Staatstheater Mainz – Der Zwerg – Gianni Schicchi

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Staatstheater Mainz

Alexander Zemlinksy

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DER ZWERG (1922) Alexander Zemlinsky (1871–1942) Ein tragisches Märchen in einem Akt Text von Georg C. Klaren frei nach Oscar Wilde In deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Musikalische Leitung … Hermann Bäumer Inszenierung … Rebecca Bienek Bühne … Paul Zoller, Valentin Köhler Kostüme … Valentin Köhler Licht … Stefan Bauer Dramaturgie … Lars Gebhardt Chor … Sebastian Hernandez-Laverny Donna Clara … Marie-Christine Haase Ghita … Alexandra Samouilidou Don Estoban … Derrick Ballard Der Zwerg … Alexander Spemann Die erste Zofe … Miriam Gadatsch* Die zweite Zofe … Rebekka Stolz* Die dritte Zofe … Alin Deleanu Das erste Mädchen … Elisabeth Stradalski Das zweite Mädchen … Susanne Thomas Damenchor des Staatstheater Mainz Kinderstatisterie des Staatstheater Mainz Philharmonisches Staatsorchester Mainz * Junges Ensemble

Aufführungsrechte © Universal Edition AG Wien Aufführungsdauer ca. 3 Stunden eine Pause à 30 Minuten Premiere am 19. September 2015 Großes Haus



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HANDLUNG Donna Clara, die spanische Infantin, feiert ihren 18. Geburtstag. Der Haushofmeister Don Estoban und die Zofen, darunter auch Claras engste Freundin Ghita, bereiten das Fest vor. Die Infantin kann die feierliche Zeremonie aber nicht abwarten und fällt mit ihren Ge­ spielinnen über die Geschenke her. Als die Zofen wieder Ordnung schaffen, erfahren sie von Don Estoban von dem größten Geschenk: Der Sultan hat einen Zwerg geschickt, hässlich und ungestaltet, soll er ein großartiger Sänger sein – das Besondere aber: Er hat sich noch nie selbst gesehen und weiß nicht, wie anders geartet er ist. Deshalb werden die Spiegel im Palast verhangen. Es kommt zur Gratulation. Als letztes wird der Zwerg offenbart. Der ­Hofstaat schreckt zurück und macht sich über die Naivität des Fremden lustig – dieser versteht in dem für ihn freundlichen Lachen aber nur Ermunterung. Er wird von der Schönheit der Infantin angezogen und auch sie ist fasziniert von dem Selbstbewusstsein des merkwür­ digen Außenseiters. Sie bleibt mit dem Zwerg allein zurück und die beiden fantasieren sich in abenteuer­ liche Ritterbilder. Doch bald realisiert Clara, dass der Zwerg sich seiner äußerlichen Verunstaltung und Andersartigkeit nicht bewusst ist. Sie befiehlt Ghita, dem Zwerg sein Äußeres zu offenbaren. Beim Tanz überreicht die Infantin

dem Zwerg eine weiße Rose. Im Zwiegespräch kann sich Ghita nicht überwinden, dem Zwerg sein Spiegelbild zu enthüllen. Allein­ gelassen schaut der Zwerg dann doch in einen Spiegel – zunächst realisiert er gar nicht, dass er sich selbst sieht. Als er sich und seine wahre Gestalt erkennt, hofft er, von der Infantin so angenommen zu werden, wie er ist. Doch sie sieht ihn nur als Spielzeug, nicht als Menschen. Der Zwerg stirbt. Die Infantin geht ihren Weg weiter, nur Ghita zeigt Mitleid für das Schicksal des Zwergs.

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VOM KUNSTMÄRCHEN ZUR OPER DER SELBSTERKENNTNIS Lars Gebhardt Am Anfang stand ein Bild: Diego Velazquez’ Las meninas / Die Hoffräulein aus dem 17. Jahrhundert inspirierte Oscar Wilde zu seinem Märchen Der Geburtstag der Infan­ tin, das 1891 in der Sammlung Ein Granatapfelhaus erschien. Schnell inspirierte das von Mittelalter-­ Bildern, einer subtilen Erotik und einfachen, jedoch symbolhaft aufgeladenen Sprache durchzogene Kunstmärchen – eine Gattung, die es so in Großbritannien zuvor nicht gab – andere Künstler. Für die E ­ röffnung der Kunstschau Wien 1908 erhielt Franz Schreker von Gustav Klimt den Auftrag, eine Tanzpantomime nach dem Wildschen Märchen zu komponieren. Das Werk wurde innerhalb von nur zehn Tagen ­fertiggestellt und markierte den Durchbruch des Kom­ ponisten, der sich bisher als Privatlehrer und Chorleiter einen Namen im Wiener Musikleben gemacht hatte. Wahrscheinlich war die ­P rogrammierung dieser tragischen, ungleichen Liebesgeschichte auf den Anfang der bahnbrechenden Kunstschau der Wiener Moderne ein mehr oder weniger expliziter Hinweis auf Klimts Verehrung für Alma Mahler (geborene Schindler). Die Tochter des Malers Emil Jakob Schindler (der vom einfachen Landschaftsmaler zu einem der zentralen Künstler der k.u.k.-Monarchie ­werden sollte) und der Sängerin 6

Anna Sofie Schindler war eine der schillerndsten Figuren im Kultur­ leben der Stadt Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schon mit 17 Jahren kam sie durch ihren Stief­ vater Carl Moll in Kontakt mit Künstlern der Wiener Sezession, zu denen auch Klimt gehörte. Auf ihre musikalische Bildung wurde viel Wert gelegt und so nahm sie neben Klavier-, ab 1900 auch Komposi­ tionsunterricht bei Alexander ­Zemlinsky. Der damals 29-jährige Komponist war gerade Kapellmeister am Wiener Carltheater geworden und galt, nicht zuletzt nach der Uraufführung seiner Oper Es war einmal… an der Wiener Hofoper durch deren Intendanten Gustav Mahler, als einer der Hoffnungsträger des k.u.k.-Musiklebens. Die rein professionelle Lehrer-Schülerin-­ Beziehung sollte sich bald vertiefen: Zemlinsky verliebte sich in die sechs Jahre jüngere Alma, die selbst auch fasziniert war von dem Talent und der erotischen Ausstrahlung des Komponisten. Doch gleichzeitig wurde sie von seinem äußeren Erscheinungsbild zurückgestoßen: „Eine Carricatur – kinnlos, klein, mit heraus quellenden Augen und einem zu verrückten Dirigieren.“ Tatsächlich war Zemlinsky gerade einmal 159 cm groß und wurde von vielen Zeitgenossen als sehr unattraktiv beschrieben. Nichts­ destotrotz scheinen Zemlinsky und Alma Schindler sich sehr nahe ­gekommen zu sein – zahlreiche Briefe und Tagebucheinträge ­zeichnen ein lebhaftes Bild der


ungleichen Liebesbeziehung. ­L etztendlich entschied sich Alma gegen Zemlinsky und heiratete 1902 den 19 Jahre älteren Hofoperndirektor Gustav Mahler. Zu ihren späteren Ehemännern und erotischen Bekanntschaften gehörten Walter Gropius, Oskar Kokoschka und Franz Werfel, was wohl auch ihren Ruf als femme fatale zementierte. Nach der Trennung von Alma machte Zemlinsky Karriere an der Volks- und Hofoper in Wien und ab 1911 als Musikdirektor des Neuen Deutschen Theaters in Prag, dem er auch über die Kriegsjahre treu blieb. Immer wieder wird in der ­ iteratur diese unglückliche Quasi-­ L Beziehung als autobiographischer Anstoß zur Komposition des Zwergs interpretiert: Die äußerlich schöne, doch innerlich gefühllose und „­häßliche“ Frau, der deformierte Mann, der aufrecht liebt und an seinen Gefühlen zerbricht … Dabei greift diese holzschnittartige ­Beschreibung psychologisch doch sehr kurz, zumal die starke Bearbeitung des Märchens vom Librettisten ausging. Georg C. Klaren war gerade einmal sechzehn Jahre als er sich 1917 an den Komponisten wandte und ihm seine Mitarbeit als Textautor anbot. Zemlinsky war interessiert und schlug drei verschiedene Sujets vor, darunter auch Wildes Geburtstag der Infantin. Doch Klaren entschied sich zunächst für Balzacs Roman Das Chagrin­ leder und vollendet 1918 das Libretto

zu Raphael. Zemlinsky war nicht restlos damit zufrieden, entwarf jedoch einige Skizzen, die dann durch die politische Lage im Herbst des Jahres liegenblieben. Und schon im Juni 1919 bekam er von Klaren ein weiteres Libretto zugeschickt: den Zwerg. Der Stoff hatte Zemlinsky schon lange beschäftigt – Anfang der 1910er Jahre bat er seinen Kollegen Franz Schreker, der ja eben Wildes Märchen schon einmal vertont hatte, ihm eine Textfassung zu erarbeiten. Schreker konnte die Arbeit jedoch nicht vollenden, ­sondern nahm den Text später als Vorarbeit und Inspiration für seine Oper Die Gezeichneten. Es ist also nachvollziehbar, dass sich Zemlinsky sofort auf das neue Libretto Klarens stürzte und zu komponieren begann. Man merkt dem Text deutlich Klarens Verehrung von Georg ­Weiningers Ideen an. Weininger hatte mit seiner Schrift Geschlecht und Charakter Anfang des 20. Jahrhunderts traurige Bekanntheit ­erlangt. Das Buch, von Psychologen angefeindet, von Philosophen ­verlacht und von Literaten bewundert, inspirierte mit seiner hemds­ ärmeligen und groben Analyse von männlichen und weiblichen Archetypen zahlreiche Künstler und Denker des frühen 20. Jahrhunderts. In seinem Hauptwerk offenbarte Otto Weininger eine, trotz seiner jüdischen Abstammung, scharf ablehnende Haltung alles Jüdischen und erwies sich zugleich 7


als Verfechter einer frauen- und ­körperfeindlichen Geisteshaltung. Die Werte höheren Lebens seien der Frau ebenso unzugänglich wie die Welt der Ideen. Je weiblicher das Weib, desto mehr verkörpere es eine rein geistlose Geilheit. Erst durch den Mann empfange die Frau ein Leben aus zweiter Hand. Weininger wählte so kurz nach der Veröffent­ lichung des Werkes 1903 auch den Freitod. Klaren war fasziniert von den Ideen und sollte 1924 auch ein Buch über Weiningers Leben und Werk schreiben. Im Zwerg-Libretto finden sich stilisiert die Archetypen von „Mutter“ (= zum Mitleid fähigem Weib), „Hure“ (= verführendes und destruktives Weib) und „versuchtem Mann“ (= rein und ehrlich, aber ins

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Verderben gezogen) in Ghita, ­Infantin und Zwerg, die Weininger in seiner Schrift vorstellt. Wildes durchaus naives Märchen wird ­aufgeladen und umgedeutet: Es ist nicht mehr der 14. Geburtstag eines Mädchens, sondern der 18. Geburtstag – der Übertritt von Kindheit zum Erwachsensein. Die Grausamkeiten im Umgang mit dem „Spielzeug“ Zwerg werden verstärkt. Die Einführung eines weiblichen Gegenstücks durch die anteilnehmende Leibzofe Ghita vergrößern noch die Kälte der Infantin und Symbole wie die weiße Rose und das zentrale „Lied von der ­blutenden Orange“, das als quasi-Spiegel das spätere Geschehen vorwegnimmt, werden verstärkt oder eingeführt. Musikalisch interessierte Zemlinsky


an dem Sujet wohl zunächst auch der latente Hispano-Orientalismus, die Klarheit der dramaturgischen Anlage und die emotionale Fallhöhe der Titelfigur. So evoziert schon die eröffnende Orchesterfanfare mit Tamburin und Ganztonleiterskalen ein spanisches Flair, das immer wieder anzitiert wird. Die (fiktive) Beschreibung des Zwergs von Don Estoban gegenüber den Zofen lässt im Orchester musikalisches Material aufblitzen, dass auch den ersten leibhaftigen Auftritt der Titelfigur begleitet: Synkopen beschreiben das Hinken, Glissandi schaffen dramatische Stummfilmeffekte – die ganze Groteske der Figur wird in die Musik gelegt. Doch immer wieder scheint es, dass Zemlinsky der durchaus simplen Figurencharakterisierung in Klarens Libretto nicht vertraut. Besonders das zentrale erste Zwiegespräch zwischen Zwerg und Infantin zeichnet die beiden Figuren als ebenbürtig. Angefacht durch ihre Begeisterung steigert sich der Zwerg in sein ­R ittertum hinein – ein Bild, das Donna Clara aufgreift und weiterführt. Die Begeisterungsfähigkeit und naive Ehrlichkeit des Zwergs faszinieren sie – ist sie doch in ­einem von Etikette, Regeln und Künstlichkeit geprägtem System aufgewachsen. Sie übernimmt die häufigen Triolenfiguren im Vortrag und auch das Orchester behält ­seinen vorwärtstreibenden Impetus bei. Zum wirklichen Bruch kommt es erst, als die Infantin realisiert,

dass das Selbstbewusstsein des Zwerges aus seiner Unwissenheit erwächst: Er ist sich seiner Andersartigkeit, seiner äußerlichen Makel gar nicht bewusst. Für Regisseurin Rebecca Bienek und ihr Ausstatterteam Valentin Köhler und Paul Zoller steckt hier auch der Drehpunkt der Oper: Die Infantin – in einem auf Oberflächlichkeit, Schönheit und Repräsen­ tation angelegten System groß geworden – scheint kurzzeitig einen idealen Partner in dem so andersgearteten Zwerg gefunden zu haben. Er steht für eine Gegen­realität, für Selbstbewusstsein und Gleichgültigkeit gegenüber Äußerlichkeiten. Sobald sie realisiert, dass er eben gerade kein Bewusstsein seines Selbst hat, sich Selbst gar nicht kennt, ist die Enttäuschung groß. Dabei scheinen die beiden Prota­ gonisten sich zu ähneln, nur haben beide verschiedene Wege eingeschlagen – die Infantin wurde, qua Geburt, zur Repräsentantin einer selbstbespiegelnden und äußerlichen Welt gemacht, während der Zwerg – weggesperrt – sich eine ritterliche Märchenwelt gebaut hat. So spiegelt sich der Zwerg auch in den „gefährlichen“ Augen der Infantin. Das Spiegel-Symbol zieht sich durch Text und Musik. So bildet die pantomimische Szene der Gratulation die dramaturgische Spiegelachse der Oper, gerahmt von der Erzählung über den Protagonisten und dessen leibhaftigen Auftritt.

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ER ZWERG – D EIN ANTI-­NARZISS? Ulrich Wilker Der Narzissmythos bündelt verschiedene Bedeutungsebenen, deren Komponenten – z. B. die Künstler- und die Identitätsproblematik – zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Gewichtungen rezipiert, verhandelt und verarbeitet wurden. In Zemlinskys Zwerg sind diese beiden angesprochenen Bedeutungsebenen präsent, ist doch der Protagonist ein „Sänger aus fernem Land“, ein Künstler also, der noch nie in einen Spiegel geblickt hat und sich selbst somit nicht kennt. Zemlinskys musikalische Version des Mythos unterscheidet sich aber in einem entscheidenden Punkt von dessen Rezeption durch die Ästhetizisten: Während diese in der Versenkung ins rein Subjektive eine Lösungsstrategie der spezifischen Probleme der Wiener Moderne erblickten, wendet sich die Selbsterkenntnis des Zwergs ins Tragische. Der Blick in den Spiegel taugt im Zwerg nur vermeintlich zur Identitätskonstruktion. Auf die Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild folgt der totale Zusammenbruch, auch auf musikalisch-motivischer Ebene. Der gesamte Narzisskult der Ästhetizisten und der Décadence wird somit, übrigens in Übereinstimmung mit Karl Kraus, in Frage gestellt – und damit auch die gesamte Sphäre um die Infantin, die 10

der Librettist Georg C. Klaren ­ursprünglich als Abbild jener „überkultivierten, morbiden, jedenfalls dekadenten Charaktere, die heute sicherlich von Tagore schwärmen und gebatikt gehen würden“, konzipiert hatte, samt ihrer allzu schönen Musik. In dem Moment aber, in dem der Zwerg mit der Wahrheit konfrontiert ist, schlägt diese Musik um ins expressionistisch Exaltierte, absichtlich Hässliche, im Ausdruck der Verzweiflung jedoch unbe­ zweifelbar Wahre. Die allzu schöne Musik zuvor wird hier als falsch entlarvt, als Musik, die in ihrer Beschränkung auf das Nur-Schöne etwas unterschlagen hat, das sich hier schließlich Bahn bricht. Die Musik der Erkenntnisszene mit ihren harmonischen und motivischen Verzerrungen wirft somit die Frage auf, ob Musik nur noch als zerbrochene und verzerrbare denkbar ist. Als kakophone Lautmalerei lässt sich die Erkenntnisszene ­jedoch nicht abtun, wenn man bedenkt, dass Schönbergs Erwartung, die gewissermaßen die emanzipierte Kakophonie zur ­Schilderung eines Albtraums nutzt, zum Zeitpunkt der Komposition des Zwergs schon zehn Jahre alt war. Zemlinsky zeichnet in der ­ rkenntnisszene ein Seelendrama E im Kleinen, wie es die ältere Erwartung im Großen ist, ohne allerdings die Grenzen der Tonalität wirklich zu überschreiten. Das Plakative dieser Szene macht dabei gerade die große Unmittelbarkeit aus, die das


expressiv-exaltierte dieses Tons von der restlichen Musik des Einakters unterscheidet. Mit der Entlarvung der Hässlichkeit als Wahrheit im Zwerg nähert sich Zemlinsky somit ­ – zumindest im Fall der Erkenntnis­

szene – an ästhetische Prämissen des Expressionisten an, deren Kunst „das traditionelle Kunstideal ‚schön‘ zu sein zugunsten eines (behaupteten) Wahrheitsanspruchs aufgegeben“ hatte.

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Hier einst ruhte der Knabe, von Jagdlust müd' und Erhitzung, Hingestreckt; ihn lockte der Quell und die Schöne der Gegend. Während den Durst zu löschen er strebt, wächst anderer Durst nach. Während er trinkt, von dem Bilde gesehener Reize bezaubert, Lieber er nichtigen Trug; und Leib erscheint ihm der Schemen. Selber staunt er sich an; unbewegt in einerlei Stellung Haftet er, wie ein Gebild aus parischem Marmor gemeißelt. Gierig schaut er, im Grase gelehnt, zwei Sterne, die Augen; Schaut, wie wert des Lyäus, wie wert des Apollo das Haar sei, Wie unmännlich die Wang', und wie schimmernd der Hals und die Anmut Seines Gesichts, wie gesellt zur schneeigen Weiße die Röte; Alles bewundert er selbst, was er selbst der Bewunderung darbeut. Sich verlanget der Tor; und der Lobende ist der Gelobte. Metamorphosen, Narziss und Echo Ovid

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Ein paar von Geistern, totenfahle, nackte, Brach vor, so wie aus seinem Stall das Schwein, Indem’s auf alles mit den Hauern hackte. Der schlug sie in den Hals Capocchios ein Und schleppt’ ihn fort, und nicht gar sanft getrieben Ward ihm dabei der Bauch am harten Stein. Der Aretiner, der voll Angst geblieben, Sprach: „Schicchi ist’s, der tolle Poltergeist, Der solch ein wütend Spiel schon oft getrieben.“ „Wie du geschützt vor jenen Hauern seist,“ Entgegnet’ ich, „so sprich, eh’ er entronnen, Wer dieser Schatten ist und wie er heißt.“ „Die Myrrha ist’s, die schnöden Trug ersonnen,“ Erwidert’ er, „die mehr als sich gebührt Vor alter Zeit den Vater liebgewonnen, Und die mit ihm das Werk der Lust vollführt, Weil sie die fremde Form sich angedichtet; Wie jener, der Capocchio dort entführt, Weil Simon ihn durchs beste Ross verpflichtet, Als falscher Buoso sich ins Bett gelegt Und so für ihn ein Testament errichtet.“ Die göttliche Komödie, Inferno, 30. Gesang Dante Alighieri


Fotos

NACHWEISE

IMPRESSUM

Der Zwerg S. 3 M.-C. Haase; S. 4 Abb. 1 M.-C- Haase; Abb. 2 A. Spemann, M.-C. Haase, A. Samouilidou, Damenchor; S. 8 A. Spemann, M.-C. Haase, Ensemble; S. 11 M.-C. Haase, D. Ballard; S. 12 M.-C. Haase, A. Samouilidou; S. 13 A. Spemann, M.-C. Haase; S. 14/15 A. Deleanu, R. Stolz, D. Ballard, M. Gadatsch, M.-C. Haase; S. 16/17 M.-C. Haase, Derrick Ballard, Damenchor

Die Handlungen sowie die Texte Vom Kunstmärchen zur Oper der Selbsterkenntnis und Und ewig schleichen die Erben sind Originalbeiträge von Lars Gebhardt für dieses Heft. Der Text Der Zwerg – Ein Anti-Narziss? von Ulrich Wilker entstammt dessen Buch „Das Schönste ist scheußlich. Alexander Zemlinskys Operneinakter Der Zwerg“, Wien 2013. Die Zitate in der Heftmitte entstammen: Ovid Meta­ morphosen (Übertragung von Johann Heinrich Voß) und Dante Alighieri Die göttliche Komödie (Übertragung von Karl Steckfuß). Das Zitat von Karl Kraus entstammt dem Buch „Kraus: Sprüche und Widersprüche“, München 1909.

Spielzeit 2015/ 16 Herausgeber

Gianni Schicchi S. 3 K. Ladentin, M. Peter; S. 4 D. Rahardja, P. Do; S. 9 G. King, P.-F. Bauer, K. Ladentin, J. Bell; S. 10/11 Ensemble; S. 13 Abb. 1 und Abb. 2 Ensemble; S. 14/15 J. Bell, Ks. J. Rust, B. Carter, G. King, S. Puskás, I. Dimieru, M. Stradalski, K. Ladentin, P.-F. Bauer, G. Lickleder, Ks. H.-O. Weiß

Staatstheater Mainz www.staatstheater-mainz.com Intendant Markus Müller Kaufmännischer ­Geschäftsführer Volker Bierwirth Redaktion Lars Gebhardt Druck Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt/Main Visuelle Konzeption Neue Gestaltung, Berlin

Alle Bilder sind Probenfotos: © Martina Pipprich

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Dirigate … Hermann Bäumer, Paul-Johannes Kirschner; Regieassistenz und Abend­ spielleitung „Der Zwerg“ … Victor Pohl; Regieassistenz und Abendspielleitung „Gianni Schicchi“ … Christiane ­Zaunmair; Studienleitung … Michael Millard; Musikalische Assistenz … Paul-Johannes Kirschner, Erika Le Roux, Christian Maggio, Giulia Mandruzzato; Bühnenbild­ assistenz … Jennifer Mosen; Kostümassistenz … Lucia Vonrhein; Inspizienz … Christiane Knopf; Soufflage … Franz Pohl; Leitung Statisterie … Dieter Rößler; Regie­ hospitanz … Jasmin Clemens; Kostümhospitanz … Marlen Bauer; Einrichtung der Übertitel … Lars Gebhardt; Übertitelungsinspizienz … Christin Hagemann, Eva Hofem

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Technischer Direktor … ­Christoph Hill; Werkstätten­ leiter … Jürgen Zott; Assistent der technischen Direktion … David Amend; Bühnenein­ richtung … Marcus Riedel; Leiter der Beleuchtung … Stefan Bauer; Leiter der Dekorations­ werkstatt … Horst Trauth; Leiter der Schreinerei … Markus Pluntke; Leiter der Schlosserei … Erich Bohr; Vorstand des Malersaals … Andreas Beuter; Leiter der Tontechnik … Andreas Stiller; Tontechnik … Peter Münch, Enis Potoku; Kostümdirektorin … Ute Noack; Assistentin der Kostümdirektorin … Ingrid Lupescu; Gewandmeisterinnen … Britta Hachenberger, Mareike Nothdurft; Gewand­ meister … Thomas Kremer, Falk Neubert; Modistin … Petra Kohl; Chefmaskenbildner … Guido Paefgen; Masken­ bildnerinnen … Marieke Berries, Anette Dold, Sabine Feldhofer, Yvonne Hoffmann, Vanessa Kleine, Elke Patzalt, Nadine Rodekurth, Stefanie Spang, Jasmin Unckrich; Sander Prautsch; Leitung der Requisite … Dagmar Webler; Requisite … Fred Haderk, Solveig Jünger, Stefanie Kaiser


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Das Wort „Familienbande“ hat einen Beigeschmack von Wahrheit. Karl Kraus

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zu seinen Gunsten zitiert, in die Länge zieht und damit die Verwandten quält, entsteht eine musikalische Komik, die so nur selten in der Operngeschichte zu finden ist. All diese Elemente verweisen auf das bodenständige-schlitzohrige, ­sympathische der Titelfigur. Wohl kaum ein Zuschauer hat Mitleid mit den Verwandten des Buoso und kann sich dem Charme des Schalks ­Schicchi entziehen. Ein Verdienst der Forzano und Puccini zu gleichen Stücken zukommt. Ob die Geschichte nun in ­ lorenz, Mailand, Wanne-Eickel, F Tokio oder Mainz spielt, ist für den Handlungsablauf zunächst grundsätzlich egal. Zwar gibt es die Bezüge zur Florentiner Stadtgeschichte, doch im Grunde handelt es sich um eine – zeitlose und ortsungebundene – Parabel. Das falsche Klagen der Familie, die vorgespielte Verwandtenliebe, die im Angesicht der strittigen Erbteile sofort in Hass und Missgunst umschlägt, das Misstrauen und der Dünkel gegenüber dem Fremden und Neuen in der Stadt gab es im 13. Jahrhundert, aber auch noch im 19. und 20. Jahrhundert und gibt es noch heute. Ob der rasanten Musik und knallharten Komödienmomente vergisst man schnell das morbid-abstruse der Grundsituation: Die Gegenwart eines Leichnams während der ­gesamten Handlung, erst auf, dann hinter der Bühne, und der würdelose Gebrauch, der von ihm gemacht wird, der Umstand, dass Schicchi 8

in das Bett schlüpft, in dem gerade Buoso Donati gestorben ist; ­schließlich die Androhung öffentlicher Verstümmelung, das Abhacken einer Hand, ein Motiv, dessen Freudscher Symbolismus offensicht­lich ist. Regisseur K.D. Schmidt und die Ausstatter Valentin Köhler und Paul Zoller stellen einen realistischen Raum auf die Bühne: etwas aus der Zeit gefallen, aber detailreich und augenzwinkernd sehen wir die Familie auf den Tod und das Erbe warten. Sicher erkennt jeder hier und da sich selbst oder seine Familie und Freunde wieder.


nicht zuletzt auch durch die direkte Komik und mitreißende Musik des letzten Teils, ein Publikumserfolg. Doch schnell wurden die Werke auch einzeln gespielt oder neu und anders kombiniert – nicht zuletzt da alle Werke an einem Abend zu spielen für jedes Opernhaus einen großen personellen und organisatorischen Aufwand bedeutet. Puccini hat mit Gianni Schicchi wohl seine beste Theatermusik komponiert. Weg von der großen ­lyrischen Geste, die er nur in zwei Momenten dem Liebespaar vorbehält – von denen einer der großen Hits der Wunschkonzerte werden sollte: „O mio babbino caro“. Über die süßlich-eingängliche Melodie, die schon vorab in Rinuccios Umfeld aufblitzt, vergisst man schnell den Text, der knallhart ist: „Papa, lass mich meinen Liebsten heiraten oder ich spring in den Fluss.“ Emotionale Erpressung at it’s best – eben auch durch die Musik. Aber außer diesem Moment und Rinuccios Lob der Stadt, der Fremden und Gianni Schicchis folgt Puccinis Musik eng dem Handlungsgeschehen. Er beweist seine Wandlungsfähigkeit und seine Fähigkeit sich musikalisch dem Sujet anzupassen. Die Verwandten werden kaum individuell gezeichnet, reagieren oft als Gruppe und lassen nur ab und zu Eigenleben aufblitzen. Doch trotzdem sind sie gerade in ihren Kontrasten – die zwei Ehepaare Nella/Gherardo mit Sohn Gherardino und La Ciesca/ Marco, die „Alten“ Simone und Zita

und der merkwürdige Eigenbrödler Betto – satte Theaterfiguren. Gianni Schicchi ist eine groteske Commedia, überzeichnet und karikierend, vor allem natürlich die beiden ­T ypen des Doktors und Anwaltes. Der eine, in bester Tradition, im Bologneser (Gelehrten-)Dialekt und etwas schwer von Begriff. Der ­andere, sich wichtig nehmend, ­pompös, mit pseudo-lateinischen Einsprengseln. Und Schicchi als schlauer Strippenzieher ist Meister der Verstellung: seiner Stimme, seiner Haltung, seines wahren Plans. Gerade in seinem Umfeld gibt es musikalisch folkloristische Elemente, die Puccini so zuvor selten in seinen Werken eingesetzt hat, ebenso wie die Vielzahl von tusch- und signalartigen Momenten, vor allem in den Blech- und Holzbläsern. Am prägnantesten sind die Motive der Titelfigur, vor allem das lautmalerische, fast kichernde Namensmotiv:„Gian-ni Schich-chi“ ganz nah an der Wortmelodie ­komponiert. Aber auch die auftrumpfende Fanfare, die zum ersten Mal in Rinuccios Beschreibung Schicchis auftaucht und die die Oper beschließt, zieht sich durch das Werk – und zeugt schließlich vom Sieg der „Neuen“ über die „Etablierten“. In Schicchis Warnung vor den Folgen der Testamentsfälschung („Addio Firenze“) komponiert ­P uccini ein toskanisches Volkslied mit einem kleinen Melisma auf „Fi-re-e-e-e-nze“. Wenn Schicchi diese Wendung abwechselnd mit der dritten und finalen Erbaufteilung 7


UND EWIG SCHLEICHEN DIE ERBEN Lars Gebhardt Im Inferno ist er gelandet. Im achten Höllenkreis, der hinterlis­ tigen Beratern und Betrügern vorbehalten ist, muss er als wütender Poltergeist seine Ewigkeit verbringen, direkt neben Odysseus, der für seine hinterhältigen Pläne im Kampf um Troja bestraft wird. Dahin hat Dante Alighieri in seiner Göttlichen Komödie den Testaments­ fälscher Gianni Schicchi verbannt. Der Florentiner Dichter, Philosoph und Schriftsteller baut den historisch verbürgten Gerichtsfall seiner Heimatstadt in sein Opus maximum ein, das Italienisch als Literatursprache durchsetzte und zum Nationalopus werden sollte, und setzt somit Schicchi – ungewollt – ein Denkmal und machte ihn unsterblich. Für Dante war es nämlich ein kleiner persönlicher Triumph den historischen Schicchi, der die Familie Donati – aus der Dantes Ehefrau Gemma stammte – ihres Erbes beraubt hatte, als Sünder anzuprangern. Dante war stolz auf seinen langen Stammbaum, die Guelfen-Linie aus der er stammte und verachtete all die Zugezogenen, Bauern und Landleute – vielfach ­formuliert er diese Überzeugungen auch in seiner Divina Commedia. Obwohl er später aufgrund poli­ tischer Konflikte selbst aus „seinem“ Florenz verbannt wurde und nie heimkehrte.

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Der Librettist Giovacchino ­ orzano wusste um die vielfältigen F lokalpolitischen Bezüge der ­Schicchi-Episode und baute sie in sein Libretto ein: Der Konflikt zwischen Guelfen und Ghibellinen (Papst- und Kaisertreuen) wird anzitiert, die vielfältigen Florentiner Prominenten erwähnt Rinuccio in seinem Lob auf die Stadt und natürlich verweisen die Animosi­ täten zwischen Alteingesessen und Zugezogenen auf Dantes Standesdünkel. Und mit Schicchis Schlussansprache dreht die Hauptfigur dem humorlosen Puritaner noch symbolisch die Nase. Die Oper war konzipiert als dritter Teil des Tritticos / Tryptichons. Für die Metropolitan Opera in New York wollte Puccini in drei Kurzopern drei kontrast­ reiche Zustände auskomponieren: In Il tabarro / Der Mantel die veristisch-tragische Geschichte, in Suor Angelica den lyrisch-verklärten Moment und in Gianni Schicchi das Komische. Gerade auf den Komödienstoff konnte er sich mit seinem Librettisten schnell einigen. Die Episode um Gianni Schicchi war schon öfters ausformuliert worden und beliebter Stoff der alten ­Commedia dell’arte – schließlich finden sich hier all die Elemente, die diese ausmachten: Hinterlist und Verstellung, Verkleidung und Maskerade, Bigotterie, alte Narren und sympathische Strippenzieher sowie ein Liebespaar, das am Ende auch zusammen kommen soll. Die Uraufführung des Tritticos 1918 an der Metropolitan Opera war,


Handlung Buoso Donati ist tot. Die ganze Familie trauert um den Toten und hofft auf einen guten Anteil vom großen Erbe – vor allem ein Maultier, das Stadthaus und die profi­ table Mühle in Signa wollen die ­einzelnen Parteien jeweils für sich haben. Doch Gerüchten nach soll Buoso alles den Mönchen hinterlassen haben. Die Familie beschließt, nach dem Testament zu suchen. Der junge Rinuccio findet es auch tatsächlich und ringt seiner Tante Zita die Erlaubnis ab, Lauretta – Tochter des zugezogenen Gianni Schicchi – zu heiraten; schließlich wird auch er etwas vererbt bekommen. Doch die Gerüchte bewahr­ heiten sich: Die Mönche bekommen den Großteil des Erbes. Die Donatis sind der Verzweiflung nahe. Doch Rinuccio hat ein Idee: Eben Gianni Schicchi, der erst vor kurzem in die Stadt gezogen ist und sich durch reichlich Bauernschläue einen ­Namen gemacht hat, hat vielleicht eine Idee, der Familie zu helfen. Doch als er mit Lauretta tatsächlich eintrifft, schlägt ihm Ablehnung entgegen: Niemals wird ein Donati die Tochter eines Zugezogenen heiraten, erst recht ohne die erhoffte Familienerbschaft. Lauretta ringt ihrem Vater das Zugeständnis ab, der Familie zu helfen, damit sie ihren geliebten Rinuccio heiraten kann. Schicchi merkt schnell wie er die Situation zu seinen Gunsten wenden kann: Als der Arzt eintrifft, legt er

sich ins Bett und wimmelt den ­Doktor mit verstellter Stimme ab. Der Plan ist geboren: Der Notar wird bestellt, Schicchi gibt sich als Buoso aus und soll das Testament im Sinne der Familie ändern. ­Natürlich versucht jeder Maultier, Mühle und Haus für sich zu sichern. Doch Schicchi-Buoso vererbt die drei begehrtesten Objekte kurzerhand sich selbst. Die Verwandtschaft ist außer sich, muss aber das Haus verlassen – schließlich gehört es jetzt ja Gianni Schicchi. Rinuccio und Lauretta dagegen schauen in eine gemeinsame Zukunft.

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GIANNI SCHICCHI (1918) Giacomo Puccini (1858–1924) Oper in einem Akt Libretto von Giovacchino Forzano In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Musikalische Leitung … Hermann Bäumer Inszenierung … K. D. Schmidt Bühne … Paul Zoller, Valentin Köhler Kostüme … Valentin Köhler Licht … Stefan Bauer Dramaturgie … Lars Gebhardt Gianni Schicchi … Peter-Felix Bauer Lauretta … Dorin Rahardja Zita … Katja Ladentin Rinuccio … Phillipe Do Gherardo … Ks. Jürgen Rust Nella … Julia Bell Gherardino … Jascha Krams / Eliah Weyell* Betto di Signa … Georg Lickleder Simone … Ks. Hans-Otto Weiß Marco … Brett Carter La Ciesca … Geneviève King Maestro Spinelloccio … Hans-Helge Gerlik Amatio di Nicolao … Milen Stradalski Pinellino … Ion Dimieru Guccio … Sándor Puskás Buoso Donati … Wolfgang Schäfer / Michael Peter** Philharmonisches Staatsorchester Mainz *Mitglieder des Mainzer Domchors **Statisterie des Staatstheater Mainz

Aufführungsdauer ca. 3 Stunden eine Pause à 30 Minuten Premiere am 19. September 2015 Großes Haus

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Staatstheater Mainz

Giacomo Puccini

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