Staatstheater Mainz
Der Barbier von Sevilla Gioachino Rossini
DER BARBIER VON SEVILLA (1816) Gioachino Rossini (1792–1868) Melodramma buffa in zwei Akten Libretto von Cesare Sterbini nach Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais gleichnamiger Komödie In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Musikalische Leitung … Paul-Johannes Kirschner Inszenierung … Ronny Jakubaschk Ausstattung … Matthias Koch Licht … Alexander Dölling, Alexander Fleischer Dramaturgie … Lars Gebhardt Chor … Sebastian Hernandez-Laverny Graf Almaviva … Ziad Nehme / Michael Pegher / Youn-Seong Shim Bartolo … Peter Felix Bauer Rosina … Geneviève King Figaro … Brett Carter Basilio … Georg Lickleder Berta … Alexandra Samouilidou* Fiorello … Stefan Keylwerth* Ambrogio … Till Toth Un Ufficiale … Ion Dimieru / Milen Stradalski Herrenchor des Staatstheater Mainz Philharmonisches Staatsorchester Mainz * Junges Ensemble
Eine Übernahme vom Oldenburgischen Staatstheater Aufführungsrechte Bärenreiter-Verlag Kassel-Basel-London-New York
Aufführungsdauer ca. 3 Stunden – eine Pause Premiere am 26. Oktober 2014 Großes Haus
Regieassistenz und Abendspielleitung … Rebecca Bienek Studienleitung … Michael Millard Musikalische Assistenz … Christian Maggio, Erika Le Roux Ausstattungsassistenz … Lucia Vonrhein Inspizienz … Eckhard Wagner Soufflage… Iris Conradi Einrichtung der Übertitel … Lars Gebhardt Übertitelungsinspizienz … Theresa Berwian, Eva Hofem Technischer Direktor … Christoph Hill Produktionsleiter … Olaf Lintelmann Werkstättenleiter … Jürgen Zott Assistent der technischen Direktion … David Amend Bühneneinrichtung … Fabian Konrad Leiter der Beleuchtung … Stefan Bauer Leiter der Dekorationswerkstatt … Horst Trauth Leiter der Schreinerei … Markus Pluntke Leiter der Schlosserei … Erich Bohr Vorstand des Malersaals … Andreas Beuter Leiter der Tontechnik … Andreas Stiller Tontechnik … Enis Potoku Kostümdirektorin … Ute Noack Assistentin der Kostümdirektorin … Ingrid Lupescu Gewandmeisterinnen … Britta Hachenberger, Mareike Nothdurft Gewandmeister … Thomas Kremer, Falk Neubert Modistin … Petra Kohl Chefmaskenbildner … Guido Paefgen Maskenbildnerinnen … Anette Dold, Sabine Feldhofer, Yvonne Hoffmann, Vanessa Kleine, Nadine Rodekurth, Jasmin Unckrich Leitung der Requisite … Hannelore Taubert-Bénèch, Dagmar Webler Requisite … Fred Haderk, Stefanie Kaiser, Birgit Schmitt-Wilhelm
Handlung 1. Akt Doktor Bartolo hält seine Pflegetochter Rosina gefangen. Er möchte sie heiraten, um mit ihrem Geld seine Macht zu sichern. Lindoro, der sich in Rosinas Erscheinung verliebt hat, dringt in Bartolos Reich ein, um sie zu befreien. Dabei begegnet er drei Dienern – Berta, Fiorello und Ambrogio –, die ihm helfen wollen: Mit einer Kapelle und Gesang soll er Rosina herbeirufen, doch der Versuch misslingt. Erst durch Figaro, das Faktotum (den Möglichmacher) in dieser sonderbaren Welt, gelingt es Lindoro, Rosinas Stimme zu hören. Figaro rät, sich als betrunkener Soldat auszugeben und so zu Bartolo vorzudringen. Währenddessen ist Rosina zuversichtlich, dass sie mit Lindoros Hilfe, aber vor allem durch ihre eigene Gerissenheit, aus Bartolos Fängen fliehen kann. Unterdessen vermutet Bartolo in dem Neuankömmling den mysteriösen Grafen Almaviva. Sein Kompagnon Basilio möchte den Eindringling mit Hilfe einer Verleumdung beseitigen, doch Bartolo treibt lieber seine Hochzeitspläne voran. Als Lindoro bei Bartolo Quartier beziehen will, nutzt er die Chance, um Rosina seine Liebe zu versichern. Bartolo will den Störenfried loswerden. Figaro versucht den Streit zu schlichten, doch die Wache ist schon alarmiert. Lindoro wird die Unternehmung zu brenzlig, und er flieht aus Bartolos Reich.
2. Akt Lindoro unternimmt einen zweiten Versuch: Als Basilios Gehilfe verkleidet, kommt er erneut zu Bartolo. Zwar plaudert er versehentlich verräterische Details aus, kann aber so Bartolos Vertrauen gewinnen: Er darf Rosina Gesangsunterricht geben. Diese Gelegenheit nutzen Rosina und Lindoro um sich näher zu kommen. Figaro will Bartolo ablenken und den Plan, Rosina nachts zu entführen, vorantreiben. Der ahnungslose Basilio wird mit Geld bestochen und spielt die Maskerade mit. Bartolo durchschaut jedoch die Verkleidung Lindoros und wirft die Eindringlinge raus. Als Rosina ihren Brief an Lindoro in Bartolos Händen sieht, glaubt sie sich verraten. Bartolo lässt sie glauben, Lindoro werbe nur für den Grafen Almaviva um sie. Mit Hilfe von Sturm und Nebel können Figaro und Lindoro wieder in Bartolos Reich vordringen. Als Rosina Lindoro mit Vorwürfen begegnet, stellt er eines klar: Er selbst ist der Graf Almaviva, von dem immer alle sprechen. Rosina entscheidet sich zur gemeinsamen Flucht. Zwar werden sie von Bartolo entdeckt, aber Lindoro/Almaviva kann Kraft seiner Autorität Tatsachen schaffen: Bartolo muss Rosina hergeben, braucht dafür aber keine Mitgift zahlen. Im allgemeinen Jubel trifft auch Rosina eine Entscheidung.
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ROSSINI: COMMEDIA DELL’ ARTE UND MÄRCHEN Lars Gebhardt 1792 in Pesaro an der Adria in eine Musikerfamilie geboren, prägt Gioachino Rossini zwischen 1806 und 1829 mit seinen 39 in diesen Jahren entstandenen Opern den musikalischen Geschmack einer Generation. Er markiert den Beginn der unter dem Oberbegriff ‚Belcanto‘ bekannt gewordenen Periode in der italienischen Musik, die von Vincenzo Bellini und Gaetano Donizetti formvollendet zum Höhepunkt gebracht werden sollte: Weniger die dramatische Plausibilität steht hier im Vordergrund der Handlung, sondern das Ergründen von Gefühlen mit möglichst einfallsreichen Melodien und das Ausstellen virtuoser Stimmbeherrschung mit Koloratur und Spitzentönen bestimmt die Struktur. Was nach den musiktheatralen Neuerungen eines Mozart oder Gluck auf den ersten Blick wie ein Rückschritt zum barocken Stimmkult aussieht, liest sich beim genaueren Hinsehen als ein Symptom des frühen 19. Jahrhunderts: In den Zeiten politischer und gesellschaftlicher Restauration schien die Rückwendung zu tradi tionellen Erzählmustern und das Pflegen des Altbekannten Sicherheit zu geben. Gleichzeitig wurde die tradierte Form geweitet und um gedeutet. In vielen Belcanto-Opern steht der Konflikt zwischen privater und öffentlicher Person, der Clash
von Liebesglück und Staatsräson, im Zentrum der Handlung. Das Theater spiegelte hier, in den Mantel der Tradition gehüllt, die Themen der Zeit: Das sich neu entwickelnde Bürgertum – von der politischen Restauration enttäuscht – zog sich zunehmend ins Private zurück. Überhaupt war der Beginn des 19. Jahrhunderts gerade in Literatur und Musik von Rückbesinnung auf Bekanntes und Bewährtes geprägt: In Deutschland versuchte man über eine Vereinheitlichung von Sprache und Geschichte dem Nationalstaatsgedanken zuzuarbeiten. Ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis sollte zum gemeinsamen Staat führen. Die Märchensammlungen der Brüder Wilhelm und Jacob Grimm, die im Dezember 1812 als Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht wurden, kann man durchaus diesem Unterfangen zuordnen. Aus einer Mischung von Volkssagen und Fiktion kondensierten die Brüder Geschichten, die Urmythen des menschlichen Zusammenlebens durchexerzieren und dabei keineswegs nur Kindermärchen erzählen. Durch das Anknüpfen an bekannte Erzählmuster und Typen des volkstümlichen Erzählens gelang ihnen einerseits eine greifbare Volksnähe, andererseits eine abstrahierende Verallgemeinerung. Und auch in Italien griff Gioachino Rossini in seinen zahlreichen komischen Opern auf Altbekanntes
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zurück: Er betrachtete das Figurenarsenal der in die Jahre gekommenen Opera buffa neu und schärfer durch die Brille der beginnenden industriellen Revolution. Die Opera buffa – das heitere Gegenstück zur ernsten Opera seria des Barock und der Frühklassik – war Anfang des 18. Jahrhunderts die musikalische Schwester des italienischen Stegreifspiels, der Commedia dell’arte. In ihr treten feste Figuren und Typen auf und variieren die tradierten Szenarios und Geschichten. Es kommt auf das „wie“ an: Wie wird die (bekannte) Handlung erzählt. Im Zentrum stehen zumeist die Verliebten, die „innamorati“, die lyrischen und aufrichtigen Figuren. Es gibt den eitlen Dottore, den stolzen Capitano, die „zanni“ – Dienerfiguren, wie Columbina und Bertolino – und schlaue Narren wie Arlecchino und Pulcinella. Diese Typen sieht man auch noch in Wolfgang Amadeus Mozarts Opern durchschimmern: Doch selbst seine Hochzeit des Figaro hat wenig mit dem spielerisch-anarchischen Witz und zotenhaften Schablonen des originären Stegreifspiels zu tun. Der Barbier von Sevilla war ein beliebter Stoff solcher Typen komödien. Pierre Augustin Caron de Beaumarchais’ Trilogie rund um die Erlebnisse des Grafen Almaviva, zwischen 1775 und 1792 veröffentlicht, war zunächst sogar als Opernlibretto geplant, weshalb viele Figuren mit Liedern oder musikalischen
Nummern auftreten. Giovanni Paisiellos Vertonung – 1782 in St. Petersburg uraufgeführt – war beim Publikum äußerst beliebt und gerade in Italien erfolgreich. Als Rossini 1816 in Rom den gleichen Stoff als Vorlage nahm, war dies ein waghalsiges Unterfangen. Nicht ohne Grund, nannte er seine Oper deshalb auch zunächst Almaviva oder Die vergebliche Vorsicht um nicht zu sehr in Konkurrenz zu Paisiello, den er selbst sehr schätzte, zu treten. Die Titeländerung verweist aber auch auf einen anderen interessanten Aspekt: Zwar hilft Figaro, das Faktotum, wo er nur kann und schmiedet Pläne, doch er ist nicht die Hauptfigur der Oper. Die eigentliche Arbeit leistet der Graf Almaviva: Er möchte Rosina heiraten und sie von Bartolo befreien. Regisseur Ronny Jakubaschk richtet deshalb in seiner Inszenierung den Fokus auf Almaviva und erzählt die altbekannte Geschichte in einer fantastischen und märchenhaften Realität. Haben die Typen der Commedia dell’arte denn nicht auch etwas von Märchenfiguren? Der heldische Prinz, die gefangene Prinzessin, der böse (Stief)Vater, der freundliche Helfer. Es sind Urtypen des Theaters, die einem in Rossinis Welt begegnen. Figuren, die von extremem Egoismus getrieben sind: In ausladenden Arien stellen sie sich dem Publikum vor, werden charakterisiert und müssen
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mit Virtuosität ihr Können präsentieren. Hier nutzt Rossini die Selbstdarstellung der neuen Gesangstars – nach dem Starkult des Barock um die Kastraten traten Anfang des 19. Jahrhunderts zunehmend Mezzosopran und Tenor ins Rampenlicht – um die Egomanie genüsslich auszuspielen: Der bunte Hund Figaro imaginiert sich in seiner Auftrittscavatine ein ganzes Sevilla herbei, das ohne ihn nicht existieren kann, und nutzt die Virtuosität des schnellen Parlandotons um seine Betriebsamkeit zu verdeutlichen. Der intrigante Basilio singt ein Hohelied auf die Verleumdung und bedient sich zur Veranschaulichung zahlreicher Naturphänomene – vom „sanften Lüftchen“ bis zur kanonenartigen „esplosione“. Geld regiert in diesem Kosmos die Welt: Figaro wird ein williger Helfer des jungen Fremden, nachdem dieser ihm Gold in Aussicht gestellt hat. Erst dann beginnen seine grauen Zellen zu arbeiten und erfinden den zweifelhaften – und letztendlich schwachsinnigen und wirkungslosen – Plan vom betrun kenen Soldaten mit Einquartierungs bescheid. Und auch Basilio tritt bereitwillig in den Kreis der Verschwörer gegen Bartolo ein, wenn ihm Figaro und Almaviva nur ausreichend Geld zustecken. Rosina, die gefangene Frau, ist dabei viel mehr als nur die leidende Prinzessin und der Spielball der Interessen, sondern eine durchaus
selbstbewusste und starke Figur, die sich zu verteidigen weiß. In ihrer Arie zeigt sie exemplarisch die Schattierungen von aufrichtiger Liebe, gekonnter Verstellung und gefährlicher Verschlagenheit. In unserer Inszenierung tritt ein Mensch völlig unvermittelt und ganz spontan in diese fantastische Welt, in der es Geld regnen kann, die Erde bebt und Frauen mit Gesang her beigerufen werden: Ein Zerr- und Wunschbild unserer eigenen Realität. Nach und nach wird der Held Teil dieser Welt und macht sich ihre Mechanismen und Gesetze zu eigen. Der Lindoro des 1. Aktes, der aus dem Publikum heraustritt, ent wickelt sich vom Underdog und Neuling zum Machthaber in diesem System. Immer wieder vermuten Bartolo und Basilio in ihm den ominösen Grafen Almaviva, der aber scheinbar gar nicht existiert. Diese Leerstelle nutzt Lindoro und nimmt die Zuweisung an: Er wird zu Almaviva. So wie sich im Märchen ein Frosch durch einen Kuss zum Prinzen verwandeln kann, wird hier aus dem Neuling der Herrscher.
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ORT DER UTOPIE Uwe Timm Ein solches Zwischenreich ist auch das Märchen, nicht von dieser Welt und doch von ihr. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Darin liegt das Wissen von der Gefährdung und dem Tod, dem Ende jeder Existenz, und zugleich, gegen jede Erfahrung, die Hoffnung auf Dauer, auf Unsterblichkeit. Es ist eine Naivität, die nicht logisch fragt, sondern wünscht. Die unlogischen Brüche in den Märchen sind geradezu ihr Wesen. Der Wunsch kennt nicht die Logik, sondern nur die Hoffnung. So reiben die Leute noch heute den Renaissance-Löwen vor der Münchner Residenz die Mäuler, die glänzend poliert sind von all den stummen Wünschen. Denn den Wunsch darf man, damit er wirkt, nicht aussprechen. Das Märchen kommt von weit her, und in ihm sind viele Bewusstseinsschichten und Erfahrungen abgelagert. Sein Ort ist die Utopie. All dem Erzählen von Gewalt, Ungerechtigkeit, Herabsetzung und Grausamkeit wohnt das Versprechen inne, es werde durch das Wunderbare wieder zurechtgerückt. Ein magisches Wort kann die Welt verändern. Auch darin liegt die Poesie des Märchens. „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich“ – und siehe da, der Schuh passt. Es hilft nichts, wenn sich die Stiefschwestern
Zehen und Fersen abhacken, dann heißt es: „Rucke di guck, rucke di guck, / Blut ist im Schuck: / der Schuck ist zu klein, / die rechte Braut sitzt noch daheim.“ Und am Ende werden den bösen Stiefschwestern von den Tauben die Auge ausgepickt. Gerechtigkeit obsiegt, und das Glück stellt sich ein, jedenfalls für Aschenputtel. Märchen psychologisieren nicht, sondern typisieren. Aschenputtels Schwestern sind böse, grundböse, das wird nicht relativiert, kein Versuch gemacht, ihre Gehässigkeit zu verstehen. Es gibt den Neid. Die Neugierde. Die Eifersucht. Es gibt den Hass. Es gibt das Böse. Und es gibt Mitleid, Liebe, Hilfsbereitschaft – das Gute. Die Welt ist von Gewalt bestimmt. Und es gibt eine Gegenkraft, die alles wieder zurechtrücken kann. Im Märchen kommen die existenziellen Grunderfahrungen von Angst und Hoffnung in den unterschiedlichsten Abschattungen zum Ausdruck. Das macht die Überzeitlichkeit der Märchen aus. Die Angst vor dem Verlassenwerden, vor dem Aus gesetztsein, ist eine Urangst jedes Kindes. Das Weinen ist Zeichen dieser Urangst. Der Ruf nach Hilfe und Tröstung. In den Märchen wird oft geweint.
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DEN WAHNSINN ORGANISIEREN Alessandro Baricco Der Überschwang des Ornamentalen, und die damit einhergehende Emanzipation von der Melodie und vom Sinn, ist der Gestus, mit dem die Musiksprache Rossinis jenes sprachliche Profil zerbricht, das die Tradition der Opera buffa bestimmte und das eine einleuchtende Idee von Subjektivität und Natürlichkeit ins Bild gesetzt hatte. Doch der ornamentale Überschwang macht nicht die ganze Rossinische Metamorphose aus: er inauguriert sie und gibt, a posteriori, ihre Richtung und ihre Intention zu erkennen. Die so skizzierte Bewegung zeitigt aber in Wahrheit darüber hinausgehende, einschneidende Wirkungen. Sie gipfeln in dem, was man als den Grundzug der Rossinischen Musik bezeichnen könnte: nämlich darin, dass er die musikalische Sprache der präformierten Logik der menschlichen Sprache entzieht. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch hatte die Opera buffa mehr oder minder bewusst danach gestrebt, die Musik zu anthropomorphisieren, indem sie sie den Kadenzen und der Logik der menschlichen Sprache anglich. Weshalb sie das tat, ist nur allzu klar: die Rationalität der Sprache ist Spiegel und Legitimation der Rationalität des Subjekts; man berief sich auf die eine, um die andere zu konsolidieren. Vor den Trümmern des Subjekts, dem anomalen Erbe des aufklärerischen
Projekts stehend, sollte Rossini diese scheinbare, instrumentalisierte Natürlichkeit durch den primitivsten aller Instinkte ersetzen: durch den Rhythmus. Und vor allem: mit Rossini folgt die Musik nicht mehr länger dem rationalen Modell der menschlichen Sprache, sondern besinnt sich auf ihre eigene innere Logik. Dies ist keine Musik mehr, die dem Menschenbild nacheifert; vielmehr verwandeln sich die Menschen, die da auf der Bühne erscheinen, in rein musikalische Gebilde. An Rossini einen gewissen wirksamen „Realismus“ hervorheben zu wollen hieße, das schlaue Augenzwinkern überzubewerten, mit dem er scheinheilig sein Publikum und dessen Gewohnheiten bedachte. Um die komischen Opern Rossinis wirklich zu verstehen, müsste man zumindest das gelassene Urteil teilen, das Lippmann über ihn fällte: „Mozart brachte Individuen auf die Bühne, die durch die subtilsten musikalischen Mittel unmissverständlich charakterisiert sind. Rossini dagegen ist an der Psyche seiner komödiantischen Helden kaum interessiert. Selbst im Barbier sind Rosina, Figaro, Almaviva und all die anderen musikalisch nicht als Individuen gekennzeichnet.“ Ob man es nun mag oder nicht: die Personen der komischen Opern Rossinis verkörpern die tausend Gesichter eines ausgedehnten, heiteren Abschiednehmens vom bewussten Subjekt. Sie vollziehen
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den Sprung ins „Jenseits“, der Cherubin und Don Giovanni versagt blieb. Was ihnen den entscheidenden Schwung dazu verleiht, ist zweifellos die objektive Dynamik des musikalischen Materials, das, vom rabdomantischen Genies Rossinis geleitet, die Grenzen einer falschen natürlichen Sprache überschreitet und sie dazu anhält, zu singen wie Maschinen oder Geistesgestörte. Doch auch die Libretti trugen ihren Teil dazu bei. Mit einem Instinkt, der Bewunderung verdient, trieben Rossinis Librettisten die Vorliebe für vertrackte Verwirrungen und totale Konfusionen, die schon der Opera buffa eigen war, auf die Spitze und machten sie zu grandiosen Komplizen von Rossinis sprachlicher Wende. In ihrer schwindelerregenden Häufigkeit saugen sich diese kleinen und großen „black-outs“ der Subjektivität die Personen in ein Gefilde, das die Librettisten, ohne sich sonderlich intellektuell zu geben, manchmal gern beim Namen nennen: den Wahnsinn. Er war das Gespenst der Opera buffa des 18. Jahrhunderts; hier wird er willkommen geheißen oder sogar genüsslich verfolgt. Die Aufklärung fürchtete den Wahnsinn, weil sie ihn, mit gesundem Menschenverstand, dem Chaos gleichsetzte. Dass die komische Oper Rossinis dieses vernünftige Vorurteil außer Kraft setzte, macht ihre revolutionäre Bedeutung aus. Stendhal erfasste dies sogleich, mit unzweifelhafter Genialität, als er über die Italienerin
in Algier eine Bemerkung notierte, die wie eine Inschrift über Rossinis Opern stehen könnte: „Ein organisierter und vollkommender Wahnsinn.“ Eine solche Aussage hätte in den Ohren eines echten Aufklärers geklungen wie ein gefährliches Oxymoron; diesem einen vernünftigen Sinn gegeben zu haben, macht die Größe Rossinis aus.
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FOTOS S. 5 B. Carter; S. 6 G. Lickleder, P.-F. Bauer; S.10–11 Y.-S. Shim, G. King; S. 12 Z. Nehme; S. 14–15 Abb. 1: B. Carter, G. King, Abb. 2: Ensemble, Abb. 4: T. Toth, S. Keylwerth, A. Samouilidou, G. Lickleder; S. 18 Abb. 4: Herrenchor, A. Samouilidou, T. Toth, Y.-S. Shim, S. Keylwerth, Abb. 5: M. Pegher; S. 19 B. Carter, P.-F. Bauer; S. 20–21 P.-F. Bauer NACHWEISE Die Handlung sowie den Text „Rossini: Commedia dell’arte und Märchen“ verfasste Lars Gebhardt. Der Text „Ort der Utopie“ von Uwe Timm entstammt der Zeitschrift ZEIT Geschichte. Die Brüder Grimm, Nr. 4/2012. Der Text „Den Wahnsinn organisieren“ von Alessandro Baricco ist dem Buch Sterben vor Lachen, München/Wien 2005 entnommen. Alle Bilder sind Probenfotos: © Martina Pipprich und Andreas Etter
IMPRESSUM Spielzeit 2014/2015 Herausgeber Staatstheater Mainz www.staatstheater-mainz.de Intendant Markus Müller Kaufmännischer Geschäftsführer Volker Bierwirth Redaktion Lars Gebhardt Druck Druckerei Hassmüller, Frankfurt/Main Visuelle Konzeption Neue Gestaltung, Berlin
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Laster, Missbrauch und Willkür ändern sich nicht, sondern verstecken sich unter tausend Formen hinter der Maske der herrschenden Sitten: diese Maske herunterzureißen ist die edle Aufgabe dessen, der sich dem Theater verschreibt. Ob nun lachend oder weinend moralisiert … Man kann die Menschen nur verändern, indem man sie zeigt, wie sie sind. Die wirksame, wahrhaftige Komödie ist keine verlogene Lobeshymne, kein hohler akademischer Diskurs Beaumarchais
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