Theater Erlangen Programmheft Antigone

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ANTIGONE von Sophokles, Deutsch von Friedrich Hölderlin, bearbeitet von Martin Walser

ANTIGONE … Gitte Reppin ISMENE … Chris Nonnast KREON … Florian Hänsel HÄMON … Steffen Riekers CHOR 1 … Robert Naumann CHOR 2 … Alexander Weise BOTE/CHOR 1 … Robert Naumann BOTE/CHOR 2 … Alexander Weise TIRESIAS … Chris Nonnast WÄCHTER/CHOR 1 … Robert Naumann WÄCHTER/CHOR 2 … Alexander Weise REGIE … Schirin Khodadadian BÜHNE UND KOSTÜME … Carolin Mittler MUSIKALISCHE EINRICHTUNG … Katrin Vellrath DRAMATURGIE … Stefanie Symmank LICHT … Ernst Schießl REGIEASSISTENZ … Kathleen Draeger | REGIE- & DRAMATURGIEHOSPITANZ/SOUFFLAGE … Hoai Phuong Tran Thi | T ­ ECHNISCHE LEITUNG … Ernst Schießl | PRODUKTIONSLEITUNG … ­Sabine Winkler | BÜHNENMEISTER … Horst Ullmer | LEITUNG BELEUCHTUNG … Ernst Schießl | LEITUNG TON … Jennifer Weeger | LEITUNG KOSTÜM … Karin Anders | L­ EITUNG REQUISITE … Pier Angelo Mombelli | LEITUNG MASKE … B ­ rigitte McNaughtan | WERKSTATTLEITUNG … Barbara Hoffmann | STELLVERTRETUNG … Frauke Bornfeld | WERKSTATT … Elisabeth Popp, Patrick Lang, Jörg Seifert, Harald Stockmeyer | ­BÜHNENTECHNIK … Daniel Drechsler, Sebastian Ebert, Dima Riewe, Antonin Slaby, Helmut Stumvoll, Bernd Wagner | ­BELEUCHTUNG … Stephanie Borchardt, Franziska Budschigk | TONTECHNIK … Christoph Panzer | GEWANDMEISTERIN … ­Renate Aurnhammer, Sandra Zeller | SCHNEIDEREI & ­GARDEROBE … Jelena Graupner, Stefanie Luft | REQUISITE … M ­ adita Petzold | AZUBIS ­BÜHNENTECHNIK …Gunnar Anheuer, Vedran Avramovic, Axel Hack, Daniela ­Schulze, Paula Smejc-Biord PREMIERE … 13. Januar 2011 | MARKGRAFENTHEATER | DAUER … 1 h 30 Min., keine Pause | RECHTE … Suhrkamp Verlag, Berlin

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BOTE: (…) und es kommt zum Streit an der Wegkreuzung zwischen Laios und Ödipus, und keiner kennt den anderen, und Ödipus bringt Laios um und kommt nach Theben und besiegt die Sphinx und wird in Theben König und heiratet die Königswitwe, seine Mutter, und hat mit ihr vier Kinder, Polyneikes, Eteokles, Ismene und Antigone. Und jetzt bricht die Pest aus. Und das Orakel sagt: Vertreib den Mörder des Laios. Und Ödipus erfährt von Tiresias, dem Seher, er selber sei der Mörder. Und sticht sich die Augen aus. Und Jokaste, seine Frau und Mutter, erhängt sich. Und die Brüder Polyneikes und Eteokles beschließen vernünftig: jeder regiert immer nur ein Jahr, dann der andere ein Jahr. Und Eteokles will nach dem ersten Jahr weiterherrschen und er verbannt den Bruder Polyneikes, und der flieht zu den Argaiern und kehrt zurück mit einem Heer und greift Theben an und steht schließlich Eteokles alleine gegenüber, und es tötet einer den anderen. Theben schlägt den Angriff ab und feiert jetzt den Sieg. Das ist die Lage. Geschichte, blutige Koloratur.

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ABER GEGENWART IST BLIND, WENN SIE NICHT WEISS, WOHER SIE KOMMT. Wie alles begann … Die Geschehnisse beginnen mit dem Erdenwandel des Olympiers Zeus. Der Oberste der Götter hatte sich in einen zahmen weißen Stier verwandelt und die phönizische Königstochter Europa nach Kreta entführt. Europas Bruder Kadmos wurde vom Vater ausgesandt, die Geraubte zu suchen. Dazu angewiesen vom Orakel in Delphi gründete Kadmos in Boiotien an der Stelle, wo eine Kuh sich niederließ, die Kadmeia, die Burg des späteren Theben. Unweit von diesem Ort hauste ein schrecklicher Drache. Diesen tötete Kadmos und säte die Zähne des Untiers aus. Aus der Drachensaat erhoben sich geharnischte Krieger von wildem Aussehen und Wesen. Kadmos reizte sie durch einen in ihre Mitte geworfenen Stein, sich gegenseitig im Kampf zu töten. Nur fünf blieben übrig. Diese „Sparten“ (Gesäten) wurden die Stammväter des theba­nischen Adels. Sie bauten mit Kadmos die Stadt Theben auf. Menoikeus, der Vater Kreons, stammt von ihnen ab. Ein Enkelsohn des Kadmos wurde zum Begründer des Geschlechts der Labdakiden. Sein Name war Labdakos. Dieser hatte einen Sohn: Laios. Und dieser war mit der Thebanerin J­okaste, Kreons Schwester, vermählt. Da die Ehe zunächst kinderlos blieb, wandte sich Laios an das Orakel in Delphi, um Auskunft über die künftige Entwicklung seiner Familie zu erhalten. Er bekam die schicksalsschwere Ankündigung, dass ihm bald ein Sohn geboren werde, der seinen Vater erschlagen und seine eigene Mutter ehelichen würde. Damit erhielt Laios gleichsam die Quittung für eine begangene Jugendsünde. Er hatte in jungen Jahren einen Jüngling namens Chrysippus nach Theben entführt. Der Vater des Jungen verfluchte daraufhin Laios: Niemals soll ihm ein eigener Sohn beschieden sein; falls aber doch, so werde dieser den eigenen Erzeuger töten. Das ist der eigentliche Fluch, der auf dem Geschlecht der Labdakiden lastet und der das Schicksal weiter und weiter vorantreibt. Natürlich versucht Laios der Prophezeiung zu entgehen und setzt seinen Sohn mit durchbohrten Füßen nahe Theben aus, damit dieser dort von wilden Tieren zerrissen wird. Doch korinthische Hirten finden den Knaben und übergeben ihn dem König Polybos. Dieser gibt ihm, aufgrund seines Schwellfußes, den Namen Ödipus. In dieser Zeit wird Theben von einem Ungeheuer, der Sphinx, heimgesucht. Diese stellt den vorbeikommenden Reisenden Rätsel; wer sie nicht lösen kann, wird erwürgt und verschlungen. Also macht sich König Laios auf den Weg nach Delphi, um das Orakel zu befragen, wie die Sphinx besiegbar sei. Doch Laios kommt in Delphi nie an. Denn zur gleichen Zeit kommt Ödipus vom Orakel in Delphi, wo er erfahren hat, er werde seinen Vater töten und seine eigene Mutter zum Weibe nehmen. Ödipus wendet sich ab von Korinth und macht sich auf den Weg nach Theben, unwissend, dass dies seine wahre Vaterstadt ist (…)

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ALLES EINE FRAGE DER – RICHTIGEN? – ENTSCHEIDUNG Ein Interview mit Regisseurin Schirin Khodadadian

„Ungeheuer ist viel. Doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.“ posaunt der Chor. Eine These, die in dem Stück bewiesen werden soll? SCHIRIN KHODADADIAN: Die antiken Texte, die theatralische ‚Ursprungsliteratur’ hat sich nicht umsonst mehrere tausend Jahre überliefert. Die Bühnenmonster erzählen monströse Geschichten, die nichts weiter brauchen als den Menschen in seinem Ringen um soziale Verortung zwischen Gesetz und Gefühl. Diese Zerrissenheit angesichts der einfachsten Fragen nach sinnvollem Handeln in einer selbstgeschaffenen Welt begegnet uns; und deshalb ein einfaches Ja auf diese Frage. Die Auswahl der Übersetzung und Bearbeitung dieser griechischen Tragödie scheint mir sehr wichtig. Wie haben Sie sich entschieden? S. K.: Wir haben uns für die Hölderlin-Übersetzung entschieden. Hölderlin hat zwar Passagen, die seinem eigenen Befragen des Abgrunds nicht zuträglich waren, schnell mal unterschlagen und so den Text umgeschrieben, die Bildgewalt des Analytischen und die Tatsache, dass alles aus und wegen der Sprache entsteht, scheinen mir aber das Eigentliche. Martin Walser konzentriert in seiner Bearbeitung den Text auf diesen Kern hin und spitzt die Konflikte zu. Das Lyrische führt zu einer Härte und nicht ins melancholisch Verblümte. Vor allem die ­Personalisierung des antiken Chors hat uns gereizt, denn bei Walser bekommt die antike Masse ein eigenes Gesicht und wird erschreckend konkret. Was ist für Sie das Faszinierende an dem Stoff? S. K.: Da ist die Radikalität einer weiblichen Titelfigur, die zum Spielball ausschließlich patriarchaler und machterhaltender Konzepte werden soll, sich aber diesem System verweigert und damit die Unmöglichkeit thematisiert, in dieser Welt noch an etwas zu glauben. Und dieser Glaube führt aus dem Leben, hin in eine andere Welt. Zurück bleibt das System, das sich selbst die Zukunft raubt. Wohin treiben wir in einer politischen Handlungsunfähigkeit? Das Versprechen und Wegsprechen der direkten, naiven Emotion, die bedingungslos sein will, dafür steht dieser Text immer wieder neu im Hier und Jetzt ein. Das Irdische gegen das Göttliche, das Männliche gegen das Weibliche, Gesetz gegen Überzeugung – Antigone und Kreon sind zwei Sturköpfe, oder? S. K.: Ja – aber mit einem qualitativen Unterschied: Kreon hat Angst vor Macht­ verlust und Antigone behauptet ihren Glauben. Dabei bleibt sie nicht nur Sympathieträgerin. Die Frage stellt sich eher danach, warum die beiden stur sein müssen, warum es bis heute unsere Sehnsucht ist, beide Prinzipien zu vereinbaren, wir uns aber doch immer wieder für eine Seite entscheiden müssen oder die Gesellschaft es zumindest von uns verlangt. Soviel zum ‚Ungeheuer’.

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MENSCHSEIN EINE STÜCKBETRACHTUNG Seit mehr als 2400 Jahren würde es wohl genügen, einfach einen Punkt hinter den Titel ANTIGONE zu setzen. Die in theatrale Form gefasste Sage um die Jüngste aus dem Schicksalsgeschlecht der Labdakiden, die gegen das Verbot des Königs den toten Bruder bestattet und damit den Dialog und den Kampf um die wahren Richtlinien menschlichen Handelns eröffnet, hat sagenhafte Textmassen produziert; nicht verwunderlich, dass jeder sofort weiß – oder zumindest glaubt zu wissen – worum es geht, wofür diese Figur und dieser Text stehen. „Die Geschichte zeigt, dass trotz glänzender Gewissenstaten auf dem Papier der Literatur und der Philosophie der politische Missbrauch des Gewissens nicht verhindert wurde und wahrscheinlich auch in Zukunft nicht verhindert werden wird.“, schreibt Martin Walser. „Wozu also Antigone und Josef K.? Was bringt die Antigone heute? Die Gegenstimme!“ Die „Empörerin gegen die Gefangen­ nahme des Gewissens“ schafft allein die Erschütterung des Systems und setzt ihr Leben ein, um in der anderen Welt so etwas wie Glück zu finden. Und so müssen das Schicksal der eigenen Urteilskraft und das Dilemma um die Ununterscheidbarkeit der richtigen Wahl bei der richtigen Wahrheit seinen Lauf nehmen. Familie oder System? Götter oder Gesetze? Alle Figuren tragen beide Seiten in sich und sind zerrissen angesichts dieses Wissens um den Gegenentwurf. Der Text spiegelt das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft. Wir treiben die Konflikte und Sprachduelle auf die Spitze und beschreiben den Widerspruch im sprachlichen Gestus. Leerstellen und Rhythmusverschiebungen nehmen im Verlauf der Geschichte zu und ausführlichste Argumentationen prallen manchmal nur an einem einzigen Wort ab. Der Kommentar eines allgemeinen Wissens oder Gewissens bemerkt nicht nur den Stand des Geschehens, sondern schafft erst seine Spielfläche und geht noch weiter, indem der Chor die Handlung aktiv vorantreibt und die nächsten Spielfiguren ins Feld schickt. Eine Versuchsanordnung, die wir stärker ausgestellt haben, indem wir sowohl den Chor als auch Tiresias als Alter Ego des Geschichtswissens, der Unabänderlichkeit des Schicksals, mehrfach besetzt haben. Der Chor wird zum Boten und zum Wächter, entwickelt seine eigene Dynamik von Zögerlichkeit und Übermut, von pragmatischem Spielkommentar und hilfloser Sprachlosigkeit. Tiresias/Ismene wird am Ende selbst zum Chor, dem sich Antigone und Hämon anschließen, als Chor der Untoten, die unerlöst bleiben müssen. Eurydikes Geschichte bleibt ein Botenbericht. Inhaltlich ergibt sich aus den for­malen Eingriffen eine Betonung des Wissens um das Schicksal und das Entgegenwirken. Selbst wenn die Welt so sein muss, wie sie ist, oder der Mensch sie sich so schafft, wie er glaubt, dass sie sein müsste, muss es doch einen Weg geben, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu handeln. Oder nicht? Ein Abend über die Frage nach dem Sinn von Geschichte, der Gleichgültigkeit der Moderne gegenüber ihrer Vergangenheit, die ewige Wiederholung der fatalistischen Strukturen und vor allem über die Sehnsucht danach, etwas zu finden, das das Menschsein ausmacht. Schirin Khodadadian

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ANTIGONE EINE ATTISCHE TRAGÖDIE Das Dreigestirn Aischylos, der neunundzwanzig Jahre jüngere Sophokles und dessen zeitweiliger Jungkonkurrent Euripides gelten als die „Entwickler“ der antiken Dramenkunst. Fortgesetzt wurde das Werk, nachdem 406 v. Chr. auch das Leben des Letzten der großen Drei geendet hatte, mit den teilweise unsterblich gewordenen Komödien des Aristophanes. Die edelste der Dramenformen aber hatte ihren Zenit durchschritten: die attische Tragödie. „Tragodia“ bedeutet eigentlich „Gesang beim Bocksopfer“. Eine Erklärung des Namens bezieht sich auf die Opferung eines Bockes zu Ehren des Gottes Dionysos und den dabei gesungenen Kulthymnus, den Dithyrambos. Dieses Lied wurde vorgetragen von einem Chor aus Mitgliedern der Gemeinde, die das Fest des Gottes feierte. Der Ikarier Thespis stellte 534 v. Chr. diesem Chor erstmals einen Sprecher gegenüber, der das Vorgetragene erläuterte. Damit hatte die Geburtsstunde der Tragödie geschlagen, denn die entscheidende Voraussetzung für den Dialog war erfüllt. Aischylos führte einen zweiten und Sophokles einen dritten Schauspieler ein. So wurde die vom Chor unabhängige dramatische Handlung möglich. Die Tragödienstoffe entstammten fast ausnahmslos dem Mythos. Zeit­ geschichtliche Themen waren selten. Das Tragische wird zum Mittler zwischen Jahrtausenden. Sein Hauptelement ist das Pathos (griech. ‚­Leiden’). Es meint die Leidenschaft, die die Leiden bereitende Tat hervorruft ebenso wie erduldetes Leid. Die Wirkung des Pathos erzeugt Erschütterung und damit die entscheidende emotionale Voraussetzung für das Erreichen der K ­ atharsis, jener von Aristo­ teles definierten Lösung und Befreiung des Zuschauers aus seelisch-geistigen Verkrampfungszuständen. Die Leiden bringende Tat setzt nach Aristoteles einen gehobenen, aber nicht überhöhten Charakter voraus. Der Durchschnittsmensch muss den Täter verstehen, sich mit ihm noch identifizieren, Mitgefühl oder Furcht empfinden können. Besondere Forderungen stellt die antike Theorie des Tragischen an die Qualität der Tat. Sie soll eine Verfehlung aus menschlichem Unvermögen sein und darf niemals den Charakter des Niedrigen haben, sodass das Leid begründet und doch unverdient erscheint. Es gehört zum Wesen der tragischen Handlung, einerseits mit Furchtbarem und Erschreckendem Unlustgefühle zu erregen und andererseits mit den Mitteln der künstlerischen Gestaltung durch Wiedererkennung (Fortschreiten des Zuschauers vom Nichtwissen zum Wissen) und Peripetie (pointierter Wendepunkt in der Tragödie im Unterschied zum einfachen Schicksalswechsel) ästhetisches Ver­gnügen zu bereiten. Auf Antigone treffen beispielhaft die erwähnten Kriterien zu: ihr geistiger Ursprung, das unverdiente Leiden für eine Handlung, die edel motiviert ist, erschütternde Folgen, die sie schließlich in tiefer Vereinsamung den Tod finden lassen, die moralische Genugtuung der endlichen Zerstörung von Antigones Widersacher.

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SOPHOKLES Über den Autor und sein Wirken Das Leben des Sophokles währte neun Jahrzehnte. Geboren um 496 v. Chr. im athenischen Bezirk Kolonos erwarteten den Sohn eines reichen Fabrikanten Ehrenämter und besondere Würden. Sophokles nahm am Leben seiner Stadt tätigen Anteil, bekleidete hohe politische Positionen und übte priesterliche Funktionen im Kult athenischer Heilgottheiten aus. Die Überlieferung stellt ihn als einen Mann dar, den die Musen mit einem harmonischen, gewinnenden Wesen beschenkt hatten. Sein Werk zeigt ihn als einen Künstler, der den tragischen Inhalt seiner Stücke durch Maß und Ausgewogenheit der Form im Gleichgewicht hielt. Von seinen über 100 Tragödien sind uns nur sieben erhalten geblieben, die zwischen 468 und postum 401 v. Ch. uraufgeführt wurden. Diese sind in chronologischer Reihenfolge: Aias, Antigone, Die Trachinierinnen, König Ödipus, Elektra, Philoktet, Ödipus auf Kolonos. „Ungeheuer ist viel. Doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“. Ein Schlüsselsatz zur Frage: „Was ist der Mensch?“ Vielmehr ein Hinweis auf das Menschenbild des Sophokles. Gerade durch seine großgeartete Natur neigt der Mensch dazu, die Grenzen zu überschreiten, die ihm als einem Sterblichen von der Gottheit gesetzt sind. Er verletzt die göttlichen Ordnungen und zieht sich seinen Untergang zu, nicht so sehr durch eine persönliche, moralisch anrechenbare Schuld als vielmehr durch ein Verfehlen des Götterwillens infolge mangelnder Einsicht. Dieses Verfehlen kann auf Verblendung beruhen, auf einer Schein­ sicherheit, es kann aber auch in bester Absicht erfolgen, ja es scheint oft geradezu unvermeidbar und damit tragisch. Auch Menschen, die sich keiner Verfehlung schuldig gemacht haben, müssen leiden, weil ihr Schicksal, ohne dass sie es wissen, Teil eines göttlichen Plans ist. Aus dem Verfehlen des Götterwillens oder seiner Unerkennbarkeit ergibt sich die Tragik bei Sophokles. Dennoch ist er überzeugt, dass die Götter, obwohl rätselhaft und undurchschaubar, gerecht handeln, wenn sie die verletzte Ordnung wiederherstellen. Am Schluss seiner Tragödien enthüllt sich der göttliche Plan und es gilt anzuerkennen: „In alledem ist nichts, was nicht Zeus ist.“ Oder wie der Chor am Ende von Antigone spricht: „Und das Himmlische soll man halt achten.“ „Der Geschichtsdramatiker“, schreibt Benno von Wiese, „schaut das Vergangene oft im prophetischen Lichte einer erst dunkel geahnten Zukunft, sodass das Geschichtsdrama nach rückwärts und vorwärts zugleich gewandt ist.“ Auch Antigone fügt sich mit einem gewissermaßen übergeordneten Wirkungsaspekt in das Gesamtwerk des Sophokles ein: Die zahlreichen Frauengestalten bei Sophokles beweisen die Erhabenheit und Breite seiner Konzeption der Menschheit. Zum ersten Mal tritt hier die Frau neben den Mann als gleichberechtigte Vertre­ terin der Menschheit.

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ANTIGONE ODER DIE UNVERNUNFT DES GEWISSENS von Martin Walser Die Macht des Vorgesagten nimmt bei uns täglich zu. Kreon und Tiresias, der Staat und die Medien reden auf uns ein, immer im Namen der Vernunft. Die Vernunft ist dienlich. Man kommt über die Runden mit ihr. Im Augenblick. Die Vernunft ist das, was eine optimal konstruierte Maschine als die bestmögliche Lösung zu diesem Zeitpunkt anbieten kann. Die Vernunft ist ausgestattet mit Medienmacht. Und regelmäßig lässt die Vernunft herumfragen und nachzählen, wie viel Prozente sie wieder zur Zustimmung gebracht hat. Die Vernunft produziert Zustimmung wie eine Ware. Aber sie provoziert auch die Gegenstimme. Wenn wir Glück haben, dringt sie durch, wird auch öffentlich, weckt in anderen die schon im Zustimmen verlorengegangene innere Stimme, weckt Gewissen. Es ist jedem freigestellt, sich das Antigone-Beispiel auf seine Weise anzu­ eignen. Es kann einer in allen hier vorkommenden Stimmen seine eigene hören. Mich beeindruckt das, was Hölderlin heroische Virtuosität nannte. Vielleicht meint er damit, dass Antigones Gefallsucht einen höheren Anspruch hat als jede andere hier vorkommende Gefallsucht. Sie will den Toten gefallen. Sie will lieber selber nicht leben, als ihr Verhältnis zu den Toten zu verletzen. Davon geht eine Wirkung aus, die ich mir in keine andere Kategorie oder Sprache übersetzen muss. Wenn solche Beispiele in zweitausend und mehr Jahren das Schlimmste auch nicht verhindert haben, das meistens Männer außerhalb des Theaters anrichten, so darf man doch sagen, dass der Blick auf diese Geschichte ohne solche Figuren wie Antigone schlechterdings trostlos wäre. Es siegt die Trauer. Antigone – oder die Empfindlichkeit des Gewissens. Antigone – oder die Gewissensfreiheit. Und je näher GUT und BÖSE in einer Gesellschaft beieinander liegen, desto schärfer muss das Antigonegewissen sein. Nirgends ist Antigone so fällig wie da, wo GUT und BÖSE ununterscheidbar geworden, ja vielleicht sogar gleichwertig beziehungsweise vernünftig geworden sind. Da muss Antigone ja, obwohl sie mädchenhaft lieb beginnt, dann doch fast wahnsinnig werden vor Ohnmacht und Nichtanderskönnen. Das lässt sich fast in eine Formel fassen: Je vernünftiger Kreon erscheint, umso unvernünftiger muss Antigone wirken. Wer sich allzeit unangefochten fühlt, wem es genügt, im Recht zu sein, der meide die Tragödie. In der Tragödie hat nichts recht als die Trauer. Ich habe das Gefühl, als komme durch die Trauer ein Ton in die Geschichte, der ihre Trost­ losigkeit mindert. Das ist unter den möglichen Wirkungen Antigones doch die willkommenste.

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MORALISCHER IDEALISMUS UND POLITISCHER REALISMUS von Simone de Beauvoir Das Drama der Antigone, die den menschlichen Gesetzen Kreons die himmlischen Gesetze ihres Herzens entgegensetzt, ist das antike Symbol eines nach wie vor aktuellen Konflikts. Antigone ist der Prototyp jener unnachgiebigen Moralisten, die, weil sie die irdischen Güter verschmähen, die Notwendigkeit bestimmter ewiger Prinzipien verkünden und um jeden Preis darauf versessen sind, die Reinheit ihres Gewissens zu bewahren. Kreon verkörpert den realistischen Politiker, dem es einzig und allein um die Interessen der Polis geht und der entschlossen ist, diese mit allen Mitteln zu verteidigen. Dieser Konflikt ist durch die gesamte Geschichte fortgesetzt, ohne dass eine der beiden Parteien je in der Lage gewesen wäre, die andere zu überzeugen: beide sind im eigenen Wertesystem eingeschlossen und leugnen in dessen Namen das jeweils andere. Dieser Dualismus basierte lange auf der Überzeugung, dass der Mensch gleichzeitig zwei Welten angehöre. Zur Zeit Antigones verstand sich der Grieche einerseits als Sohn der Polis und andererseits als Nachkomme der Urlarven; sowohl der irdischen Obrigkeit wie den unterirdischen Mächten schuldete er Gehorsam: das zwang ihn gelegentlich, zwischen zwei unvereinbaren Weltordnungen zu wählen. Der Christ des Mittelalters gehörte zugleich dem Reich Gottes und seiner Epoche an und geriet dadurch gewöhnlich in Konflikte zwischen seinen geistlichen und seinen weltlichen Interessen; engagierte er sich in irdischen Unternehmungen, war man sich des Verlustes seiner Seele so gut wie sicher; um Vergebung zu erlangen, musste man unbedingt anderes Terrain betreten, das der Gebete, Almosen, Pilgerfahrten, das der selbstlosen und symbolischen Gesten. Heute, wo ein Großteil der Menschen weder an die Hölle noch an den Himmel glaubt, hat der Konflikt zwischen Moralisten und Idealisten einen völlig anderen Sinn. Früher war der Mensch zwar zwischen zwei Welten hin und her gerissen, doch in der irdischen Welt war seine Situation klar. Heute hat fast jeder eine politische Existenz, fast jedem stellt sich die Frage des Handelns; und noch nie war dieses Problem so vielschichtig; denn jedes Individuum gehört nicht nur einem bestimmten Land an, sondern einer über nationale Grenzen hinausgehenden Zivilisation, ja, der gesamten Welt, deren Teile eng miteinander verzahnt sind; der heutige Mensch weiß, dass sein Handeln die Zukunft ebenso betrifft wie die Gegenwart. Was soll man also wollen? Und was muss man tun, um zu ­erreichen, was man will? Die Menschen zögern mit der Antwort; die Vorstellung, diese Fragen ohne Hilfe zu lösen, ängstigt sie. Darum suchen viele Zuflucht im unnachgiebigen Moralismus oder im zynischen Realismus; im ersten Fall entscheiden sie sich dafür, einer inneren Notwendigkeit zu gehorchen; im zweiten Fall, sich der Notwendigkeit der Dinge zu unterwerfen. Beide tadeln jedoch jene, die Politik und Moral miteinander vereinbaren wollen, und so wird die Kluft zwischen den zwei Lehren von Tag zu Tag größer.

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Das Rätsel der Sphinx, welches Ödipus lösen konnte und so die Stadt Theben von dem Dämon befreite, lautete: „Welches Wesen geht des Morgens auf vier Füßen, am Mittag auf zweien und am Abend auf drei Füßen?“

NACHWEISE: Seite 3 … Text des Boten aus: Sophokles: ANTIGONE. Deutsch von Friedrich ­Hölderlin, bearbeitet von Martin Walser. | Seite 6 … Die Fragen stellte Dramaturgin ­Stefanie Symmank. | Seite 9 … u. a. aus: Kästler, Reinhard: Erläuterungen zu Sophokles ­ANTIGONE. ­Hollfeld, 1993. & Giebel, Marion: Sophokles: ANTIGONE. Stuttgart, 2003. | ­Seite 10 … u. a. aus: Giebel, Marion: Sophokles: ANTIGONE. Stuttgart 2003. | Seite 11 … Walser, Martin: [Einführung:] ­Antigone oder die Unvernunft des Gewissens. In: Sophokles: ANTIGONE. Übers. von Hölderlin. Bearb. von Martin Walser und Edgar Selge. Frankfurt a. M., 1989. | Seite 13 … aus: de Beauvoir, Simone: Auge um Auge. Artikel zu Politik, Moral und Literatur 1945–1955. Übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Eva Groepler. Reinbek bei Hamburg, 1992. | ­Gedicht Umschlagseite hinten: Brecht, Bertolt: ANTIGONE aus: Brecht, Bertolt: Gesammelte ­Gedichte. Hrsg. vom ­Suhrkamp Verlag in Zsarb. mit E. Hauptmann. Bd.3. Frankfurt a. M., 1976. (Kürzungen der Texte sind nicht gekennzeichnet. Überschriften stammen zum Teil von der Redaktion) FOTOS: Seite 3 ... Gitte Reppin | Seite 8 & 9 ... v. l. n. r. Robert Naumann, Gitte Reppin, ­Steffen Riekers, Chris Nonnast, Alexander Weise, Florian Hänsel | Seite 13 ... oben v. l. n. r. Robert Naumann, Florian Hänsel, Alexander Weise; links unten Steffen Riekers; rechts oben Robert Naumann, Chris Nonnast; rechts unten Florian Hänsel IMPRESSUM: Programmheft Nr. 2; Spielzeit 2010.2011 | Intendantin: Katja Ott | Redaktion: Stefanie Symmank | Fotos: Jochen Quast | Visuelle Konzeption: Neue Gestaltung GmbH | Druck: Druckerei Conrad Nürnberg GmbH Bild- und Tonaufnahmen während der Vorstellung sind nicht gestattet.

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Antigone Komm aus dem Dämmer und geh Vor uns her eine Zeit Freundliche, mit dem leichten Schritt Der ganz Bestimmten, schrecklich Den Schrecklichen. Abgewandte, ich weiß Wie du den Tod gefürchtet hast, aber Mehr noch fürchtetest du Unwürdig Leben. Und ließest den Mächtigen Nichts durch, und glichst dich Mit den Verwirrern nicht aus, noch je Vergaßest du Schimpf und über der Untat wuchs Ihnen kein Gras.


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