Staatstheater Mainz – Rigoletto

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Staatstheater Mainz

Rigoletto Giuseppe Verdi

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RIGOLETTO (1851) Giuseppe Verdi (1813–1901) Oper in drei Akten Libretto von Francesco Maria Piave nach Victor Hugos Le roi s’amuse In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Musikalische Leitung … Clemens Schuldt Inszenierung … Lorenzo Fioroni Bühne … Paul Zoller Kostüme … Katharina Gault Licht … Alexander Dölling Chor … Sebastian Hernandez-Laverny Dramaturgie … Lars Gebhardt Herzog von Mantua … Paul O’Neill Rigoletto … Werner Van Mechelen Gilda … Marie-Christine Haase Sparafucile … Ks. Hans-Otto Weiß Maddalena … Tamta Tarieli Giovanna … Ruth Katharina Peeck* Monterone … Georg Lickleder Marullo … Kyung Jae Moon* Borsa … Ks. Jürgen Rust Graf Ceprano … Stefan Keylwerth* Gräfin Ceprano … Alexandra Samouilidou Ein Gerichtsdiener … Ion Dimieru / Milen Stradalski Page … Alin Deleanu *Junges Ensemble

Herrenchor des Staatstheater Mainz Statisterie des Staatstheater Mainz Philharmonisches Staatsorchester Mainz Aufführungsdauer ca. 2 Stunden 30 Minuten – eine Pause nach dem 1. Akt Premiere am 15. Januar 2016 Großes Haus

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Dirigate … Clemens Schuldt, Johannes Braun, Samuel Hogarth Regieassistenz und Abendspielleitung … Rebecca Bienek Studienleitung … Michael Millard Musikalische Assistenz … Johannes Braun**, Samuel Hogarth, ­Paul-Johannes Kirschner, Christian Maggio Bühnenbildassistenz … Lara Linnemeier Kostümassistenz … Lucia Vonrhein, Anabelle Krukow Inspizienz … Eckhard Wagner Soufflage … Iris Conradi Leitung der Statisterie … Dieter Rößler Regiehospitanz … Nadine Frevert, Lara Yilmaz Hospitanz Bühne und Dramaturgie … Nicole Kropmaier Einrichtung der Übertitel … Lars Gebhardt Übertitelungsinspizienz … Christin Hagemann ** Gefördert vom Deutschen Musikrat im Rahmen des Dirigentenforums

Technischer Direktor … Christoph Hill Produktionsleiter … Bertil Brakemeier Werkstättenleiter … Jürgen Zott Assistent der technischen Direktion … David Amend Bühneneinrichtung … Marcus Riedel Leiter der Beleuchtung … Stefan Bauer Video … Christoph Schödel Leiter der Dekorationswerkstatt … Horst Trauth Leiter der Schreinerei … Markus Pluntke Leiter der Schlosserei … Erich Bohr Vorstand des Malersaals … Andreas Beuter Leiter der Tontechnik … Andreas Stiller Tontechnik … Peter Münch, Enis Potoku Kostümdirektorin … Ute Noack Assistentin der Kostümdirektorin … Ingrid Lupescu Gewandmeisterinnen … Britta Hachenberger, Mareike Nothdurft Gewandmeister … Thomas Kremer, Falk Neubert Modistin … Petra Kohl Chefmaskenbildner … Guido Paefgen MaskenbildnerInnen … Judith Aretz, Marieke Berries, Anette Dold, Sabine Feldhofer, Yvonne Hoffmann, Vanessa Kleine, Elke Patzalt, Johanna Prange, Nadine Rodekurth, Stefanie Spang, Patricia Starke, Tanja Sussman, Jasmin Unckrich; Sander Prautsch Leitung der Requisite … Dagmar Webler Requisite … Fred Haderk, Solveig Jünger, Stefanie Kaiser 3


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HANDLUNG 1. Akt Der Herzog von Mantua und seine Männer sind auf der Jagd nach neuen sexuellen Eroberungen. ­R igoletto ist der Herold dieser ­wilden Männerhorde – er verhöhnt die Väter und Ehemänner der ­verführten Frauen. Deshalb ruft der Graf von Ceprano zur Rache auf und will Rigolettos vermeintliche Geliebte des Nachts entführen. Der Graf Monterone verunsichert die Gesellschaft: Ein Fluch soll den Herzog und auch Rigoletto treffen. Die Worte Monterones verfolgen Rigoletto – auch noch, als er auf Sparafucile, einen Auftrags­mörder trifft, der ihm seine Dienste anbietet. Rigoletto kehrt heim: Hier hält er seine Tochter Gilda versteckt. Bis auf den sonntäglichen Kirchgang darf sie das Haus nicht ver­lassen; sie weiß nicht einmal ­Namen und Herkunft ihres Vaters und ihrer verstorbenen Mutter. Doch Rigolettos Plan, Gilda vor dem Herzog und der Außenwelt zu schützen, wurde schon unterlaufen: Gerade in den Herzog hat sie sich verliebt, er gibt sich als mittelloser Student aus und schwört ihr seine Liebe. Gilda fühlt der erwachenden Sexualität in ihrem Körper nach. Rigoletto kehrt heim und trifft auf die Höflinge, die soeben Gilda entführen wollen – sie binden ­R igoletto in ihren Plan ein: Er ­bekommt die Augen verbunden ­und hilft bei der angeblichen Entführung von Cepranos Frau. Als er

realisiert, dass seine eigene Tochter das Opfer war, scheint sich ihm Monterones Fluch zu erfüllen. Pause 2. Akt Der Herzog beklagt das Verschwinden seiner Geliebten. Als die Höflinge ihm erzählen, dass sie ein Mädchen aus Rigolettos Haus entführt haben, realisiert er, dass Gilda zum Greifen nahe ist. Rigoletto wird von den Höflingen verspottet. Selbst als er offenbart, dass Gilda seine Tochter ist, zeigen sie kein Mitleid. Allein mit Gilda schwört Rigoletto Rache. 3. Akt Gilda liebt den Herzog immer noch. Rigoletto will den Herzog mit Hilfe Sparafuciles in eine Falle locken und umbringen. Sparafuciles Schwester Maddalena soll ihnen dabei als Köder dienen – auch um Gilda die Untreue des Geliebten zu beweisen. Ein Unwetter zieht auf. Gilda kehrt zurück und wird Zeugin einer Auseinandersetzung zwischen Sparafucile und Maddalena, die nicht zulassen will, dass ihr Bruder den Herzog ermordet. Sie fassen den Plan, an seiner Stelle jemand anderen umzubringen. Gilda beschließt, sich für den Herzog zu opfern. Rigoletto glaubt sich am Ziel seiner Rache. Er muss jedoch erkennen, dass die Leiche, die Sparafucile ihm übergeben hat, nicht die des Herzogs ist, sondern die seiner Tochter. 5


VON RITTERKÖNIGEN, ­ÜBERVÄTERN UND SELF-­ FULFILLING PROPHECIES Lars Gebhardt Als Franz I. 1515 mit gerade einmal 20 Jahren den französischen Thron bestieg, erbte er eine große Aufgabe: Das Königreich im europäischen Mächtespiel zu positionieren, den Machtbereich Frankreichs zu erweitern und das gesellschaft­ liche Leben zu modernisieren. Er sollte später als Roi-Chevalier, als „Ritter-König“, in die Geschichte eingehen, der Kunst und Kultur förderte und quasi die Türen zur Renaissance in Frankreich öffnete. Er war aber auch einer der letzten kämpfenden Fürsten, der sich als genialer Stratege und mutiger ­Heerführer auf dem Schlachtfeld bewährte. Diesen Ruf begründete Franz I. gleich zu Beginn seiner Regentschaft, als er den jahrelangen Streit zwischen den Schweizer Bünden und der französischen Krone um das Herzogtum Mailand beendete. Die Schlacht bei Marignano sollte als „Schlacht der ­R ­iesen“ in die Geschichte eingehen: Das französische Heer besiegte die Eidgenossen und beendete somit deren Expansionsbestrebungen. 300 Jahre später nahm Victor Hugo nun den Renaissance-König und Begründer des Absolutismus in Frankreich als Vorlage für sein Drama Le roi s’amuse. Ein Skandalstück, das direkt am Tag nach der Uraufführung 1830 von den Zensurbehörden verboten wurde. 6

Hugo macht aus dem Gentleman-­ König Franz I. einen Schürzenjäger, Frauenhelden und Lebemann. Mit seinen Mannen steigt er jedem Rock hinterher und verführt auch die schöne, junge – für alle unbekannte – Tochter des buckligen Hofnarren Triboulet. Dieser will sich am König rächen, reißt damit aber seine ­Tochter in den Tod und sich selbst ins Verderben. Hugo begründete mit seiner Theaterästhetik einen neuen Weg in der französischen Dramatik – nicht wohlgedrechselte Dialoge und die Macht des scharfen Wortes stehen mehr im Zentrum, sondern eine mitreißende Handlung, Figuren, die aus dem Leben gegriffen sind, und eine sehr direkte Dramatik, die nicht mit Blut und Horroreffekten spart, erobern die Bühne. Hugo war somit ein Vorreiter des Grand ­Guignol, des „großen Kasperle­ theaters“, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich verbreiten sollte. Im Pariser Vergnügungsviertel Pigalle spezialisierte man sich auf dieses „Theater der Grausamkeit“, einer der Vorläufer des modernen Splatterund Horrorfilms: Morde, Verge­ waltigungen, Geister­erscheinungen, Selbstmorde und Krankeitsepidemien bestimmten die Stückdramaturgie – krasse Theater­effekte, überzeichnet und über­realistisch dargestellt, sollten im Grand ­Guignol das Publikum s­ chockieren und unterhalten. Giuseppe Verdi interessierte sich schon früh für Hugos Stoff. Für ihn war vor allem der bucklige Hofnarr


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eine Theaterfigur, wie er sie suchte: zerrissen, komplex und „einer Figur Shakespeares würdig“ – so Verdi selbst. Der Weg zur Uraufführung am Teatro La Fenice in Venedig aber war schwierig: Die Zensur schritt ein, die Handlung musste an einen kleineren Fürstenhof verlagert werden, einige allzu obrigkeitskritische Passagen gestrichen werden. Doch Verdi hielt am Sujet fest. Aus La maledizione / Der Fluch, wie die Oper zunächst heißen sollte, wurde Rigoletto. Mit der Titelfgur, einem Außenseiter, hatte Verdi einen idealen Protagonisten gefunden, um die italienische Oper tatsächlich von Innen heraus zu erneuern. Nicht mehr die „Scena ed Arie“ bilden das musikalische Zentrum der Kompo­ sition, sondern das dramatisch durchwirkte Rezitativ: Rigoletto wechselt mühelos zwischen ariosen Passagen und Rezitativ. Zentral ist dabei sein erstes Aufeinandertreffen mit dem Auftragsmörder Sparafucile – dessen Name wiederum ein Verweis auf die so typische groteske Überzeichnung und Vereinfachung des Grand Guignol ist, bedeutet er doch nichts weiter als „Schießgewehr“. Bariton und Bass im Dialog, während sich im Orchester ein Duett zwischen Kontrabass und Violoncello entspinnt: Die dunkle Farbe, die „tinta nero“, die Verdi vorschwebte, findet sich hier am deutlichsten. Im anschließenden Monolog, in dem Rigoletto – vom Fluch Monterones verfolgt – sein 8

Schicksal beklagt, findet sich der freie Rezitativton, der die Titelfigur als musikalisch Unkonventionellen zeichnet, in Reinform. Der Fluch übrigens, der repetitiv auf einer Tonhöhe in den Blechbläsern im Vorspiel die Oper eröffnet, zieht sich fast leitmotivisch durch das Stück – und entspricht kaum dem Fluch, den Monterone tatsächlich ausspricht. Er scheint schon von Anfang an in Rigoletto zu warten – Ausdruck des Selbsthasses und der Zerrissenheit des Narren. Sowohl Herzog als auch Gilda sind musikalisch weitaus konser­ vativer geführt als die Titelfigur. Vor allem die Arie des Herzogs zu Beginn des 2. Aktes („Ella mi fu rapita … Parmi veder le lagrime“), in der er die Entführung seiner Geliebten betrauert, ist in Aufbau und Ausführung exemplarisch für die Scena ed Arie der Belcanto-­ Opern. Gilda dagegen wirkt mit ihrer Arie im 1. Akt („Caro nome“) fast wie eine Reminiszenz an die Wahnsinnsarien dieser Zeit – aus dem Nachdenken über den vermeintlichen Namen des Geliebten und dem Nachfühlen einer erwachenden Liebe schrauben sich die Koloraturen in immer höhere ­Sphären. Schon hier deutet sich an, was sich spätestens im Quartett des 3. Aktes einlösen wird: Gilda schwebt über allem und scheint immer wieder engelsgleich dem Geschehen enthoben. In seinem Aufsatz von 1922 analysiert der Musikkritiker und -essayist Adolf Weissmann


detailliert diesen Kulminationspunkt des Dramas: „Je näher die Katastrophe, desto größer Verdi. Immer da, wo es gilt, die Menschen in ihrer Gegensätzlichkeit aufein­ anderstoßen zu lassen, besinnt er sich auf die Macht des Ensembles. Aus der Szene wächst das Quartett empor. Scharf entgegengesetzte Grund­empfin­dungen sollen vereinigt werden. Die Musik soll binden, was getrennt ist: ­L eichtsinn hier, Schmerz, Liebe, Eifersucht, Rachegefühl: das alles soll ineinander­ fließen und sich doch abheben. Das vollzieht sich nun mit einer erstaunlichen Einfachheit der ­Mittel. Aus dem „Bella figlia dell’ amore“, aus der sorglosen Sinn­ lichkeit des bel giovane steigt es in Ruhe empor; aber das Lachen der Maddalena, die schweratmende Empfindung der Gilda und das gärende, treibende Wort Rigolettos fügen sich harmonisch zusammen. Die Angst nimmt Gilda den Atem. Wie diese Angst und Atemlosigkeit in einem zwar kontrastreichen, doch wohlgebauten Auf und Ab ihres Gesanges sich entlädt, während nebenan das Duett der Zufallsliebe weitergeht: das ist bis dahin unerhört.“ Die Beziehung von Vater und Tochter, die Verdi in Rigoletto zeichnet und die sich in den drei großen Duetten der Protagonisten nachvollziehen lässt, ist nicht ­unproblematisch: Weggesperrt erzieht Rigoletto seine Tochter fern jeglicher Realität – was als Schutz gedacht ist, macht aus ihr ein

­ eltfremdes, junges Mädchen, das w sich nach Liebe, Zuneigung und Freiheit sehnt. Der Vater ist ein Über-Vater, dessen Schutzmecha­ nismus umgeschlagen ist in ein Erdrücken der Tochter. Liest man den Text genauer, fällt auf, dass Rigoletto nicht wirklich an Gildas Gefühlsleben interessiert ist: Er verweigert ihr eine Identität, indem er ihr weder Familien­ herkunft noch Namen offenbart. Der Ver­klärung als reiner Engel, als „tutta mia famiglia“ und „il mio universo“ kann Gilda gar nicht gerecht werden. Selbst noch im Sterben redet er nur darüber, dass er nicht ohne sie leben kann: „­lasciarmi non dêi“ – sein eigenes Leid steht über allem anderen. Regisseur Lorenzo Fioroni sucht mit seinen Ausstattern Paul Zoller und Katharina Gault nach einer Rückbindung an die Historie. Der Herzog ist ein wahrer Franz I.: Renaissance-Fürst, Schlächter und Frauenheld. Die Bezüge zum ­g rausamen und blutigen Puppenspiel des Grand Guignol sind deutlich sichtbar: Schlachtgetümmel, übergroße Silhouetten und Puppenfrauen dominieren die Szenerie. Doch gleichzeitig wird deutlich, dass die Grenze zwischen Spiel und Realität dünn und durchlässig ist. Rigoletto ist mit seiner Trommel der Taktgeber des Schlachtgetümmels, der das grausame Spiel bis zum Ende antreibt. „Vendetta“ / „Rache“ treibt ihn an, und macht ihn dabei blind und taub für die wahren Gefühle seiner Tochter. 9



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DIE VERHÖFLICHUNG DER ­K RIEGER Norbert Elias Der König seinerseits ist auf den Adel aus einer ganzen Reihe von Gründen angewiesen. Er bedarf für seine Geselligkeit einer Gesellschaft, deren Gesinnung er teilt; es dient seinem Bedürfnis nach Heraushebung aus allen übrigen Gruppen des Landes, dass die Menschen, die ihn bedienen, sei es bei Tisch, sei es beim Schlafengehen oder bei der Jagd, dem höchsten Adel des Landes angehören. Ganz besonders aber braucht er den Adel als Gegengewicht gegen das Bürgertum, wie er das Bürgertum als Gegenwicht gegen den Adel braucht. Der Adel – und ebenso auch das Bürgertum – ist nicht nur von dem König abhängig; der König ist auch von der Existenz des Adels abhängig; aber ganz gewiss ist die Abhängigkeit des einzelnen Adligen vom König unvergleichlich viel größer, als die Abhängigkeit des Königs von irgendeinem einzelnen Adligen. Der König ist nicht nur Unterdrücker des Adels, wie es Teile des höfischen Adels selbst empfinden; er ist auch nicht nur der Erhalter des Adels, wie es weite Teile des ­Bürgertums sehen; er ist beides. Und der Hof ist also ebenfalls: eine Zähmungs- und Erhaltungsanstalt des Adels. Am Hof findet ein Teil des Adels die Möglichkeit zu einem standesgemäßen Unterhalts; aber die einzelnen Adligen stehen hier nicht mehr, wie ehemals die Ritter,

in freier, kriegerischer Konkurrenz miteinander, sondern in monopolitisch gebundener Konkurrenz um die Chancen, die der Monopolherr zu vergeben hat. Die engere Verflechtung nach den verschiedensten Seiten hin, der starke und beständige Druck von den verschiedensten Seiten her verlangt und züchtet eine beständige Selbstkontrolle, ein stabileres Über-ich und neue Formen des Benehmens im Verkehr von Mensch und Mensch: aus Kriegern werden Höflinge. Wo immer man auf dieser Erde einigermaßen weitreichenden Zivilisationsprozessen begegnet, dort findet man auch in dem geschichtlich-gesellschaftlichen Hebelwerk, das diese Habitusverlängerung auslöst, Vorgänge verwandter Art. Sie mögen sich langsamer oder rascher vollziehen, eine mehr oder weniger entschiedene, eine stabile oder vorübergehende Verhöflichung der Krieger gehört, so weit sich heute sehen lässt, zu den elementarsten, sozialen Voraussetzungen jeder größeren Zivilisationsbewegung. Und so wenig aktuelle Bedeutung auch das soziale Gebilde des Hofes auf den ersten Blick für unser gegenwärtiges Leben haben mag, zum Verständnis des Zivilisationsprozesses ist ein gewisses Verständnis für den Aufbau des Hofes unentbehrlich. Vielleicht wirft die eine oder andere seiner Aufbaueigentümlichkeiten zugleich auch noch Licht auf das Leben an starken ­Herrschaftszentralen überhaupt.

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EIN SCHICKSALSDRAMA? Egon Voss Wie wichtig den Autoren der Oper das Motiv des Fluchs war, zeigt die peinlich genaue Übernahme sämtlicher Stellen aus Hugos Drama, an denen der Fluch vorkommt, mehr noch die Tatsache, dass sie, über Hugo hinausgehend, Rigoletto auch am Schluss der Oper noch auf den Fluch Bezug nehmen lassen. Während sich Hugos ­T riboulet am Ende des Fluchs nicht mehr zu entsinnen scheint, die Schuld am Tod seiner Tochter ­vielmehr sich selbst gibt, ist für Rigoletto der Fluch der alleinige Grund des Verhängnisses, das ihn getroffen hat. Zumindest äußerlich steht dieser Schluss bei Verdi und Piave in seinem unverhohlenen Pathos in der Tradition von Schicksalsdrama und romantischer Oper. Dieser Eindruck scheint noch durch die Tatsache bestätigt zu werden, dass der nachdrückliche musika­ lische Bezug auf den Fluch ganz am Ende unüberhörbar einen Bogen zurück zum Anfang schlägt, ­nämlich zum Vorspiel der Oper, dem Preludio, in dessen Zentrum ebenfalls der Fluch steht. Dessen musikalische Formu­ lierung betrifft jedoch nicht die Realität, jenen Fluch also, den ­Monterone tatsächlich ausspricht, sondern Rigolettos Erinnerung daran. Verdi scheint ganz bewusst zwischen dem Fluch selbst und Rigolettos Bezug darauf unterschieden zu haben. Auf diese Weise 14

wird deutlich, dass es nicht der Fluch Monterones ist, der Rigoletto schicksalhaft verfolgt, sondern allein seine eigene Reaktion auf die Verfluchung, die ihn schockiert. So unentrinnbar und unerbittlich das Motiv, das diese Reaktion ­beschreibt, in seiner Fixierung auf Tonrepetition und punktierten Rhythmus also anmutet, ist es dennoch nicht Symbol oder Ausdruck einer von außen eingreifenden Macht, sondern Zeichen eines ­Geschehens, das nur mit Rigoletto selbst zu tun hat, das allein seiner eigenen Vorstellung und Befindlichkeit entspringt. So betrachtet führt der äußere Schein von Schicksalsdrama und romantischer Oper in die Irre. Verdis Verständnis folgend, der die Verfluchung unter einem moralischen Aspekt sah, ließe sich der Gedanke an den Fluch, der Rigoletto wie eine idèe fixe nicht mehr loslässt, als Mahnung oder Warnung auffassen, auch als schlechtes Gewissen. Von entscheidender Bedeutung aber ist, dass Rigoletto die Erinnerung an den Fluch, die ihn verfolgt und bedrängt, nicht begreift. Sie ängstigt und beunruhigt ihn zwar, veranlasst ihn jedoch zu keiner Änderung seines Verhaltens. So blind nämlich, wie er äußerlich am Ende des 1. Aktes ist, als ihm die Höflinge die Augen verbinden, so blind ist er im Inneren, gegenüber sich selbst und ­seinem Tun.


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Himmel, lass mich Kund’ erlangen, Da Du so verfährst mit mir, Welch Verbrechen ich an Dir Schon mit der Geburt begangen! Pedro Calderón de la Barca: Das Leben ein Traum

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Triboulet: Jetzt, Welt, sie mich an. Dies hier ist ein Narr, und dies hier ist ein König! – Und welch ein König! Der erste von allen! Der oberste König! Da liegt er unter meinen Füßen, ich halte ihn. Das ist er selbst. Die Seine ist sein Grabgewölbe und dieser Sack sein Leichentuch. Wer hat das denn getan? (Er kreuzt die Arme.) Nun gut! Ich bin es allein. – Nein, ich kann es nicht fassen, dass ich den Sieg errungen habe, und die Völker werden sich morgen weigern, es zu glauben. Was wird die Zukunft sagen? Welch großes Erstaunen wird unter den Nationen über ein solches Ereignis sein? ­ Schicksal, das uns in diese Situation stellt, wie nimmst du uns eine der höchsten menschlichen Majestäten hinweg, was! Franz von Valois, dieser ­ Prinz mit einem Feuerherzen, Rivale von Karl dem Fünften, ein König Frankreichs, ein Gott, – Der Ewigkeit nahe – ein Sieger in Schlachten, dessen Schritt die Mauern in ihren Grundfesten ­ ­erschütterte. (Es donnert von Zeit zu Zeit.) Er, der Held von Marignan, der eine ganze Nacht die Bataillone mit großem Lärm aufeinanderstoßen ließ, und der, als der Tag sich hob, die Hände in Blut getaucht nur noch die Stümpfe von drei großen Schwertern hielt, dieser König! Vom Universum durch seinen Ruhm mit Sternen bekränzt, Gott! wie schnell wird er davon gegangen sein! Plötzlich in all ­ seiner Macht hinweggerafft, mit seinem Namen, seinem Ruhm und seinem Hof, der ihm Weihrauch ­ darbietet, hinweggerafft wie ein unwillkommenes ­ Kind, in einer Gewitternacht von einem Unbekannten! Was! Dieser Hof, dieses Jahrhundert, diese Regierung waren nur Rauch! Dieser König, der im flammenden Morgenrot sich einst erhob, ausgelöscht, vergangen, in der Luft verflogen! Erschienen, verschwunden – 20


wie einer dieser Blitze! Und vielleicht werden morgen unnütze Marktschreier in die Städte gehen, ­ und dem staunenden Wanderer Tonnen von Gold versprechen: – Dem, der den verlorenen Franz den ­ Ersten wiederfindet! Das ist wunderbar! (nach einer Pause) Meine Tochter, oh, meine arme Tochter, nun ist er bestraft, nun bist du gerächt! Oh! Wie sehr brauchte ich sein Blut! Ein wenig Gold und er ist mein! (Er beugt sich mit Wut über den Leichnam.) Schurke! Kannst du mich noch hören? Meine Tochter, mehr wert, als deine Krone, meine Tochter, ­ die niemandem Böses zugefügt hatte, du hast sie mir geneidet und genommen! Du hast sie mir mit Schande bedeckt zurückgegeben, – und mit dem Unglück, ach! Nun! sag, hörst du mich? Jetzt, – das ist seltsam, ja, jetzt bin ich es, der da ist, der lacht und sich rächt! Weil ich vorgab, alles vergessen zu haben, schliefst du ein! – Du glaubst also, Erbarmen! den Zorn eines Vaters leicht verraucht! – Oh! nein, in diesem Kampf, der zwischen uns entfacht ist, Kampf der Schwachen mit den Starken, ist der Schwache Sieger. Er, der dir die Füße leckte, nagt an deinem Herzen! Ich halte dich. (Er beugt sich mehr und mehr über den Sack.) Hörst du mich? Ich bin es ritterlicher König, ich, der Narr, der Gaukler, ich, ­ dieser halbe Mensch, dieses zweifelhafte Tier, das du Hund! genannt hast. – (Er schlägt den Leichnam.) So ist es, wenn die Rache in uns ist, siehst du wohl, im abgestorbensten Herzen schläft nichts mehr, der Kümmerlichste wird groß, der Gemeinste wandelt sich, der Sklave zieht dann seinen Hass ans Tageslicht, die Katze wird zum Tiger und der Narr zum Henker!

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FOTOS S. 4 Statisterie S. 7 Abb. 1 M.-C. Haase, W. V. Mechelen Abb. 2 M.-C. Haase S. 10/11 W. V. Mechelen S. 12 Abb. 3 P. O’Neill, A. Samouilidou, Ks. J. Rust. Statisterie; Abb. 4 P. O’Neill, Chor S. 15 Abb. 5 Ks. H.-O. Weiß, Statisterie; Abb. 6 M.-C. Haase, W. V. Mechelen, T. Tarieli, P. O’Neill S. 16/17 K. J. Moon, M.-C. Haase, S. Keylwerth, Ks. J. Rust, Chor S. 19 G. Lickleder, Statisterie S. 23 Ks. H.-O. Weiß, R. K. Peeck, Statisterie

IMPRESSUM

NACHWEISE Die Handlung verfasste Lars Gebhardt für dieses Heft. Der Text Von Ritterkönigen, Übervätern und self-fulfilling prophecies ist ein Originalbeitrag von Lars Gebhardt. Das Zitat von Adolf Weissmann ist dessen Publikation „Verdi“, Stuttgart/Berlin 1922 entnommen. Die Verhöflichung der Krieger aus: Norbert Elias „Über den Prozess der Zivilisation“, Frankfurt 1939/1976. Ein Schicksalsdrama? von Egon Voss aus: Anselm Gerhard/Uwe Schweikert (Hrsg.) „Verdi Handbuch“, Weimar 2013.

Mitarbeit Nicole Kropmaier

Alle Bilder sind Probenfotos: © Martina Pipprich

Wir danken der Mainzer Volksbank für die großzügige Unterstützung.

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Spielzeit 2015/ 16 Herausgeber Staatstheater Mainz www.staatstheater-mainz.com Intendant Markus Müller Kaufmännischer ­G eschäftsführer Volker Bierwirth Redaktion Lars Gebhardt

Druck Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt/Main Visuelle Konzeption Neue Gestaltung, Berlin


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www.staatstheatermainz.com


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