MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg von Bertolt Brecht mit Musik von Paul Dessau
Mutter Courage … Sophie Wendt Kattrin, Ihre Stumme Tochter … Gitte Reppin Eilif, Der Ältere Sohn … Robert Naumann Schweizerkas, Der Jüngere Sohn … Steffen Riekers Der Koch … Christian Heller Der Feldprediger … Hermann Große-Berg Yvette Pottier … Alexandra Finder Der Alte Obrist, Der Schreiber, Der Bauer … Winfried Wittkopp Der Feldwebel, Der Werber … Christian Heller Der Feldwebel, Der Feldhauptmann, Der Zeugmeister … Hermann Große-Berg Die Bauersfrau … Alexandra Finder Soldaten … Christian Heller, Robert Naumann, Steffen Riekers, Winfried Wittkopp Ein Junger Soldat … Chor Der Musiker … Michael Haves Regie … Jakob Fedler Bühne Und Kostüme … Bernhard Siegl Musikalische Leitung … Michael Haves Dramaturgie … Katja Prussas Licht … Ernst Schießl REGIEASSISTENZ … Kathleen Draeger | KOSTÜMASSISTENZ … Jelena Graupner | REGIEHOSPITANZ/ SOUFFLAGE … Christina Röfer | DRAMATURGIEHOSPITANZ … Luisa Gerlitz | TECHNISCHE LEITUNG … Ernst Schießl | PRODUKTIONSLEITUNG … Sabine Winkler | BÜHNENMEISTER … Gregor Schlobat | LEITUNG BELEUCHTUNG … Ernst Schießl | LEITUNG TON … Jennifer Weeger | LEITUNG KOSTÜM … Karin Anders | LEITUNG REQUISITE … Pier Angelo Mombelli | LEITUNG MASKE … Brigitte McNaughtan | WERKSTATTLEITUNG … Barbara Hoffmann | STELLVERTRETERIN … Frauke Bornfeld | WERKSTATT … Elisabeth Popp, Patrick Lang, Jörg Seifert | BÜHNENTECHNIK … Daniel Drechsler, Dima Riewe, Antonin Slaby, Helmut Stumvoll, Harald Stockmeyer, Bernd Wagner, Sebastian Ebert | BELEUCHTER/INNEN … Stephanie Borchardt, Franziska Budschigk, Heiko Segerer | TONTECHNIKER … Christoph Panzer | GEWANDMEISTERIN … Renate Aurnhammer | SCHNEIDEREI/GARDEROBE … Jelena Graupner, Stefanie Luft | REQUISITEURIN … Madita Petzold | AZUBIS BÜHNENTECHNIK … Gunnar Anheuer, Paula Smejc-Biord, Axel Hack, Daniela Schulze, Vedran Avramovic
Lied des Stückeschreibers Ich bin ein Stückeschreiber. Ich zeige Was ich gesehen habe. Auf den Menschenmärkten Habe ich gesehen, wie der Mensch gehandelt wird. Das Zeige ich, ich, der Stückeschreiber. Wie sie zueinander ins Zimmer treten mit Plänen Oder mit Gummiknüppeln oder mit Geld Wie sie auf den Straßen stehen und warten Wie sie einander Fallen bereiten Voller Hoffnung Wie sie Verabredungen treffen Wie sie einander aufhängen Wie sie sich lieben Wie sie die Beute verteidigen Wie sie essen Das zeige ich. Die Worte, die sie einander zurufen, berichte ich. Was die Mutter dem Sohne sagt Was der Unternehmer dem Unternommenen befiehlt Was die Frau dem Mann antwortet. All die bittenden Worte, Alle die Herrischen, die Flehenden, die Missverständlichen, die Lügnerischen, die Unwissenden, die Schönen, die Verletzenden Alle berichte ich. Bertolt Brecht
WEITERMACHEN UND ÜBERLEBEN – NIX WEITER Zum Stück Das Einzige was zählt ist: Überleben und weitermachen. So zieht Anna Fierling, wegen ihres Heldenmutes auch „Mutter Courage“ genannt, mit ihren drei fast erwachsenen Kindern – zwei Söhne und eine Tochter – im Tross des Krieges den Kriegswirren hinterher und handelt mit allem, was der Markt hergibt. Wie viel sie das „kostet“, zeigt das Stück, das sich über zwölf Jahre erstreckt, in unterschiedlichen Variationen. Geschäftemachen und überleben prägt die zwischenmenschlichen Beziehungen der Courage zu den beiden Männern, die sie „durchbringt“, Koch und Feldprediger, aber auch das Schicksal der Lagerhure Yvette Pottier legt darüber Zeugnis ab. Diese drei Figuren sind die Überlebenden, da sie sich an die Umstände, die die Zeit mit sich bringt, anpassen können und ihren Vorteil zu nutzen wissen. Ihre Kinder glaubt Mutter Courage aus diesen absonderlichen Zeiten heraushalten zu können, doch sie fallen der Zeit unvorbereitet zum Opfer. Auf der einen Seite will die Courage ihre Kinder durch den Krieg bringen, zum anderen aber auch Gewinn machen, d.h. „mit machen und sich dabei raushalten.“ Die Zerrissenheit der Courage selbst, ihre Sprünge von Mütterlichkeit zu Geschäftigkeit, von gerissener Härte zu reißendem Schmerz zeigen einen von absonderlichen Zeiten zerstückten Menschen in all seiner Rohheit, Brutalität, Nervosität, Schmerz, Hoffnung und Ängsten. Sie will durchkommen und sucht Formen der Anpassung (z. B. Waren kaufen oder verkaufen) und nicht des Widerstandes (z. B. Beschwerde wegen der Zerstörung ihres Wagens). Einmal gibt es einen Moment des Widerstandes, den sie als „historischen Augenblick“ bezeichnet, als ihre Tochter fürs Leben verunstaltet wird und sie verflucht die Zeiten, doch gleich im nächsten Schritt sagt sie „Ich lass mir den Krieg von euch nicht madig machen“ und macht weiter. Der Fehler in ihrer Rechnung ist tragisch: Die, die sie durchbringen will, verliert sie. Ihr geschieht nichts. Was ihr geschieht, geschieht ihren Kindern. Sie ändert sich nicht, weil sie ihr Handeln nicht ändert. Kurz: Weitermachen, „koste“ es was es wolle. Bertolt Brecht schrieb MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER 1939 im schwedischen Exil innerhalb nur weniger Wochen. Den Namen seiner Titelfigur und die plebejische Perspektive entlehnte Brecht dem Schelmenroman TRUTZ SIMPLEX: ODER DIE AUSFÜHRLICHE UND WUNDERSELTZSAME LEBENSBESCHREIBUNG DER ERZBETRÜGERIN UND LANDSTÖRTZERIN COURASCHE von Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen (1670), sowie der Ballade LOTTA SVÄRD von Johan Ludvig Runeberg (1840). Das Stück einzig als Anti-Kriegsstück zu deuten, greift zu kurz. Es spielt zwischen 1624–1636 während des Dreißigjährigen Krieges, doch Brecht hält uns keine Vorlesung über diese Zeit, sondern beschreibt eine Gesellschaft und ihre Wirklichkeit. Er zeigt durch das Titularium (Projektionen vor den Szenen) die verwirren- den Fakten eines schmutzigen Interessenhandels der Herrschenden – ob katholisches oder evangelisches Lager war nur eine Frage der jeweiligen Konjunktur. Diese grauenhafte Nationalkatastrophe warf Deutschland in seiner Entwicklung
um zweihundert Jahre zurück und lebt in der deutschen Kriegsmythologie als das strahlende Beispiel eines Glaubenskrieges fort. Brecht zersetzt den Mythos vom Glaubenskrieg, in dem er uns mit der schäbigen Wirklichkeit konfrontiert. Wir verstehen die historischen Fakten durch die Augen der Mutter Courage und sehen deutlich, dass sie sie nicht begreift. Sie „blickt nicht durch“ in diesen Zeiten, einzig das Anpassen gelingt und schließt das Handeln und die Veränderung aus. Man kann aber nicht teilhaben und profitieren wollen ohne eine Preis dafür zu zahlen. Bertolt Brecht geboren 1898 in Augsburg: Ein Verehrer Frank Wedekinds und Karl Valentins. Bänkelsänger schon früh, eigenwilliges Outfit, Autoliebhaber und Freund des Boxsportes. Über München ging es nach Berlin. Für TROMMELN IN DER NACHT den Kleist-Preis im Koffer und die Arbeit am Deutschen Theater bei Max Reinhardt vor Augen. Der große Verführer, Stückeschreiber, Regisseur, Theaterrevolutionär, Dialektiker, streitbarer Geist, Skeptiker, politischer Autor und Humorist. Einige von vielen Bezeichnungen für einen der bedeutendsten Dramatiker (und Lyriker), dessen Leben von Flucht und Exil (1933–1947) geprägt war. In dieser Zeit entstanden neben MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER u. a. DIE HORATIER UND DIE KURIATIER, FURCHT UND ELEND DES DRITTEN REICHES, DER GUTE MENSCH VON SEZUAN. Über Dänemark, Schweden, Finnland, USA, Schweiz 1948 zurück nach Ost-Berlin. Gründung des berühmten Berliner Ensembles 1954. 1956 stirbt Brecht an den Folgen eines Herzinfarktes. Es gilt den Autor beim Wort zu nehmen. Nicht Klischeeschubladen wie Oberlehrer, DDR-Vorzeigeintellektueller oder Marxist aufzuziehen. In Zeiten, in denen Unternehmer über Karl Marx’ Forderungen weit hinausgehen, wie Jens Jessen in seiner Sammlung über DIE ZUKUNFT DES KAPITALISMUS (2006) so treffend festhält, umso mehr. Den Autor des KLEINEN ORGANON FÜR DAS THEATER (1949) in dem das Wort „Unterhaltung“ mehrfach genannt wird; den Autor, dessen Humor, welcher die Vorgänge so menschlich macht, beim Wort nehmen. Brechts „wasserdichte“ Dramaturgie aufzuschlüsseln und kühn weiter zu denken. Die Kraft seiner Menschenbilder, die sich wie Archetypen einprägen; die Einfachheit seiner Sprache (das „aufs Maul schauen“) und seine Sichtweise aus der Perspektive des Volkes zu beleben. Er wollte, dass auf seinem Grabstein stehen sollte ER HAT VORSCHLÄGE GEMACHT. Katja Prussas
Lotta Svärd Auszug
Sie liebte den Krieg, was auch er beschert, Glück, Unglück, Freuden und Müh, Und die grauen Jungen, die hielt sie wert, Und darum liebten wir sie. So folgte dem Heere sie treu und kühn, Wohin auch ging sein Zug, Und beim Schüssegeknatter und Kugelsprühn, Da war sie nahe genug. Ja, seit ich sie sah, die Zeit liegt fern, Doch vergessen kann ich sie nie. Ich gedenke der Alten gar so gern; Sie verdient, daß man denkt an sie. Denn sie war für uns in des Krieges Gefahr Eine Perle echt und wert; Ein wenig ward sie belächelt zwar, Doch wahrlich mehr verehrt. Johan Ludvig Runeberg
FEGEFEUER DES MARKTES Das neue Gesicht des Kapitalismus Der neue Kapitalismus ist zu einer Weltanschauung geworden. Er begnügt sich nicht mehr mit der Wirtschaft. Er will unser Denken und unser Leben beherrschen. Er hat sein Gesicht verändert. Weit scheint heute die Zeit des Jubels von 1989 zurückzuliegen, als der Zusammenbruch der sozialistischen Lager allgemein als Triumph der freien Marktwirtschaft gefeiert wurde. Nur der konservative Soziologe Niklas Luhmann, gewiss kein Nostalgiker des Sozialismus, wollte damals von keinem Sieg sprechen. Er meinte, man könne allenfalls und höchstens die Formulierung wagen, dass der Sozialismus früher als der Kapitalismus zu sammengebrochen sei. Fest steht allerdings, dass die Zustimmungsraten für den Kapitalismus überall auf der Welt, und selbst in seinen westlichen Ursprungslän dern, dramatisch gesunken sind. Zur „Zukunft des Kapitalismus“ befragte Wissenschaftler, Philosophen oder Schriftsteller, ob aus Europa, Amerika oder der Dritten Welt, waren sich einig, dass der Kapitalismus, der dem Westen Jahrzehnte märchenhaften Wohlstandes beschert hat, heute nur mehr als Bedrohung wahrgenommen werden könne. Auch Unternehmer sehen sich als Opfer des Systems Selbst die Wirtschaftsführer beteuern glaubwürdig, dass sie dem System des freien Marktes ausgeliefert und in ihren Entscheidungen ohne Spielraum seien. Sie wollen keine Massenentlassungen vornehmen, aber die Kapitalrendite fordere es; sie wollen keine Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, aber die Konkurrenz erzwinge es. Das ist ein erstaunlicher Umstand. Die Beschreibung des Kapitalismus als System unausweichlicher Zwänge war in der Vergangenheit stets Sache der linken Kapitalismuskritik (Stichwort: Fremdbeschreibung a. d. R.). Der Jenenser Sozialphilosoph Hartmut Rosa hat kürzlich eine Minimaldefinition des klassisch marxistischen Entfremdungsbegriffs vorgeschlagen, die unsere gegenwärtige Situation recht gut trifft: Jeder der sich auf dem kapitalistischen Markt bewegt, fühlt sich für sein Überleben zu etwas gezwungen, das er jenseits des Marktes niemals anstreben würde. Niemand will die Umwelt zerstören, aber die Notwendigkeit, Produktionskosten zu senken, zwingt ihn dazu; jeder will, dass den Verlierern der Gesellschaft geholfen wird, aber die Notwendigkeit, Sozialkosten zu senken, bringt den Staat dazu, sie auszugrenzen; alle leiden unter der hysterischen Abfolge technologischer Neuerungen, aber der Wettbewerb zwingt die Produzenten dazu, ständig neue Waren herzustellen. Was hat den neuen Kapitalismus in einer Weise verändert, dass er selbst von seinen Anhängern und Profiteuren als Zwang erlebt wird? Es ist die Globalisierung. Das heißt aber zunächst nur: Der Kapitalismus ist gewachsen. Konnte er dadurch allein schon sein Gesicht verändern? Nehmen wir an, der Kapitalismus sei gar kein System und seine Zumutungen seien alles andere als zwangsläufig – was dann?
Dann wäre die Rede von Systemzwänge offensichtlich bloße Ideologie, nur dass sie diesmal von den Verfechtern des freien Marktes und durch das Kapital selbst vorgetragen wird, zur Einschüchterung der Gesellschaft und dauerhaften Erhöhung der Profitraten. Marktgesetze sollen wie Naturgesetze gelten Beim Versuch, die Marktwirtschaft gegen jede Form der Kritik zu immunisieren, geht man nämlich einen Schritt über Marx hinaus, indem man das Prinzip der Konkurrenz quasi als Naturgesetz behandelt. Die Regeln des freien Marktes sind keine Regeln, die sich die Gesellschaft gegeben hat, sondern ewige Kräfte, vergleichbar der Schwerkraft, gegen die aufzubegehren sinnlos ist. Nach diesem Muster erklärt der neue Ökonomismus sämtliche Gesellschaftsphänomene, selbst in der Kultur und in der Bildung. Mit anderen Worten: Das Unterfutter der neuen Marktideologie bildet ein Darwinismus einfältigster Sorte. Der Wille zur Beschleunigung ist ein weiteres Merkmal der neokapitalistischen Ideologen. Sie wollen keineswegs zusehen, wie sich das siegreiche Beispiel der westlichen Wirtschaftsweise von selbst über die Welt ausbreitet, vielmehr soll es durch erpresserisch angetragene Freihandelsabkommen, in Fällen besonders störrischer Länder auch durch Krieg, vorangebracht werden. Die Verheissung von Freiheit, Demokratie und Wohlstand, wird allerdings keineswegs allen Menschen versprochen, sondern nur solchen, die sich dem wirtschaftlichen Programm unterwerfen, das als Quelle der Glücksgüter gilt. Der Kampf der Privatwirtschaft gegen den Staat Es geht übrigens um das Element steter Unsicherheit, das die Menschen zuverlässig von abschließender Urteilsbildung und also etwa widerständigem Handeln abhalten kann. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett beschreibt: „Die neue Unsicherheit ist keineswegs nur eine unerwünschte Folge der unsteten Märkte; sie ist in den neuen Kapitalismus einprogrammiert. Sie ist ein gewolltes Element.“ Die Frage ist berechtigt, warum der Kapitalismus, der in seiner bisherigen Geschichte nahezu ohne Einschüchterungen und ideologische Heils versprechungen auskam, auf seiner letzten Wegstrecke Zuflucht bei groben Lügen und utopischen Programmen suchen musste. Manche datieren den Umschwung auf das Jahr 1989 und das Ende des sozialistischen Herausforderers, der den Kapitalismus über Jahrzehnte gezwungen hatte, ein menschliches Antlitz aufzusetzen. Hat er nun also die Maske abgeworfen? Jens Jessen
BRECHT UND DIE TUGENDEN Über den Autor Er war immer heiter und lustig. Heiterkeit war für ihn eine Tugend, die über die schwierigsten Aufgaben hinweghilft. „Ein Mensch der heiter ist, findet immer einen Ausweg.“ Wenn ich sagte, dass nicht alle Leute diese Gabe besitzen, antwortete er: „Man muss Heiterkeit produzieren.“ Er verabscheute Leute, die morgens sauer aus dem Bett krabbeln. „Man muss sich schon abends den Spaß für den nächsten Tag zurechtlegen, und sei es nur, dass man den grünen Pflanzen Wasser gibt oder die Vögel vor dem Fenster füttert.“ Das Wichtigste für Brecht war der regelmäßige Fleiß. Er schimpfte über Leute, die spontan fleißig waren und dann für Tage alles liegen ließen, nur weil sie nicht gelobt oder kritisiert worden waren. Nun konnte man ein paar Tage nicht mit ihnen rechnen. Fleißigsein ohne Spaß war für Brecht unerträglich. Natürlich hatte Brecht auch Aufgaben zu erfüllen, die er mit einem Seufzer Pflichtarbeit nannte. Zu Brecht gehörte auch die Tugend der Pünktlichkeit. Wenn einer nicht pünktlich war, sagte Brecht: „Es ist eine Schweinerei, die Zeit anderer Leute durch Wartenlassen zu vergeuden.“ Die Tugend Bescheidenheit war für Brecht eine widersprüchliche Tugend. Er sagte: „Es ist eine falsche Bescheidenheit, seine Fähigkeiten unter Wert einzuschätzen. Ein Tischler liebt sein Holz und muss stolz darauf sein, dass er es so gut bearbeiten kann. Ein Mechaniker muss sich seiner Fingerfertigkeit bewusst sein. In dieser Beziehung darf man nicht bescheiden sein. „Aber ein noch so großer Schauspieler muss doch, bitte sehr, wenigstens für fünf Pfennige Bescheidenheit in seiner Tasche aufbewahren.“ Man fragt mich, ob Brecht selbst bescheiden war. Er wollte gern nützlich sein – und nicht nur auf der Bühne, wenn der Vorhang hochgeht, sondern auch im Leben. Bitte, gehört das nicht zur Bescheidenheit – der Drang, nützlich sein zu wollen? Ruth Berlau
EINE ANEKDOTE Therese Giehse, die sowohl mit Brecht als auch mit Thomas Mann befreundet war, brachte Thomas Mann das Stück MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER. Sie sagte, das müsse er lesen. Nach der Lektüre erklärte Thomas Mann: „Das Scheusal hat Talent!“ Die Giehse, gelegentlich in Berlin, erzählte Brecht davon. Brecht lächelte geschmeichelt und gab die Anerkennung zurück: „Seine Kurzgeschichten fand ich eigentlich immer ganz gut!“ Hanns Eisler
LIED VON DER GROSSEN KAPITULATION Mutter Courage und die Desillusion Mutter Courages LIED VON DER GROSSEN KAPITULATION beleuchtet den philosophischen Grundgestus des Stückes. Der Song als Belehrung eines jungen randalierenden Soldaten, schildert den Gang des Lebens als unaufhaltsame Desillusionierung allen individuellen Drangs „nach Höherem“, als unaufhaltsamen Verschleiß aller Sonderwünsche auf Glück. Der fromme Volksspruch „Der Mensch denkt, Gott lenkt“ von Brecht mit einem einzigen Griff, durch bloße Veränderung der Interpunktion und der Betonung, in sein Gegenteil gewandt. „Der Mensch denkt: Gott lenkt“ kehrt von Strophe zu Strophe wieder, das Bild einer Welt heraufrufend, in der die kleinen, menschlichen Pläne scheitern, weil es dem Ganzen an Planung und Lenkung gebricht. Auszug
Einst, im Lenze meiner jungen Jahre Dacht auch ich, daß ich was ganz Besondres bin. (Nicht wie jede beliebige Häuslertochter, mit meinem Aussehn und Talent und meinem Drang nach Höherem!) Und bestell meine Suppe ohne Haare Und von mir, sie hattens kein Gewinn. (Alles oder nix, jedenfalls nicht den Nächstbesten, jeder ist seines Glückes Schmied, ich laß mir keine Vorschriften machen!) Doch vom Dach ein Star Pfiff: wart paar Jahr! Und du marschierst in der Kapell Im Gleichschritt, langsam oder schnell Und bläsest deinen kleinen Ton: Jetzt kommt er schon. Und jetzt das Ganze schwenkt! Der Mensch denkt: Gott lenkt. Keine Red davon! Und bevor das Jahr war abgefahren Lernte ich zu schlucken meine Medizin.
PREMIERE … 11. November 2010 im Markgrafentheater | DAUER … 2 H 20 Min., Eine Pause AufführungsRECHTE … Suhrkamp Theater und Medien, Berlin NACHWEISE … ALLES WAS BRECHT IST … aus: 3sat-Dokumentation, Frankfurt a. M. 1997 | Ruth Berlau BRECHTS LAI-TU, Darmstadt 1985 | Erich Fried (Programmheft Burgtheater 1985/86, Heft 5) | Werner Hecht MATERIALIEN ZU BRECHTS MUTTER COURAGE, Frankfurt a. M. 1995 | Jens Jessen DIE ZUKUNFT DES KAPITALISMUS, München 2006 | Jan Knopf BRECHT IM 21. JAHRHUNDERT aus: Politik und Zeitgeschichte vom 6. Juni 2006 | Jan Knopf BRECHT HANDBUCH, Stuttgart 2001 | Franz Norbert Mennemeier BRECHTS MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER aus: Das deutsche Drama, Düsseldorf 1968 | Johan Ludvig Runeberg LOTTA SVÄRD aus: Fähnrich Stahl, Helsingfors/Berlin 1942 | Marc Silberman (Hrsg.) DRIVEB aus: Brechtjahrbuch/Theater der Zeit, Berlin 1998. (Textkürzung sind nicht gekennzeichnet, Überschriften stammen zum Teil von der Redaktion) FOTOS: S. 3, Sophie Wendt; S. 8–9, Christian Heller, Hermann Große-Berg, Sophie Wendt, Robert Naumann, Steffen Riekers, Gitte Reppin; S. 13 v.l.n.r. v.o.n.u., 1 Sophie Wendt, Christian Heller, Gitte Reppin; 2 Christian Heller, Sophie Wendt, Robert Naumann; 3 Steffen Riekers, Sophie Wendt, Gitte Reppin; 4 Hermann Große-Berg, Sophie Wendt, Christian Heller; 5 Alexandra Finder, Sophie Wendt; 6 Alexandra Finder, Winfried Wittkopp; 7 Hermann Große-Berg, Christian Heller; 8 Michael Haves IMPRESSUM … Programmheft Nr.1; Spielzeit 2010.2011 | Intendantin: Katja Ott Redaktion: Katja Prussas | Mitarbeit: Luisa Gerlitz | Fotos: Jochen Quast Visuelle Konzeption: Neue Gestaltung GmbH | Druck: Druckerei Conrad Nürnberg GmbH Bild- und Tonaufnahmen während der Vorstellung sind nicht gestattet.
Er hat Vorschläge gemacht. Bertolt Brecht
Die Courage ist l채ngst nicht mehr die Courage doch der Krieg ist immer noch der Krieg. Neue Waffen 채ndern nur seine Visage, und dem Volk bringt er nur Tod und nie mehr Sieg. Erich Fried