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EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT von Eugene O’Neill Deutsch von Michael Walter
JAMES TYRONE … Michael Hanemann MARY CAVEN TYRONE, seine Frau … Annagerlinde Dodenhoff JAMES TYRONE JUNIOR, ihr älterer Sohn … Christian Wincierz EDMUND TYRONE, ihr jüngerer Sohn … Patrick Nellessen REGIE … Wolfgang Gropper BÜHNE UND KOSTÜME … Ulrike Schlemm MUSIK … Ralf Schurbohm DRAMATURGIE … Linda Best LICHT … Thomas Krammer
REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG … Jutta Körner I REGIEHOSPITANZ … Hannah Niewerth, Lena Maria Schröter I SOUFFLAGE … Jutta Körner, Elias Ende I DRAMATURGIEHOSPITANZ … Bärbel Zehatschek I TECHNISCHE LEITUNG … Sabine Winkler I PRODUKTIONSLEITUNG … Simon Weise I BÜHNENMEISTER … Gregor Schlobat, Andreas Storjohann, Horst Ullmer I LEITUNG BELEUCHTUNG … Thomas Krammer I LEITUNG TON … Otto Geymeier TON-/VIDEOTECHNIK … Christoph Panzer I LEITUNG KOSTÜM … Wolfram Müller-Broeder I LEITUNG REQUISITE … Pier Angelo Mombelli I LEITUNG MASKE … Brigitte McNaughtan I WERKSTATTLEITUNG … Barbara Hoffmann, Jörg Seifert I WERKSTATT … Johanna Ackermann, Elisabeth Popp, Dima Riewe DEKORATION Harald Stockmeyer I BÜHNENMALERIN … Michaela Fuchs-Jalloh I BÜHNENTECHNIK / VERANSTALTUNGSTECHNIK … Daniel Drechsler, Sebastian Ebert, Frank Holzhäuser, Lutz Plorin, Daniela Schulze, Antonin Slaby, Ernst Tordai, Bernd Wagner I BELEUCHTER/INNEN … Stephanie Borchardt, Patrick Etzel, Simon Bachtik I GEWANDMEISTERIN … Renate Aurnhammer I SCHNEIDEREI / GARDEROBE … Stefanie Luft, Anna Rojan I REQUISITEURIN … Madita Petzold I AUSZUBILDENDE VERANSTALTUNGSTECHNIK … Nicola Grubjesic, Dominique Lamee, Julian Ott
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Für Carlotta, an unserem 12. Hochzeitstag Liebste: Ich schenke Dir das Originalmanuskript dieses Stücks über einen alten Kummer, geschrieben mit Blut und Tränen. Eine völlig unpassende Gabe, so könnte es scheinen, zur Feier eines Glückstages. Du aber wirst es verstehen. Es ist als Anerkennung gedacht für Deine Liebe und Zärtlichkeit, die mir jenes Vertrauen in die Liebe gaben, das es mir ermöglichte, mich endlich mit meinen Toten auseinanderzusetzen und dieses Stück zu schreiben – und zwar mit großem Mitgefühl und Verständnis und auch tiefer Vergebung für alle vier gepeinigten Tyrones. Diese zwölf Jahre, meine Einzige Geliebte, waren eine Reise in das Licht – in die Liebe. Du kennst meine Dankbarkeit. Und meine Liebe! Gene Tao House 22. Juli 1941
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EINE KETTE VON SCHULD KLEINE FAMILIENBIOGRAFIE
Zum 12. Hochzeitstag bekam Carlotta Monterey ein gleichermaßen großartiges wie seltsames Geschenk. Ihr Ehemann, der Nobelpreis träger und mehrfache Pulitzerpreisträger Eugene O’Neill, widmete ihr ein Theaterstück, worin er die Familienhölle verarbeitete, in der er aufgewachsen war. EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT bildet einen autobiografischen Rückblick, gebündelt in einem einzigen Augusttag im Jahr 1912. Innerhalb weniger Stunden bricht hier die mühsam aufrecht erhaltene Fassade des Alltags zusammen, die auf einer wackligen Konstruktion aus Abhängigkeiten, verschütteten Träumen und gegenseitigen Schuldzuweisungen basiert. Die Geschichte und auch die Suchtkarriere von mehreren Generationen verdichtet sich zu einer untragbaren Last, die von den gegenwärtigen Familienmitgliedern geschultert werden muss. Die Vergangenheit ist so stark mit vermeintlichen Kausalitäten belastet, dass die Verantwortung für sich selbst von allen verweigert wird. Nur wenig unterscheidet die literarische Familie Tyrone von der realen Familie O'Neill. Selbst die Vornamen sind nahezu identisch, sieht man davon ab, dass der Verfasser mit seinem toten Bruder den Namen getauscht hat und seine Mutter unter ihrem Zweitnamen Mary auftreten lässt. Erste Wurzeln der Konflikte, die O’Neills Drama kennzeichnen, reichen zurück bis in die Zeit der großen irischen Hungersnot zwischen 1845 und 1852, als Irlands Bevölkerung um über 20 Prozent schrumpfte, weil eine Million Menschen starb und eine weitere Million auswanderte. So auch die Familien der späteren Eltern des Schriftstellers, James O’Neill und Ellen Mary Quinlan, genannt Ella, deren Väter in der neuen Heimat jedoch sehr unterschiedlich erfolgreich waren: Thomas Quinlan gelang es im Gegensatz zu den meisten irischen Immigranten, sich als Geschäftsmann nach oben zu arbeiten und seiner Tochter einen wohlbehüteten Start in eine bessere Zukunft zu bieten. Sie erhielt ausgezeichnete musikalische, religiöse und kulturelle Bildung in einer Klosterschule. Als junges Mädchen lernte sie den zehn Jahre älteren James O’Neill kennen. Dessen Vater hatte die kinderreiche Familie bereits wenige Jahre nach der Ankunft in den USA verlassen, um nach Irland zurückzukehren, wo er bald darauf unter ungeklärten Umständen an einer Vergiftung starb. James war somit früh für den Lebensunterhalt seiner Familie verantwortlich geworden. 5
Er versuchte vergeblich, in verschiedensten Branchen Fuß zu fassen, bevor er im Alter von 21 Jahren sein Debut als Schauspieler gab. Bald darauf stand er bereits zusammen mit dem berühmten amerika nischen Schauspieler Edwin Booth auf der Bühne und wurde als Kassenmagnet gehandelt. Mit 25 Jahren verfügte er über ein Repertoire von 50 Rollen, darunter die meisten Shakespeare-Figuren. 1877 heiratete James O’Neill Ella Quinlan. Ihre Mutter war gegen die Hochzeit, ihr Vater war kurz zuvor an Tuberkulose gestorben. Drei Monate nach der Hochzeit gab es einen Skandal um eine frühere Geliebte des Schauspielers, die behauptete, James sei bereits mit ihr verheiratet und Vater ihres Sohns. Seiner kometenhaften Karriere schadete die Geschichte kaum – im Gegenteil: Sein Ruf als charmanter Herzensbrecher verfestigte sich dadurch umso mehr. Den anschließenden Prozess verlor die Klägerin. Dennoch war Ella tief verletzt. Auf seinen Tourneen begleitete sie ihren Mann fast überall hin, obwohl sie sich zwischen dem Theatervolk fremd fühlte. 1878 wurde ihr erster Sohn James junior, genannt Jamie, im Haus eines Freundes in San Francisco geboren, 1883 der zweite Sohn Edmund Burke in einem Hotel in St. Louis. James O’Neill war nun auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er übernahm die Titelrolle in der Bühnenfassung von Dumas’ DER GRAF VON MONTE CHRISTO. Sein Auftritt war ein sensationeller Erfolg. Sofort wurde eine Tournee geplant, und James erwarb die Bühnenrechte. Es wurde seine Parade- und Schicksalsrolle, die er im Laufe der Jahre über sechstausend Mal in ganz Amerika spielen und von der er nie wieder loskommen sollte. Eugene O’Neills früheste Erinnerungen zeigten, wie er später sagte, seinen Vater als Grafen von Monte Christo auf der Bühne. Zwar machte ihn das Stück zum reichen Mann, aber als die Routine ihn mit der Zeit lustlos werden ließ, schaffte er es nie wieder, in anderen Rollen richtig Fuß zu fassen. Sein krankhafter Geiz verbot es ihm, die lukrative Rolle endlich an den Nagel zu hängen. Im Winter 1885 ließ Ella die Kinder bei der Großmutter in New York, um James auf einer Tournee in Denver zu treffen. Dort steckte Jamie den kleinen Edmund mit Masern an. Das Baby starb. Ella fühlte sich lebenslang schuldig, weil sie die beiden allein gelassen hatte, und glaubte zugleich, dass Jamie Edmund absichtlich angesteckt habe. Sie wollte keine weiteren Kinder haben. Dennoch wurde 1888 der jüngste Sohn Eugene Gladstone O’Neill in einem New 6
Yorker Hotelzimmer geboren. Während und nach der Geburt bekam Ella Morphium gegen die Schmerzen. So begann eine jahrzehntelange Sucht. Mehrere Entzugsversuche blieben erfolglos. Ihre Kindheit und Jugend verbrachten Jamie und Eugene hinter diversen Bühnen, in Internaten und – in den Theaterferien – im einzigen festen Wohnsitz der Familie, einem Sommerhaus in New London. Bereits als Teenager wurden beide mit der Morphiumsucht ihrer Mutter konfrontiert. Jamie war 15, als er sie beim Setzen einer Spritze er tappte. Daraufhin ließen seine schulischen Leistungen rapide nach. Eugene erfuhr mit 12 von ihrer Sucht, nachdem sie sich während eines Entzugs von der Hafenmauer stürzen wollte, und verweigerte ab sofort den Besuch der katholischen Messe. Bei den männlichen Familienmitgliedern spielte darüber hinaus der Alkoholmissbrauch stets eine große Rolle. Das ohnehin nur im übertragenden Sinne vorhandene Zuhause der O’Neills zerbröselte immer mehr. Jamie begann früh zu trinken, Geld zu verwetten und in Bordellen auszugeben. Sein Vater verschaffte ihm Zugang zum Theater, wo er sich aber nicht wohlfühlte und nur als drittklassigen Schauspieler einordnete. Eugene flüchtete in eine überstürzte und rekordverdächtig kurze Ehe, aus der ein Sohn her vorging, den er erst im Teenageralter kennen lernte. Während und nach der Trennung fuhr er als Seemann um die halbe Welt und verdingte sich als Arbeiter und Matrose. Auch er war früh dem Alkohol verfallen. Sein Mitbewohner rettete ihn bei einem Selbstmordversuch in einer Hafenkneipe. In einer Lokalzeitung in New London veröffentlichte er erste Gedichte. Im Herbst 1912 wurde bei ihm Tuberkulose diagno stiziert. Die Krankheit erwies sich in diesem Fall als Rettung: Im Sanatorium fand Eugene O’Neill zum Schreiben und zum Theater. Stets auf der Suche nach einer natürlichen Sprache und einer adäquaten Umsetzung drängender gesellschaftlicher Themen, wurde er nach und nach zum Erneuerer des amerikanischen Dramas und zum Meister der modernen Tragödie. In James O’Neills Todesjahr 1920 erhielt Eugene für sein Drama BEYOND THE HORIZON den ersten von insgesamt vier PulitzerPreisen. Ella, die 1914 bei einem Entzug im Kloster ihre Morphiumsucht besiegt hatte, starb 1922 an einem Hirntumor. Im selben Jahr trank sich Jamie zu Tode, nachdem er es geschafft hatte, zwei Jahre trocken zu bleiben.
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1936 wurde Eugene O’Neill „für die Kraft, Ehrlichkeit und tief empfundenen Gefühle in seinem dramatischen Werk, das eine eigenständige Idee der Tragödie verkörpert“ mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Zwischen 1920 und 1943 waren 20 große Dramen und einige kurze Stücke entstanden. Wiederkehrende Themen waren die Auseinandersetzung mit dem Glauben, die Flucht vor der Verantwortung und die vergebliche Suche nach dem Sinn des Lebens. Seine Bezüge zur griechischen Tragödie werden insbesondere in der Trilogie TRAUER MUSS ELEKTRA TRAGEN deutlich. Mehrere seiner Dramen tragen biografische Züge, so zum Beispiel EIN MOND FÜR DIE BELADENEN, in dem er seinem Bruder Jamie ein Denkmal setzt. Zwar bot das Schreiben ihm ein Ventil, um die Vergangenheit zu verarbeiten, aber seine drei Ehen verliefen unglücklich, und das Verhältnis zu seinen drei Kindern schwankte zwischen schlecht und nicht vorhanden. Zum Teil fand die Familienhölle der O’Neills in ihren Schicksalen eine traurige Fortsetzung. Eugene O’Neills Gesundheit blieb durch die Tuberkulose und andere Krankheiten lebenslang angeschlagen und verschlimmerte sich mit den Jahren immer mehr. Die Bitte, mit der Veröffentlichung seines autobiografischsten Stückes bis 25 Jahre nach seinem Tod zu warten, erfüllte seine dritte und letzte Ehefrau Carlotta nicht: O’Neill starb 1953 an den Spätfolgen seiner Tuberkulose. Bereits 1956 wurde EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT mit großem Erfolg am Königlichen Dramatischen Theater in Stockholm uraufgeführt.
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Berauscht euch! Man muss immer trunken sein. Darum geht es: Das ist das einzige Geheimnis. Um die Last der Zeit nicht zu fühlen, die eure Schultern zerbricht und euch zu Boden drückt, müsst ihr euch ohne Unterlass berauschen. Womit aber? Mit Wein, mit Poesie oder Tugend, nach eurem Belieben. Aber berauscht euch. Und wenn ihr manchmal erwacht, ob auf den Stufen eines Schlosses, im grünen Gras eines Straßengrabens, oder in der trüben Verlassenheit eurer Kammer, und der Rausch ist schon halb oder ganz verflogen, so fragt den Wind, die Welle, den Stern, den Vogel, die Uhr, alles, was flieht, alles, was seufzt, alles, was rollt, was singt, was spricht, fragt, welche Stunde es sei; und der Wind, die Welle, der Stern, der Vogel, die Uhr werden euch antworten: „Es ist die Stunde des Rausches! Um nicht die geschundenen Sklaven der Zeit zu sein, berauscht euch; berauscht euch ohne Unterlass! An Wein, an Poesie, an Tugend, nach eurem Belieben.” Charles Baudelaire
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If I were hanged on the highest hill, Mother o’ mine, O mother o’ mine! I know whose love would follow me still, Mother o’ mine, O mother o’ mine! If I were drowned in the deepest sea, Mother o’ mine, O mother o’ mine! I know whose tears would come down to me, Mother o’ mine, O mother o’ mine! If I were damned of body and soul, I know whose prayers would make me whole, Mother o’ mine, O mother o’ mine! Rudyard Kipling
Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise. Lew Tolstoi
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PREMIERE am 16. Oktober 2014 im Markgrafentheater Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
NACHWEISE: Charles Baudelaire, ENIVREZ-VOUS, erstmals veröffentlicht 1869 in LE SPLEEN DE PARIS, Übersetzung zitiert von Edmund in EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT. Rudyard Kipling, MOTHER O’ MINE, erstmals veröffentlicht 1892 als Widmung in THE LIGHT THAT FAILED, zitiert von Jamie in EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT. Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, ANNA KARENINA, übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze, Carl Hanser Verlag, München 2009. EINE KETTE VON SCHULD wurde als Beitrag für dieses Programmheft von Linda Best verfasst. PLAYLIST: Alle Songs in der Interpretation von Frank Sinatra; LOVE AND MARRIAGE (Text: Sammy Cahn, Musik: Jimmy van Heusen), THAT´S LIFE (Text und Musik: Dean Kay & Kelly Gordon), THE WAY YOU LOOK TONIGHT (Text: Jerome Kern, Musik: Dorothy Fields), ME AND MY SHADOW (Text und Musik: Billy Rose, Dave Dreyer und Al Jolson), EMPTY TABLES (Text: Johnny Mercer, Musik: Jimmy van Heusen) FOTOS: S. 3. Patrick Nellessen, Michael Hanemann; S. 8/9: Annagerlinde Dodenhoff, Patrick Nellessen, Christian Wincierz, Michael Hanemann; S. 12 oben: Michael Hanemann, Christian Wincierz, unten: Michael Hanemann, Annagerlinde Dodenhoff; S. 13 oben: Christian Wincierz, Annagerlinde Dodenhoff, Patrick Nellessen, unten: Michael Hanemann, Christian Wincierz IMPRESSUM: Programmheft Nr. 2 I Spielzeit 2014.2015 I Intendantin: Katja Ott Redaktion: Linda Best I Mitarbeit: Bärbel Zehatschek, Anna Appel Fotos: Jochen Quast I Visuelle Konzeption: Neue Gestaltung, Berlin Druck: Gutenberg Druck + Medien, Uttenreuth Bild- und Tonaufnahmen während der Vorstellung sind nicht gestattet.
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Die Vergangenheit ist doch die Gegenwart, nicht wahr? Und auch die Zukunft. Daran wollen wir uns alle vorbeimogeln, aber das l채sst das Leben nicht zu. Mary
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