Staatstheater Mainz – Médée

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Staatstheater Mainz

Médée Luigi Cherubini


Aus meinem Herzen schneiden will ich euch Mein Herzfleisch Mein Gedächtnis Meine Lieben Gebt mir mein Blut zurück aus euren Adern In meinen Leib zurück auch Eingeweide Heute ist Zahltag Jason Heute treibt Deine Medea ihre Schulden ein Könnt ihr jetzt lachen Der Tod ist ein Geschenk Aus meinen Händen sollt ihr das empfangen Ganz abgebrochen hinter mir hab ich Was Heimat hieß jetzt hinter uns mein Ausland Dass es nicht Heimat wird euch mir zum Hohn Mit diesen meinen Menschenhänden Ach Wäre ich das Tier geblieben das Ich war Eh mich ein Mann zu seiner Frau gemacht hat Medea die Barbarin jetzt verschmäht Mit diesen meinen Händen der Barbarin Händen zerlaugt zerstickt zerschunden vielmal Will ich die Menschheit in zwei Stücke brechen Und wohnen in der leeren Mitte Ich Kein Weib kein Mann. Heiner Müller, Medeamaterial

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MÉDÉE (1797) Luigi Cherubini (1760–1842) Oper in drei Akten Libretto von François-Benoît Hoffman In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Musikalische Leitung … Andreas Spering Inszenierung … Elisabeth Stöppler Bühne … Annika Haller Kostüm … Ingo Krügler Licht … Alexander Dölling Dramaturgie … Ina Karr Chor … Sebastian Hernandez-Laverny Médée … Nadja Stefanoff Jason … Philippe Do Créon … Peter Felix Bauer Dircé … Dorin Rahardja Néris … Geneviève King Erste Hofdame … Joo Hyun Cho* Zweite Hofdame … Anke Steffens Die Söhne von Médée und Jason … Tristan Brady / Robin Yilmaz / Moritz Url und Leonard Köhler / Miro Yilmaz Stimme** … Anna Steffens * Junges Ensemble ** Tonband mit Texten von Heiner Müller aus Landschaft mit Argonauten, Medeamaterial. Weitere Texte von Ingeborg Bachmann, Albert Camus, Euripides, Syliva Plath, Christa Wolf

Chor des Staatstheater Mainz Statisterie und Kinderstatisterie des Staatstheater Mainz Philharmonisches Staatsorchester Mainz Aufführungsdauer ca. 2 Stunden 45 Minuten – Pause nach dem 1. Akt Premiere am 13. Juni 2015, Großes Haus Aufführungsrechte Luigi Cherubini: Verlag Anton J. Benjamin GmbH Aufführungsrechte Heiner Müller: henschel SCHAUSPIEL ­Theaterverlag Berlin GmbH


Regieassistenz und Abendspielleitung … Christiane Zaunmair Studienleitung … Michael Millard Musikalische Assistenz … Paul-Johannes Kirschner, Christian Maggio, Erika Le Roux, Marta Waluga Bühnenbildassistenz … Natalie Krautkrämer Kostümassistenz … Jennifer Mosen Inspizienz … Christiane Knopf Soufflage … Franz Pohl Leitung Statisterie … Dieter Rößler Regiehospitanz … Jasmin Clemens Bühnenbildhospitanz … Hannah Weber Kostümhospitanz … Patricia Violeta Holst, Mara Freigang Einrichtung der Übertitel … Ina Karr Übertitelungsinspizienz … Christin Hagemann Theaterpädagogik … Katrin Maiwald Technischer Direktor … Christoph Hill Produktionsleiter … Olaf Lintelmann Werkstättenleiter … Jürgen Zott Assistent der technischen Direktion … David Amend Bühneneinrichtung … Markus Riedel Leiter der Beleuchtung … Stefan Bauer Leiter der Dekorationswerkstatt … Horst Trauth Leiter der Schreinerei … Markus Pluntke Leiter der Schlosserei … Erich Bohr Vorstand des Malersaals … Andreas Beuter Leiter der Tontechnik … Andreas Stiller Tontechnik … Peter Münch, Enis Potoku Kostümdirektorin … Ute Noack Assistentin der Kostümdirektorin … Ingrid Lupescu Gewandmeisterinnen … Britta Hachenberger, Mareike Nothdurft Gewandmeister … Thomas Kremer, Falk Neubert Modistin … Petra Kohl Chefmaskenbildner … Guido Paefgen Maskenbildnerinnen … Marieke Berries, Anette Dold, Sabine Feldhofer, Yvonne Hoffmann, Lisa Kanniga, Vanessa Kleine, Elke Patzalt, Nadine Rodekurth, Jasmin Unckrich Leitung der Requisite … Dagmar Webler Requisite … Fred Haderk, Solveig Jünger, Stefanie Kaiser


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VORGESCHICHTE Am Anfang war die Jagd nach dem Goldenen Vlies. Das Goldene Vlies – das Fell eines geflügelten Widders – ist im Besitz von König Aites in Kolchis. Jason, ein Königssohn aus Iolkos, wird von seinem Onkel Pelias ­beauftragt, das Vlies zu rauben und nach Griechenland zu bringen. Denn Pelias strebt selbst die Herrschaft auf Iolkos an und schafft damit den möglichen Thronfolger Jason aus dem Weg. Mit dem Schiff Argo überquert Jason das Meer. In Kolchis angekommen, trifft er die Königs­tochter Medea. Sie verlieben sich inei­nander. Medea hilft Jason beim Raub des Vlieses, verrät ­dadurch Eltern und Heimat und

flieht mit Jason samt Beute. Auf der Flucht tötet Medea ihren Bruder Absyrtos. Sie reißt seinen Körper in Stücke und ­verstreut ihn auf dem Meer, um ihre Spur für die Verfolger zu ­verwischen. In Iolkos angekommen, ­heiraten Medea und Jason und bekommen zwei Söhne. Um Jason den Thron von Iolkos zu ver­ schaffen, lässt Medea König Pelias ermorden. Medea und Jason ­müssen erneut fliehen. Nach langer Fahrt erreichen sie Korinth. Dort gewährt König Kreon Jason und dessen Söhnen Asyl, weil er einen Thronfolger braucht und seine Tochter Dircé mit Jason verheiraten will. Jason willigt ein und verstößt Medea. Medea taucht unter.

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HANDLUNG 1. Akt Hof von Kreon in Korinth, am Tag der Hochzeit von Dircé mit Jason. Dircé glaubt nicht an Jasons Treue und fürchtet Medeas Rache. Jason übergibt Kreon und dem Korinther Hofstaat feierlich das Goldene Vlies als Brautgeschenk. Inmitten der Feier taucht Medea auf und fordert Jason zurück. Kreon verflucht sie und verurteilt sie zum Tode. Medea wird in Gewahrsam ­ge­nommen. Jason rät ihr zur Flucht. Medea besteht auf ihren gemein­ samen Treueschwur.

Medea beschwört die Hochzeits­ zeremonie von Jason und Dircé herauf. 3. Akt Medea trifft ihre Söhne. Dircé stirbt. Medea ringt mit der Entscheidung, ihre Kinder zu töten. Jason beweint Dircé. Néris prophezeit den Mord an den Kindern durch die Mutter.

2. Akt In der Gefangenschaft trifft Medea auf Néris, eine Frau aus Kolchis. Kreon erscheint. Medea bittet ihn trotz des Todesurteils um Asyl und darum, ihre Kinder sehen zu dürfen. Kreon bietet ihr an, das Land ohne weitere Repressalien zu verlassen. Medea willigt vordergründig ein, ins Exil zu ­gehen, bittet ihn aber um einen Tag ­Aufschub, den Kreon ihr gewährt. Néris steht Medea bei. Jason hofft auf Medeas Einlenken. Sie fordert die Kinder von ihm. Jason verweigert Medea diese ­Forderung, gesteht ihr aber zu, an ihrem letzten Tag in Korinth ihre Söhne sehen zu dürfen.

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VON DER TRAGÖDIE DES ­EINZELNEN ZUR TRAGÖDIE DES KOLLEKTIVS Produktionsgespräch über Médée mit Andreas Spering, Elisabeth Stöppler und Annika Haller Luigi Cherubini komponierte seine Oper Médée in den Jahren nach der ­französischen Revolution, 1797 wurde sie in Paris uraufgeführt. Zwei Jahre später läutete Napoleon mit seinem Staatstreich eine neue Zeit ein. Die 1790er Jahre waren also eine Zeit der Umstürze, auch musikalisch? Andreas Spering: Médée gehört zu den Opern, die den Übergang von der Klassik zur Romantik in sich tragen. Sie wurzelt in der ­T radition von Christoph Willibald Gluck, geht also von der gefassten Form einer klassischen Oper aus. Deshalb ist Médée von einem Klangredecharakter und einer rhyth­ mischen Transparenz bestimmt, die das Werk durchhörbar machen. Dabei sind aber bereits Tendenzen zu großflächigen Bögen erkennbar, wie sie in der Romantik mit ihrem Ideal der Durchkomposition ­kennzeichnend werden. Darüber hinaus verlässt Cherubini die Form in jeder Arie, beispielsweise, indem er die in der Klassik üblichen ­viertaktigen Phrasen ­häufig durchbricht. Cherubini stößt also Türen auf, findet aber noch nicht zu a ­ bgerundeten ­Formen.

Die politische Situation in Frankreich während der Revolutionsjahre wirkte sich auf die Opern der Zeit aus. ­Realitätsnahe Stoffe mit helden­ haften Rettungen waren gefragt. Begleitet waren diese „Revolutions­ opern“ von Massenszenen und großen Chortableaus. Elisabeth Stöppler: Cherubini nutzt diese formale Anlage mit ihren großen Chorpassagen und formt ein Gesellschaftsstück, in dem neben den Individuen ein Kollektiv agiert: die Hofgesellschaft Korinths. Gleichzeitig zeichnet Cherubini die Soloprotagonisten musikalisch sehr differenziert – ­gerade die, die zum Beispiel bei Euripides eher Randfiguren dar­ stellen, wie Kreon, Néris oder Dircé. Dadurch etabliert er neben der Hauptfigur Medea ein vielschichtiges Figurenspektrum, in dem alle voneinander abhängen und Medea als „Gegenspieler“ auf Augenhöhe begegnen. Darüber hinaus haben in ­Cherubinis Fassung der Chor, dann das Orchester allein das letzte Wort: Nach Medeas Schlussmonolog setzt der Chor für einen letzten Aufschrei noch einmal ganz neu an. Dann folgt als Finale Ultimo ein furioses Orchesternachspiel, überschrieben mit Regieanweisungen, die den Untergang Korinths beschreiben – als ob Cherubini die Tragödie der Einzelnen auch zur Tragödie des Kollektivs machen wollte. Die Geschichte von Medea und Jason setzt wie Euripides’ Tragödie mit der

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bevorstehenden Hochzeit von Jason und Dircé, der korinthischen ­Königstochter, ein. Allerdings ist Dircé bei Euripides keine handelnde Figur, sondern wird nur durch die Gespräche der anderen Protagonisten erfahrbar. Demgegenüber beginnt Cherubinis Oper mit einem Auftritt von Dircé und ihrem Gefolge. Auftakt und Zentrum der Szene bildet also der korinthische Palast. Stöppler: Bei Cherubini gibt es nur einen Ort: den Platz vor, neben und am Rand des Königs­ palastes von Korinth. Alle Figuren lehnen sich quasi an diesen Palast an. Es gibt kein eigenes Haus und damit keine Privatsphäre für ­Medea. Sie wird von Anfang an durch die korinthischen Verhältnisse kontrolliert, muss mit der Stadt und ihren Bedingungen ­kämpfen. Alle Figuren, selbst die Königstochter Dircé, reiben sich an Korinth, das sie wie ein Gefängnis umgibt. Annika Haller: Grundsätzlich bedeutet die Setzung „Palast“, dass wir uns in der Machtzentrale und nicht in dem prekären Lager der Kolcher außerhalb der Stadt befinden. Um Korinth zu zeigen und gleichzeitig Kolchis zu thema­ tisieren, das keinen szenischen Raum im Stück hat, ist das Libretto eine wichtige Informationsquelle. Darin wird die Vorgeschichte ­deutlich: Die Fahrt der Argonauten zum „Ende der Welt Kolchis“, der Raub des Goldenen Vlieses und die Landung in Korinth mit der Bitte um

Asyl. Die Assoziation „Hafen“ als Sinnbild für die geographische und politische Grenze eines Landes, eines Kontinents, haben die Architektur für Kreons Palast bestimmt. Das Goldene Vlies von Kolchis ist Ausgangspunkt der Geschichte von Medea und Jason. Durch dessen Raub begehen beide den ersten Ver­ rat, der weitere Verbrechen – unter anderem Medeas Brudermord – nach sich zieht. Das Vlies ist ein Teil der Heimat Medeas und gleichzeitig Sinnbild für ihre Verbindung mit Jason. Im ersten Akt von Médée wird dieses Vlies in einer groß ausgear­ beiteten Szene von Jason als Braut­ geschenk in die Verbindung mit Dircé eingebracht. Stöppler: Das goldgetränkte Fell des fliegenden Widders ist ein ­spirituell aufgeladenes Mysterium. Es geht bei Cherubini darum, das Vlies in ein konkretes Objekt zu übersetzen, das weniger transzendent ist, als dass es zur Transzendenz verführt. Unsere Suche bestand darin, ein solches Objekt der Begierde unserer Zeit zu finden. Haller: Das Vlies definiert, wo das damalige Land Kolchis heute liegt. Das Verhältnis zwischen Korinth und Kolchis entspricht dem heutigen Verhältnis zwischen ­Europa und Afrika, auch historisch gesehen vor dem Hintergrund der schuld­beladenen Geschichte der Kolonis­ation. Es gibt an dem Vlies ein ökonomisches und symbolisches

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Interesse. Daraus entstehen ­Konflikte, die über den privaten Konflikt von Medea und Jason hinausgehen, der darin besteht, dass eine Mutter ihre Kinder tötet, weil ihr Mann sie verlassen hat. Der Mythos Medea wird beherrscht vom Thema Kindsmord. Das Bild der Mutterliebe wurde ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark idealisiert, was dem Kindsmord eine emotionalere und noch mons­ trösere Bedeutung zumaß. Die Literatur­wissenschaftlerin Elisabeth Bronfen äußerte dagegen, dass man Medeas Kindstötung als „tragische, aber auch sehr rationale Geste der Auf­lehnung“ lesen könne, da sie ihre Mutterschaft als das Einzige, was ihr geblieben ist, verwendet, um ihren Mann Jason zu strafen. Die Kinder sind für Jason politische Verhandlungsmasse – sein Erbgut für den korinthischen Hof. Medea kappt mit dem Mord die Erbfolge und gleichzeitig ihre letzte Ver­ bindung zu Jason. Stöppler: Mehr noch als um ihre Schuld geht es für Medea um die Feststellung von Unrecht, das beglichen werden muss. Die Beziehung zu Jason ist mehr als eine romantische Verbindung: Die beiden haben sich einen existenziellen Eid geschworen, den Jason gebrochen hat. Dieser Verrat wiegt für Medea schwerer als für Jason, weil sich seine inneren Gesetze (mittlerweile) verändert haben. Ihm ist die ­gesellschaftliche Etablierung in

Korinth oberstes Ziel. Ihr geht es um Gerechtigkeit, um „sainte ­justice“. Medea kommt nach Korinth zurück, um ein Gleichgewicht ­wiederherzustellen, das komplett aus den Fugen geraten ist. Ihr Motiv ist nicht eifersüchtig, sondern ­politisch gedacht. Spering: Medea hat mit Jason durch den Brudermord bereits eine Grenze überschritten, durch die sie im Folgenden bei ihrer Haltung bleiben muss. Bei Cherubini ist der Mord an den Kindern fast ­nebensächlich, Dircés Tod bzw. die Reaktion darauf wird in der Partitur dagegen weit größer ausgestaltet. Stöppler: Für mich tritt Medea wie eine gewaltbereite Idealistin auf, deren kompromissloses Denken und Handeln in seiner Konsequenz terroristische Züge trägt. Darin liegt natürlich etwas enorm Destruktives und Fatalistisches. Für Medea wird es zur logischen Konsequenz, die gemeinsamen Kinder zu eliminieren und damit Jasons Verbindung zur Welt zu kappen. In diesem an sich unvorstellbaren Kindsmord besteht für sie die einzige Möglichkeit, das Rad des Geschehens ­anzuhalten. Haller: Man schaut einer Entwicklung zu, wie durch die Logik „Wer A sagt, muss auch B sagen“ Gewalt entsteht und welche ­Konsequenzen das hat. Die Schluss­ folgerung, die Kinder zu töten, ergibt sich wie ein Sachzwang: „Du hast meinen Bruder getötet, also werde ich deine Kinder töten“.

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Das ist nach Hannah Arendt das Gegenteil von freiem und selbstständigem Handeln. Spering: Dabei zeigt Cherubini musikalisch, dass Medea etwas durchmacht: Ihre Arien beginnen alle relativ ruhig und werden dann zunehmend zerfahren und aufgebrochen. Selbst wenn Cherubini zu einer Art Anfangsteil zurückkehrt, nimmt er in diesem so viel von dieser Aufspaltung auf, dass man von einer ABA’ Form nicht mehr sprechen kann. Vor allem in den großen Duettszenen mit Jason ist Medea musikalisch sehr zerrissen komponiert. Dieses Verfahren kennt man eigentlich erst aus der Romantik oder sogar der Spät­ romantik. Stöppler: Durch diese Wechselhaftigkeit kommt es in keiner der drei Medea-Arien zu einem wirklich geradlinigen, eindeutigen Gefühlszustand. Medeas Musik lebt weniger von emotionaler Tiefe als von s­ tarker Reflektion bis zum totalen Widerspruch der Gedanken. Spering: Cherubini hat bei ­seiner sehr drastischen Zeichnung von Figuren und Situationen ­bewusst auf eingängige Melodien verzichtet, dafür aber sehr stark mit Motivik gearbeitet, wie der aufspringenden Quarte und der fallenden kleinen Sekunde. Ulrich Schreiber sieht in dieser Arbeit mit „Erinnerungsmotiven“, wie sie auch für andere französische ­Revolutionsopern kennzeichnend ist, den frühen Ausgangspunkt für

Wagners Leitmotivtechnik. In Médées Figurengefüge nimmt Dircé eine wichtige Rolle ein: Sie eröffnet die Oper, sie ist Gegenfigur zu Medea und als Königstochter Kreons Stellvertreterin für Korinth. Spering: Von Cherubini wird sie durch eine regelrechte Bravourarie als konventionellste aller Figuren gezeichnet. Nach dieser Auftritts­ arie spielt sie musikalisch nur noch eine untergeordnete Rolle. Stöppler: Die Eröffnungsszene zeigt Dircé mit ihren Hofdamen in einer semi-privaten Situation, die unerbittlich in eine öffentliche Zeremonie hineinführt. In dieser taucht plötzlich Medea auf; beide Frauen stehen sich gegenüber, ­werden damit zu direkten Gegenspielerinnen. Mehr noch: Wie Klaus Theweleit es in seinem Buch der Königstöchter beschreibt, geht die Landnahme Jasons in Kolchis über den Körper der Königstochter ­Medea, in Korinth über Dircés ­Körper – entsprechend ähneln sich die Schicksale der beiden Königstöchter geradezu schwesternhaft. Dircé stellt von Anfang an durch ihre Angst und ihre Skrupel gegenüber der Hochzeit das System des Vaters in Frage und damit auch den Deal zwischen Jason und Kreon, dem die Trennung von ­Medea und Jason zugrunde liegt. Dircé wird dadurch zur unge­wollten Prophetin des kommenden Unglücks. Haller: Wir beschreiben über dieses Individualgefüge hinaus aber auch den Zusammenprall zweier

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Kulturen, die sich nicht gleichwertig begegnen. Medea ist eine Königs­ tochter und in Kolchis privilegiert, in Korinth wird sie als fremd und minderwertiger eingestuft. Das Thema des Fremden und der Flucht war ein wichtiges Thema in den Überlegungen zur Inszenierung. Haller: Die Cherubini-Fassung ist ein politisches Stück. Kreon äußert gegenüber Jason, dass er sich in bündnispolitische Konflikte bringen würde, wenn er bereit wäre, Medea aufzunehmen. Jason versucht, sich mit Kreons Hilfe seiner Mitschuld an den gemeinsam mit Medea verübten Taten zu entledigen. Aus gemeinsamer Schuld wird eine Schuld. Und Medea kommt in eine Situation, in der sie keine Existenzberechtigung mehr hat: Sie kann keine Kolcherin mehr sein und keine Korintherin werden. Dadurch wird sie illegal. Stöppler: Medea ist durch ihre Verbrechen bereits in ihrer Heimat zur Illegalen geworden. Überall dort, wohin sie flieht, macht sie sich strafbar. Sie ist zunehmend gezeichnet von den Spuren ihrer Flucht, an deren Ende die Königstochter ein Flüchtling wie jeder andere ist. Ihre Geschichte lässt sie verhärten und führt bei ihr zu einer inneren Vereisung, in der selbst das Empfinden von Muttergefühlen zu einem unmöglichen Privileg wird.

Musikalischen. Gegenüber der ­Großen Oper (Tragédie lyrique) ­gewann vor allem die Oper mit ge­ sprochenen Dialogen (Opéra comique) an Bedeutung. Auch ­Cherubini ver­ wendete die Form der Opéra comique für seine Médée, wobei die gesproche­ nen Dialoge in Alexandrinern ver­ fasst sind. In unserer Fassung sind diese französischen Dialoge zum größten Teil ersetzt durch eine Tonspur, die vor allem von Heiner Müllers Medea­material bestimmt wird. Stöppler: Die Tonbandtexte – gesprochen von einer Frauenstimme, die außerhalb der Handlung steht – eröffnen uns die Möglichkeit, die Innerlichkeit der Figuren durch einen anderen Sprachgestus und Sprachrhythmus zu beschreiben. Die Tonspur ­f ungiert als „Rhythmusstörung“, die den Puls der gesamten Oper verändert. Sie dient darüber hinaus als „Medea-Kommentar“, als ­zusätzliche Anfütterung der Gedanken zum Mythos Medea, den ins­ besondere Heiner Müller in seinem Medeamaterial verdichtet und ­seziert hat. Haller: Wichtig war uns, dass die Sprache der Tonspur mit der musikalischen Komposition gleichwertig ist. Damit wird der Musikpartitur Cherubinis eine zeitgenössische Sprachpartitur auf Augenhöhe entgegengesetzt.

Der politische Umbruch in der ­Revolutionszeit zeigte sich auch im

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VON DER REVOLUTION IN DIE ROMANTIK UND WIEDER ZURÜCK. Zur Rezeptionsgeschichte von Médée Médée von Luigi Cherubini ist eines der Werke, die man zu kennen glaubt, aber doch nicht kennt. Denn bekannt geworden ist die Oper vor allem durch eine Sängerin, Maria Callas, die die Titelrolle zwischen 1953 (in Florenz) und 1962 mehrfach an großen Bühnen sang und zum Inbegriff der Medea-Interpretin wurde. ­A llerdings war die Oper seit ihrer Uraufführung bis zu dem Zeitpunkt, als Maria Callas ihr zu neuer Bekanntheit verhalf, mehrfach verändert worden. Luigi Cherubini, 1760 in Florenz geboren, zog nach verschiedenen Stationen in Italien nach London und ließ sich nach einigen Besuchen in Paris 1788 endgültig dort nieder. Im Dezember desselben Jahres brachte er seine erste französische Oper Démophoon an der Pariser Oper, der Académie Royale, zur Aufführung. Wenige Jahre später – nach der Komposition einer ­heroischen Komödie (Lodoïska) und einer weiteren Oper (Èliza) – wandte er sich dem Medea-Stoff zu. Eine ungewöhnliche Wahl. Denn die politische Situation der 1790er Jahre zwischen dem Sturm auf die Bastille und Napoleonischem Staatsstreich wirkte sich auch auf die Oper der Zeit aus. Antike

Sujets wichen realhistorischen Stoffen, deren Ausgestaltung oft verbunden wurde mit der spekta­k u­ lären R ­ ettung eines Helden im ­Finale. Cherubini setzte diesem optimistischen Finalgedanken vieler Revolutionsopern mit seiner Komposition des Medea-Stoffes eine Geschichte entgegen, die mit geradliniger ­Konsequenz in der ­Zerstörung endet. Das Libretto von François-Benoît Hoffman fußte dabei auf der gleichnamigen ­T ra­gödie von Pierre Corneille aus dem 17. Jahrhundert und antiken Medea-­Bearbeitungen, vor allem der von Euripides (431 v. Chr.). Es verwundert daher nicht, dass das Werk das Pariser Publikum irritierte und die Premiere 1797 am Théâtre F ­ eydeau eher mäßig ­erfolgreich war. Das Théâtre Feydeau bildete mit dem Théâtre de l’Opéra-comique zusammen das Zentrum für die Gattung der Oper mit gesprochenem Dialog (Opéra comique), die für das Musiktheater der Revolutionszeit prägend war – auch wenn die starren Grenzen zwischen Dialogoper und „Großer Oper“, der Tragédie lyrique, in diesen letzten Jahren des 18. Jahrhunderts für kurze Zeit aufgeweicht waren. Cherubinis Werk wurde trotz des ausbleibenden Erfolges in Frankreich ins Deutsche übersetzt und 1800 in Berlin und zwei Jahre später in Wien gespielt – dort in einer Textfassung von Georg Friedrich Treitschke, für die

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Cherubini selbst eine gekürzte Fassung erstellte. Für die Aufführung 1855 in Frankfurt ersetzte der Komponist und Dirigent Franz Lachner wiederum die in Verse gefassten, aus­f ührlichen Dialoge der Wiener Übersetzung in Rezitative. Auch in Mainz erlebte das Werk 1865 seine Erstaufführung in dieser Version. Durch diese ­Rezitative, die Lachner natürlich im Stil seiner Zeit geschrieben hatte, erhielt das Werk kompositorisch und inter­pretatorisch einen romantischeren Zug, der die Rezeptions­ geschichte der Oper im Weiteren bestimmen sollte. Denn auch für die italienische Erstaufführung an der Mailänder Scala 1909 unter dem Dirigat von Arturo Toscanini wurde nicht das französische Original, sondern wiederum die deutsche Medea-Version mit den Rezitativen Lachners ins Italienische übertragen. Aus der französischen Oper der Revolutionszeit des 18. Jahr­hunderts war nun eine italienische, romantisch klingende Oper ­geworden, der Maria Callas mit ihrer ­MedeaInterpretation – geprägt vom Belcantoideal und Heroinenkult ihrer Zeit – einen noch stärker ­romantisierenden Ton verlieh. Erst Ende der 1960er Jahre, zunächst vereinzelt, seit wenigen Jahren verstärkt, fand Médée den Weg auf die Bühne zurück in der originalen (Pariser) Gestalt und in Interpreta­ tionen, die das Werk wieder von der Uraufführung her denken: als ein Werk des Übergangs, oszillierend

­ wischen Klassik und Romantik, z ­bruchhaft und scharfkantig. Auch in der Auslotung der Figuren erhält insbesondere Medea durch diesen Gedanken genau die Durchlässigkeit und den interpretatorischen Facettenreichtum zurück, der sie aus der Ecke der emotionalen Eindeutigkeit, auf die sie durch die Konzentration auf das Weiblichkeitsbild der femme fatale festgelegt worden war, hervorholt.

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IMPRESSUM

FOTOS S. 3: D. Rahardja, N. Stefanoff, L. Köhler, R. Yilmaz S. 6/7: D. Rahardja, P. Do, Chor S. 8: A. Steffens, D. Rahardja, Chor S. 10 oben: P. F. Bauer, P. Do, D. Rahardja S. 10 unten: N. Stefanoff, G. King S. 14/15: N. Stefanoff, P. Do S. 17: N.Stefanoff, G. King S. 18: P. F. Bauer, N. Stefanoff, D. Rahardja

Spielzeit 2014 / 2015 Herausgeber Staatstheater Mainz www.staatstheater-mainz.com Intendant Markus Müller

NACHWEISE Den Inhalt verfassten Ina Karr und Elisabeth Stöppler. Die Texte Von der Tragödie des Einzelnen zur Tragödie des Kollektivs und Von der französischen Revolution zur Romantik und wieder zurück sind Originalbeiträge für dieses Heft. Heiner Müller, Medeamaterial, Henschel Schauspiel Verlag, Berlin. Sylvia Plath, Rand, In: Mythos Medea. Texte von Euripides bis Christa Wolf, hg. von Ludger Lütkehaus, Leipzig 2001. Jean Anouilh: Medea, in: Medea. Theater der Jahrhunderte, hg. von Joachim Schondorff, München/Wien 1963.

Kaufmännischer ­Geschäftsführer Volker Bierwirth Redaktion Ina Karr Druck Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt/Main Visuelle Konzeption Neue Gestaltung, Berlin

Texte Tonband: Ton 1: Albert Camus Hochzeit in Tipasa; Das Meer, Ton 2: Ingeborg Bachmann Die Häfen waren geöffnet, Ton 3: Heiner Müller, Landschaft mit Argonauten; Ton 4–6, 8, 9: Heiner Müller, Medeamaterial; Ton 7: Christa Wolf, Medea. Stimmen, Ton 10: Euripides, Medea; Ton 11: Sylvia Plath, Rand Alle Probenfotos stammen von Andreas Etter

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Rand Die Frau ist vollendet. Ihr toter Körper trägt das Lächeln des Erreichten. Der Anschein einer griechischen Notwendigkeit Fließt in den Schnörkeln ihrer Toga, Ihre bloßen Füße scheinen zu sagen: Wir kamen bis Hierher, es ist vorbei. Jedes tote Kind eingerollt, eine weiße Schlange, Eines um jeden kleinen Milchkrug, nun leer. Sie hat sie gefaltet Zurück in ihren Körper, wie Blätter einer Rose sich schließen, wenn der Garten Erstarrt und Düfte bluten Aus den süßen tiefen Schlünden der Nachtblume. Der Mond starrt aus seiner Knochenkapuze. Er hat keinen Grund zur Trauer. Er ist dergleichen gewohnt. Seine schwarzen Hüllen knistern und schlurfen. Sylvia Plath


Ich bin Medea, t채usche dich nicht! Wie oft habe ich mich gestellt und alles aufs Spiel gesetzt, selbst wenn es um weit weniger ging als heute. Jean Anouilh

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