Staatstheater Mainz
IV 4. Sinfoniekonzert
Alban Berg (1885–1935) Sonate op. 1 (1909/1910) für Orchester gesetzt von Theo Verbey (1984) Robert Schumann (1810–1856) Konzert für Violine und Orchester d-Moll WoO 1 (1853) 1. In kräftigem, nicht zu schnellem Tempo 2. Langsam - attacca 3. Lebhaft, doch nicht zu schnell
Pause
Ferruccio Busoni (1866–1924) Sarabande und Cortège op. 51 – Zwei Studien zu Doktor Faust (1918) Alexander Zemlinsky (1871–1942) Sinfonietta op. 23 (1934) 1. Sehr lebhaft 2. Ballade: Sehr gemessen (poco adagio), doch nicht schleppend 3. Rondo: Sehr lebhaft
Peter Hirsch – Dirigent Carolin Widmann – Violine Philharmonisches Staatsorchester Mainz
22. und 23. Januar 2016, 20 Uhr Großes Haus
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ENTWICKELNDE VARIATION Im Herbst 1904 nahm Alban Berg zunächst Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt bei Arnold Schönberg, bevor er 1907 seine Kompositionsstudien bei dem berühmten Lehrer aufnahm, die er mit dem Erfinden von Sonatensätzen beendete. Einige Skizzen dieser Abschlussarbeiten bilden wohl die Grundlage für seine Klaviersonate op. 1, die aus nur einem Satz besteht. Obwohl er zunächst an ein mehrsätziges Werk dachte, entschied er sich nach abermaliger Konsultation seines Lehrers dafür, das Werk in der vorliegenden Form zu veröffentlichen – denn Schönberg meinte, Berg habe schließlich musikalisch „alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt“. Obwohl das Werk um ein tonales Zentrum kreist (h-moll), verleiht ihm die intensive Anwendung von Ganztonskalen und Chromatik ein instabiles harmonisches Gefüge, das sich erst in den letzten Takten festigt. Dabei scheint die Sonate einer traditionellen Form zu folgen, mit Exposition, Entwicklung und Reprise. Doch zugleich liegen ihm Schönbergs Gedanken zu den Prinzipien einer „entwickelnden Variation“ zugrunde, nach denen die Einheit eines Werks hergestellt werden soll, in dem sich alles aus einer Idee heraus entwickelt. Die Sonate wurde von dem niederländischen Komponisten Theo 4
Verbey für Orchester gesetzt, der für seine sorgfältigen und farbenreichen Instrumentierungen bekannt ist und mit der Bearbeitung, die er noch als Student vorlegte, seinen ersten großen Erfolg erzielte.
MENSCHLICHE WÄRME Der große Geiger Yehudi Menuhin würdigte Schumanns Violinkonzert als das „fehlende Bindeglied“ zwischen den Konzerten von Beethoven und Brahms. Er meinte, es habe die „gleiche menschliche Wärme, schmeichelnde Sanftheit, kühne männliche Rhythmik, die gleiche anmutige arabeske Behandlung der Geige, die gleichen reichhaltigen und noblen Themen und Harmonien“. Doch Menuhin war einer der wenigen, der die Qualität des Werkes zu schätzen wusste – denn seit seiner Entstehung im Herbst 1853 in Düsseldorf (damals unter dem Eindruck des jungen, talentierten Geigers Joseph Joachim) hat es eine schier unendliche Kette von Missverständnissen und Fehl einschätzungen erleiden müssen. Es handelt sich um eines der letzten Werke, die Schumann vor seinem Selbstmordversuch vollendet hat – Schumann litt unter Stimmungsschwankungen und Halluzinationen und hat immer wieder manisch-depressive Phasen erlebt. Im Februar 1854, kurz nach dem Selbstmordversuch, bat Schumann um Aufnahme in eine psychiatrische Anstalt bei Bonn; dort blieb er bis
zu seinem Tod am 29. Juli 1856. Er selbst konnte also den Umgang mit seinem Werk nicht mehr beeinflussen. Stattdessen übernahmen seine Frau Clara sowie die Freunde Joseph Joachim und Johannes Brahms die Arbeit an der Gesamtausgabe seiner Werke. Im Glauben, damit sein Ansehen zu schützen, enthielten sie Werke des Komponisten der Öffentlichkeit vor, die möglicherweise mit dem so empfundenen Makel der Krankheit in Verbindung gebracht werden könnten. Der Geiger Joachim, in dessen Besitz das Manuskript überging, verfügte gar testamentarisch eine Aufführungssperre bis zum 100. Todesjahr des Komponisten. Als 1937 diese Regelung in Absprache mit Joachims Erben gelockert wurde und erstmals eine Partitur erschien, geschah das vor allem, weil die Nazionalsozialisten das Konzert als „Ersatzstück“ für das von ihnen verbotene Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy etablieren wollten. Aber auch der spätere Umgang mit dem Konzert blieb problematisch. In diversen Konzertführern wurde ungeprüft die Meinung übernommen, es handle sich um ein unzulängliches Konzert. Erst die Neubewertung von Schumanns Spätwerk in den 1980er Jahren führte zu einem grundlegenden Wandel im Rezeptionsverhalten und dazu, dass sich eine Reihe bedeutender Virtuosen des Konzerts angenommen hat. Zuvor neigten einige Interpreten wohl dazu, den zweiten Satz langsamer zu nehmen, als es
die genauen Metronomangaben Schumanns einfordern, während sie die Polonaise im Finalsatz sehr viel schneller spielten. Schon Joseph Joachim hatte Schwierigkeiten das passende Tempogefühl zu entwickeln, wie er in einem Brief mitteilt – die Wahl des richtigen Tempos ist aber entscheidend für den Charakter des Werks: „Könnte ich Ihnen doch Ihr d-moll Konzert vorspielen. Ich habe es jetzt besser inne als damals in Hannover, wo ich es in der Probe Ihrer so unwürdig spielen mußte, zu meinem größten Verdruß. … Jetzt klingt der 3/4 Takt viel stattlicher. Wissen Sie noch, wie Sie lachten und sich freuten, als wir meinten: Der letzte Satz klänge, wie wenn Kościuszko mit Sobieski eine Polonaise eröffnete. So stattlich.“ Kościuszko war ein polnischer Freiheitsheld, Sobieski war der König von Polen, der während der Türkenbelagerung Ende des 17. Jahrhunderts Wien befreite. Nur in dem (gezwungenermaßen) gemäßigten Tempo des Tanzes zweier „stattlicher“ Figuren lassen sich die feinen Klangdifferenzierungen Schumanns erkennen, die den Reiz nicht nur des Schlusssatzes, sondern des gesamten außergewöhnlichen Konzerts ausmachen.
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ZWEI STUDIEN ZU DOKTOR FAUST Nicht nur Charles Gounod ließ sich von Goethes Faust schon in jungen Jahren inspirieren und komponierte die Oper Faust (Margarete), die derzeit am Staatstheater zu erleben ist. Auch Ferruccio Busoni komponierte eine Faust-Oper und als „Nebenprodukt“ entstanden dabei seine Sarabande und Cortège op. 51 mit dem Beinamen Zwei Studien zu Doktor Faust, die er selbst
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als einen seiner größten kompositorischen Erfolge ansah. Ferruccio Busoni galt als der bedeutendste Pianist seiner Zeit und wurde weltweit umjubelt. Sein legendärer Virtuosen-Ruhm jedoch interessierte ihn nicht, denn der Wahl-Berliner aus der Toskana hatte als Komponist weit Gewichtigeres zu bieten – wofür sich wiederum kein Publikum erwärmen konnte. Seine Musik schien den Konservativen zu modern und den Modernen zu konservativ.
Seine Werke klangen in einer Zeit, in der der düster-berauschende Verismo Mascagnis und Leoncavallos und die süßlichen und ekstatischen Musiken eines Richard Strauss und Gustav Mahler besonders geschätzt wurden, allzu kühl und distanziert. „Man hat es fertiggebracht“, klagte Busoni, „mir die Etikette anzukleben des Mannes von Intellekt ohne Seele.“ Das Etikett blieb haften. Nach der Jahrhundertwende begab sich Busoni ähnlich ambitioniert wie seine neuerungsbegierigen Zeitgenossen auf die Suche. Er wollte eine visionäre Zukunftsmusik schaffen und gelangte mit einer modernen Polyphonie und mit einer gewagten Harmonik bis an die Grenzen der Zwölftönigkeit – so in der „Kontrapunktischen Fantasie“ über Bachs unvollendete „Kunst der Fuge“ (1910) oder auch in seiner Oper „Doktor Faust“, die bereits tonartfreie Bauelemente enthält, wie sie später erst Charles Ives, Alban Berg oder Paul Hindemith anwandten. Die Beschäftigung mit Bach zeigt sich in seiner Sarabande und Cortège bereits in der Wahl der Form: Die Sarabande versteht er als einen langsamen Tanz. Er ist das Nervenzentrum der Oper: eine Meditation über Geburt und Wiedergeburt in einer dunklen Atmosphäre. Für die Cortège verarbeitete Busoni verschiedene Passagen der Oper zu einem Werk mit äußerlich festlichem Charakter, das aber ähnlich ernst in c-moll schließt wie die Sarabande.
WOHIN GEHST DU? Alexander Zemlinsky gehört zu den Komponisten, die vielleicht keinen Namen haben, den jeder kennt, die aber trotzdem zu den Großen ihrer Zeit gehören. Er war Lehrer des Komponisten Arnold Schönberg, der selbst wiederum ein inspirierender Lehrer wurde. Seine Werke haben die Geschichte der Musik nicht offensichtlich verändert, sind aber authentisches Zeugnis ihrer stürmischen Entwick lungen zwischen 1890 und 1940. Zemlinsky steht zwischen den Zeiten und Stilen, in diesem „Zwischen“ aber hat er eine reiche und unverwechselbare musikalische Sprache gefunden. Persönlichkeit und Werk sind Ausdruck einer der faszinierendsten Epochen der Kunst in Europa. Ein Höhepunkt von Zemlinskys Schaffen ist die Sinfonietta op. 23. Das dreisätzige Werk ist von komplexer Textur und ausufernder Polyphonie – und bleibt dennoch erstaunlich transparent. Das Orchester ist relativ klein besetzt und die Partitur von außergewöhnlich Virtuosität. Zemlinsky komponierte die Sinfonietta im Jahre 1934 zwischen Hoffnung und Verzweiflung, denn seine Kompositionen galten im Deutschland jener dunklen Zeit als „entartete Kunst“. Die Uraufführung fand am 19. Februar des nächsten Jahres in Prag statt. Auch in diesem Werk ist zu beobachten, dass Zemlinsky den 7
letzten Schritt zur Zwölftonmusik nicht vollzog, aber äußerst ideenreich mit den Möglichkeiten der erweiterten Tonalität spielte. In den Ecksätzen der Sinfonietta wird darüberhinaus auch der Einfluss der „Spielmusik“ der 20er-Jahre hörbar, so etwa der Songstil Kurt Weills in dem heiteren Rondo-Thema. Im
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Kontrast zu den Ecksätzen des geradezu in klassischer Großform angelegten Werks steht der spätromantisch angehauchte Mittelsatz, im dem fast schon balladenhaft bezeichnende Anklänge an die Frage „Wohin gehst du?“ aus Zemlinskys Maeterlinck-Liedern anklingen.
CAROLIN WIDMANN VIOLINE
PETER HIRSCH DIRIGENT
Carolin Widmann, eine der vielseitigsten jungen Geigerinnen, wurde in München geboren und studierte in Köln, Boston und London. Sie gastiert regelmäßig u. a. beim Gewandhausorchester Leipzig, dem Orchestre National de France, Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Tonhalle-Orchester Zürich, London Philharmonic Orchestra und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter herausragenden Dirigenten wie z. B. Sir Simon Rattle, Riccardo Chailly und Vladimir Jurowski. Ihre CD-Einspielungen wurden u. a. mit dem Diapason d’Or und dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. 2014 wurde ihr, in einem Konzert mit dem Staatsorchester Mainz, der Schneider-Schott-Musikpreis Mainz verliehen. Seit 2006 ist Carolin Widmann Professorin für Geige an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig. Sie spielt auf einer G.B. Guadagnini Violine von 1782.
Peter Hirsch zählt nicht nur zu den profiliertesten Dirigenten Neuer Musik, sondern wandelt auch immer wieder – mit außergewöhnlichen, dramaturgisch ausgefeilten Konzertprogrammen – abseits ausgetretener Pfade. Seine Beschäftigung mit der Moderne (Hirsch dirigierte zahlreiche Uraufführungen) lässt ihn immer auch das Neue im Alten suchen, was u. a. seine letzten Dirigate in Mainz eindrucksvoll belegen. Peter Hirsch arbeitet mit bedeutenden Orchestern weltweit und ist regelmäßig Gast großer Festivals. In seiner mehrfach ausgezeichneten Discographie befinden sich Werke u.a. von Schubert, Brahms, Bruckner, Mahler, Janáček, Schönberg, Berg, Dallapiccola, Nono und Bernd Alois Zimmermann.
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NACHWEISE Die Texte sind Originalbeiträge von Anselm Dalferth.
FOTOS S. 2 http://austria-forum.org/attach/ Wissenssammlungen/Bibliothek/%C3%96sterreichisches_Personenlexikon_1992/Berg,_Alban/Berg,_Alban_37.jpg S. 6 https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/3/3e/ Portrait_of_Robert_Schumann.jpg S. 8 https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/6/6a/Zemlinsky.jpg S. 11 https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/3/35/ FerruccioBusoni1913.jpg
IMPRESSUM Spielzeit 2015/2016 Herausgeber Staatstheater Mainz www.staatstheater-mainz.com Intendant Markus Müller Kaufmännischer G eschäftsführer Volker Bierwirth Redaktion Anselm Dalferth Druck Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt/Main Visuelle Konzeption Neue Gestaltung, Berlin
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Wenn alle die erste Geige spielen wollen, kommt kein Orchester zusammen. Robert Schumann
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