Staatstheater Mainz – Die Meistersinger von Nürnberg

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Staatstheater Mainz

Die Meistersinger von N端rnberg Richard Wagner


DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG (1868) Richard Wagner (1813–1883) Oper in drei Akten Dichtung vom Komponisten In deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Musikalische Leitung ... Hermann Bäumer Inszenierung ... Ronny Jakubaschk Ausstattung ... Matthias Koch Licht ... Alexander Dölling Dramaturgie ... Lars Gebhardt Chor ... Sebastian Hernandez-Laverny Hans Sachs ... Derrick Ballard Veit Pogner ... Ks. Hans-Otto Weiß Kunz Vogelgesang ... Max Friedrich Schäffer Konrad Nachtigal ... Johannes Held Sixtus Beckmesser ... Heikki Kilpeläinen Fritz Kothner ... Peter Felix Bauer Balthasar Zorn ... Christopher Kaplan Augustin Moser ... Scott Ingham Ulrich Eisslinger ... Karsten Münster Hermann Ortel ... Manos Kia Hans Foltz ... Stephan Bootz Hans Schwarz ... Georg Lickleder Walther von Stolzing ... Alexander Spemann David ... Michael Pegher Eva ... Vida Mikneviciute Magdalene ... Linda Sommerhage Lehrbuben ... Carolin Löffler, Jina Oh*, Carmen Seibel, Marie Seidler; Frederik Bak, Daniel Dewald**, Kay Freudenreich, Andreas Gieringer**, Leonhard Hell**, Raoni Hübner, Johannes Meyer, Johannes Melchior**, Adrian Möller**, Gregor Möller**, Lars Neeb**, Martin Pfeiffer**, Lukas Werner** * Junges Ensemble **Mitglieder des Mainzer Domchors

Chor und Extrachor des Staatstheater Mainz Philharmonisches Staatsorchester Mainz Premiere am 26. April 2015, Großes Haus


Regieassistenz und Abendspielleitung ... Rebecca Bienek, Christiane Zaunmair Studienleitung ... Michael Millard Musikalische Assistenz ... Samuel Hogarth, Paul-Johannes Kirschner, Erika Le Roux, Christian Maggio Bühnenbildassistenz ... Claudia Weitzel Kostümassistenz ... Jennifer Mosen, Christin Winkler Inspizienz ... Eckhard Wagner Soufflage ... Iris Conradi Regiehospitanz ... Susanne Zorbach Ausstattungshospitanz ... Marilis Sonnen Dramaturgiehospitanz, Einrichtung der Übertitel ... Laura Sonnabend Übertitelungsinspizienz ... Eva Hofem Technischer Direktor ... Christoph Hill Produktionsleiter ... Olaf Lintelmann Werkstättenleiter ... Jürgen Zott Assistent der technischen Direktion ... David Amend Bühneneinrichtung ... Moritz Brünig Leiter der Dekorationswerkstatt ... Horst Trauth Leiter der Schreinerei ... Markus Pluntke Leiter der Schlosserei ... Erich Bohr Vorstand des Malersaals ... Andreas Beuter Leiter der Tontechnik ... Andreas Stiller Tontechnik ... Enis Potoku Kostümdirektorin ... Ute Noack Assistentin der Kostümdirektorin ... Ingrid Lupescu ­ Gewandmeisterinnen ... Britta Hachenberger, Mareike Nothdurft Gewandmeister ... Thomas Kremer, Falk Neubert Modistin ... Petra Kohl Chefmaskenbildner ... Guido Paefgen Maskenbildnerinnen ... Marieke Berries, Anette Dold, Sabine Feldhofer, Yvonne Hoffmann, Lisa Kanniga, Vanessa Kleine, Elke Patzalt, Johanna Prange, Nadine Rodekurth, Stefanie Spang, Patricia Starke, Tanja Sussman, Jasmin Unckrich Leitung der Requisite ... Dagmar Webler Requisite ... Fred Haderk, Stefanie Kaiser, Birgit Schmitt-Wilhelm

Auführungsrechte … Schott Music, Mainz Aufführungsdauer … ca. 5 Stunden 30 Minuten – zwei Pausen à 30 Minuten


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HANDLUNG 1. Akt Am Vortag des Johannisfestes: Die Gesellschaft ist in froher Erwartung des jährlichen Höhepunktes. Beim Preissingen der Meistersinger soll der beste der geachteten Sänger gekürt werden und – eine Neuerung in diesem Jahr – als Preis Hand und Gut von Eva, Tochter des Goldschmieds Veit Pogner, bekommen. Der junge Walther von Stolzing, vom Land in die Stadt gekommen um sein Gut zu verkaufen, hat sich in Eva verliebt – und gesteht ihr seine Gefühle. Magdalene, beste Freundin der Eva, hat Bedenken. Um nun Evas Hand gewinnen zu können, will Stolzing in die Meistersingerzunft aufgenommen werden. Deshalb versucht ihm Lehrbube David, Magdalenes Freund, im Schnelldurchlauf die komplizierten Regeln zu erklären – doch Stolzing sieht seine einzige Chance darin, möglichst kreativ zu sein und ein neues Lied zu dichten und zu singen. Bei der Sitzung der Meistersinger stößt Pogners Vorschlag, seine Tochter als Preis zu stellen auf Zustimmung — auch wenn die Möglichkeit, dass sie den Bewerber ablehnen kann, kritisch gesehen wird. Hans Sachs, Schuster und populärster der Meistersinger, geht sogar so weit, dem Volk die Entscheidung zu überlassen und überschreitet damit für die restlichen Meister eine Grenze. Vor allem Sixtus Beckmesser, Stadtschreiber

und Merker der Zunft, widerspricht Sachs vehement, nicht zuletzt, weil er selbst beim Preissingen antreten will. Als Pogner den Meistern ­Stolzing als Zunftanwärter vorstellt, trifft dieser auf Widerstand. Trotzdem wird Stolzing formal zum Probesingen zugelassen, er kann aber nicht überzeugen: Die Meister können sein Vorstellungs-Lied nach ihren Regeln nicht verstehen. Beckmesser drängt auf Abbruch des Probesingens, Sachs dagegen findet Stolzings Vortrag interessant. Die Meister lehnen letztendlich Stolzing ab: „Versungen und vertan!“ heißt das Urteil. 2. Akt Am Abend desselben Tages: Die Lehrbuben freuen sich auf das bevorstehende Fest. Hans Sachs reflektiert das in der Singschule gehörte Lied: Für ihn besitzt Stolzings Dicht- und Singkunst Potential, die eingerosteten Regeln und Strukturen reformieren zu können. Eva ist gespannt, wie Stolzings Vorsingen ausgegangen ist. Ihrem Vater gegenüber hält sie sich bedeckt, doch im Zwiegespräch mit Sachs hofft sie zu erfahren, ob in ihrem Sinne entschieden wurde. Sachs realisiert, dass Evas Herz für den jungen Mann schlägt – auch wenn für ihn und Eva die Option des eigenen Werbens noch immer im Raum steht. Stolzing dagegen möchte mit Eva aus der Stadt ­f liehen. Die Flucht wird aber von Sachs vereitelt. So werden Eva und

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Stolzing Zeuge, wie Beckmesser sein Werbelied an Eva ausprobieren will und wie Sachs ihn mit einem Schusterlied stört. Was Beckmesser nicht weiß: Die vermeintliche Eva ist Magdalene in Verkleidung. Gegen Sachs’ ständiges Klopfen singt er nun zu ihr sein Ständchen. Als David dazukommt, glaubt er sich von Beckmesser hintergangen und beginnt eine Prügelei, an der die ganze Stadt Anteil nimmt. 3. Akt Am nächsten Morgen: David ist erstaunt, dass Sachs nach den Geschehnissen der Nacht so ruhig und milde gestimmt ist. Er spekuliert, ob nicht vielleicht doch Sachs selbst um Eva werben wird. Dieser sinniert über die Geschehnisse der Nacht: Er entschließt sich, Stolzing für das Preissingen vorzubereiten und ihn doch als Bewerber um Eva ins Rennen zu schicken. Mit Sachs’ Hilfe dichtet Stolzing ein Lied über seinen Traum und lernt dabei die Struktur des Meistergesanges, bringt aber auch Inno­ vationen ein. Als Beckmesser kommt, um sich über die Vorkommnisse der Nacht zu beschweren, findet er das von Sachs notierte Preislied Stolzings. Er schlussfolgert, dass Sachs selbst um Eva werben will. Doch Sachs überlässt ihm den Text: Beckmesser hat nun ein neues Lied für das Preissingen. Eva ist un­sicher, wie der Tag ausgehen wird: Stolzing versichert ihr mit seinem neuen Lied eine bes-

sere Zukunft. Im Angesicht der jungen Liebe hinterfragt Sachs sein Leben und seine Position – tritt letztendlich aber von allen Ansprüchen auf die Frau zurück. Nachdem David zum Gesellen geschlagen wurde, tauft Sachs – so will es die Tradition – Stolzings neues Lied als „selige Morgentraum-Deutweise“. Das Volk erinnert zum Beginn des Johannisfestes an die zurückliegenden Bedrohungen der Stadt und die Wichtigkeit der Zünfte. Es wird gefeiert und getanzt. Die Meister­ singer treffen ein und werden begrüßt. Als letzter erscheint Sachs: Alle Anwesenden stimmen ihm zu Ehren eines seiner Lieder an. Sachs weist alle Ehre zurück. Das Preissingen beginnt mit Beckmessers Vortrag: Er versucht Stolzings poetischen Text auf seine Melodie zu singen, scheitert aber kläglich. Als er alle Schuld auf Sachs schieben will, bittet dieser Stolzing als Zeugen dazu. Stolzing singt sein Preislied und überzeugt Volk und Meister. Ihm werden Eva und die Meistersingerwürde als Preis zugesprochen, doch er lehnt zweiteres ab. Sachs nimmt ihn und Eva ins Gebet: Nur wenn die Kunst und ihre Regeln bewahrt und aus sich selbst heraus erneuert werden, bleibt die Gesellschaft vor äußerem Einfluss geschützt. Stolzing und Eva stehen für das neue Nürnberg.

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RÄDERWERK UND KUNSTHANDWERK Lars Gebhardt Es fasziniert schon, dass Richard Wagner für jedes seiner Musiktheaterwerke einen anderen Grundton fand: Sind im Lohengrin die Unterschiede der ätherisch-verklärten Gralswelt der Titelfigur und die harte politische Realität mit Fanfaren und großen Chören ­­­ hör- und sichtbar, lebt Der fliegende Holländer von der machtvollen Bewegtheit des Meeres und der Verlorenheit der Protagonisten. Selbst in den vier Ring-Teilen finden sich unterschiedliche Grundier­ung­en und Temperaturen für jeden Abend. Der Weg zur Konzeption und zum heiteren Grundton der Meistersinger von Nürnberg mit seinen melancho­ lischen und zutiefst reflektierten Einsprengseln ist verschlungen: 1845 entwickelte Wagner die Idee bei einem Kur­aufenthalt in Marienbad und schrieb den ersten Prosa­ entwurf nieder. Ein Satyrspiel, ein heiteres Gegenstück zum Tann­ häuser sollten diese M ­ eistersinger werden. In Eine Mittheilung an meine Freunde – die durchaus eitle und verklärende Selbstdarstellung und Positionierung des 38jährigen Wagners aus dem Jahre 1851 – legt er die Gründe dar, warum er das Projekt dann aber doch verwarf: „Mir ist es jetzt klar geworden, aus welchem Grunde jene heitere Stimmung, wie sie sich in der Konzeption der Meistersinger zu genü-

gen suchte, von keiner wahrhaften Dauer bei mir sein konnte. Sie sprach sich damals nur erst noch in der Ironie aus, und bezog sich als solche mehr auf das bloß formell-­ künstlerische meiner Richtung u ­ nd meines Wesens, als auf den Kern desselben, wie er im Leben selbst wurzelt. – Die einzige, für unsere Öffentlichkeit verständliche und deshalb irgendwie wirksame Form des Heiteren ist, sobald in ihr ein wirklicher Gehalt sich kundgeben soll, nur die Ironie. Sie greift das Naturwidrige unserer öffentlichen Zustände bei der Form an, und ist hierin wirksam, weil die Form, als das sinnlich unmittelbar Wahrnehmbare, das Einleuchtendste und Jedem Verständlichste ist; während der Inhalt dieser Form eben das Unbegriffene ist, in welchem wir unbewußt befangen sind, und aus dem wir unwillkürlich immer wieder zur Äußerung in jener, von uns selbst verspotteten Form gedrängt werden. So ist die Ironie selbst die Form der Heiterkeit, in der sie ihrem wirk­ lichen Inhalte und Wesen nach nie zum offenen Durchbruch, zur hellen, ihr selbst eigenthümlichen Äußerung als wirkliche Lebenskraft kommen kann.“ Stattdessen wand er sich dem Lohengrin-Stoff zu. Erst 1861 griff er die Meistersinger-Idee wieder auf: Im Angesicht der Schwierig­ keiten der Tristan-Uraufführung und einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den aktuellen Theaterver-

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hältnissen, die die Aufführbarkeit von Wagners Werken immer wieder erschwerten, wollte der Komponist eine schnell zu schreibende und aufzuführende Oper schaffen. Seinem Mainzer Verleger Franz Schott schrieb er: „Dieses Sujet hat die zwei unberechenbaren Vorzüge, daß es mich selbst erheitert während der Arbeit, und daß es andererseits alle die erschwerenden Ansprüche für die Aufführung, die meinen übrigen Werken zu eigen sind, ganz und gar nicht enthält. Der Stoff soll durchaus leicht populär sein, und für seine schnellste Verbreitung über alle Theater soll mir namentlich auch der Umstand b ­ ürgen, daß ich diesmal weder eines sogenannten ‚Tenors’ noch einer großen tragischen Sängerin bedarf. Ich verpflichte mich, dieses Werk bereits für nächsten Winter zur Aufführung vollkommen fertig zu liefern.“ Es ist eine dieser vielen Versprechungen, die Wagner im Angesicht von Geldnot und in Aussicht gestellten Vorschüssen seinen Verlegern gegenüber machte. Mit ca. 4,5 Stunden reiner Spieldauer, großen Chören und einer stattlichen Solisten­ anzahl sollten die Meistersinger eines seiner längsten Bühnenwerke werden, das bis heute auch größere Theater bis an die Grenzen fordert. Nun mag es auch sein, dass die Tenor-Partie in den Meistersingern nicht so anstrengend wie die ­Tristan-Titelpartie ist, doch schrieb Wagner letztendlich seine an-

spruchsvollste Bass-Partie für den Hans Sachs. Auch ist die Oper ­keineswegs im Winter 1862 fertig, vielmehr zogen sich die Arbeiten hin. Die Überarbeitung des Prosa­ entwurfs, die Niederschrift des Librettos geht schnell voran: Bereits im Februar 1862 liest Wagner im Hause Schott in Mainz das Vers­ libretto halb-öffentlich vor. Es entstehen in den nächsten Monaten Skizzen und Entwürfe für einzelne Szenen, darunter auch das Vorspiel. Für die Arbeit hat sich Wagner in Biebrich bei Wiesbaden zwei Zimmer in einem Haus am Rhein gemietet – angeblich wurde das Vorspiel von der Silhouette des „Goldenen Mainz“ inspiriert. Doch die Arbeit geht nur schleppend voran, eine Handverletzung hindert Wagner am Komponieren – und er wendet sich aktuellen Projekten zu: Konzerten, die schnelles Geld einbringen sollen. So findet schon im November 1862 im Leipziger Gewandhaus die erste Aufführung des Vorspiels statt, im Dezember führt er die Ansprache Pogners und einige ­instrumentale Teile als „Versammlung der Meistersingerzunft“ in drei Wiener Konzerten auf. Die Geldnot scheint also groß, wenn er ein noch nicht fertig komponiertes und nur teilweise instrumentiertes Werk „ausschlachtet“. Zwischen 1863 ­u nd 1866 ruht die Arbeit an dem Werk fast vollständig, erst dann findet Wagner Zeit und Muße, die Partitur nach und nach abzuschließen. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang 1867,

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ändert er – auf Insisitieren seiner Frau Cosima – die Schlussansprache des Hans Sachs. Ein Schritt, der die Rezeption des Werkes maßgeblich verändern wird. Erkennt man im ersten Entwurf der Ansprache (siehe S.28/29) bei Sachs noch eindeutig den Bezug zu Stolzings Ablehnen der Meisterwürde und eine Art Moral-von-der-Geschicht’, ist die überarbeitete Fassung ein politischer Kommentar: Im ­A n­gesicht eines noch ungeeinten Deutschlands spiegelt Wagner in Sachs’ Worten die äußerlichen Bedrohungen des Heiligen Rö­m ischen Reiches Deutscher Nation. Sachs ruft auf zur Bewahrung der Sprache und Kunst: Deutschland als Kulturnation wird hier proklamiert. Später wurde diese Stelle zum Ausgangspunkt für nationaldünkelnde und - chauvinistische Inszenierungen und Kommentare. Dabei darf man diese Ansprache nicht losgelöst von ihrem Kontext betrachten. Sachs spricht nicht etwa das Volk an, sondern er redet S ­ tolzing ins Gewissen: Wenn man die Frau ge­ winnen und im Privaten glücklich werden will, muss man auch für seine Gesellschaft etwas tun. Er nimmt Stolzing, und auch Eva, in die Pflicht: Sie sind die Neuen, Jungen, die das Meistersinger-­ System reformieren können, aber nur, wenn sie auch Teil dieser Welt bleiben bzw. ­werden. Es mag sich im glücklichen Ausgang, im Nebeneinander von hohem und niederen Paar, im Spiel

mit Verkleidung und unterschiedlichen Wissensvorsprüngen bei den Meistersingern zwar einerseits eindeutig um eine Komödie handeln, doch trotzdem schreibt Wagner vielfältige tiefgreifende Erkenntnismomente in sein Werk ein: Das Nürnberg, das er zeigt – ein Kunst­ ort, der wenig mit dem realen historischen Vorbild zu tun hat –, steht am Scheideweg: Johannistag, die Mitte des Jahres, der Zeitpunkt, an dem sich entscheidet, wie die Ernte wird, wie das Jahr zu Ende geht und wie man über den Winter kommt. Gleichzeitig scheint die regelhafte Welt der Meistersinger an einem Scheidepunkt angekommen zu sein: Die Meisterzunft ist überaltert, in ihren Regeln erstarrt und ergraut. Wagner stellt den Meistern keine weltliche oder kirchliche Macht gegenüber – es scheint fast so, als wäre das höchste Gremium in diesem Kunst-Nürnberg tatsächlich die Meistersingerzunft. Auch die Musik erzählt von Regeln und Traditionen: Das etwas gespreizt-behäbig auf­ tretende Meistersinger-Thema des Vorspiels im simplen C-Dur ist erster Ausdruck der scheinbar klaren, geraden, grafischen Welt dieser Kunst-Handwerker. Die leiernden Koloraturen in Beckmessers nächt­ lichem Ständchen gehören ebenso zu dieser altbacken wirkenden Welt wie die Verzierungen Kothners bei der Verlesung der Tabulatur. Ja, selbst das Prügeln scheint in der angedeuteten Fugenform reglementiert zu sein, auch wenn hier das

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­ usikalische Gefüge wirklich nach m und nach auseinander bricht. Stolzings Ausbrüche dagegen sind in diesem Zusammenhang geradezu ­modern; ebenso wie seine Dichtung etwas Naturwüchsiges, Unbändiges und Aufbäumendes hat – und von der größten Poesie und Bildhaftigkeit durchzogen ist –, ist seine ­Musik raumgreifend und ausufernd. ­Sowohl im Probelied des ersten Aktes, als auch im Preislied des dritten Aktes, das Stolzing zur Festwiese sogar noch einmal selbstständig modifiziert, hört man am stärksten Musik des Wagners der 1860er Jahre: Hier wird die kühne Harmonik des Tristan zumindest ansatzweise spürbar. Wagner suchte in seinen Meistersingern nach einem Ton, der zwar einerseits historisch fundiert ist – deshalb die vielen historisierenden Formen wie Choral, Fuge, Koloraturverzierung –, andererseits komponierte er keine Mittelalter-Oper, sondern spiegelte vielmehr im Nebeneinander von Stilen, Zitaten und Zeiten die Handlung.

an das Vorspiel anschließt, macht Wagner eine Vielzahl christlich-­ heilsgeschichtlicher Analogien auf: Die Gesellschaft wartet auf ihren Messias, auf eine Errettung und Erneuerung. In diese Welt dringt Stolzing ein, er bringt eine andere Farbe, eine andere Energie in den Raum. Die zentrale Maschine, Gemerk und Wunderkammer zugleich, reagiert auf diesen Neuankömmling. Sie scheint das Herz dieser Gesellschaft zu sein: Werden die Regeln befolgt und wird „richtig“ gesungen, lebt diese ­Maschine. Doch die Wirren der Prügelei, die Musik des Neuankömmlings und nicht zuletzt auch Hans Sachs’ Zweifel stören dieses klare System. In seinen beiden großen Monologen im zweiten und dritten Akt reflektiert Sachs über die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, in der er lebt. Er ermutigt Stolzing nicht zu fliehen, sondern nutzt sein Naturgenie zur Reformierung der Meisterwelt. Johannes, der Täufer, kündet vom Messias …

Regisseur Ronny Jakubaschk und Ausstatter Matthias Koch zeigen eine Welt, die klar geregelt scheint. Sie ist monochrom, grafisch gegliedert, organisiert und choreografiert. Sie ist auch mechanisch. Zentraler Raum dieses Johannisfestes ist ein Altar- und Maschinenraum: Der Versammlungsraum der Zunft, der Festraum der Gemeinde. Schon im Choral, der direkt

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Ein starker Wind sprang empor. Öffnet des eisernen Himmels blutende Tore. Schlägt an die Türme. Hellklingend laut geschmeidig über die eherne Ebene der Stadt. Die Morgensonne rußig. Auf Dämmen donnern Züge. Durch Wolken pflügen goldne Engelpflüge. Starker Wind über der bleichen Stadt. Dampfer und Kräne erwachen am schmutzig fließenden Strom. Verdrossen klopfen die Glocken am verwitterten Dom. Viele Weiber siehst du und Mädchen zur Arbeit gehn. Im bleichen Licht. Wild von der Nacht. Ihre Röcke wehn. Glieder zur Liebe geschaffen. Hin zur Maschine und mürrischem Mühn. Sieh in das zärtliche Licht. In der Bäume zärtliches Grün. Horch! Die Spatzen schrein. Und draußen auf wilderen Feldern Singen Lerchen. Morgens, Jakob von Hoddis

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LITERARISCHE LEGENDENBILDUNG – ZUM HISTORISCHEN MEISTERGESANG Laura Sonnabend Kommt Richard Wagner zwar das Verdienst zu, mit seiner Oper die Erinnerung an die Meistersinger und ihre Tradition wach gehalten zu haben, so darf man jedoch nicht davon ausgehen, dass Wagners poetisches Bild der Stadt Nürnberg und ihrer Bewohner im 16. Jahrhundert der historischen Realität entspricht. Gleichwohl stützte er sich aber auf fundierte historische Beschreibungen – Namen, Regeln und Meistersinger-Bräuche entnahm er dem Buch Von der Meister-Singer holdseligen Kunst Johann Christoph Wagenseils (1633–1705). Als einer der einflussreichsten zeitgenössischen Berichte über die Kunst erschien diese Schrift als Anhang zu seiner Chronik der Stadt Nürnberg und war, so der Mediävist Reinhard Hahn, die „erste und im engeren Sinne historische und die für lange Zeit umfassendste und gründlichste Darstellung des Meistergesanges“. Meistersinger gab es hauptsächlich im 15. und 16. Jahrhundert, vereinzelt auch noch im 17. Jahrhundert und später. Sie schlossen sich, nach dem Vorbild der Zünfte, in Gesellschaften zusammen und waren zum Großteil hauptberuflich Handwerker (aus der Mittel- und gehobenen Unterschicht); seltener

gehörten Geistliche, Juristen und Lehrer dazu. Der Entstehungsort der ersten Gesellschaft ist nicht bekannt; die Meistersinger des 16. und 17. Jahrhunderts nahmen diesen jedoch in Mainz an, auch wenn dies heute nicht belegbar ist. Als direkte Vorbilder betrachteten sie die sogenannten Alten Meister: Lieddichter des 13. und 14. Jahrhunderts, zu denen große Namen wie Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Reinmar von Zweter, der Marner, Konrad von Würzburg und Heinrich von Mügeln zählen; des Weiteren führten sie Regenbogen und Heinrich Frauenlob an. Letzterer wurde, so Reinhard Hahn, als wandernder Sänger zu einem „Prototyp des gelehrten ,meisters‘“. Beigesetzt ist er im Kreuzgang des Mainzer Doms; an ihn erinnern heute noch das Frauenlob-Gymnasium, Frauenlobstraße und -platz. Waren die Meistersinger überzeugt vom Ursprung ihrer Tradition in Mainz, gibt es für die Gründung einer Mainzer Singschule im 14. Jh. unter Frauenlob jedoch keine urkundlichen Zeugnisse – erst für das Jahr 1562 wissen wir von einem Singschulbetrieb nach Nürnberger Vorbild. Sie alle, die als Berufsdichter vor adligem Publikum auftraten und nicht in Gesellschaften organisiert waren, werden heute als Sang­ spruchdichter bezeichnet, sind jedoch nur insofern Vorläufer der Meistersinger, als ihre Werke im 14. und 15. Jh. weiter überliefert und

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verwendet wurden. Die Rückführung auf die zwölf Alten Meister ist „mythische Überlieferung, ein Produkt literarischer Legendenbildung (der sogenannten Dichtersage)“ (Reinhard Hahn). Ein umfassendes Kompendium der Sangspruchdichtung ist die Kolmarer Liederhandschrift, die wahrscheinlich um 1470 in Mainz entstand und bei den Meistersingern des 16. Jahrhunderts als das „große Buch von Mainz“ berühmt war. In den süddeutschen Reichsstädten des 15. und 16. Jahrhunderts nun gründeten sich die eigentlichen Meistersingergesellschaften: Zu nennen sind vor allem Nürnberg, Mainz, Augsburg, Straßburg, Freiburg i.Br. und Donauwörth. Nürnberg war eine führende Handelsstadt und generell eine der größten Städte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – sie ist gleichzeitig das bestdokumentierte Beispiel der Meistersingertradition. Einen Höhepunkt bildet hier das Wirken des Schuhmachers Hans Sachs (1494-1576): Zu seinem extrem umfangreichen Œuvre zählen sage und schreibe 4.286 Meisterlieder, daneben etwa 1.900 Spruchgedichte, 85 Fastnachtsspiele und über 100 Tragödien und Komödien. Als große Autorität übte er eine bedeutende Wirkung aus und verhalf dem Meistergesang zu neuen Aufschwung. Einige der historischen frühen Meistersinger aus Nürnberg erscheinen in Wagners Oper als Sachs’ Zeitgenossen.

Die Meisterlieder des 15. und frühen 16. Jahrhunderts behandelten überwiegend religiöse Themen, beschäftigten sich zum Beispiel mit der Schöpfung, der Passion und Auferstehung oder der Trinität. Sachs bekannte sich 1523 mit seinem großen allegorischen Spruchgedicht Die Wittembergisch Nachtigall zur lutherischen Lehre und stellte den Meistergesang in den Dienst der Reformation – durch die Verwendung biblischer Texte im Wortlaut der Lutherübersetzung, Ausdeutungen und Bezugnahmen zur eigenen Gegenwart. Gleichzeitig nahm auch der Anteil weltlicher Themen in den Meisterliedern zu. Gedichtet wurde in deutscher Sprache auf ein festes Repertoire an „Tönen“, also bekannten Liedern früherer Autoren (wie zum Beispiel die Silberweise Hans Sachsens oder der Lange Ton Frauenlobs).

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Sie sind nach der sogenannten Kanzonen- oder Barform (AAB) gegliedert: Der „Aufgesang“ besteht aus zwei „Stollen“, die sich musikalisch entsprechen; diesem folgt der anders gestaltete „Abgesang“. Einem Text entsprach also nicht eine individuelle Melodie, vielmehr erhielten die meist vorhandenen Melodien immer wieder neue Texte. Heute sind uns circa 1.400 verschiedene Meistertöne überliefert, auf die insgesamt schätzungsweise etwa 16.000 Lieder gedichtet wurden. Man richtete sich hierbei nach festen Kunstregeln, die in den sogenannten „Tabulaturen“ mit detaillierter Fachterminologie festgehalten wurden und sich kaum veränderten – die Nürnberger Regeln galten als vorbildlich. Zum Meistergesang gehörte neben dem Dichten und Komponieren jedoch auch der Vortrag von Meisterliedern: So veranstaltete man meist einmal im Monat öffentliche Konzerte, genannt „Singschulen“, deren Abläufe uns aus zeitgenössischen Protokollen überliefert sind. Sie hatten den Charakter eines Wettbewerbs, bei dem Eintrittsgebühren erhoben und Siegespreise verliehen wurden, und fanden ­häufig in (nicht mehr genutzten) ­Kirchen statt – in Nürnberg bis 1620 meist in der Marthakirche, erst danach in der bei Wagner erscheinenden Katharinenkirche. Hierbei unterschied man zwischen dem eröffnenden Freisingen (über weltliche Themen), dem anschließenden

(ebenfalls öffentlichen) bewerteten Hauptsingen (über geistliche Themen) und dem ungezwungeneren Zechsingen (als geschlossene Veranstaltung im Wirtshaus). Die einstimmigen Melodien wurden zumeist solistisch und ohne Begleitung vorgetragen. Den Gesellschaften standen neben dem Kern der zwölf ältesten Singer drei gewählte ­„Merker“ vor: Diese überwachten und beurteilten als Kampfrichter die musikalischen Vorträge auf inhalt­ liche und formale Richtigkeit – denn auch die Vortragsweise war (in den sogenannten Schulordnungen) genau reglementiert. Trotz der generellen Existenz zahlreicher gedruckter Liederbücher der Zeit sind uns die Meisterlieder vor allem als Manuskripte (in rund 120 Handschriften) überliefert – aus dem einfachen Grund, dass Gedrucktes nicht bei den Singschulen vorgetragen werden durfte! Vor allem wurden die in der jahrelangen Lehre bei älteren Meistern erlernten Melodien jedoch mündlich weiter­ gegeben. Der Meistergesang eröffnete der größten Schicht der damaligen Stadtbevölkerung den Zugang „zu sinnvoller kultureller Betätigung und Bildung“ (Reinhard Hahn) und überführte als Kommunikationsmedium „die geistliche und weltliche Bildung der Zeit von dem nur wenigen zugänglichen Zustand der Lesbarkeit in den allen offenen Zustand der Hörbarkeit“ (Horst Brunner).

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VERKLEINERTE KLANGLICHKEIT Melanie Wald, Wolfgang Fuhrmann Die subtile Verweisstruktur von verkleinernden, ironisierenden Bezügen auf der textlichen Ebene kann auf der musikalischen so nicht hergestellt werden, obwohl die zahlreichen historisierenden Anspielungen im Stilistischen unüberhörbar sind. Nur selten verdichten sie sich aber zu konkreten Verweisen, wie etwa im Pseudo-Lutherchoral der Eröffnungsszene. Die Meistersinger stellen kein Stilimitat dar, sondern arbeiten mit kompositionstechnischen Versatzstücken (Choral, Tanzlied, Fuge und anderen Formen von Polyphonie), die alt klingen, aber in neuen Kontexten und zu neuen dramatischen Wirkungen verarbeitet werden. Die Musik kann dafür etwas anderes, das dem Text nicht und dem gesprochenen Wort nur bedingt möglich ist: Wagner transponiert das Verfahren der ironischen Diminution in das klangliche Medium. Das wird in der ersten Szene des ersten Aktes deutlich, in der die klanglich leichtgewichtigere, fast scherzandohafte Variante der Meistersinger-Motivik den Auftritt Davids beherrscht. So, wie David nur ein übereifriger Lehrbube ist, der in seinem feierlichen Bemühen um Gravität („Behüt es, Possen? Gar ernste Ding‘!“) unfreiwillig die Meister karikiert, so nimmt auch

die Musik die Meistermotivik auf die Schippe. Sie tut dies in der Klangfarbe, vor allem aber auch auf der rhythmischen Ebene, indem die Motive beweglicher dahineilen, ja vorbeihuschen. Der Effekt ist eine „gestische“ Komik. Zwar gibt es rhythmische Verkürzungen immer wieder bei Wagner – selten aber ist ihr Gestus parodistisch. In den Meistersingern wird der komische Effekt durch den Instrumentalklang, das Piano, das Staccato unterstrichen, die die ursprüngliche Motivik ihrer gravitätischen Aura entkleiden. Wagner selbst hat in Eine Mittheilung an meine Freunde darauf hingewiesen, dass der Entwurf der Meistersinger-Dichtung sich gegen das „naturwidrige unserer öffentlichen Zustände“ auf das Mittel der Ironie verlegte. Gilt das auch für die Musik? Sollen wir den Beginn des Vorspiels mit seinen Meister­ singerthemen als feierlich oder ­ironisch empfinden? Auch dieser ­Beginn enthält ja jene Form von Sequenzen, die oben als „ein wenig hölzern-mechanisch wirkend wie uninspirierte Orgelfigurationen“ bezeichnet wurden. Derartig mechanisch abgespulte melodische Schwänzchen gibt es immer wieder, wenn von den Meistersingern und ihrem Regelwerk die Rede ist – so gliedern sie, um nur ein Beispiel zu nennen, vokal (mit einem orchestralen Echo) Kothners Verlesung der „Leges tabulaturae“. Solche Melis-

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men fallen wohl unter das, was Beckmesser an Stolzings Probegesang vermisst: die Koloratur (Sachsens sehr ähnlicher Taufspruch setzt an die Stelle der Koloratur den diminuierten Gemeindechoral, erfüllt die Leerstelle mit beziehungsreicher Bedeutsamkeit). Die Idee, dass in diesen Sequenzen sich ein unglückliches Bündnis zwischen Kunst und Zunft, zwischen Inspiration und Pedanterie niedergeschlagen habe, eben Bergsons „mécanisation de la vie“, liegt nahe. Die zu Beginn der Meistersinger sich aussprechende Ironie wird freilich nur deutlich für Hörer, die mit der Handlung des Werks und sogar mit Wagners Œuvre vertraut sind. Werkchronologisch folgt der etwas dumpf und schwerfällig in mittlerer und tiefer Bläser-Lage, jedenfalls nicht sonderlich brillant klingende C-Dur-Akkord, der das Meistersinger-Vorspiel eröffnet, auf den Schluss des Tristan mit dem „schönst instrumentierten -Dur-­ Akkord der Musikgeschichte“ ­(Hermann Levi). Ob man nun die Meistersinger-­ Motive zu Beginn des Vorspiels als ironisch ansehen mag oder nicht, im weiteren Verlauf dieses Stücks zeigt sich erstmals das Verfahren der ironischen Diminution. Ein lyrischer Abschnitt in E-Dur, der auf der Liebes- und Leidenschafts-­ Motivik basiert, wird durch einen abrupten klanglichen Schnitt durchbrochen: Auf das Andante folgt das

Scherzo. Dieses greift das Eröffnungsthema der Meistersinger auf, jedoch „im mäßigen Hauptzeitmaß“ in einem etwas meckernden Bläser-­ Sextett in Es-Dur von Oboen, Klarinetten und Fagotten (später um Flöten und Hörner erweitert), in kürzeren Notenwerten, im Staccato und mit einer charakteristischen Variante: Nicht dreimal, sondern fünfmal wird der zweite Ton wiederholt. Das feierlich-marschhafte Thema hat sich in ein bizarres, eben scherzohaftes Motiv verwandelt, das sich vom Mendelssohnschen Elfenspuk durch die betuliche Kontrapunktik (und die wenig ätherische Klangfarbe) unterscheidet, und das im Folgenden im Wechsel mit der Leidenschafts-Motivik in den Streichern konfrontiert wird, eine Durchführung, die auch die grundlegende Spannung des Dramas im programmatischem Bezug andeutet. In diesem Abschnitt hat Wagner prophetisch – das Vorspiel entstand zu Beginn der Komposition – die klangliche Phänomenalität ironischer Diminution angestimmt, wie sie auch die Motivik von Davids Auftrittsszene bestimmen wird, eine Sphäre, die mit den Lehrbuben insgesamt assoziiert wird: „Eifrige Lehrbuben der Meister fahren mit kindischer Gelehrtthuerei dazwischen und stören die Herzensergießung“ heißt es in einer programmatischen Erläuterung Wagners von 1863. Und der ganze Abschnitt – bereinigt um die Streicher-Einwürfe und in den 2/4-Takt versetzt – wird

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fast Note für Note zitiert, wenn die Lehrbuben im dritten Akt den maroden Beckmesser zum Rasenhügel auf der Festwiese führen. Die Motivik der Lehrbuben als „kindische Gelehrtthuerei“, als Parodie der Meister anzusehen, wirkt aber auf diese entlarvend zurück. Was bei Wagner parodiefähig ist, erscheint schon in seiner Originalgestalt als nicht ganz ernst zu nehmen. Die dann auch tatsächlich einsetzende Ordnung – die eigentliche Reprise – stellt sich bekanntlich als die Kombination dreier Themen dar, die die Versöhnung der Sphären am Ende des Werks vorwegnimmt: eben das im Bass erklingende Hauptmotiv, der Abgesang von Walthers Preislied und das König-David-Motiv. Letzteres aber erklingt, verglichen mit seinem pompösen ersten Auftritt, wiederum diminuiert und im Staccato eines vor allem auf Holzbläsern basierten Klangs. Am Ende des Vorspiels hat Wagner bereits an allen Themen, die der Meistersinger-Sphäre entstammen, vorgeführt, dass es vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist. Aber dieser Schritt, und auch darauf kommt es an, lässt sich auch wieder in die Gegenrichtung tun. Die Meistersinger enden nicht damit, ihre Titelhelden der Lächerlichkeit preiszugeben, und sie tragen mit gutem Grund als einziges von Wagners Musikdramen den Namen eines Kollektivs. Meistersinger- und König-­ David-Motiv treten am Ende des Vorspiels in ihrem vollen Glanze

wieder auf, und dieses Ende wird zugleich als Ende der Oper übernommen. Die dort vorgetragene Versöhnung von Meistern, Volk und Ritter, von Bürgertum, Künstlertum und Aristokratie, Wahn, Resignation und Ordnung, Inspiration und Regel ist durchaus ernst gemeint, auch wenn Wagner ihr Charakter als rückprojizierte Utopie bewusst war. Die Grundhaltung des Werkes mag wie die aller anderen Werke des reifen Wagner von schopenhauerischem Pessimismus geprägt sein, der durch den Glanz der Festwiese nur oberflächlich überstrahlt wird; nichtsdestoweniger zeigt dieses Komödienende, wie sich angesichts einer als überwältigend sinnlos empfundenen Welt dennoch die – stets gefährdete – Form eines erträglichen Zusammenlebens gestalten ließe: der Staat als „Nothwendigkeit des Übereinkommens des in unzählige, blind begehrende Individuum getheilten, menschlichen Willens zu erträglichem Auskommen mit sich selber“, wie es Wagner während der Komposition der Meistersinger in Über Staat und Religion formulierte. Schon deswegen sind die Meistersinger, gerade infolge ihres misanthropischen Grundverdachts gegenüber Individuum und Kollektiv, Richard Wagners humanstes Werk.

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MECHANISCHES ALS ÜBERZUG Henri Bergson Greifen wir ein letztes Mal auf unser zentrales Bild zurück: Mechanisches als Überzug, als Kruste über Lebendigem. Das Lebendige, um das es sich hier hauptsächlich handelte, war ein menschliches Wesen, eine Person. Der Mechanismus dagegen ist eine Sache. Was das Lachen hervorrief, war also die momentane Verwandlung einer Person in eine Sache, wenn man das Bild einmal von dieser Seite sehen will. Gehen wir also von der deutlicheren Vorstellung eines Mechanismus zu der unbestimmteren einer Sache überhaupt über. Dann stellt sich eine neue Reihe lächerlicher Bilder ein, die sich sozusagen durch Verwischen der Umrisse der früheren ergeben und die uns zu dem neuen Gesetz führen: Wir lachen jedesmal, wenn eine Person uns wie eine Sache erscheint. Es ist mir nur zweimal gelungen, diese Art Komik in ganzer Reinheit zu sehen, und in beiden Fällen hatte ich den gleichen Eindruck. Das erstemal kamen und gingen die Clowns, stießen sich, fielen, sprangen wieder auf, nach einem gleichmäßig beschleunigten Rhythmus, in der deutlichen Absicht, ein Crescendo herauszubringen. Und mehr und mehr richtete sich die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Wiederaufspringen. Allmählich vergaß man, dass man es mit Menschen von Fleisch und Bein zu tun

hatte. Man dachte an irgendwelche Massen, die sich fallen ließen und aneinanderstießen. Dann wurde das Bild bestimmter. Die Formen schienen sich zu runden, die Körper zu Kugeln zusammenzurollen. Endlich erschien das Bild, auf das der ganze Auftritt – zweifellos unbewusst – sich hinentwickelte: die Vorstellung von Gummibällen, die in allen Richtungen durcheinanderfliegen. – Der zweite, noch derbere Auftritt war nicht weniger lehrreich. Es traten zwei Leute auf mit ungeheuren Köpfen und ganz nackten Schädeln. Sie waren mit schweren Stöcken bewaffnet. Und abwechselnd ließ jeder seinen Stock auf den Kopf des andern niedersausen. Auch hier war eine Steigerung bemerkbar. Nach jedem Schlage schienen die Körper schwerer zu werden, zu gerinnen, wie von einer wachsenden Starre ergriffen. Der Gegenschlag kam immer langsamer, aber immer schwerer und krachender. Die Schädel hallten fürchterlich in dem schweigenden Raume. Schließlich neigten sich die beiden Körper ganz langsam, steif und gerade wie ein Paar Pfähle gegeneinander, die Stöcke schlugen ein letztes Mal mit furchtbarem Krachen auf die Schädel, das Ganze sank um und lag da. In diesem Augenblicke erschien in aller Schärfe die Vorstellung, welche die beiden Artisten der Phantasie der Zuschauer immer deutlicher suggeriert hatten: Menschen, die zu Holzpuppen werden.

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Abb. 5

Abb. 6

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Bei einem schönen Sonnen­untergange, welcher mich von dem Balkon meiner Wohnung aus den prachtvollen Anblick des ‚goldenen‘ Mainz mit dem vor ihm dahinströmenden majestätischen Rhein in verklärender Beleuchtung betrachten ließ, trat auch plötzlich das ­Vorspiel zu meinen Meistersingern, wie ich es einst aus ferner trüber Stimmung als fernes Luftbild vor mir gesehen hatte, nahe und deutlich wieder vor die Seele. Ich ging daran, das Vorspiel aufzuzeichnen, und zwar ganz so, wie es heute in der Partitur steht, demnach die Hauptmotive des ganzen Dramas mit größter Bestimmtheit in sich fassend. Von hieraus ging ich sogleich weiter im Texte vorwärts,um ganz der Reihe nach die weiteren Szenen folgen zu lassen. Richard Wagner in Mein Leben

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Hans Sachs’ Schlussansprache Reinschrift der Dichtung (Januar 1862) Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mit ihre Kunst! … Verliebt und sangesvoll, wie ihr, kommen nicht oft uns Junker hier von ihren Burgen und Staufen nach Nürnberg gelaufen: vor ihrer Lieb’ und Fang-Begier das Volk oft mussten scharen wir; und findet sich das in Haufen, gewöhnt sich’s leicht ans Raufen: Gewerke, Gilden und Zünfte hatten üble Zusammenkünfte (wie sich’s auf gewissen Gassen noch neulich hat merken lassen!) In der Meister-Singer trauten Zunft kamen die Zünft’ immer wieder zur Vernunft. Dicht und fest, an ihr so leicht sich nicht rütteln lässt; aufgespart ist euren Enkeln, was sie bewahrt. Welkt manche Sitt’ und mancher Brauch, zerfällt in Schutt, vergeht in Rauch,­ – Lasst ab vom Kampf! nicht Donnerbüchs’ noch Pulverdampf macht wieder dicht, was nur noch Hauch! Ehrt eure deutschen Meister: dann bannt ihr gute Geister! Und gebt ihr ihrem Wirken Gunst, zerging’ in Dunst das heil’ge röm’sche Reich, uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst!

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Partitur (Januar 1867) Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst! … Habt acht! Uns dräuen üble Streich’: – zerfällt erst deutsches Volk und Reich, in falscher welscher Majestät kein Fürst bald mehr sein Volk versteht, und welschen Dunst mit welschem Tand sie pflanzen uns in deutsches Land; was deutsch und echt wüsst’ keiner mehr, lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr’. Drum sag’ ich euch: Ehrt eure deutschen Meister! Dann bannt ihr gute Geister; Und gebt ihr ihrem Wirken Gunst, zerging’ in Dunst das heil’ge röm’sche Reich uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst!

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FOTOS S. 4 D. Ballard, H. Kilpeläinen; S. 7 A. Spemann, M. Pegher; S. 12/13 Ensemble; S. 15 H. Kilpeläinen; S. 18 Abb. 1 D. Ballard, M. Kia, K. Münster, V. Mikneviciute, J. Held, M. Schäffer; Abb. 2 S. Ingham, S. Bootz, C. Kaplan, G. Lickleder, P.-F. Bauer, H. Kilpeläinen; S. 22 Abb. 3 Ensemble; Abb. 4 A. Spemann, Lehrbuben, V. Mikneviciute, L. Sommerhage; S. 25 Abb. 5 D. Ballard, V. Mikneviciute; Abb. 6 Lehrbuben, M. Pegher, H. Kilepläinen, Chor; S. 27 Ks. H.-O. Weiß, V. Mikneviciute; S. 31 D. Ballard, V. Mikneviciute

NACHWEISE Die Handlung sowie den Text Räderwerk und Kunsthandwerk verfasste Lars Gebhardt. Der Ausschnitt aus Eine Mittheilung an meine Freunde sowie das Zitat aus Mein Leben wurden zitiert nach: Richard Wagner „Dichtungen und Schriften“, Frankfurt 1983. Wagners Briefverkehr mit Franz Schott ist zitiert nach: Ludwig Strecker „Richard Wagner als Verlags­gefährte“, Mainz 1951. Den Text Literarische Legendenbildung verfasste Laura Sonnabend für dieses Programmheft. Der Text Verkleinerte Klanglichkeit von Melanie Wald und Wolfgang Fuhrmann entstammt deren Buch „Ahnung und Erinnerung: Die Dramaturgie der Leitmotive bei Richard Wagner“, Kassel 2013. Der Text Mechanisches als Überzug entstammt Henri Bergsons Aufsatzsammlung „Das Lachen“, Jena 1914. Das Gedicht Morgens ist der Antologie „Lyrik des Expressionismus“, Stuttgart 2003 entnommen. Die Zitierung der Schlussansprache folgt dem Faksimiledruck des Verslibrettos, Mainz 1983.

IMPRESSUM Spielzeit 2014 / 15 Herausgeber Staatstheater Mainz www.staatstheater-mainz.de Intendant Markus Müller Kaufmännischer ­G eschäftsführer Volker Bierwirth Redaktion Lars Gebhardt Mitarbeit Laura Sonnabend Druck Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt/Main Visuelle Konzeption Neue Gestaltung, Berlin

Alle Bilder sind Probenfotos © Martina Pipprich

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