anwalt der Dorfbewohner wies darauf hin, mit welcher Skrupellosigkeit und Gewissenlosigkeit die Manager der Firma vorgegangen waren. Als alle wieder saßen, stand der Richter auf. „Ich habe schon viele Prozesse geführt“, sagte er, „aber einen solchen noch nie. Auf der einen Seite eine mächtige, riesige Firma, die in der ganzen Welt Geschäfte macht, auf der anderen Seite eine kleine, arme Dorfgemeinschaft und ihre behinderten Kinder. Ja, und noch ein ganz außergewöhnliches Tier, eines von der Sorte, das von den meisten Menschen sofort erschlagen wird, wenn

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es ihnen über den Weg läuft“, fügte er mit einem Blick auf Knubbli hinzu. Dann fuhr er fort: „Diese Menschen haben immer wieder gebeten, mit der Spritzerei aufzuhören, die ihnen so schadet. Es hat alles nichts genützt. Ihre Geschäfte waren der Firma wichtiger und leider haben die mächtigen Leute in unserem Land auch weggehört. Ein kleines behindertes Mädchen mit ihrem außergewöhnlichen, ebenfalls behinderten Skorpion hat es geschafft, die Menschen wachzurütteln. Und die Dorfbewohner ließen sich weder kaufen, noch einschüchtern und verlangten Gerechtigkeit. Die sollen sie bekommen. Nun das Urteil: Die für die den Spritzmitteleinsatz verantwortlichen Manager Grant, Queeny und Taylor werden wegen fortgesetzter schwerer Körperverletzung zu je 3 Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie bewusst in Kauf genommen haben, dass wegen ihrer Spritzerei im Dorf mehr behinderte Kinder geboren wurden, die Menschen davon krank werden und außerdem die Umwelt zerstört wird. Weiters wird die Firma dazu verurteilt, den Eltern der behinderten Kinder pro Kind 200.000 Dollar zu zahlen. Damit können die Kinder endlich die notwendigen Therapien und Hilfsmittel bekommen. Zusätzlich muss die Firma alle Kosten tragen, die entstehen, damit das ganze Dorf barrierefrei eingerichtet werden kann. Barrierefrei“, erklärte er mit einem Blick auf die Zuhörer, von denen die meisten das Wort noch nie gehört hatten, „das bedeutet, dass behinderte Menschen überall dabei sein können und auch alles mitbekommen können, ganz gleich ob sie eine Körperbehinderung, Sehbehinderung, Hörbehinderung oder was auch immer haben. Den genauen Betrag bekommt die Firma mit dem schriftlichen Urteil, weil ich auch noch nicht genau weiß, was das alles kosten wird, ich muss mir darüber selbst noch Informationen beschaffen. Die Verhandlung ist geschlossen!“ Normalerweise wird in einem Gerichtssaal nicht applaudiert, aber diesmal war es anders. Die Dorfbewohner sprangen auf, klatschten wie verrückt und jubelten, ebenso die meisten anderen Anwesenden. Nur die Vertreter der Firma standen da wie die begossenen Pudel. Die Türen flogen auf, die Zeitungsleute, die Reporter vom Fernsehen stürmten herein. Die Polizisten im Saal mussten einen Ring um Anita bilden, sonst wären sie und Knubbli zerquetscht worden. Alle hatten schon von ihrem Auftritt im Gerichtssaal gehört und wollten jetzt Näheres wissen. Von allen Seiten regnete es Glückwünsche und Fragen. „Einen Moment, bitte!“ rief Herr Fernandez energisch. Er setzte Anita auf den Richtertisch und sie ließ Knubbli aus dem Käfig. Knubbli wußte natürlich genau, wie man sich als Held und Mittelpunkt des Geschehens zu benehmen hatte. Es war ja auch wirklich erstaunlich – ein behindertes Mädchen und ein Herbstausgabe | natur&land | 101. JG. – Heft 3-2015


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behinderter Skorpion aus einem kleinen, armen Dorf, irgendwo im Urwald, hatten über eine der mächtigsten Firmen der Welt gesiegt. Er stolzierte – trappeln konnte man das diesmal nicht nennen, er stolzierte wirklich von einer Kamera zur anderen und hielt seine Schere zum Victoryzeichen hoch.

7. Ein neues Leben Der Richter hielt Wort. Bald nachdem die Dorfbewohner in ihr Dorf zurückgekommen waren, kamen Männer und Frauen aus der Hauptstadt, schauten sich im Dorf genau um und stellten lange Berechnungen auf, was das alles kosten würde. Da war die Schule, die umgebaut werden musste. Rollis mussten ohne Stufen hineinfahren können, also brauchte man eine Rampe, und dann brauchte man Toiletten, die von Rollifahrern benützt werden können. Das ist nicht so einfach, weil ein Rolli ja genügend Platz zum Umdrehen braucht. Das Waschbecken muss so gebaut sein, dass man mit dem Rolli drunter fahren kann – schließlich wollen sich ja auch Rollifahrer die Hände waschen. Das Gemeindeamt – ja, wozu brauchen behinderte Kinder das? „Behinderte Kinder werden auch einmal erwachsen“, sagte der Richter, als die Vertreter der Firma wieder einmal jammerten. „Außerdem hat jeder Bürger, ob groß oder klein, das Recht, in das Gemeindeamt zu kommen, dazu muss es aber barrierefrei sein“. Und so ging es weiter. Als alles genau ausgemessen, aufgeschrieben und ausgerechnet war, bekam der Richter die Unterlagen. Er schrieb sein Urteil, in dem nun ganz genau stand, was die Firma zu zahlen hatte und schickte es an die Firma und die Dorfbewohner. Diese jubelten und feierten ein großes Fest, in dem Anita und Knubbli ausgiebig hochleben durften. Die Leute von der Firma waren weniger begeistert. „Wir müssen Einspruch erheben“, sagten die Anwälte. Der Generaldirektor entschied sich jedoch dagegen. „Wenn wir das Urteil akzeptieren“, sagte er, „dann zahlen wir eben und irgendwann ist die Sache vergessen. Wenn wir Einspruch erheben, dann sind wir wieder jeden Tag in den Zeitungen und im Fernsehen und die meisten davon mögen uns ohnehin nicht besonders. Das ist nicht gut für unser Image“. Das sahen die Anwälte ein. Das Image, also das Bild, das eine Firma für die Leute nach außen hin bietet, ist nämlich sehr wichtig für die Firmen. Wenn das Image beschädigt ist, dann nützt die beste Werbung nichts, weil die Menschen dann die Waren von der Firma nicht mehr kaufen wollen und die Firma muss zusperren. Also kein Einspruch gegen das Urteil. „Aber wenn die nächsten Dorfbewohner kommen und uns klagen, die haben dann schon das Vorbild durch diesen Prozess“, fragten die Anwälte, ist das nicht gefährlich für uns?“ „Dann müssen wir eben wieder vor Gericht“, sagte der GeneHerbstausgabe | natur&land | 101. JG. – Heft 3-2015

raldirektor, „dazu bezahle ich Sie ja. Aber passen Sie gefälligst auf, dass so etwas nicht wieder passiert, nehmen Sie gefälligst behinderte Kinder und behinderte Skorpione etwas ernster“. Wer nach einem Jahr in das Dorf kam, erkannte es nicht wieder. Die Pflanzen hatten sich ohne die ewige Spritzerei wieder erholt und hatten endlich wieder ganz grüne Blätter ohne vertrocknete und eingerollte Ränder, es gab ordentliche Wege, auf denen Kinder stolz mit lustig bemalten Rollis herumfuhren, die Schule hatte eine Rampe und jedem, der in das Dorf kam, wurde stolz die barrierefreie Toilette in der Schule gezeigt. Auf der Dorfstraße übte ein Trainer mit einem blinden Kind, wie es den langen weißen Stock richtig verwenden sollte. Anita saß in ihrem neuen Elektrorolli vor dem Häuschen am kleinen Tisch und schrieb eifrig Aufgaben auf dem Computer. Sie konnte jetzt so wie die Kinder ohne Behinderung in die Schule gehen oder besser gesagt, rollen. Sie war sogar schneller als die gehenden Kinder und düste mit Begeisterung und voller Geschwindigkeit den Weg zur Schule entlang. Sicherlich, beim Unterricht durch ihren Vater hatte sie zu Hause auch viel gelernt, aber mit den Schulkameraden in der Schule war es doch viel lustiger, weil das Leben nicht nur aus Lernen besteht, sondern auch aus Spiel, Spaß und Flüstern mit Freundinnen. Knubbli saß wie immer bei ihr auf dem Tisch. „Hast Du gehört?“ sagte sie zu ihm. „Wenn ich so weitermache, haben meine Eltern gesagt, dann schaffe ich die höhere Schule locker und kann dann sogar auf die Universität gehen. Ob die allerdings barrierefrei ist, weiß ich noch nicht. Aber irgendwie wird es schon gehen! Und du kommst natürlich mit“. „Genau“, dachte Knubbli, „notfalls kämpfen wir einfach weiter. Und ich werde dann der erste Skorpion mit Universitätsabschluss sein!“ Fast wie von selbst hob sich sein Schwanz zum Victoryzeichen. Wie die Geschichte angefangen hat, könnt ihr in Heft 2-2015 oder auf www.naturschutzbund.at unter natur&land nachlesen.

Gloria Petrovics hat sich bei ATTAC im Kampf gegen Gentechnik engagiert und war als Beamtin im Landwirtschaftsministerium maßgeblich am Zustandekommen des „Blindenführhundeparagraphen" (Bundesbehindertengesetz §39a) beteiligt.

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VORSCHAU

Die nächste Ausgabe: „Wie viel Planung braucht der Raum?“ Naturschutz und Raumplanung auf dem Weg zu einer ökologisch orientierten Raumordnung Der Bodenverbrauch hat in den vergangenen Jahrzehnten in ganz Österreich riesige landwirtschaftliche Flächen, Auen, Trockenrasen u.v.m. unwiederbringlich zerstört. Eine spätere Revitalisierung ist für die Allgemeinheit mit sehr hohen Kosten verbunden. Eine Raumplanung, die die Ökologie bereits im Vorfeld berücksichtigt, kann Folgekosten verhindern oder zumindest reduzieren. Österreich braucht eine stärker ökologisch orientierte Raumordnung mit dem Ziel, die Flächeninanspruchnahme für Bauland und Verkehrsflächen zu minimieren, Zersiedelung zu vermeiden und Vorrangflächen für Natur & Hochwasserschutz auszuweisen. Die Schwerpunktbroschüre will das Thema Raumordnung von mehreren Seiten beleuchten, was sie ist, wie sie funktioniert, was sie vorgibt. Wir meinen: Es ist an der Zeit dieses „heiße“ Eisen anzupacken.

S

Foto: Thomas Stefan

HEFT 4 ERSCHEINT MITTE DEZEMBER 2015

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Herbstausgabe | natur&land | 101. JG. – Heft 3-2015


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