Staatstheater Mainz
Schinder足 hannes Nach dem Volksst端ck von Schinderhannes Carl Zuckmayer
SCHINDERHANNES (1927) Nach dem Volksstück von Carl Zuckmayer
Bückler … Sebastian Brandes Benedum … Henner Momann Seibert … Anton Berman Zughetto … Lorenz Klee Iltis Jakob … Daniel Friedl Benzel … Michael Pietsch Julchen … Ulrike Beerbaum Gretchen … Leoni Schulz Wirt / Vater … Armin Dillenberger Wirtin / Zoppi … Monika Dortschy Adam … Johannes Schmidt Napoleon … Ben-Philipp Lambert, Samuel Kohl Statisterie … Marisa Boles-Rehbogen, Lukas Lück, Tonia Sarcone, Daniela Schneider, Valentin Seitz, Fiona Starke, Alexandra Steffens, Dominik Wölm Inszenierung … Jan-Christoph Gockel Bühne … Julia Kurzweg Masken und Kostüme … Sophie du Vinage Musik … Anton Berman Soundeffekte … Felix Harms Licht … Peter Meier Video … Christoph Schödel, Felix Harms Dramaturgie … Patricia Nickel-Dönicke Aufführungsdauer ca. 3 Stunden – eine Pause nach dem 2. Akt Premiere am 3. Oktober 2014 Kleines Haus Aufführungsrechte S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main
Regieassistenz und Abendspielleitung … Felix Harms Ausstattungsassistenz … Lucia Vonrhein Inspizienz … Arpad Szell Soufflage … Julia Sabine Edling Leitung Statisterie … Bernhard Frey Regiehospitanz … Pia Schöning Ausstattungshospitanz … Lisa Kroll, Daniela Schneider Dramaturgiehospitanz … Theresa Kost Technischer Direktor … Christoph Hill Produktionsleiter … Olaf Lintelmann Werkstättenleiter … Jürgen Zott Assistent der technischen Direktion … David Amend Bühneneinrichtung … Fabian Konrad Leiter der Beleuchtung … Stefan Bauer Leiter der Dekorationswerkstatt … Horst Trauth Leiter der Schreinerei … Markus Pluntke Leiter der Schlosserei … Erich Bohr Vorstand des Malersaals … Andreas Beuter Leiter der Tontechnik … Andreas Stiller Tontechnik … Thomas Schmidtke, Arne Stevens Kostümdirektorin … Ute Noack Assistentin der Kostümdirektorin … Ingrid Lupescu Gewandmeisterinnen … Britta Hachenberger, Mareike Nothdurft Gewandmeister … Thomas Kremer, Falk Neubert Modistin … Petra Kohl Chefmaskenbildner … Guido Paefgen Maskenbildnerin … Tanja Sussman, Lisa Kanniga Maskenherstellung ... Guido Paefgen, Tanja Sussman, Lisa Kanniga, Johanna Prange, Nadine Rodekurth Leitung der Requisite … Hannelore Taubert-Bénèch, Dagmar Webler Requisite … Fred Haderk, Birgit Schmitt-Wilhelm, Hannelore Taubert-Bénèch
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CARL ZUCKMAYER UND SEIN SCHINDERHANNES Patricia Nickel-Dönicke Das kann kein rechter Schinderhannes sein, vor dem einem Parkett von guten Bürgern nicht graust. Johannes Bückler (1779–1803), rheinischer Räuberhauptmann aus napoleonischer Zeit, genannt der Schinderhannes, fasziniert bis heute. Filme, Romane und Lieder, ja sogar Biersorten werden nach ihm benannt. Er ist dafür bekannt, dass er als ‚Robin Hood aus dem Hunsrück‘ reiche Kaufleute ausraubte und arme Bauern beschenkte. Johannes Bückler ist in einer Zeit aufgewachsen, in der die Rheingrenze ein brutales und verwirrendes Kampfgebiet der euro päischen Geschichte war. Durch das ständige Chaos von Zugehörigkeiten konnten neben utopischen Denkräumen und demokratischen Versuchen, wie etwa der Mainzer Republik, auch kriminelle Freiräume entstehen. Die dauerhaften Kriegsgrausamkeiten, die Angst vor der nächsten Okkupation durch das Militär, die Armut und das unsagbar große Elend der Bevölker ung, ließen die Menschen an einen Mann glauben, dem ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn nachgesagt wurde. „Uns kleine Bauern nehme die Räuber nix ab. Das besorgt der Staat un die Kirch und die Steuer ganz alleine.“
(Schinderhannes, Carl Zuckmayer). Die historische Figur des Schinderhannes nutzte die Zeit des politischen Umbruchs aus, um mit seiner Bande die Wälder u nsicher zu machen. Schon zu Lebzeiten galt er als ein Held, es waren obskure Anekdoten von ihm im Umlauf, wie etwa die, dass er ein Hexenmeister sei, der zur selben Zeit an unterschiedlichen Orten Leute ausrauben konnte. Als Carl Zuckmayer 1927 sein Volksstück Schinderhannes herausbrachte, war er bereits ein gefeier ter Draamatiker. Zwei Jahre zuvor wurde Der fröhliche Weinberg, eine derbe, übersprudelnde Komödie aus seiner rheinhessischen Heimat, zu einem der größten Kassen schlager der Zwanzigerjahre. Zuckmayers Beschäftigung mit dem Mythos Schinderhannes basierte auf seiner ureigensten Bindung an seine Heimat. Als Sohn eines Nackenheimer Weinflaschenkapsel fabrikanten wuchs Zuckmayer mit den Schinderhannes-Legenden auf. Nach dem Notabitur in Mainz nahm er am Ersten Weltkrieg teil, anschließend ging er zum Studium an die Universitäten Frankfurt am Main und Heidelberg. Zuckmayer fing als Dramaturg in Kiel an und beschäftigte sich dort bereits 1923 mit dem Schinderhannes-Stoff. Er verfasste Die Mainzer Moritat vom Schinderhannes und entsann sich seiner Ballade, als er nach dem Erfolg von Der fröhliche
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Weinberg auf der Suche nach einem neuen Bühnenstoff war. Er begann sie zu dramatisieren. Carl Zuckmayers Version des Schinderhannes beschreibt in Volkst heatermanier einen lebensfrohen Mann, der es genießt bei der Entstehung der Mythen, die sich um ihn ranken, dabei zu sein. Im Kunstdialekt verfasst, schafft er eine Gemeinschaftssituation die Identität durch Authentizität vermittelt. Zuckmayers Schinderhannes lernt Julchen Blasius kennen, die sichihm und seiner Räuberbande anschließt. Mit dieser führt er eine Art Privatkrieg gegen die französische Armee und die von ihr unterstützten Kaufleute und Geschäftemacher. Die Bande löst sich nach dem sinnlosen Kampf gegen die einmarschierenden f ranzösischen Rheintruppen auf. Ein Teil seines Gefolges lässt sich jenseits des Rheins bei den Preußen anwerben und Schinderhannes, der inzwischen Vater geworden ist, wird von früheren Kumpanen verraten. Er wird den Franzosen übergeben und in Mainz geköpft. Es kommen ca. 40.000 Zuschauer zur Hinrichtung. In seiner Dramatisierung weicht Zuckmayer stark von den historischen Tatsachen ab. Bückler ist kein soziales Engagement nach zuweisen. Im Schauspiel bekommt er heldenhafte Züge, das sich damit in die traditionelle Verklärung des Räubers einreiht. Zuckmayer selbst sah in seiner Hauptfigur
eine Gestalt die „sich allmählich aus der Wirklichkeit löst, legendär und unsterblich wird, eine solche Gestalt, verkörpert die heimlichen Wunschträume und das innerste Wesen eines Volkes, einer Rasse, einer Landschaft, überhaupt der wahren menschlichen Natur. Der Schinderhannes, der sich nichts gefallen lässt, der nimmt, was er findet, der hergibt, was er hat, der die Bedrücker hart angeht und gut Freund ist mit allem Volk, der seine Feinde mit einem Lachen abtut, seine Verfolger an der Nase herumführt, der sein Leben riskiert für einen guten Witz und auf den Volksfesten tanzt, singt, säuft, während hundert Gendarmen die Wälder nach ihm absuchen – der Schinderhannes, auf den die Frauen fliegen und der mit seinem Elan, seiner Jugend, seiner wilden Grazie und seiner stählernen Energie die Bande wüster Krakeeler und Maradeure beherrscht und zwingt: so ein Kerl möchte jeder gern sein, und selbst wer über Tag bis über beide Ohren in Ehrbarkeit steckt –, nachts regt sich auch in ihm zuweilen der Drang zum verteufelten Burschen.“ (Aus Babara Glaubert, Carl Zuckmayer – das Bühnenwerk im Spiegel der Kritik) Der Schinderhannes war ein großer Publikumserfolg für Zuckmayer, wenn das Stück auch von der Kritik eher gespalten aufgenommen wurde. Nach seinem Durchbruch als Autor, schrieb
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Zuckmayer u.a. das Drehbuch für den Film Der blaue Engel und verfasste seinen berühmten Hauptmann von Köpenick, in dem er mit historischen und sozialkritischen Bezügen den preußischen Büro kratismus und Militarismus anprangerte. Von den Nationalsozialisten ausgebürgert, wanderte
Zuckmayer mit seiner Familie in die USA aus und versuchte sich dort u.a. als Farmer. Er schrieb das Drama Des Teufels General, konnte jedoch nach seiner Rückkehr aus den USA nie wieder an diesen großen Nachkriegserfolg anknüpfen. Zuckmayer starb 1977 im Alter von 80 Jahren in der Schweiz.
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Gesamtzahl der nachweis baren Straftaten Bücklers: 130 8 — 9
Lebensdaten des Johannes Bückler, genannt Schinderhannes * Herbst 1779: Geburtsort vermutlich Weidenbach oder Miehlen bei Nastätten / Taunus Tätigkeit des Vaters: Scharfrichterknecht, Abdecker / Schinder (somit Herkunft aus einer „unehrlichen Familie“), Feldschütz, zuletzt Tagelöhner und Bauer Wohnort bis 1783 in Miehlen (bei Nastätten / Taunus), Flucht der Familie wegen Leinwanddiebstahls der Mutter, anschließend als „Bettler“ bis nach Ölmütz in Mähren ziehend, dort Anwerbung des Vaters als Soldat 1788 / 1789: Der Vater desertiert, die Familie zieht nach erzweiler im Hunsrück, Wohnort des Großvaters M Ende 1795 oder Anfang 1796: Beginn der kriminellen Karriere des Schinderhannes, dreimal Aufnahme und Tätigkeit als Lehrjunge bei Abdeckern. In der Folgezeit sind 40 Vieh- und Pferdediebstähle, ein Einbruch mit mehreren Spießgesellen sowie die Teilnahme und / oder Mittäterschaft an zwei vorsätzlichen Tötungen nachweisbar Februar bis August 1799: Gefangenschaft im Turm zu Simmern, a nschließend Flucht und seitdem häufiger Aufenthalt im Rechtsrheinischen, vor allem Taunus, Wetterau und Vorderen Odenwald November 1799 bis Mai 1802: Bückler begeht über 70 Straftaten, u. a. Erpressungen, Raubüberfälle und Einbrüche, ist T eilnehmer bzw. Mittäter an zwei vorsätzlichen Tötungen und einem Raub mit Todesfolge 31. Mai 1802: Festnahme bei Wolfenhausen, Abtransport nach Frankfurt, Auslieferung an die Franzosen nach Mainz am 16. Juni 1802 24. Oktober – 16. November 1803: Gerichtsverhandlung vor dem französischen „Spezial-Kriminal-Tribunal“ in Mainz, Urteilsverkündung am 20. November + 21. November 1803: Hinrichtung durch Guillotine mit 19 Mittätern am heutigen Mainzer Stadtpark Täter und Tatverdächtige: 96 (Stand August 2014)
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MYTHOS SCHINDERHANNES Mark Scheibe Wir suchen die Wahrheit, finden wollen wir sie aber nur dort, wo es uns beliebt. In einer Zeit, als unsere Heimat jahrelang von den Kriegswirren der Französischen Revolution ver unsichert wurde und Sicherheit und Ordnung an vielen Orten nicht mehr gewährleistet werden konnten, versuchten vor allem viele junge Burschen ihr Auskommen als Glücksritter. Johannes Bückler war nur einer von vielen, die es zuhause nicht mehr hielt und die sich ein freies Leben außerhalb der sozialen Schranken wünschten. Doch wie konnte ein Gauner so eine mediale Aufmerksamkeit auslösen? Einen Verbrecher nach der Zahl seiner Straftaten zu messen, ist nicht sonderlich schwierig. Doch der Rufname Schinderhannes war bald schon mit einem Mythos umgeben, der den Blick auf die historische Figur verschleierte. Wie konnte es dazu kommen, daß ihm bereits zu Lebzeiten und noch heute eine solche Aufmerksamkeit zukommt? Schon früh war der jugendliche Bückler ein bekanntes Gesicht. Bereits am Beginn seiner kriminellen Karriere in Hunsrück und Nordpfalz 1795/96, in der er vorzugsweise Viehdiebereien beging, soll der damals 16jährige
Bückler „überall herum gelegen, und auf Kirchweihen sein Wesen getrieben (haben)“, wie sich der Handelsmann Dreitel Moyses aus Rheinböllen erinnerte. Als Bückler im Juli 1798 von dem F riedensrichter Fölix zu Herrstein gefangengenommen wurde, „fand (dieser) den Schinderhannes schon zu namhaft, als daß er ihn hätte abfertigen können.“ Bücklers darauf folgende Flucht aus dem Gefängnis von Saarbrücken „hatte (...) überall große Sensation gemacht. Der Name Schinderhannes war in den Registern der Polizeybehörden kein unbekannter Name mehr; vor allen Gerichten scholl er wieder. Es war kein Landstreicher, kein Dieb eingefangen, der nicht bekannte, mit dem Schinderhannes bald diese, bald jene That verübt zu haben, und der ihm nicht, um sich selbst rein zu brennen, die meiste Schuld zugeschrieben hätte.“ Zur Jahreswende 1798/99 wurde Bückler schon steckbrieflich gesucht. Aber wohl erst nach seiner Flucht aus dem Turm zu Simmern im August 1799, nach der er auf der anderen Rheinseite in Taunus, Wetterau und Odenwald untertauchte und von dort aus die Raubüberfälle in Hunsrück und Nordpfalz unternahm, drang sein Name bis zur Spitze der französischen Regierung vor. Es ist heute davon auszugehen, daß der gerade erst an die Macht gekommene Napoleon Bonaparte dieses überregional bekannte Feindbild Schinderhannes als Rechtfertigung, weitere
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Vollmachten im Staat für sich in Anspruch nehmen zu können, geschaffen hatte. Nicht ohne Bonapartes Weisung wird der in Mainz amtierende Generalregierungskommissar Jollivet am 16. Frimaire IX (07.12. 1800) im Amtsblatt der neuen vier linksrheinischen Departemente die „schleunige Arretierung und Bestrafung der Rädelsführer der Räuberbande verordnet“ haben. Mit dieser Räuberbande meinte Jollivet einen „Namens Pickler, genannt Schinderhannes, und mehrerer anderer Strassenräuber, die ihn für ihren Anführer erkennen (...)“. Diese würden „bewaffnete Banden von Mordbrennern, Mördern und Dieben organisiren, die durch ihre häufigen Frevelthaten die indivi duelle Sicherheit der Personen und des Eigenthums stören (...)“. Erstmals wurde Bückler hier als „Räuberhauptmann“ bezeichnet. Nun wurde auch die Pariser Presse auf den Verbrecher aufmerksam, die ihm zahlreiche Artikel widmete und seine Person und die Zahl seiner angeblichen Mittäter um ein Vielfaches überzeichnete: Hier galt er bereits als deutscher Baron und Hauptmann einer Bande von 600 Mitgliedern! Tatsächlich gibt es keinen Beleg, daß Bückler tatsächlich ein „Räu berhauptmann“ war, solche Banden organisierte – und schon gar nicht mit der von der Presse genannten Zahl an Bandenmitgliedern.
etztendlich haben die im Dezember L 1800 ergangene Verordnung, ihn einzufangen, als auch die Pariser Presseartikel die eigentlichen Beiträge zu der nun folgenden Legendenbildung gebildet. Aber was hat es mit der Bezeichnung „Räuberhauptmann“ auf sich? Eine Bande (im Rechtssinn) ist eine auf gewisse Dauer gegründete Gemeinschaft, mit dem Ziel bestimmte Straftaten zu begehen. Bei Bückler waren es jedoch vielmehr spontane Zusammenschlüsse, die ebenso rasch wieder auseinandergingen. Oft erfolgten diese Versammlungen sogar wahllos: „Hans (...) schickte (umher), alle Strolchen, Abentheurer und Glüksjäger aus der Nachbarschaft zu sammeln.“ Daß Bückler kein „Räuber hauptmann“ war und im wesentlichen Presse und Politik ihn zu einem solchen machten, wird weiter gestützt durch ein erst vor kurzem entdecktes Schinderhannes-Bild, das die leidgeprüfte (christliche) Landbevölkerung von ihm zeichnete: So sehen ihn die Nachfahren der vor knapp 200 Jahren aus Hunsrück und Hessen nach Brasilien Ausgewanderten, die nie einen deutschen Roman oder Kinofilm über Schinderhannes gesehen hatten, nur als Nichtnutz, Pferdedieb oder unzuverlässigen Menschen, der trotz seines Versprechens, zu helfen, seine Worte bald vergaß.Man verbindet seinen Namen gar nicht mit dem eines Räuberhauptmanns!
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Schaut man in die damaligen Strafakten der Region, wird schnell deutlich, daß Bückler und seine Mittäter nur wenige von vielen Ganoven waren, die das Land verunsicherten und keinesfalls die Kriminalität in einem bestimmten Landstrich dominierten. Bei einer Bevölkerungsgruppe jedoch wurde sein Rufname Programm: Seit Ende des Jahres 1799 beging Bückler zahlreiche Raubüberfälle auf Juden bzw. erpreßte diese. „Schaarenweise wanderten (die Juden) von den Dörfern in entfernte Städte (...) aus. Schon bei seinem bloßen Namen überfiel sie ein Zittern. Ganze Judengemeinden eröffneten daher mit ihm Unterhandlungen, und suchten sich mit ihm abzufinden, um sicher reisen zu können.“ Rebmann, Gerichtspräsident in Mainz, notierte später, daß „sein Name schon genug (war), ihnen Grausen und Schrecken einzujagen.“ Bemerkenswert ist, daß es zu diesen Übergriffen erst in den letzten zwei Jahren der aktiven Laufbahn Bücklers kam. Angeblich riet ihm sein Vertrauter Leyendecker Anfang des Jahres 1800 dazu, in Judenhäuser einzubrechen. Ein Überblick über seine Straftaten zeigt aber, daß viele auch gegen Christen gerichtet waren, es also Bückler ausschließlich darauf ankam, zu Geld zu kommen, und dabei möglichst wenig Gegenwehr zu erwarten. Gerichtspräsident Rebmann entschuldigte Bücklers Vorgehen gegen die Juden wie
folgt: „Theils (…) glaubten sie (Schinderhannes und seine Mittäter) bey der Mißhandlung eines armen Juden nur halbe Sünde zu begehen, da Fürsten, Gesetzgeber, Richter, Diener Jesu u.s.w. ihnen nirgends mit viel edlerm Sinn beyspielhaft vorangiengen.“ „Sie glaubten, es sei keine große Sünde (...), einen Juden zu bestehlen und zu mißhandeln; so waren dieß doch meistens Früchte der ihm wie vielen tausend andern eingeimpften Vorurtheile. Ohne diese Vorurtheile wäre Johann Bückler vielleicht nie der grausame Verbrecher geworden, der er ward.“ Aber nicht nur Straftaten führten zu seinem Ruf. Bereits als 16jähriger fiel er seinem Lehrmeister Nagel wegen seiner „Stärke und seines entschlossenen Wesens“ auf. „Seine angenehme Gestalt, seine Unverdrossenheit, seine Lebhaftigkeit des Geistes machten ihm im Hause des Scharfrichters alles zu Freunden.“ Andererseits verschaffte ihm auch seine „starke und gwandte Faust (...) bald Achtung“, wie auch seine „geistige Überlegenheit“. Bücklers steigende Bekanntheit führte – vermutlich in den letzten zwei Jahren seiner Freiheit – schließlich dazu, dass es „nichts Ungewöhnliches (war), daß man sich mit gaffender Neugier hinzudrängte, den berüchtigten Spitzbuben zu sehen, von welchem man noch mehr Thaten erzählte, als er jemals verübt hatte.“ Erheblich zu seinem Bild in der Öffentlichkeit muß auch beigetragen
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haben, daß er „oft (...) Bekannte und Fremde beim Zechen und Tanzen frey (hielt), und es that dem Krämer Ofenloch (sein rechtrhein isches Pseudonym, Anm. des Verf.) in der Seele wohl, wenn all’ die armseligen Schlucker ihm schmeichelten, und wetteiferten, ihm Ehre zu erweisen.“ Weitere „gute“ Taten gegenüber den Armen in dem Umfang, daß man ihn sogar als Robin Hood gelten lassen könnten, sind jedoch in den Quellen nicht zu finden. Nach seiner Flucht aus Simmern im August 1799 – ab hier datiert die Zeit, in der er vorzugsweise auf Raubüberfälle ausging – kleidete er sich rechtsrheinisch immer als ehrbarer Bürgersmann, vermutlich um nicht aufzufallen. Links des Rheins trat er in der Uniform eines Jägers auf. Mit Sicherheit diente diese Verkleidung dazu, nicht an gehalten zu werden. Wenige Wochen vor seiner Festnahme 1802 gab er sich sogar eine Zeitlang als deutscher Baron aus. Aber sein Außenbild hatte auch hier zwei Seiten: Anders sahen ihn seine Richter, die während der anderthalb Jahre währenden Ge fangenschaft des Räubers in Mainz ihn als „roh, wild, auffahrend, ohne moralische Grundsätze“ beschrieben. Selbst im Prozeß muß er noch Zeugen bedroht haben, die schlecht von seinem Vater und Julchen erzählten, um sie zum Schweigen zu bringen.
„Bemerkenswerth ist, daß sich Schinderhannes für einen Mann von Ehre hält (...)“, berichtete der die Hauptverhandlung besuchende Journalist des Frankfurter StaatsRistretto wiederholt. Auf die Bemerkung, daß ein Künstler ihn portraitierte, erwiderte Bückler: „Laß Du den Mann gehen, ich habe ein ehrliches Gesicht, das sich nicht zu scheuen braucht; wer sich fürchtet, mag sich umkehren.“ Sein eigentümliches Verständnis von Ehrlichkeit wird umso merkwürdiger, wenn man berücksichtigt, daß es sich vor allem erst in der gegen ihn geführten Hauptverhandlung in Mainz herausgestellt hatte, mit welcher Rohheit die Taten der Räuber gezeichnet waren. Bückler war bei seinen Taten nicht weniger zögerlich als seine Mittäter. Vier mit erheblicher Gewalt und auch Folterung begangene Taten verschwieg Bückler zunächst, bis man ihn aufgrund von Gegenaus sagen überführen konnte. Bereits kurz nach seiner Ankunft in Mainz im Juni 1802 informiert ein Flugblatt mit sachlich gehaltenem Inhalt, daß Bückler ein „großmüthiger Räuber auf keinen Fall (war); er hat sich Mordthaten zu Schulden kommen lassen, die mehr von einem heimtückischen und blutgierigen Charakter zeugen.“ Zum Zeitpunkt seiner Hinrichtung war Bückler aber trotz der sich in der Hauptverhandlung bestätigten Brutalität seiner Überfälle auf dem Höhepunkt seiner Verehrung:
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Der 14jährige J. K. Friedrich reiste aus Offenbach/ Main unter dem Vorwand, er müsse zur Geburts tagsfeier seines Vaters, zur „Exekution seines Helden“ nach Mainz: „Ich hatte schon so viele und seltsame Dinge von diesem Schinderhannes erzählen hören, daß ich mir ein großes Genie, einen wahren Wundermann unter demselben dachte, den zu sehen ich weiß nicht was gegeben hätte. (...)“ Während der Schiffspassage stellt er fest, „(daß jedes) dritte Wort Schinderhannes war, von dem man sich die wunderlichsten Abenteuer und Anekdoten, wahr oder erfunden, erzählte. Der Moment, als das Beil fällt, blieb Friedrich folgend in Erinnerung: „(...) mir (entfuhr) ein tiefer Seufzer (...), und ich lispelte: Rinaldo Rinaldini ist nicht mehr!“ Spätestens ab diesem Zeitpunkt, der mit 30.000 oder 40.000 Menschen besuchten Hinrichtung, stand Schinderhannes bei dem Romane verschlingenden bürgerlichen Lesepublikum in einer Linie von Schillers Räuber und Vulpius’ Rinaldini. „Kaum erschien Herr Vulpius mit seinem Rinaldo Rinaldini, als tausend unsrer Damen dieß Werk des kühnen Räubers anstaunten, und man sagt, daß der berüchtigte Räuber-Hauptmann Schinderhannes, deßen Thaten die heilige Justiz in Mainz nunmehr ein Ziel gesteckt hat, seine Bande ganz nach Rinaldinis Regeln organisirt, und er sogar seinen Beraubten Freiheitskarten ausgestellt habe.“
Bücklers heute noch vorhandener Mythos ergibt sich vor allem aus dem Punkt, dass bereits während seiner Zeit im Mainzer Gefängnis zwei Biographien mit dem Titel Schinderhannes erschienen, die eine vollständig fiktive Lebensgeschichte erzählten. Hier war er bereits zu dem „edlen“ Räuber, charismatischen Führer, fröhlichen Hallodri geworden, wie es sicherlich von der Politik nicht gewollt sein konnte. Das lese hungrige Publikum muß diese Romane verschlungen haben, denn sie sind heute greifbarer als die authentischen Lebensgeschichten von Becker (1804) und Weitzel (1804). Die angebliche Biographie – basierend auf den zwei erfundenen Stories – entwickelte sich schnell weiter: An der Wende zum 20. Jahrhundert schließlich hatten zwei sehr umfangreiche Reihen von Groschenromanen in Fortsetzungs folgen den Mythos in alle Gesellschafts- und Altersschichten hin verbreitet. Begeistert wurden sie vor allem von der Jugend gelesen. Im Anschluss daran veröffentlichte der im Dritten Reich als „Blut und Boden-Schreiber“ bekannte Autor Curt Elwenspoek zuerst 1925 die wohl auflagenstärkste Schinderhannes-Biographie Der rheinische Rebell, die 1953 deutlich erweitert neu aufgelegt wurde. Der Titel des Buches war zugleich Programm, und an Kritikern fehlte es Elwenspoek dadurch nicht. So griff ihn Hermann
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Bettenhäuser, ein Kenner der Kriminalität der Zeit Napoleons, posthum an, er habe „aus dem etwas schmierigen, jugendlichen Gauner von recht kleinem Format in psychologisierender Betrachtungsweise gar so etwas wie einen trotz kleiner Fehler typischen Vertreter rheinischen Volkstums, eine Art liebenswürdigen Eulenspiegel, der allein durch die Schuld der bösen Umwelt entgleist sei, zu machen versucht.“ Daraufhin folgten Carl Zuckmayer
1927 mit dem bekannten Drama Schinderhannes, Kurt Bernhards Film 1928 mit dem Schinderhannes in der Rolle eines Freiheitskämpfers gegen die Franzosen und Helmut Käutners Film von 1957, in den Hauptrollen besetzt mit Curd Jürgens und Maria Schell. So hat sich der Mythos Schinderhannes bis in das 21. Jahrhundert erhalten, während die historischen Figuren, Täter und Opfer, in den Hintergrund getreten sind.
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FOTOS S. 4 S. Brandes, M. Pietsch; S. 7 A. Dillenberger, U. Beerbaum, A. Berman,L. Schulz, M. Dortschy; S. 12–13 U. Beerbaum, S. Brandes, L. Schulz, J. Schmidt; S. 17 D. Friedl, H. Momann, S. Brandes, M. Pietsch; S. 19 oben L. Klee, D. Friedl, S. Brandes, M. Pietsch, H. Momann, M. Dortschy, L. Schulz; S. 19 unten D. Friedl, S. Brandes, M. Pietsch, L. Klee, J. Schmidt, H. Momann, L. Schulz, U. Beerbaum
NACHWEISE Der Text Mythos Schinderhannes wurde von Dr. Mark Scheibe aus seinem Buch „Schinderhannes- Nichtsnutz, Pferdedieb, Räuberhauptmann?“, 6. Aufl. 2014 zusammengestellt. Das Zitat auf S.10 aus: „Aphorismen“ von Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach, 1893. Das Zitat auf S. 5 von Alfred Polgar aus dem Buch: „Carl Zuckmayer – das Bühnenwerk im Spiegel der Kritik“, hrsg. v. Babara Glaubert, Frankfurt a.M., 1985. Das Zitat auf S.20 ist aus „Die Mainzer Moritaten vom Schinderhannes von Carl Zuckmayer“, in: „Schinderhannes: Prozess und Urteil 1803.“ Katalog zur Ausstellung Schinderhannes. Prozess und Urteil 1803; Ausstellung des Stadta rchivs Mainz im Mainzer Rathaus 18.10. bis 23.11.2003 und im Schloss Villa Ludwigshöhe 11.1. bis 28.3.2004, hrsg. v. Wolfgang Dobras, Mainz: Kultur dezernat; Mainz: Stadtarchiv, 2003.
IMPRESSUM Spielzeit 2014 / 2015 Herausgeber Staatstheater Mainz www.staatstheater-mainz.com Intendant Markus Müller Kaufmännischer Geschäftsführer Volker Bierwirth Redaktion Patricia Nickel-Dönicke Druck Druckerei Hassmüller, Frankfurt / Main Visuelle Konzeption Neue Gestaltung, Berlin
Alle Probenfotos stammen von ©Bettina Müller. Das Titelbild zeigt Sebastian Brandes und wurde von Lucia Vonrhein und Felix Harms gestaltet. Lumpenhund / Galgenstrick Musik von Anton Berman Lyrics von Henner Momann Background Gili Goverman Wir danken der Stiftung Historische Kommission für die Rheinlande 1789–1815 Treuhänder Dr. Dr. Mark Scheibe Am Weiherhaag 4b, 65779 Kelkheim T 06195 987 6567, 01525 3169799 www.stiftung-hkr.info für ihre Unterstützung! Dank an Nicole Weber, Prof. Dr. Andreas Lehnardt, Tom Brenner und den SchülerInnen der Theater AG des Rabanus Maurus Gymnasiums
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Und wär ich jung und hätt die Wahl ich machte alles noch einmal!
www.staatstheater20 — MF