Staatstheater Mainz
PerelĂ Uomo di fumo Pascal Dusapin
Der königliche Palast ist umgeben von Menschen, jeder möchte Perelà kennen, sehen, treffen. „Ihr Name ist überall bekannt!“ „Manche behaupten, ihn gesehen zu haben als er die Straße entlangging, und sie wollen mit ihm sprechen, komme was wolle.“ „Die Menschen drängen sich an den Toren!“ „Eine große Menge!“ „Und die Wachen können sie nur mit Mühe zurückhalten!“ „Die Damen der hohen Gesellschaft rufen von überall her an, um Informationen zu bekommen.“ „Der König hat befohlen, dass Perelà Gastfreundschaft gewährt wird und alle Ehren zuteil werden, gemäß einem königlichen Prinz.“ „Die Königin hat verkündet, dass sie ihm eine private Audienz gewähren wird. Der Zeremonienmeister am Hof bereitet gerade das Programm des Tages vor.“ 2 — 3
„Eine Reihe wichtiger Bürger bitten Zutritt zu Ihnen. Dürfen Sie herein geführt werden?“ „Herr Perelà, Ihr Name ist in aller Munde, sie sprechen von nichts anderem als von Ihnen, dem Mann aus Rauch, Ihrer Villa, Ihren Müttern, von Ihren Stiefeln … Perelà! Perelà! Perelà hier, Perelà dort … Man bräuchte fünfzig Männer aus Rauch, um so viele Menschen zu befriedigen.“ Aldo Palazzeschi: Il Codice di Perelà Kapitel 1, Der Schwarze Uterus
Perelà
PERELÀ UOMO DI FUMO (2003) Pascal Dusapin Oper in zehn Kapiteln Text von Pascal Dusapin nach dem Roman Il Codice di Perelà (1911) von Aldo Palazzeschi (1885–1974) Deutsche Erstaufführung In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln Musikalische Leitung … Hermann Bäumer Inszenierung … Lydia Steier Bühne … Flurin Borg Madsen Kostüm … Gianluca Falaschi Licht … Alexander Dölling Dramaturgie … Ina Karr Chor … Sebastian Hernandez-Laverny Perelà … Peter Tantsits Eine arme Alte … Katja Ladentin Zeremonienmeister … Peter Felix Bauer Diener … Ks. Hans-Otto Weiß Bankier Rodella … Heikki Kilpeläinen Philosoph Pilone … Georg Lickleder Erzbischof … Alin-Ionut Deleanu* Alloro … Brett Carter Marquise Oliva di Bellonda … Geneviève King Königin … Marie Christine Haase Papagei … Ks. Jürgen Rust Minister … Peter Felix Bauer Alloros Tochter … Marie Christine Haase Mann aus dem Volk … Hans-Helge Gerlik Gerichtspräsident … Stephan Bootz Kinder … Lea Lupescu / Lotta Yilmaz, Samuel Kohl / Robin Yilmaz *Junges Ensemble
Chor des Staatstheater Mainz Statisterie des Staatstheater Mainz Philharmonisches Staatsorchester Mainz Aufführungsdauer ca. 2 Stunden 30 Minuten – Pause nach Kapitel V Premiere am 16. Januar 2015, Großes Haus
Regieassistenz und Abendspielleitung … Rebecca Bienek Studienleitung … Michael Millard Musikalische Assistenz … Giedrė Šlekytė**, Samuel Hogarth, Christian Maggio Bühnenbildassistenz … Natalie Krautkrämer Kostümassistenz … Lucia Vonrhein Kostümhospitanz … Katharina Hostert Dramaturgiehospitanz … Anna Preißing Inspizienz … Eckhard Wagner Soufflage … Franz Pohl Leitung Statisterie … Dieter Rößler Einrichtung der Übertitel und Übertitelungsinspizienz … Anna Preißing **Gefördert vom Deutschen Musikrat im Rahmen des Dirigentenforums
Technischer Direktor … Christoph Hill Produktionsleiter … Olaf Lintelmann Werkstättenleiter … Jürgen Zott Assistent der technischen Direktion … David Amend Bühneneinrichtung … Moritz Brünig Leiter der Beleuchtung … Stefan Bauer Video … Christoph Schödel Leiter der Dekorationswerkstatt … Horst Trauth Leiter der Schreinerei … Markus Pluntke Leiter der Schlosserei … Erich Bohr Vorstand des Malersaals … Andreas Beuter Leiter der Tontechnik … Andreas Stiller Tontechnik … Peter Münch, Enis Potoku Kostümdirektorin … Ute Noack Assistentin der Kostümdirektorin … Ingrid Lupescu Gewandmeisterinnen … Britta Hachenberger, Mareike Nothdurft Gewandmeister … Thomas Kremer, Falk Neubert Modistin … Petra Kohl Chefmaskenbildner … Guido Paefgen Maskenbildnerin … Marieke Berries, Anette Dold, Sabine Feldhofer, Yvonne Hoffmann, Lisa Kanniga, Vanessa Kleine, Elke Patzalt, Johanna Prange, Nadine Rodekurth, Tanja Sussman, Stefanie Spang, Jasmin Unckrich Leitung der Requisite … Dagmar Webler Requisite … Fred Haderk, Solveig Jünger, Stefanie Kaiser Aufführungsrechte Verlag G. Ricordi & Co. Bühnen – und Musikverlag GmbH
KAPITEL III Dio – Gott
Inhalt KAPITEL I Utero nero – Der schwarze Uterus Ein Mensch wird aus Rauch „geboren“. Dieser begegnet einer armen alten Frau und fragt sie nach dem Weg zur Stadt. Anschließend trifft er auf die Diener von König Torlindao. Er beschreibt ihnen seine „Herkunft“. Nach 33 Jahren kam er „di lassù“ („von oben“), als er die Stimmen seiner drei „Mütter“ Pena, Rete und Lama nicht mehr hören konnte. Die Hofgesellschaft nennt ihn daher nach den Namen der drei Frauen: Pe-Re-La. Die Diener benachrichtigen den König. Fotografen bedrängen Perelà. Der Bankier Rodella, der Philosoph Pilone und der Erzbischof stellen sich ihm vor. Ein von Perelà faszinierter Diener – Alloro – macht sich ihm ebenfalls bekannt.
KAPITEL II Il Thè – Der Tee Die Hofdamen laden Perelà zu ihrer Teegesellschaft ein. Die Marquise Oliva di Bellonda erzählt ihm, dass es ihr unmöglich sei zu lieben, weil sie bisher nie den Menschen gefunden habe, der für sie bestimmt sei. Die Damengesellschaft verspottet sie.
Die Königin empfängt Perelà und versucht eine Unterhaltung über seine Herkunft zu führen. Sie wird gestört von einem Papagei, der unentwegt „Gott“ in seinem Käfig krächzt. Die Königin meint, dass ein Tier nicht wissen könne, wer Gott ist. Nur der Mensch wisse das.
KAPITEL IV Il Ballo – Der Ball Perelà wird von der Hofgesellschaft bejubelt. Bankier Rodella will ihn in seine Geschäfte einbinden und der Erzbischof wiederholt seine Ausführungen über die Leichtigkeit der Seele, während die Fotografen Perelà erneut belagern. Der Minister hält eine Rede auf Perelà und vertraut ihm die Ausarbeitung des Gesetzbuches an. Königin und König erscheinen. Alloro, der – Perelà beobachtend – der Szene beigewohnt hat, ist zunehmend fasziniert und fragt sich, wie sich Perelà aus Rauch zu einem Menschen machen konnte.
KAPITEL V Bellonda & Perelà Die Marquise di Bellonda gesteht Perelà ihre Liebe. Sie glaubt, für ihn bestimmt zu sein. Das Wort „Liebe“ erinnert Perelà an seine drei „Mütter“.
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KAPITEL VI La Fine d’Alloro – Alloros Ende Alloros Tochter stürzt herein. Ihr Vater wollte wie Perelà zu Rauch werden, hat sich deshalb angezündet und dadurch selbst verbrannt. Sie macht Perelà für dessen Tod verantwortlich. Der Erzbischof bekräftigt, dass Gott Perelà dafür verurteilen wird, die Menge verlangt einen Prozess und fordert seinen Tod.
KAPITEL VII Perché? – Warum? Perelà ist verzweifelt. Bellonda erscheint, um ihn erneut ihrer Liebe zu versichern. Dafür würde sie auch mit ihm in den Tod gehen. Perelà versteht nicht, wieso Alloro und Bellonda sterben wollen.
der Erzbischof. Perelàs einzige Verteidigung: „Io sono leggero“ – „Ich bin leicht“. Auch Bellondas Verteidigung hilft ihm nicht. Perelà wird zu lebenslanger Haft verurteilt.
KAPITEL IX Il Codice di Perelà – Der Gesetzeskodex von Perelà Nach dem Prozess denkt Perelà über seine Situation nach, über seine Erlebnisse als Rauchmensch in dieser Gesellschaft. Darüber, dass er das Gesetzbuch ausarbeiten sollte. Das einzige Gesetz, das er einbringen könnte, ist die Leichtigkeit.
KAPITEL X La sua leggerezza Perelà – Seine Leichtigkeit Perelà Perelà entschwindet, wie er gekommen ist ... Perelà?!
KAPITEL VIII Il Processo di Perelà – Perelàs Prozess Im Gerichtssaal will die Marquise di Bellonda die Verteidigung Perelàs übernehmen und wird dafür von der Hofgesellschaft verspottet. Der Gerichtspräsident verliest die Anklage: Perelà habe mit Hilfe schwarzer Künste den König, die Minister und das Volk getäuscht und einen Menschen in den Selbstmord getrieben. Zeugen der Anklage sind der Bankier, der Philosoph und
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also im Kopf herum, bis ich ihn zu einer Oper formte.
SCHAFFEN HEISST, NEUE GEFÜHLE ERFINDEN Pascal Dusapin im Gespräch während der Proben zu Perelà, Uomo di fumo Dein Musiktheater basiert auf dem Roman Il Codice di Perelà des in Italien bekannten Schriftstellers Aldo Palazzeschi. In Deutschland kennt man ihn weniger: Sein Roman ist bisher noch nicht ins Deutsche über setzt worden. Ich entdeckte das Buch Anfang der 90er in einem Antiquariat in Mailand. Ich sammle alte Bücher und sah den Umschlag und den Titel, den ich nicht kannte, der mich aber sofort interessierte. Beim Lesen des Buches faszinierte mich diese starke Geschichte: eine Parabel, die alles in sich trägt. Außerdem ist der Text zeitlos, gerade das interessiert mich daran – wie bei allen Texten, die ich für meine Opern verwendet habe. Erst ein oder zwei Jahre später (während der Arbeit an meinem dritten Musiktheater To Be Sung), erschien das Buch auf Französisch. Bis es dann zur Komposition kam, dauerte es wieder einige Jahre. Ich trage meine Opern immer sehr lange mit mir herum. Bei Penthe silea nach dem Drama von Heinrich von Kleist, das im März dieses Jahr in Brüssel uraufgeführt werden wird, war es dasselbe. Meine erste Bemerkung dazu machte ich 1979, als ich gerade 24 Jahre alt war (das steht sogar in einem Musiklexikon). 30 Jahre lang ging mir der Text
Das bedeutet, dass du über lange Phasen gleichzeitig an verschiede nen, auch sehr großen Werken arbeitest oder zumindest gedanklich immer wieder damit beschäftigt bist. Ich brauche sehr lange für meine Opern und warte, bis der richtige Moment kommt. Ich habe häufig das Gefühl, an einem Mischpult zu stehen, dessen Regler meine A rbeiten sind, die ihre Positionen ständig verändern. Mal ist das eine Werk weiter oben, mal das andere. Wenn ich gefragt werde, an w elchem Punkt ich ein Stück beginne oder beende, gebe ich jedes Mal dieselbe Antwort: Ich beginne niemals mit einem Stück und ich beende niemals ein Stück. Es gibt zwar einen fak tischen Beginn des Notenschreibens und das Beenden der Partitur, wenn ich sie an einen Verlag gebe. Aber in mir gibt es eine Kontinuität. Im Zentrum der Parabel steht die Figur des „Uomo di fumo“ – des „Rauchmenschen“ Perelà. Dieser Mann aus Rauch ist eine wirklich schillernde Gestalt. Aldo Palazzeschi hat einen Charakter geschaffen, der keinen Platz in irgendeiner Realität findet, aber dessen poetische Suggestionskraft grenzenlos ist. Perelà ist ein freier Mensch. Er wird von nichts belastet. Sein Körper ist aus Rauch. Warum hat sich Palazzeschi diesen Mann mit einem Körper aus Rauch vor
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gestellt? Ich verstehe Perelà als ein Zeichen, das der Welt erscheint. Er kommt auf die Erde und seine Erscheinung ist so außergewöhnlich, dass das Volk ihn verehrt und dazu auffordert, das Gesetzbuch für sie zu schreiben. Er hat alles, aber er fordert nichts. Er erwidert Fragen stets mit „Ich bin leicht“. In den Augen der Menschen, denen er begegnet, scheint er von magischen Mächten geleitet. Auf diese Weise wird seine Existenz miss verständlich, denn er ist nicht dafür geeignet, dem Verlangen dieser Menschen zu entsprechen. Ich bezeichne Perelà gerne als eine moderne Figur, weil er die Symbole beherrscht, was in meinem Verständnis wahre Erkenntnis bedeutet. Bei Pythagoras ist ein Symbol eine geheime Botschaft, in der Rätsel und tiefer Sinn auf harmo nische Weise zusammenwirken. Aber im Gegensatz zu allen, die glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein, wünscht Perelà keine Macht und am wenigsten Macht über Menschen. Nach Perelà habe ich für die Staatsoper Berlin Faustus, The Last Night geschrieben, was in gewisser Weise das Negativ oder Antonym zu meinem Mann aus Rauch ist, denn dieser Faust hat nichts, aber will alles. Man könnte also sagen, dass ein Mensch wie Perelà genau das ist, was uns heute fehlt …
Das Bedauerliche ist, dass ich nicht das ganze Buch abbilden konnte. Ich musste also vieles kürzen und straffen. Neun der 18 Kapitel habe ich übernommen und anschließend ein zehntes hinzugefügt. Dabei war es mir wichtig, die Sprache Palazzeschis beizubehalten und keinen einzigen Satz zu verändern, sondern lediglich den Text für meine Oper zu straffen, ein Destillat herzustellen. Daher war für mich von Beginn an klar, den italienischen Originaltext als Grundlage zu nehmen und nicht die französische Übersetzung, die ich nur als Verständigungshilfe verwandte. Auf der anderen Seite wollte ich diesem Mann aus Rauch, der im Roman wenig spricht, eine gewisse Dichte geben. Seine Rolle habe ich daher aus verschiedenen Passagen von Perelà zusammengefügt – aber immer mit den Worten Palazzeschis! Die Absurdität und Ironie der
Wie bist du bei der Arbeit an Palazzeschis Text vorgegangen?
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Vorlage musste ich dabei leider an vielen Stellen kürzen. Ich übertrug der Musik dies darzustellen. Während du in Romeo & Juliette mit einem Librettisten gearbeitet hattest, wolltest du bei Perelà selbst den Text schreiben? Ich hatte schon immer eine Leidenschaft für Literatur. Trotzdem habe ich mit einem Librettisten gearbeitet. Im Fall von Perelà war es aber „mein Buch“, das ich selbst bearbeiten wollte. Ich hatte den Eindruck, selbst am besten zu wissen, was ich von jeder Szene wollte. Zudem habe ich bei dieser Arbeit gemerkt, dass ich sehr nahe dran sein möchte an einem Text. Wenn man ein Musiktheater schreiben will, muss man tief in einen Text eintauchen und die Intention des Textes durchdringen. Die Frage nach dem Verhältnis von Text und Musik im Musiktheater beschäftigt uns seit Jahrhunderten. Für dich ist der Text so wichtig, dass er stets den Ausgangspunkt für deine Musiktheaterwerke bildet? Jeder Komponist hat seine eigenen Erfahrungen damit … Ich habe bei jeder Oper eine andere Herangehensweise. Bei Faustus, The Last Night etwa, 2006 uraufgeführt, entwickelte ich die Textebene zeitgleich mit der Musik. Allgemein gesprochen ist die Beschäftigung mit Texten für mich das einzige Mittel, die Musik mit der Realität zu verbinden. Denn Musik kann eine abstrakte Kunst sein, über der man alles vergessen
kann. Das finde ich gefährlich. Ich verwende auch manchmal in meiner Kammermusik Texte. Es bedeutet für mich, aus der Musik heraus zu gehen, aber mit der Musik – um eine Verbindung zur Welt herzustellen. Das Musiktheater ist die beste Möglichkeit, das zu erreichen. Du hast mit einem Augenzwinkern behauptet, dass Perelà nur aus fünf Tönen bestünde. Ich bin mir der Ironie der Behauptung angesichts des manchmal geradezu monumentalen Charakters der Partitur bewusst. Aber die ganze harmonische Struktur von Perelà ist tatsächlich aus einer einfachen Tonfolge von fünf Noten heraus entwickelt. Doch das System (ich hasse dieses Wort …), das ich verwende, erlaubt harmonische Verästelungen, die sich dauernd erneuern und verändern, sich rhythmisch beleben und sogar instabil sind. Die Oper beginnt mit einem Sekundintervall, denn ich spiele mit der Erinnerung an Gregorianischen Gesang. Perelà ist eine Oper, die sich auf sehr ironische Weise mit spirituellen und metaphysischen Fragen auseinandersetzt. Es war also nötig, diese Thematik auf einfache Weise hörbar zu machen. In welchem Verhältnis stehen die Kapitel musikalisch zueinander? Ich habe die Kapitel musikalisch der jeweiligen Situation der Szene angepasst. So verwende ich beispielsweise in der Teeszene ein
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anderes Instrumentarium, bestehend aus Marimba, Xylophon oder Kornett. Das dritte Kapitel (Dio), die Begegnung von Perelà mit der Königin, verwendet einen Teil des Orchesters überhaupt nicht und schafft Klangbilder, die leicht auf die Personen dieses Kapitels schließen lassen. Die Königin zum Beispiel evoziert mit ihrer Musik aus Streichern und Cembalo Klangassoziationen zur Musik des 17. Jahrhunderts. Später, im vierten Kapitel (Il ballo), wird die offizielle Vorstellung von Perelà in der Gesellschaft durch eine Fanfare auf der Bühne charakterisiert, die asynchron zum Orchester geschrieben ist. Denn das Orchester verrät hier den dramatischen Verlauf, indem es das präsentiert, was später passiert. Es gibt also zwei musikalische, kontrastierende Ebenen mit jeweils eigenen Funktionen. Perelà befindet sich genau in dem Raum zwischen diesen beiden Ebenen. Begriffe wie „Sentiment“ – „Gefühl“ und damit verbunden auch „Affekte“ sind wichtige Parameter in deiner Arbeit. Für „Affekt“ gibt es unterschiedliche Definitionen. Die bekanntesten gehen zurück auf die platonische Philosophie. Aber ich beziehe mich lieber auf „affectus“, das lateinische Wort, das das Gefühl oder die Gemütsverfassung bezeichnet. Spinoza sagte, dass es sich dabei um eine Modifikation äußerer Einflüsse handele, durch die die Macht zu
Handeln verstärkt oder vermindert werde. Monteverdi hat in seiner Musik beide Seiten des Affektausdrucks und auch die L eidenschaften, wie das Entzücken, die Furcht, die Angst, die Freude, die Gnade, die Liebe, den Hass usw. sehr gut beherrscht. Descartes, der eine Abhandlung über die Leidenschaften geschrieben hat, definiert diese Zustände als passiv, das heißt, sie geschehen ohne den Einfluss des Willens, und der Körper wird von diesen Antrieben belebt. Heute lehrt uns der Kognitivismus, dass die Affekte (genauso wie die Gefühle) Einfluss auf das Verhalten des Intellekts und des Denkens nehmen, das heißt, kurz gesagt, dass sie nicht nur irrational sind, wie wir allzu oft glauben. Du hast gesagt, dass Perelà in sich die Summe aller Ausdrucksmög lichkeiten vereinigt, die dir zum Zeitpunkt der Komposition zur Ver fügung standen. Ich erinnere mich daran, dass zu Beginn meiner Kompositionstätigkeit meine Musik als zu expressiv empfunden wurde. Doch das hat mich eigentlich verstärkt dazu gebracht, in diesem Sinne fortzufahren, denn ich hatte verstanden, dass ich vor einem „zeitgenössischen“ Tabu stand, dessen Probleme mich nicht betrafen. Und außerdem hatte ich keine anderen Lösungen … In Bezug auf Perelà hat mich die Wahl der Fabel dazu gebracht, musikalisch eine Vielzahl von Emotionen
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zu beschreiben. Der Text oszilliert zwischen komisch und tragisch und das ist sehr reizvoll für die Bühne. Diese Oper ist ein K aleidoskop aus manchmal widersprüchlichen Emotionen. Jeder Charakter besitzt eine melodische Tonfolge, die ihm eigen ist. Das Wichtigste dabei ist meines Erachtens, dass ich immer darauf hingearbeitet habe, die Musik von neuen Emotionen durchdringen zu lassen. Schaffen heißt, neue Gefühle zu erfinden.
weniger modern wäre als Pierre Boulez, und Helmut Lachenmann wäre moderner als Wolfgang Rihm? All diese Komponisten sind groß artige Komponisten, die ich aus tiefem Herzen bewundere, ihre Werke sind extrem unterschiedlich und diese Unterschiedlichkeit macht sie modern. Das Moderne ist kein Attribut, es ist nicht einmal eine individuelle Angelegenheit, es ist etwas Größeres als man selbst und wird durch die Werke offenbart.
Du vertraust der Gattung Oper als einer komplexen Kunstform. Auch bei Perelà hast du ein „klassisches Orchester“ verwendet, arbeitest also aus einer Tradition des Musiktheaters heraus, ohne „vokale Experimente“, wie du formuliert hast. Ketzerisch gefragt – ist das „modern“? Inwiefern wäre ein „vokales Expe riment“ der Beweis des Modernen? Muss man die Empfindung, die eine musikalische Idee hervorrufen kann, verwechseln mit der Form, die sie nimmt? Ist Webern moderner als Janáček? Wo ist das „Moderne“? Eher bei dem einen als dem anderen? Wo? Bin ich deshalb „klassischer“, weil ich ein „klassisches“ Orchester verwende und nicht das Orchester um das Publikum herumsetze? Oder eine Chromatik mit grauen und aus wechselbaren Harmonien schreibe, wie man sie seit Jahrzehnten hört? Wäre ich dann „moderner“? Ist Bernd Alois Zimmermann moderner als Henri Dutilleux, der wieder
Zwischen der Uraufführung in Paris und der Deutschen Erstaufführung hier in Mainz liegen etwas mehr als zehn Jahre. Wie hat sich dein eigener Blick auf Perelà verändert? Ich bin extrem glücklich, dass P erelà zum ersten Mal nach der Urauf führung an der Pariser Oper wieder gespielt wird. Heute betrachte ich die Oper mit großer Zärtlichkeit, aber auch mit einer großen Neugierde. Als ich mit der Regisseurin Lydia Steier gesprochen habe, habe ich mit Erstaunen und Freude bemerkt, dass die interpretatorischen Linien sich insofern verändert haben, dass gewisse Dinge, die ich während der Komposition dachte, jetzt nicht mehr zwangsläufig gelten müssen. Es ist also eine Oper, die interpretatorisch viele Freiheiten hat und sich vielen Sichtweisen öffnen kann, und das ist für mich ein großes Privileg. Ich mag es, wenn sich meine Musik von mir entfernt.
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Jede Tätigkeit des Geistes ist leicht, wenn sie nicht der Wirklichkeit untergeordnet werden muss. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Es fällt dem Philosophen nicht leicht, auf die Erkenntnis zu verzichten, aber es ist wahrscheinlich die große werdende Erkenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts, dass man es tun muss. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
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LEICHTIGKEIT UND PURIFIKATION – EINE REISE DER ENTTÄUSCHUNGEN Lydia Steier und Ina Karr im Gespräch über Perelà, Uomo di fumo Aldo Palazzeschi schrieb den Roman Il Codice di Perelà 1911 in Italien, als, angetrieben durch F. T. Marinettis futuristisches Manifest, die avant gardistische Strömung des Futuris mus entstand. Die burleske Parabel ist diesen Strömungen zuzurechnen, steht aber den Prinzipien von Gewalt und kriegerischer Auseinanderset zung, für die der Futurismus bekannt ist und die er als revolutionäres Mittel verstand, völlig entgegen. Im Mittelpunkt des Romans steht mit Perelà eine Titelfigur, an der sich alle weiteren Personen entzünden und um die sich das Denken und Handeln aller dreht. Allerdings treibt Perelà nichts an, vielmehr wird er von allen anderen getrieben – erst durch grenzenlose Begeisterung, dann durch Ablehnung. Perelà ist meiner Ansicht nach nur das „Andere“, eine Art Naturwunder. Der spirituelle Hintergrund, den man ihm zuschreibt, wird von ihm selbst nicht formuliert. Er b egibt sich einfach auf den Weg in die Welt. Perelà gibt den Menschen seiner Umgebung durch seine A nwesenheit Impulse für sehr starke emotionale Reaktionen, die in der Oper zu großen monologischen Passagen führen. Für mich ist es wichtig, auch oder gerade in den Monologen die Beziehungen zwischen den Personen zu entwickeln.
Das Buch ist im Gegensatz zur Oper dialogisch verfasst. Geführt werden diese Dialoge von allen Figuren – außer von Perelà –, beziehen sich aber meist auf ihn. Diese scharfzüngigen, witzigen Dialoge sind in einem schnellen Rhythmus geschrieben, in einem zuweilen atemlosen Stakkato. In der Oper finden sich solche Dialoge stellenweise, wie beispielsweise in einem „Rauch-Duett“ zwischen den beiden Dienern, die Perelà bei seiner Ankunft in der Stadt entdecken. Die sehr ironische Grundhaltung des Buches ist zum Ausgangspunkt unserer Inszenierung geworden, die mit eben dieser Ironie und Groteske spielt. Sie bildet auch teilweise den Kontrapunkt zu den Passagen, in denen die Musik sehr atmosphärisch wird. Pascal Dusapin hat die Einteilung in Kapitel vom Buch übernommen und darüber hinaus das Werk symme trisch angelegt. Denn die zunehmende Begeisterung für Perelà erreicht den Wendepunkt in der Mitte der Oper, in Kapitel sechs, wenn Alloro sich verbrennt und dadurch die Haltung der Gesellschaft gegenüber dem Rauchmenschen in Entsetzen und Verfolgung umschlägt. Die Anordnung der Kapitel ist sehr genau durchdacht, denn der Wendepunkt – Alloros Selbstverbrennung – ist zugleich eine symmetrische Achse. So gibt es z. B. zwei große Szenen für den Chor (am Ende des ersten Kapitels, wenn die Leute anfangen Perelà zu lieben, sowie in
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der Gerichtsszene Kapitel acht). Diese Symmetrie habe ich szenisch verstärkt. So erscheinen die Diener, denen Perelà als erstes begegnet, bei uns auf der Bühne am Ende im Prozess wieder. Perelàs Reise führt also in einem großen Bogen wieder an ihren Anfang zurück – in den Rauch. Die Kapitel sind allerdings sehr unterschiedlich lang. Und gemäß der Praxis der „French scene“ eines Beaumarchais oder Molière beginnt oder endet mit jedem Auftritt bezie hungsweise Abtritt einer Figur eine Szene. Diesen Schnitt zwischen den Szenen muss man mitdenken, um einen szenischen Fluss zu etablieren. Die Idee von Perelà als einer Projek tionsfigur ist eine szenische Heraus forderung. Vor allem, da dieser verdichtete Rauchmensch, wenn er denn agiert, nur beobachtet und feststellt, sich aber zu nichts verhält. Wir interpretieren dieses ungewöhnliche Wesen, das in die Welt kommt, als ein sehr menschliches. Und sein Ankommen auf der Erde auch in gewisser Weise märchenhaft und kindlich: Nachdem Perelà 33 Jahre aus Rauchpartikeln bestanden und dabei den Erzählungen der drei alten Damen Pena, Rete und Lama gelauscht hat, kommt er auf die Erde und findet ein Paar Stiefel. Völlig arglos zieht er sie an. Mit großer Naivität tritt er in die Welt und möchte erleben und sehen, was er die ganze Zeit in seinem Kamin gehört hat.
Märchen beginnen meist mit „Es war einmal …“ und enden mit einer glücklichen Fügung. Das Märchen vom Menschen aus Rauch führt aber über die Begegnung mit einer grotes ken Gesellschaft ins Nichts: Perelà verschwindet, wie er gekommen ist. Was bleibt, ist ein bisschen Rauch in der Luft, den die Menschen auf der Erde sehen und kommentieren. In der Oper hat Dusapin diese Kommentare aus der Partitur entfernt. Perelà ist am Ende allein. Das verändert den Fokus am Schluss des Werkes. Perelà resümiert im vorletzten Kapitel „Der Gesetzeskodex von Perelà“ seine Erdenreise. Er ist verurteilt und beschließt, seine Reise zu beenden. Ich wollte Perelà daher am Ende allein auf die Bühne stellen und sein Verschwinden, seine „Himmelfahrt“, in ein Bild fassen. Ebenso ist es meiner Ansicht nach wichtig, am Anfang die Menschwerdung, von der Perelà in Roman und Oper nur erzählt, zu zeigen. Daher beginnen wir ganz märchenhaft mit der Ankunft von Perelà auf der Erde – mit etwas Ironie natürlich! Formal und inhaltlich wollte ich das Werk mit diesem szenischen Vorgang klammern und die symmetrische Anlage des Werks weiterführen. Und dazwischen? Perelà, der mit seinem Wissen in die Welt kommt und nun nach Kenntnis sucht – meiner Meinung nach erst am Ende nach Erkenntnis – , begibt sich in eine höfische Gesellschaft.
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Perelà kommt bei uns mit einer großen Hoffnung in die Gesellschaft. Allerdings erweist sich seine Reise als eine der Enttäuschungen. Er möchte die Menschen kennenlernen, möchte erfahren, wovon die drei alten Frauen sprachen – von Liebe, Philosophie oder auch Krieg. Deren Erzählungen haben in ihm eine Lust erzeugt, sein Wissen mit Erleben zu füllen. So geht es in diesem Werk auch um das Kennenlernen der Liebe. Ein Wort, das ihn an die drei alten Frauen erinnert. Als Mensch sieht er diese Liebe bei einer Frau – der Marquise di Bellonda –, deren Liebe in höchstem Maße eitel, selbstbesessen und von zerstörerischen Illusionen geprägt ist. Wenn man das so romantisch sagen darf, bricht sein Herz aus Rauch auf seiner Reise nach und nach. Darin verhält er sich sehr menschlich. Und dass diese Gesellschaft so wenig anzubieten hat an Erkenntnis und dass ein „Natur wunder“ wie Perelà zwangsläufig verschwinden muss, hat etwas T ragisches. Ein Wort entfacht die Begeisterung aller für Perelá: „Purificatione“ (Reinigung). Sie wird zum Ausgangs punkt jeder weiteren Projektion und zum Hype, der darin gipfelt, dass der Minister die Ausarbeitung der Gesetze Perelà überträgt. Zwei Diener des Königs nehmen Perelà quasi in Augenschein und bezeichnen ihn als einen reinen Menschen. Die Hofgesellschaft
entwickelt also ihre Begeisterung nicht aus sich selbst heraus, sondern erst, nachdem die Abgesandten des Königs diese Begeisterung installieren. Und später ist es der Minister, der verkündet, dass Perelà über jede körperliche und geistige Schwachheit erhaben sei – wegen seiner unkörperlichen Konsistenz. Unkörperlichkeit also als perfekte Körperlichkeit. Und diese „Puri fikation“ befähige ihn, ein perfektes Gesetzeswerk zu entwerfen. Perelà entgegnet allerdings allen Interpretationen und Purifikationswünschen immer mit der Antwort: „Io sono leggero“ – „Ich bin leicht“. Das ist der meistgesprochene Satz, den er von sich gibt. In Wörterbüchern werden dem Wort „Leichtigkeit“ mehrere Bedeutungen zugeschrieben, die genau dieses Spannungsfeld zwischen physikali scher Beschaffenheit und deren Inter pretation benennen: 1. geringes Ge wicht, 2. die Eigenschaft, leicht zu sein und 3. die Eigenschaft, unbe kümmert zu sein. „Leichtigkeit“ ist ein positiv besetztes Wort – die „Leichtigkeit des Seins“ ist attraktiv. Perelà verweigert sich solchen Zu schreibungen und beharrt auf seiner physischen Leichtigkeit. Keiner in dieser Gesellschaft will oder kann das verstehen. Die Gesellschaft, das sind – außer Perelà – alle Personen des Stückes, von der alten Frau über Bellonda bis zur Königin. Es gibt also quasi zwei Akteure: Perelà und das Volk,
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die Gesellschaft. Und sie stehen in einem gegenseitigen Spannungsverhältnis. Das Volk wird dabei in seiner Ausgestaltung durch karikierte Figuren dargestellt: Philosoph, Erzbischof und Bankier sind (für mich) Bruegel-Miniaturen, die in ihren einzelnen Zellen residieren und existieren, um einer Gesellschaft ohne Leitstern Inhalte zu geben. Niemand aus der Gesellschaft hat eine eigene Meinung, selbst die Machtinstanzen nicht, die ihre scheinbaren Leitsätze wie hohle Phrasen wiederholen. Sie alle sind quasi das karikierte Spiegelbild von Perelà, da sie Kenntnis von der Welt, aber kein Weltwissen besitzen. Darüber hinaus ist diese Gesellschaft von einer v ölligen Künstlichkeit geprägt, die sich in der Inszenierung durch ihr gesamtes Universum zieht, von den gemalten Wolken bis hin zu den vordergründigen Hausfas saden. Eine Welt, die im Laufe des Abends ihrer Camouflage entblättert wird. Das Kostüm ist für unsere Interpre tation sehr wichtig. Im Roman bewegen sich die Figuren in Renaissancekostümen, haben aber Telefon und Taschenlampe! Für mich ist diese Gesellschaft eingezwängt in überbordenden Mengen von Mieder, Rüschen, Brokat, Seide und Reif röcken. Ihre Gesichtszüge vermissen jede Natürlichkeit und unter Perücke und Maskerade ist vom Menschen kaum etwas zu erkennen.
Als Perelà in seiner Nacktheit erscheint und die Purifikation zum Symbol wird, wird es modisch, sich auszuziehen. Ein äußerlicher Akt der Aneignung von Purifikation, denn sie wollen nicht wirklich so werden wie Perelà, so weit kommen sie nicht. Nur einer fällt heraus: Alloro, der älteste Diener am Königshof, zeigt von Beginn an eine religiös anmutende Besessenheit. Während alle anderen die Leichtigkeit als eine symbolische Angelegenheit werten, nimmt er sie im physikalischen Sinne wörtlich. Was hat dich an diesem gesell schaftlichen Panoptikum und der Geschichte interessiert? Mich interessieren Geschichten, in denen es darum geht, dass eine Person eine Begeisterung weckt, unheimlich hochgelobt (oder sogar zu einer Messias-Figur erhoben) und am Ende zerschmettert wird. Zu solchen Figuren rechne ich auch Lohengrin, Saul oder Jephta oder das Baby in Peter Greenaways Film Das Wunder von Mâcon. Ähnlich wie Pascal Dusapin halte ich den Stoff von Perelà für sehr zeitgemäß: Dass in eine durch und durch un perfekte Welt, die sich perfekt und „leicht“ zu geben versucht, etwas so Unbeschriebenes wie Perelà hineintritt. Und dieser für die Zwecke dieser Gesellschaft interpretiert und ausgenutzt wird. Die Bühne wird dominiert von zwei großen Treppen, die sich in verschie
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dene Positionen bewegen können und den Blick frei geben auf eine hierar chisch strukturierte Gesellschaft, deren Einordnung in ein „Oben“ und „Unten“ durch die Ankunft Perelàs noch stärkeres Gewicht bekommt. Er kam „von oben“, daher wird er als göttliche Instanz gesehen, dem nun die Ausarbeitung des Gesetzestextes als Ausdruck der obersten weltlichen Instanz übertragen wird. Ganz formal erfordert das Stück verschiedene Schauplätze, die vom Eintritt Perelàs in die Welt über eine höfische Teeszene, eine Gerichtsszene bis zu seinem Entschwinden reichen. Szenisch ging es uns daher um ein System, das viele Perspektiven ermöglicht, aber alle Szenen innerhalb eines Universums verortet. Der oft filigranen, klanglich farbigen Musik haben wir ein Treppensystem entgegengesetzt, das einerseits illusorisch in die Unendlichkeit weist und monumental wirkt, dessen Technik aber die Fassadenhaftigkeit dieser Welt offenbart. Diese Grundausstrahlung fußt auch auf unserem gedanklichen Ausgangspunkt, der Beschäftigung mit dem Futurismus, dem der Roman zeitgeschichtlich zugeschrieben wird. Und wenn man sich auf die Treppen als hierarchisches Zeichen bezieht, dann ist die große Frage, wohin diese ins Nichts laufenden Stufen führen: fällt man herunter oder wird man zu Rauch?
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Im Zustand der Leichtigkeit verwendet das Gehirn sein ganzes kreatives Potenzial und ist um bis zu mehr als 90 Prozent leistungsfähiger. Das ist Voraussetzung, um die steigenden Lebensanforderungen auf unserem Planeten zu meistern. Im Zustand der Leichtigkeit sind wir mit unserer Tätigkeit eins. Durch Alltagssituationen und große Herausforderungen des Lebens entfernen wir uns diesem Zustand der spielerischen Leichtigkeit mehr oder weniger stark: Körperliche und mentale Schwere verstellt die klare Sicht auf das Wesentliche und wir drehen uns scheinbar im Kreis. Eine weitere Folge sind Stress und Anspannung. Die Gehirnleistung kann bis auf sieben Prozent oder weniger sinken, körperliche Symptome unterstreichen diesen Zustand. Robert Hoppaus, Leichtigkeitscoaching
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WER BIN ICH? ALDO PALAZZESCHIS BIZARRE KUNST DER SELBSTFINDUNG Von Winfried Wehle Wenn es eine Frage gibt, die die abendländische Kulturgeschichte bis heute bewegt, dann ist es die nach dem Menschen. Pico della Mirandolas Schrift De hominis dignitate ist eines ihrer strahlendsten Zeugnisse. In ihm artikuliert sich eine maßgebliche Schwelle zur Neuzeit. Darin lässt er den Schöpfergott verkünden, er habe den Menschen ins Zentrum der Welt gestellt. Doch diese Auszeichnung hatte einen hohen Preis: er soll „seine Natur ohne jede Einschränkung und Enge, nach seinem Ermessen (…) selber bestimmen.“ Er räumt ihm die Freiheiten ein, „schöpferischer Bildhauer“ seiner eigenen Identität zu sein. Unter der Maßgabe allerdings, dass er menschenwürdig („dignitas“) bleibt: nicht zum Tier entartet, sich jedoch auch nicht zu einem Gott erhöht. Woran aber soll sich die Erschaffung eines frei zu wählenden Selbstbildnisses halten? Diese Frage hat eine lange Geschichte hervor gebracht. Jede Generation, jede Epoche hat den Spielraum des Menschenmöglichen neu und anders vermessen. Was dabei Mensch sein bedeutet, entschied sich maßgeblich an großen gedanklichen Überbauten: an Gott, König, Nation, Gesellschaft, Verstand, Phantasie, Fortschritt, Technik. Ihnen allen gemeinsam aber war das Vertrauen
in die Sprache in allen ihren Spiel arten, bevorzugt allerdings im Medium der Kunst. Und so ist es kulturgeschichtlich nur konsequent, dass das Neue einer Ära, die die Décadence des Fin-de-siècle überwinden wollte, sich am heftigsten in den historischen Avantgarden artikulierte. Deren historische Würdigung hat zurecht auch ein Œuvre in den Vordergrund gerückt, das höchst provokativ einsetzte, aber keiner namentlichen Avantgarde, auch dem Futurismus nicht, wirklich zuzurechnen ist: das des Florentiners Aldo Palazzeschi. Inzwischen gilt sein Werk als eine der bedeutendsten Leistungen der zweiten Moderne in Italien. Seine Modernität hat sich vielfältig artikuliert. Herausragend ist dabei ohne Frage seine phantastische Parabel Il Codice di Perelà (1911). „Roman“ kann sie allenfalls genannt werden, weil sie die Tradition des Romans negiert. Man erkennt es daran, dass ihre Geschichte gezielt alles tut, um eine Geschichte zu unterbinden. Palazzeschi sei, wie bereits sein Künstlerfreund Ardengo Soffici 1914 urteilte, dabei mit geradezu anarchischer Kühnheit vorgegangen. Er habe ihr „keinerlei Ziel, keinerlei tieferen Grund, noch Bezüge zu geläufigen sozialen Werten“ zugestanden. Der Autor hat sich selbst mit den Worten kommentiert: „etwas zu schaffen und es gleichzeitig wieder abzuschaffen“ (creando distruggere). Doch es ist
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eine Sache, mit den Vorräten der literarischen Tradition ein burleskes Spiel zu treiben; eine ganz andere jedoch, aus ihren Ruinen neues – ästhetisches – Leben erstehen zu lassen. Wer auf den Codice di Perelà eingehen will, muss sich zunächst seine bisherigen Leseerfahrungen annullieren lassen: kein Erzähler, der ihn durch den Text leitet; keine Einheit der Handlung; kein Anfang; schnell wechselnde, kaum verbundene Szenen wie Filmschnitte; keine durchgehende Motivation.
HELD AUS RAUCH Der Codice di Perelà stellt herkömmliche Erwartungen an eine Geschichte auf den Kopf. Die ärgste Provokation geht von der Gestalt seines „Helden“ aus. Als Mann aus Schall und Rauch ist er ein „Mann ohne Eigenschaften“ (Musil). Dinghaft sind lediglich seine Stiefel, Kennzeichen der Bewegung, die er auslöst. Damit fängt alles an: sie allein legen es wohl nahe, seine Erscheinung als „Mensch“ zu deuten. Von dieser Verführung geht die ganze Erzählstrategie Palazzeschis aus. Alle, die ihren Blick auf Perelà richten, bringt er dazu, seine Leerform mit ihren Ansichten zu füllen. Ihre Reaktion ist im Grunde Ausdruck des tief sitzenden kulturellen Reflexes, allem und jedem einen Sinn und Zweck zu unterstellen. Nach Palazzeschi kommt dies jedoch einer zwanghaften Vereinnah-
mung, Einsperrung unseres Denkens gleich. Am Ende wird Perelà genau aus diesem Grunde spiegelbildlich eingesperrt, weil sich seine Erscheinung nicht definitiv in die Vorstellungen der Menschenwelt hat einsperren lassen – Ausdruck ihrer tödlichen Logik. Perelà, den der Autor eben deshalb von „oben“ kommen ließ, verkörpert dieses „Übel“ in der Welt: „pena“, „rete“, „lama“, die Leiden an der Wirklichkeit, die „Wahn“, „Schwermut“ und „Sentimentalität“ hervorrufen. Bereits in der ersten Szene des Codice di Perelà wird dieser Konflikt beispielhaft Ereignis. Der Mensch aus Rauch trifft dort auf eine alte Frau. „Seid ihr vielleicht ein Mensch?“, fragt er sie. Ihre Antwort deckt schlagartig das Missverständnis auf, auf das Palazzeschi es abgesehen hat. Perelà versteht „uomo“ abstrakt, als „Mensch“. Er weiß offenbar von dessen Existenz, kann sie aber nicht identifizieren. Die Frau aber kennt nur die konkreten Erscheinungen von Mann und Frau. Die existentielle Frage dahinter bleibt ihr deshalb gänzlich fremd. Daher kann die Alte den „Mann“ aus Schall und Rauch ihrerseits ebenfalls nicht identifizieren. Denn sie fragt ihn: „Und ihr, was seid ihr, Herr?“ Perelà ist eine Herausforderung für die Welt, die er betritt, genauso wie diese sein Wissen über sie herausfordert. Im Grunde begegnen sich zwei gegenläufige Welt-
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Anschauungen: sie kennt die Welt; er weiß nur von ihr. Ein Mann aus Rauch wirft vor allem die Frage nach seinem Ursprung auf. Seine Entstehung, so erklärt es Perelà selbst, verdankt sich einer geradezu futuristischen „Konstruktion“, die jede mensch liche Geburt grotesk parodiert: sie fand in einem offenen Kamin statt. Unten brannte beständig ein Feuer. Dessen Rauch stieg nach oben und kondensierte – „karbonisierte“ – so Zelle um Zelle seiner Gestalt – 33 Jahre lang. Perelà tritt damit im selben Alter in seine öffentliche Wirksamkeit ein wie Jesus von Nazareth. Streng komplementär zu diesem chemischen Werden fand zugleich sein intellektueller Aufbau statt. Unten um den Kamin saßen drei steinalte Frauen – Pena, Rete, Lama. Abwechselnd lasen sie in einem großen Buch – eine Anspielung auf das Buch des Lebens – und sprachen darüber in ihrer jeweiligen Perspektive: pena in der der menschlichen Müh’ und Not, rete über die Verstrickungen, lama von Verletzung und Tod. Dies ist die Quintessenz der Welt, die in Perelà eingegangen ist. Mit dem Rauch stiegen also gleichzeitig ihre Stimmen zu ihm auf. Und Wort um Wort formierte sich in ihm allmählich deren umfassendes – aber „nutzloses“ – Weltwissen. Palazzeschi übt durch ihn hindurch unerbittliche Kritik an der zeitgenössischen Moral und Zivilisation.
Am Ende lässt er sein Sprachrohr sagen: „Nach meiner künstlichen Zeugung wusste ich alles, ohne je etwas gesehen zu haben; tausend Geschichten über die Menschen, ohne genau zu wissen, wie die Menschen sind; (ich wusste) alle Namen der Dinge, ohne die Dinge zu kennen, die diesen Namen entsprachen. Nun galt es, sehen zu lernen“. Perelà wird in diese Welt geschickt, um ein grundsätzliches Problem menschlicher Erkenntnis aufzuwerfen. Im Kontakt mit den anderen erfährt er, dass sein Wissen nur die eine, abstrakte Seite von der Wahrheit über das Leben ist. Offenbar tritt es in Wirklichkeit doppelt in Erscheinung: gedanklich, in Gestalt von begrifflichen Namen und dinghaft gegenständlich (cose). Reines Wissen über den Menschen ist teilnahmslos, indifferent; es weiß nichts von seinen vitalen Beweggründen. Bezeichnenderweise nehmen die drei Alten am Feuer keine Notiz von ihm. Wie aber wäre dieser Beschränktheit zu entkommen? In dieser Absicht führt der Autor seinen Helden nach unten: er steigt aus seinem Rauchfang herab auf die Erde. Doch der angemessene Ausgang für einen „Mann aus Rauch“ – wäre es, im Kamin, nicht der Weg nach „oben“ gewesen? Dass er diese Richtung nicht einschlägt – das ist der eigentlich kritische Streich, zu dem Palazzeschi ausholt: der Rauchfang war oben verschlossen. Die Aussage hat Grundsätzliches im
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Sinn: das Kopfwissen über den Menschen weist von sich aus nicht über sich hinaus, auf eine höhere, übergreifende Vorstellung. In der Privataudienz bei der Königin bekennt Perelà, dass ihm der Name „Gott“ nichts sagt. Für ihn gibt es keinen Himmel. Auch Gott ist, wie es später heißt, nur ein menschliches Konstrukt.
PURIFIKATION Umso mehr muss es erstaunen, dass Perelà dennoch mit allen Ehren am königlichen Hof aufgenommen wird. Ganz offensichtlich sieht man dort ihn ihm etwas, das dessen Vorstellungen entgegenkommt und damit seine Gesellschaft identifiziert. Ausschlaggebend war, dass Perelà seine Entstehung als den makellosesten Akt der „Entstofflichung“ bezeichnete, „dem je das Fleisch im Feuer unterzogen wurde“. Das Schlüsselwort war purificazione. Viermal, mit höchstem Nachdruck also, wiederholen es die Prüfer. Was haben sie verstanden? Er hatte ihnen seine Existenz chemisch erklärt; sie aber haben sie spirituell aufgefasst. Auf diese Diskrepanz hatte es Palazzeschi abgesehen. Angesichts der Unbestimmtheit dieses Fremdlings waren sie gezwungen, ihn nach ihrem Menschenbild zu interpretieren. Es ist Palazzeschis Strategie, um ihre tief sitzenden Vorurteile auf zudecken.
Purifikation hieß, für sie, dass, wer leidend, opfernd die natürlichen Beweggründe des Lebens hinter sich lässt, dadurch eine übernatürliche Bestimmung bezeugt. In „unseren Augen“ verwandelt sich Perelà daher zu einem moralischen Ausnahme wesen, weil wir in seiner Biographie die Lebens- und Leidensgeschichte Christi wiederzukennen glauben. Genaugenommen offenbaren sie damit nichts als den höchsten Punkt ihrer eigenen Anschauung. Denn ihre Blicke und Worte sind es, die seine Andersartigkeit in ihre Eigenart verwandelt haben. Seine Bedeutung ist mithin ein Akt ihrer Deutung. Um diese Vorurteilsstruktur zu unterstreichen, führt Palazzeschi zwanzig stadtbekannte Persönlichkeiten und sechs öffentliche Einrichtungen vor: zuerst Maler, Fotograph, Bankier, Dichter, Arzt, Philosoph, Erzbischof, Kammerdiener. Es ist ein raffiniertes perspektivisches Spiel mit den herrschenden Ansichten. Der Bankier bekennt – unfreiwillig – die Absicht: die Dinge, sagt er, haben den Wert, den wir ihnen geben. Was man für die Welt hält, ist demnach eine Anschauung des A nschauenden. Dies gilt jedoch nicht minder auch für Perelà. Jeder unterwirft ihn seinen eigenen Wertvor stellungen und verfehlt damit gerade die Eigenheit des Mannes aus Rauch. So ergeht es ihm etwa anlässlich des Tees bei den Hofdamen. Keine von ihnen ist glücklich. Die Himmelsmacht der Liebe hat zwar nach
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wie vor Macht, weiß aber keinen Himmel mehr über sich. Perelàs Inspektionsreise durchs Reichsgebiet trifft überall nur auf geschlossene Anstalten: Kloster, Friedhof, Liebesgarten, Gefängnis, Irrenhaus. Diese Räume legen Zeugnis von einer Beschränktheit und Unfreiheit ab, sind darin allerdings nur Spiegelungen eines Urbildes, des Königspalastes. Er verkörpert ein Staatswesen, in das man sich mit Geld einkauft und durch Mord wieder ausscheidet. Alle Insassen dieser Räume reagieren auf diese Verkehrtheit ihrerseits mit einer charakter istischen Verkehrung. Ihre „Partiali tät“ veranlasst sie, das Heil in – tödlicher – Totalität zu suchen. Doch diese Inversion hat einen verhängnisvollen Systemfehler. Die Bedürfnisse, von der sie ausgeht, wissen im Grunde keine begründende Idee mehr hinter sich. Schließlich wird klar, wer damit wirklich gemeint ist: Dio, der Hochbegriff abendländischer Geistesk ultur. Sein Fall wird in der Privataudienz Perelàs bei der Königin, also an höchster Stelle, behandelt. „Wisst ihr, wer Gott ist?“ fragt Perelà. Und sie: „Wer weiß das nicht? Gott ... ist Gott. Wir wissen das alle“. Mit anderen Worten: er ist ein hohles Wort. Dort, worin alle Wertvorstellungen gipfeln, thront nicht der Unsagbare, wie ihn die miseria hominis sich zurechtgelegt hatte. Er ist längst nichtssagend geworden, eine kulturelle Antiquität. Ins Gespräch gebracht hatte ihn denn auch nicht die Königin selbst,
sondern – ihr Papagei. Krasser hätte sich nicht vorführen lassen, dass der „Name“ (nome) Gottes für keine „Sache“ (cosa) einsteht. Der Käfig des Papageis im Innersten des Königs palastes: ist er nicht das Sinnbild dafür, dass die Mitte dieser Welt ohne Zentrum ist? Der rabiate Selbst mörder ergänzt dies mit e inem vernichtenden Gottesbeweis: „Gott“ sei ein sinnlich behaftetes, vertrautes Wort für Nichts, in letzter Hinsicht also seinerseits – „Schall und Rauch“. Und Perelà muss entdecken, dass Erkenntnisse, die die Sinne liefern, nur Sinnbilder hervorbringen, denen keine Urbilder entsprechen. Palazzeschi hat damit abermals ein Moment von Modernität erfasst, dessen Saat erst im 20. Jahrhundert ganz aufgehen wird: das Simulakrum, eine Kopie ohne Original.
DER GESETZESKODEX Unter diesen – unvereinbaren – Vorzeichen und Erwartungen erhält Perelà den königlichen Auftrag, für das Staats- und Gemeinwesen einen neuen „Kodex“ zu erstellen. Doch was mutet der Minister ihm zu? War der Mann aus Rauch, in seiner Not, nicht gerade gekommen, um seine blinden Begriffe am gelebten Leben „sehend“ zu machen? Welch ein fatales Missverständnis. Jede Seite leidet unter ihrer eigenen Einseitigkeit und sucht jeweils auf der anderen, was ihr fehlt. Doch weder sinnlich, wie die Leute aus dem
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Reich T orlindaos, noch abstrakt, nach Art des Mannes aus Rauch, eröffnet sich der Wahrnehmung eine Aussicht auf etwas Einvernehm liches, Endgültiges. Palazzeschi ist doppelt bei seinem Thema. Sich gedanklich überschreiten zu wollen, nach oben oder nach unten, gewährt keinen höheren oder tieferen Sinn. Wirklich gewiss ist nur das Bedürfnis danach. Menschliche Wahrnehmung hat sich damit abzufinden, dass wir nicht in ein beglückendes Anderswo entkommen können. Welcher lebenswerte „Kodex“ aber würde sich dadurch noch denken lassen? Darauf läuft die beschließende Frage Palazzeschis hinaus. Auslöser einer Antwort ist der Tod Alloros, des Dekans der Hofbediensteten. Er wollte werden wie Perelà und sich nach seinem Vorbild über einem Feuer in Rauch verwandeln. Kaum war sein Tod mit Perelà in Beziehung gebracht, zerbrach seine Aura eines Übermenschen wie ein Götzenbild und er verfiel, in genauer Umkehrung, der Verteufelung. Im Grunde ein konsequentes Urteil. Die Leute hatten auf ihm die Heilsgeschichte Christi abgebildet. Ihr ‘Hosanna“ schlägt nun um in ein ‘Kreuzige ihn“. Alle, die vorher für seine Erhabenheit Zeugnis abgelegt hatten, treten wieder auf und erklären ihn nun für schuldig. Er wird auf eben dem Berg, von dem er herabgestiegen war, in „einen finsteren Brunnen“ eingemauert. Erzähler pflegen über solche Anfang-Schluss-Bindungen
zu bilanzieren, was sich dazwischen verändert hat. Zunächst: weder war es Perelà gelungen, sein Wissen der Namen mit den „Dingen“ ihres Lebens in Übereinstimmung zu bringen; noch waren sie wirklich in der Lage, ihn zu verstehen. Keiner hat im anderen einen Ausweg aus seiner Einseitigkeit gefunden. Doch sollte dieses Scheitern das ganze Anliegen Palazzeschis gewesen sein?
DER NEUE „KODEX“ Keineswegs. Denn am Ende zeigen sich dann doch die Umrisse eines neuen „Kodex“, den Perelà als „Vermächtnis“ denen hinterlässt, die ihn aus ihren Augen verbannt haben. Bei seiner erzwungenen Rückkehr zum Ausgangspunkt ist ihm eine tiefgreifende Offenbarung zuteil geworden. Palazzeschi lässt es sprachlich Ereignis werden. Die letzten Worte, die Perelà spricht, sind die ersten, in denen er nicht mehr von sich, sondern, in einem Monolog, zu sich selbst spricht. Diese Selbstzuwendung wurde ihm ermöglicht, weil ihn seine Einsperrung zwang, sich nicht nur mit seinen, sondern auch mit ihren Augen zu sehen. Der tiefe Zwiespalt zwischen beiden Sichtweisen wird dabei zwar nicht überwunden. Aber im Zusammenspiel von Blick und Gegenblick lässt sich die eigene Vereinseitigung immerhin entscheidend relativieren. Zum Zeichen dafür verlässt Perelà sein Grab
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durch den Kamin und steigt, in genauer Umkehrung des Beginns, nach oben. Doch der Mann aus Rauch sieht sich durch diese Himmelfahrt keineswegs gerettet, sondern lediglich entrückt, zu einer „grauen Wolke in Menschengestalt“. Dies ist der irritierende Kodex, den er hinterlässt. Er besagt, dass es keine endgültige Erkenntnis gibt; man kann sich nur kritisch selbst gegenüber treten. Denn der Rauch, der in einer Wolke aufgeht, bleibt, seiner Substanz nach, in der Schwebe. Er gibt keinen Blick in einen überwölbenden Himmel frei. Bemerkenswerterweise wiederholt sich Entsprechendes auch auf Seiten der Untertanen König Torlindaos. Dies ist die beschließende Pointe dieser bizarren Parabel. Der Mann aus Rauch, zur Wolke aufgestiegen, zieht ihre Blicke zwar in gewohnter Weise nach oben, wohin sie Gott zu versetzen pflegen. Doch jetzt beginnen sie, diese gedankliche Höhe unter dem Gesichtspunkt von Perelà wahrzunehmen, mit geradezu umstürzenden Konsequenzen. In der Schlussszene sieht der eine im bewölkten Himmel nun ein „neues Volk“, „neue Menschen“ angekündigt, eine Genesis also nach dem Bild und Gleichnis von Perelà. Ein anderer entziffert die wellenden Wolken als wehende Banner, die ein Kunstheiligtum des 19. Jahrhunderts schänden, das sehnsuchtsvolle Azurblau. Ein letzter unterscheidet darin das Bild eines Menschen, der das Werk der Erlösung aus eigener Kraft
vollbracht hat und seine Seele nun aus freiem Entschluss Gott darbietet. Mit anderen Worten: dieser Gott ist zum Abbild des Menschen geworden und als solcher ein Abbild von Perelà! In seinem Gefolge muss er sich endgültig als kulturelles Konstrukt entmachten lassen. Dennoch: Keine dieser Deutungen wird als verbindlich anerkannt. Deshalb lässt sich auch mit keiner eine neue Weltanschauung und damit ein Prinzip von Eindeutigkeit begründen. Wer die Vielfalt des Lebens unter einen festen oder gar letzten Fluchtpunkt bringt, so die Moral von der Geschicht’, setzt es der Gefahr aus, dass es sich totalitär verhärtet – und sich verfehlt. Kühn schlägt Palazzeschi daher den Weg traditioneller Endlösungen aus. Mit Perelà führt er vielmehr einen dritten Blick ein. Er entsagt allen großen und hohen Denkprojekten der abendländischen Geisteskultur und beschränkt sich darauf, die Vereinseitigungen, die jeden auf seine Weise befallen, einem Narrenspiel zu unterziehen – wie es ein „Gaukler“ versteht. Es ist modern insofern, als es das Bild des Menschen nicht länger auf letzte Gewissheiten verpflichten will. Vielmehr soll es gerade darauf ankommen, es lebendig zu erhalten, indem es beständig kritisch neu durchgespielt wird. Ausgetragen werden soll diese Kritik aber, so Palazzeschis, in der Kunst. Sie empfiehlt er als die eigent liche Philosophie der Moderne.
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PASCAL DUSAPIN Pascal Dusapin wurde am 29. Mai 1955 in Nancy geboren und kam früh mit Musik in Berührung. Nachdem er in einem Familienurlaub ein Jazz-Trio gehört hatte, wollte er Klarinette lernen, doch sein Vater bestand auf Klavierunterricht. Im Alter von zehn Jahren entdeckte er seine Leidenschaft für die Orgel, die ihn durch seine turbulente und unkonventionelle Jugend begleitete. Pascal Dusapin wuchs zeitweise in einem kleinen Dorf in der Lorraine und in einem Pariser Vorort auf, wo er sich für Musik unterschiedlichster Stilrichtungen begeisterte: er liebte Bach genauso wie The Doors und Beethoven ebenso wie Free Jazz. Als er jedoch an der Universität von Vincennes im Alter von 18 Jahren zum ersten Mal Arcana von Edgard Varèse hörte, nahm sein Leben eine neue Wendung. Von diesem Moment an wusste Pascal Dusapin, dass er all seine Zeit und Energie dem Komponieren widmen wollte. So studierte er von 1974 bis 1978 bei Iannis Xenakis, den er als Nachfolger von Edgard Varèse betrachtet. Xenakis lehrte ihn auch unkonventionell zu denken und er erweiterte Dusapins Horizont, indem er dessen Interesse für Architektur und Mathematik weckte. Durch seine ersten Stücke Souve nir du silence (1975) und Timée (1978) wurden Franco Donatoni und Hughes
Dufourt auf ihn aufmerksam, beide sollten ihn fortan tatkräftig unterstützen. Im Jahr 1977 gewann Pascal Dusapin den Preis der Fondation de la Vocation, 1988 erhielt er eine Auszeichnung der Villa Medici. Dort verbrachte er zwei Jahre als Stipendiat und komponierte Tre Scalini, Fist sowie sein erstes Streichquartett Quatuor, Niobé. Ermutigt von Rolf Liebermann schrieb Dusapin 1986 seine erste Oper: Roméo & Juliette, entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Olivier Cadiot, ist kein genretypisches, konventionelles Ränkespiel, sondern ein musikalisch-literarisches Novum, in dem jedes einzelne Wort nach seinem Klang und Rhythmus ausgewählt und dann eng mit der sich gänzlich frei bewegenden Musik verflochten wurde. Die Uraufführung fand im Juli 1989 zeitgleich an der Oper von Montpellier sowie beim Festival d'Avignon statt. Fortan verknüpfte Pascal usapin seine Liebe zur Literatur D mit der Arbeit an seinen Musik theaterwerken. Medeamaterial, basierend auf dem gleichnamigen Text von Heiner Müller, wurde 1991 am Théâtre de la Monnaie in Brüssel uraufgeführt. Es folgte To Be Sung, eine Kammeroper nach Gertrude Stein, die Dusapin gemeinsam mit dem Multimedia- und Lichtkünstler James Turrell am Théâtre des Amandiers in Nanterre realisierte.
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Im Jahr 2003 fand die Uraufführung von Perelà, Uomo di fumo nach Aldo Palazzeschis Roman an der Opéra Bastille in Paris statt. Dusapin verfasste auch die Libretti für die Opern Faustus, The Last Night, 2006 an der Berliner Staatsoper uraufgeführt, und Passion, basierend auf dem Orpheus-Mythos, 2008 beim Festival in Aix-en-Provence erstmals aufgeführt. Auch seine jüngste Oper bezieht sich als „Mise en abyme“ auf einen antiken Mythos: Penthesilea nach Heinrich von Kleist feiert im März 2015 am La Monnaie in Brüssel seine Uraufführung.
Er wurde unter anderem zum Commandeur des Arts et Lettres ernannt und 2005 mit dem Cino del Duca Preis und 2007 mit dem Dan David Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Weiterhin erhielt er als zweiter Komponist nach Pierre Boulez einen Lehrstuhl am Collège de France; sein Buch Une musique en train de se faire beruht auf den dort gewonnen Erfahrungen. Außerdem lehrte Pascal Dusapin in den Jahren 2010 und 2011 an der Musikhochschule in München.
Während der Arbeit an seinen Opern entstanden auch sieben Streichquartette (eines davon mit Orchester), verschiedene Vokalkompositionen wie etwa La Melancholia, Granum Sinapis, Dona Eis, sowie das Klavierkonzert A Quia und die Sept études pour piano. Außerdem schrieb er zwischen 1991 und 2009 sieben „Solos“ für Orchester: Go, Extenso, Apex, Clam, Exeo, Reverso (uraufgeführt von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle) und Uncut. Ein neuer Orchester zyklus, ist derzeit in Arbeit. Zu den jüngsten Werken in Dusapins Œuvre zählen Aufgang, ein von Renaud Capuçon in Auftrag gegebenes Violinkonzert, sowie Jetzt genau!, ein Stück für Klavier und sechs Instrumente.
Dusapins Interessen und Leidenschaften reichen von Morphogenese über Philosophie (mit einer besonderen Vorliebe für Deleuze), Fotografie und Architektur bis hin zu den Werken Samuel Becketts und Flauberts. Die Verknüpfung verschiedener künstlerischer Disziplinen zeigt sich bei Pascal Dusapin auch in der Zusammenarbeit mit Künstlern wie Sasha Waltz, James Turrell, Peter Mussbach oder Laurence Equilbey. Mit seinen jüngsten Projekten ist er auch ins Reich der elektronischen Musik vorgedrungen. Zuletzt realisierte er bei den Donaueschinger Musiktagen 2014 die visuelle Klanginstallation Mille Plateaux.
Pascal Dusapin hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.
FOTOS S. 6/7: Peter Tantsits, Marie Christine Haase S.8/9: Alin-Ionut Deleanu, Peter Felix Bauer, Peter Tantsits, Chor Seite 12 oben: Georg Lickleder, Peter Tantsits, Heikki Kilpeläinen Seite 12 unten: Marie-Christine Haase, Peter Tantsits, Alin-Ionut Deleanu, Ks. Hans-Otto Weiß, Peter Felix Bauer, Stephan Bootz, Chor, Statisterie S. 21: Lotta Yilmaz, Geneviève King, Peter Tantsits, Damenchor S. 28: Brett Carter S. 33: Geneviève King, Chor S. 36 oben: Peter Tantsits, Katja Ladentin S. 36 unten: Ks. Jürgen Rust, Peter Tantsits, Marie Christine Haase S. 39: Peter Felix Bauer, Peter Tantsits, Ks. Hans-Otto Weiß, Chor S. 42/43: Lotta Yilmaz, Peter Tantsits S. 45: Peter Tantsits
NACHWEISE Das Interview mit Pascal Dusapin sowie das Gespräch mit Lydia Steier sind Originalbeiträge für dieses Heft. Den Inhalt verfasste Ina Karr. Winfried Wehles Aufsatz Wer bin ich? – Aldo Palazzeschis bizarre Kunst der Selbstfindung ist eine für diese Heft überarbeitete Version eines Vortrags (Hamburg, Oktober 2013). Aldo Palazzeschi: Il Codice di Perelà. Romanzo futurista, Mailand 2001. Robert Hoppaus, www.leichtigkeit.com Irina Kaiserman: Pascal Dusapin. Die Biographie wurde in sich gekürzt. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Editions Salabert / Universal Music Publishing Classical. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman / I. Erstes und zweites Buch, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 83. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bde. 1–3, Frankfurt am Main 2000.
IMPRESSUM Spielzeit 2014/2015 Herausgeber Staatstheater Mainz www.staatstheater-mainz.de Intendant Markus Müller Kaufmännischer Geschäftsführer Volker Bierwirth Redaktion Ina Karr Mitarbeit Redaktion Anna Preißing Druck Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt/Main Visuelle Konzeption Neue Gestaltung, Berlin
S. 14: Titel der Buchausgabe Aldo Palazzeschis, die Pascal Dusapin im Antiquariat gefunden hat. S. 17 und S. 18: Skizzenmaterial zur Oper Perelà, Uomo di fumo von Pascal Dusapin S. 23 und S. 25: Figurinen zur Produktion von Kostümbildner Gianluca Falaschi Alle Probenfotos stammen von © Andreas Etter.
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„Wir werden ihn zurück schicken.“„Zu wem?“ „Zu wem auch immer.“ „Wohin?“ „In die Hölle!“ „Sie meinen zum Teufel. Ich verstehe“ „Wie klug Sie sind!“ „Warum nicht?“ „Dann schicken wir ihn zurück zum Teufel!“ „Und wenn er des Teufels Schatten ist?“ „Sein Bote?“ „Warum nicht?“ „Er sieht aus wie einer“ „Mutter Gottes!“ „Der Sohn Satans auf der Erde“ „Warum nicht?“ „Der Sohn des Beelzebub!“ „Ooh!“ „Er musste genau in unserer Mitte landen.“ „Genauer gesagt, auf diesem kleinen Fleckchen Erde!“ „Es gibt nie einen Moment Frieden.“ „Schickte nicht einst Gott seinen Sohn? Nun hat der Andere seinen geschickt.“ „Wir Armen!“ „Wir, die wir ihn willkommen hießen.“ „Und auf solche Weise!“ „Mit welcher Ehre!“ „Mit den höchsten Ehren.“ 46 — 47
„Wie beschämend!“ „Wir sind wirklich darauf reinge fallen!“ „Ich habe Angst.“ „Vor was?“ „Vor allem.“ „Der Andere, der Sohn des höchsten und ewigen Gottes, wurde verfolgt und gekreuzigt.“ „Wir haben diesem einen Ball zu seinen Ehren gegeben.“ „Und was für ein Fest!“ „Wenn er für irgendetwas gut gewesen wäre, hätten wir ihn in den Hintern getreten, das ist sicher.“ „Wir machen nie etwas richtig.“ „So ist es.“„Es war eine Falle, für uns gelegt, darauf kannst du wetten.“ „Von wem?“ „Von jemandem.“ „Und wir sind hineingefallen.“ „Kopfüber!“ „Der Sohn des Satan!“ „Gewiss!“ „Er ist der Sohn des Beelzebub!“ „Ich könnte darauf schwören.“ „Des Teufels Christus!“ Aldo Palazzeschi: Il Codice di Perelà Kapitel 13, Der Staatsrat
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