Theater Erlangen Programmheft Ein Sommernachtstraum

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EIN SOMMERNACHTSTRAUM von William Shakespeare Deutsch von Frank Günther

Theseus, Herzog Von Athen … Christian Heller Hippolyta, Königin Der Amazonen … Marion Bordat Lysander … Martin Laue Demetrius … Steffen Riekers Hermia … Gitte Reppin Helena … Linda Foerster Egeus, Hermias Vater … Horst Schily Oberon, König Der Elfen … Christian Heller Titania, Königin Der Elfen … Marion Bordat Puck Oder Robin Gutfreund … Horst Schily Ein Elf … Christian Wincierz Peter Squenz … Stefan Drücke Niklaus Zettel … Hermann Große-Berg Franz Flaut … Robert Naumann Tom Schnauz … Winfried Wittkopp Schnock … Christian Wincierz Regie … Katja Ott Bühne Und Kostüme … Ulrike Schlemm Musik … Jan-S. Beyer, Jörg Wockenfuß Dramaturgie … Katja Prussas Licht … Ernst Schießl REGIEASSISTENZ/SOUFFLAGE … Kathleen Draeger, Florian Götz | REGIEHOSPITANZ … Nina Baier, Heike ­Dewaldt, Kristina Pröstler | DRAMATURGIEHOSPITANZ … Agnes Zmenda | TECHNISCHE ­LEITUNG … Ernst Schießl PRODUKTIONSLEITUNG … Sabine Winkler | BÜHNENMEISTER … ­Andreas Storjohann | LEITUNG ­BELEUCHTUNG … Ernst Schießl | LEITUNG KOSTÜM … Karin Anders LEITUNG REQUISITE … Pier Angelo ­Mombelli | LEITUNG MASKE … Brigitte McNaughtan | WERKSTATTLEITUNG … Barbara Hoffmann ­STELLVERTRETERIN … Frauke Bornfeld | WERKSTATT … Elisabeth Popp, Patrick Lang, Jörg Seifert TON … Christoph ­Panzer | BÜHNENTECHNIK … ­Daniel Drechsler, Dima Riewe, Antonin Slaby, Helmut Stumvoll, Harald Stockmeyer, Bernd Wagner, Sebastian Ebert, Axel Hack | BELEUCHTERINNEN … Stephanie Borchardt, Franziska Budschigk GEWAND­MEISTERINNEN … Renate Aurnhammer, Sandra Zeller | SCHNEIDEREI/­ GARDEROBE … ­Jelena G ­ raupner, ­Stefanie Luft | REQUISITEURIN … Madita ­Petzold | AZUBIS BÜHNENTECHNIK … Daniela ­Schulze, Paula Smejc-Biord, Gunnar Anheuer, Vedran Avramovic


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SONETT XLIII Mein Aug, wenns zu ist, siehts, wie‘s sonst nicht sieht, denn tags, da siehts vorbei an Tagesdingen: doch gehts durchs Dunkel, so ists hell und glüht. Und geht, das schläft und träumt, dich mir zu bringen. Du, dessen Schatten Schatten hell durchwebt, wie würde er als Körper erst gestalten. Wie wär der Tag durch Helleres belebt, wenn schon im Schatten Heiligkeiten walten! Und wie mein Auge erst beseligt wär, könnts am lebendigen Tage dich gewahren! In toter Nacht, ein Schemen, tratst du her, dem Schlafend-Blinden dich zu offenbaren. Nacht aller Tag, da ich dich nicht erblickt. Tag alle Nacht, da dich der Traum mir schickt. William Shakespeare (Nachdichtung Paul Celan)

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SPIELARTEN DER LIEBE Zum Stück EIN SOMMERNACHTSTRAUM wird nach übereinstimmender Meinung der Shakespeare-Forschung auf die Jahre 1595/96 datiert. Die Raffinesse, mit der Shakespeare vier klar voneinander abgegrenzte Personengruppen miteinander verknüpft sowie griechische Mythologie, elisabethanischen Volksglauben, Hof­ kultur und ländliche Alltagswelt als Einheit präsentiert, macht diese Komödie zu einer der beliebtesten William Shakespeares. Die Handlung des Stückes spielt in einem sagenhaften Athen: Theseus, der Herzog von Athen, der die Amazonenkönigin Hippolyta besiegt hat und sie nunmehr zu seiner Frau machen will; Hermia und Helena, deren Gück plötzlich in Frage gestellt zu sein scheint, seit Demetrius sich von Helena ab – und Hermia zugewandt hat und damit seinem Freund Lysander Konkurrenz macht; die Athener Handwerker, die sich abmühen, das traurige Stück PYRAMUS UND THISBE für die Hochzeitsfeierlichkeiten des Theseus einzustudieren und aufzuführen; der Feenkönig Oberon und seine Königin Titania, die im Athener Wald ihren heftigen Ehezwist austragen. Shakespeares besondere Kunst zeigt sich nun darin, wie diese vier Handlungsstränge – alles Variationen über das Thema Liebe – kontrapunktiert und eng­ geführt werden. Das Stück besteht aus neun Szenen: Die ersten und letzten beiden spielen in Athen, die dazwischen liegenden fünf, der größte Teil des Stücks, spielen im Athener Wald. Dort haben nicht nur Oberon und Titania das Sagen, sondern dorthin beschließen auch Hermia und Lysander zu fliehen, um sich dem ­Athener Recht zu entziehen. Sie weihen Helena in ihre Absicht ein, die ihrerseits Demetrius von den Fluchtplänen erzählt. Prompt irren bald alle vier im ­nächt­lichen Wald umher. Ebendort haben sich auch die Handwerker zur Probe verabredet, um möglichst ungestört üben zu können. Beiden Gruppen, den Liebenden und den Handwerkern, wird durch Puck, Oberons rechte Hand, übel mitgespielt, indem er einerseits die polygamen Tendenzen von Demetrius und Lysander befördert, anderseits Zettel mit einem Eselkopf versieht und dadurch die Theaterprobe auffliegen lässt, als auch das Techtelmechtel zwischen Titania und Zettel anbahnt. EIN SOMMERNACHTSTRAUM konfrontiert das Publikum mit verschiedenen Spielarten der Liebe, die sich wechselseitig erhellen und relativieren. Am Anfang scheinen sich tragische Entwicklungen anzubahnen: die Tragik der verhinderten und zerstörten Liebe, die auch Thema des Spiels im Spiele ist. Diese Liebe endet tödlich. Diese Tragik wendet sich im Stück ins Komische, dennoch ist diese Liebe der Maßstab, an dem sich die Spielarten der Liebe messen lassen. Davon werden im Folgenden drei gezeigt: Die an­ste­ hende fürstliche Verbindung Theseus und Hippolytas (Auslöser und Zielpunkt der Handlung), der Ehezwist von Oberon und Titania, das „Liebesquartett“ Hermia, Helena, Demetrius, Lysander und deren Hormon- und Gefühlskarusell. Am Ende gibt Shakespeare keiner dieser Spielarten recht und die Frage steht im Raum: Sind unsere Gefühle wirklich die unseren, oder vielmehr alle schon von Shakespeare geschrieben?

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PYRAMUS UND THISBE Eine Nacht wird zwei Liebende vernichten

Pyramus und Thisbe, er der schönste Jüngling, sie, hervorragend unter den Mädchen, die der Orient besaß, bewohnten angrenzende Häuser. Bekanntschaft und erste Schritte der Liebe bewirkte die Nachbarschaft: Mit der Zeit wuchs die Liebe. Sie hätten auch rechtsmäßig geheiratet, aber die Väter haben es verboten. Was sie nicht verbieten konnten: beide brannten gleichermaßen nachdem ihr Sinn von Liebe erfasst worden war. Es gibt keine Mitwisser. Sie verständigen sich durch Nicken und Zeichen, und je mehr es bedeckt wird, desto mehr lodert das Feuer. Gespalten war der beiden Häuser gemeinsame Mauer durch einen Riss, den sie einst bekommen hatte, als sie erbaut wurde. Oft, sobald sie dastanden, hier Thisbe, dort Pyramus und gegenseitig der Atem des Mundes gefangen worden war, sagten sie: „Neidische Mauer, was hinderst Du die Liebenden? Was wäre dabei, wenn wir uns mit dem ganzen Körper verbinden könnten oder wenn das zuviel ist, Du offen stehst, damit wir uns küssen können. Aber wir sind nicht undankbar: wir gestehen, dass wir es Dir verdanken, dass unseren Worten ein Durchgang zu den Ohren des Geliebten gegeben ist.“ Nachdem sie sich über vieles vorerst mit leisen Flüstern beklagten, beschließen sie in der Stille der Nacht die Wachen zu täuschen und aus der Türe hinauszutreten und wenn sie aus dem Haus gegangen waren auch die Häuser der Stadt hinter sich zu lassen. Damit die Umhergehenden sich nicht auf weiter Flur verirrten sollen sie sich am Grab des Ninus treffen, und sich im Schatten des Baumes verstecken. Die schlaue Thisbe geht durch die Haustüre, nachdem sie sie geöffnet hatte, hinaus und täuscht die ihren und gelangt mit verhüllten Gesicht zum Hügel und setzt sich unter den vereinbarten Baum. Die Liebe machte sie kühn. Siehe, da kommt eine Löwin mit schäumenden Maul, das noch besudelt ist vom frischen Rinderblut, um ihren Durst im Wasser der benachbarten Quelle abzulegen. Die babylonische Thisbe sah diese von der Ferne im Mondlicht und floh ängstlichen Fußes in die dunkle Höhle und verlor ihren Schleier, der ihr vom Rücken geglitten war. Sowie die wilde Löwin ihren Durst mit viel Wasser gestillt hatte, zerfetzte sie mit blutbespritzten Maul den zufällig ohne sie selbst gefundenen, zarten Umhang, während sie in die Wälder zurückkehrte. Pyramus, der später weggegangen war, sah im tiefen Sand Spuren eines sicherlich wilden Tieres und erblasste im ganzen Gesicht. Sobald er aber auch sogar den blutbenetzten Umhang gefunden hatte, sagte er: „Eine Nacht wird zwei Liebende vernichten: von diesen hätte jene wohl ein langes Leben verdient, mein Leben ist schuldig. Ich habe Dich, Beklagenswerte, getötet, der ich Dich geheißen habe, in der Nacht in diese Gegend voller Gefahren zu kommen, und der ich nicht früher hierher gekommen bin. Oh all ihr Löwen, die ihr unter diesem Felsen wohnt, zerreißt meinen Körper und verzehrt die Eingeweide des Frevlers mit wilden Bissen. Aber es wäre ängstlich, den Tod nur zu wünschen.“ Er hebt den Schleier Thisbes auf, und trägt ihn mit sich zum Schatten des vereinbarten Baumes, und sobald er das vertraute Kleidungsstück beweint und geküsst hatte,

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sagte er: „Trinke nun auch mein Blut!“ Er stieß das Schwert, mit dem er umgürtet war, in den Unterleib und der Sterbende zog es unverzüglich aus der heißen Wunde. Und wie er da so rücklings auf der Erde lag: das Blut spritzt hoch empor, nicht anders, wie wenn ein Rohr, nachdem das Blei schadhaft geworden ist, platzt und wenn es zischend aus dem schmalen Riss einen langen Wasserstrahl herausspritzen lässt und in Strahlen die Luft durchbricht. Die Früchte des Baumes werden durch das Anspritzen des Blutes in ein dunkles Aussehen umgewandelt. Und die Wurzel, nass vom Blut befeuchtet färbt die herabhängenden Maulbeeren mit purpurroter Farbe. Siehe da, nachdem die Furcht noch nicht abgelegt worden war, und um den Geliebten nicht zu enttäuschen, kehrt jene zurück und sucht den jungen Mann mit den Augen und mit dem Herz, und sie verlangt danach zu erzählen, welch große Gefahr sie vermieden hat. Sie erkennt zwar den Ort und den Umriss des emporragenden Baumes wieder, so macht sie aber die Farbe der Früchte ungewiss: sie zweifelt, ob es dieser ist. Während sie zweifelt, sah sie zuckende Glieder den blutbefleckten Boden schlagen und sie wich zurück, und das Gesicht, blasser als Buchsbaumholz, erschrak sie, gleich wie das Wasser, das zittert, wenn die Oberfläche von einem sanften Luftzug gestreift wird. Aber nachdem sie nach kurzem Verweilen ihren Geliebten erkannt hatte, schlug sie die unschuldigen Arme mit lautem Wehklagen, zerraufte das Haar und umarmte den Körper des Geliebten, füllte die Wunden mit Tränen und vermischte Blut mit Tränen, und das kalte Gesicht küssend rief sie: „Pyramus, welches Unglück hat Dich mir entrissen? Pyramus, antworte! Liebster, Deine Thisbe ruft: höre und richte Dein gesenktes Gesicht auf!“ Bei dem Namen Thisbe schlug Pyramus die schon durch den Tod beschwerten Augen auf, und schloss sie wieder, nachdem er jene gesehen hatte. Nachdem diese ihr Kleidungsstück erkannt hatte und die elfenbeinerne Schwertscheide ohne Schwert gesehen hatte, sagte sie: „Deine Hand und Deine Liebe haben Dich zugrunde gerichtet, Unglücklicher! Auch ich habe eine Hand, die dieses eine wagt, auch ich liebe Dich: diese Liebe wird mir Kräfte geben, mir Wunden zuzufügen. Ich werde dem Toten nachfolgen und man wird mich allerärmste Ursache und Begleiterin Deines Todes nennen; und der Du mir allein – ach – durch den Tod entrissen werden konntest, auch nicht wirst Du mir vom Tod entrissen werden können. Dennoch seid im Namen beider gebeten, o ihr armen Väter, meiner und seiner, dass ihr nicht missgönnt, dass diejenigen, die eine feste Liebe und eine Todesstunde verband, in ein und demselben Grabhügel bestattet werden. Aber Du Baum, der mit seinen Ästen den Körper eines einzelnen bedauernswerten bedeckst, bald wirst Du zwei bedecken, bewahre die Zeichen des Blutes und trage als Zeichen des Todes immer dunkle, der Trauer angepasste Früchte, als Andenken an zweifach vergossenes Blut!“ So sprach sie und stürzte in das Schwert dessen Spitze sie unterhalb der Brust angesetzt hatte, das vom Blut noch warm war. Ovid

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Der goldene Esel oder WER LIEBT, DER IST EIN ESEL Aber sobald wir die Reise, teils zu Lande, teils zur See zurückgelegt und Korinth erreicht hatten, strömten die Bürger in großen Scharen zusammen wie mir schien, weniger Thiasus zu Ehren als aus Neugier mich zu sehen. In dieser Gesellschaft befand sich auch eine angesehene und reiche Dame. Nachdem sie wie die übrigen für Geld sich meinen Anblick verschafft und sich dann an den vielfachen Possen belustigt hatte, geriet sie allmählich durch das ständige Staunen über mich in eine seltsame Verliebtheit. Und da sie sonst kein Heilmittel gegen die wahnsinnige Leidenschaft fand, schaute sie nur nach Art einer diesmal einem Esel verfallenen Pasiphae glühend nach meiner Umarmung aus. Sie bedang sich schließlich bei meinem Pfleger gegen hohe Bezahlung das Beisammensein für eine einzige Nacht aus. Schon hatten wir endlich gespeist und den Speiseraum des Herrn verlassen, da treffen wir auf die Dame, die schon längst in meinem Schlafraum wartete. Ihr guten Götter, was war das für eine Vorbereitung wie prächtig! Vier Eunuchen bereiten uns eilends aus mehreren aufgeblasenen, sich bauschenden Kissen mit feinen Federn an der Erde ein Lager. Dann verzögern sie die Freuden ihrer Herrin nicht länger durch ihre Anwesenheit; sie schließen die Tür und machen sich davon. Aber drinnen erhellten uns Wachskerzen in herrlichem Lichte schimmernd, die nächtliche Finsternis. Dann salbt sie sich selbst, nachdem sie jede Hülle abgelegt hatte, auch die Binde, mit welcher sie ihre hübschen Brüste geschnürt hatte, aus einem zinnernen Gefäß mit reichlichem balsamischen Öl, und eben daraus reibt sie auch mich ausgiebig ein, aber mit ganz besonderer Sorgfalt übergießt sie auch meine Nüstern. Dann faßt sie mich am Halfter und bringt mich leicht dazu, wie ich es gelernt hatte, mich auf den Rücken zu legen, da mir ja nichts neues und nichts schweres damit zu tun bewußt war, zumal ich nach so langer Zeit die Umarmung eines so schönen verlangenden Weibes erfahren sollte; ich hatte mich ja auch mit gutem und reichlichen Wein berauscht und mit duftenden Salben die sinnliche Begierde angeregt. Sie umschlang mich fest und nahm mich durchaus ganz, aber wirklich ganz in sich auf; so oft ich aber, um sie zu schonen mein Hinterteil zurückzog, so oft drängte sie in ungestümen Schwunge nach, fasste mein Rückgrat und hängte sich mit noch engerer Umarmung an mich, so daß ich weiß Gott! glauben mußte mir fehle noch etwas, um ihre Leidenschaft auszufüllen, und auf den Gedanken kam, die Mutter des Minotaurus habe sich nicht umsonst an dem brüllenden Liebhaber erfreut. Und nachdem wir so eine recht arbeitsame und schlaflose Nacht verbracht hatten, macht sich das Weib davon. Denn das Mitwissen des Tageslichts mied sie; Doch hatte sie noch den gleichen Preis für die kommende Nacht verabredet. Lucius Apuleius

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SHAKESPEARE UND KEIN ENDE! Shakespeare als Dichter überhaupt Durchs lebendige Wort wirkt Shakespeare, und dies läßt sich beim Vorlesen am besten überliefern; der Hörer wird nicht zerstreut, weder durch schickliche noch unschickliche Darstellung. Es gibt keinen höhern Genuß und keinen reinern, als sich mit geschloßnen Augen durch eine natürlich richtige Stimme ein ­Shakespearesches Stück nicht deklamieren, sondern rezitieren zu lassen. Man folgt dem schlichten Faden, an dem er die Ereignisse abspinnt. Nach der Bezeichnung der Charaktere bilden wir uns zwar gewisse Gestalten, aber eigentlich sollen wir durch eine Folge von Worten und Reden erfahren, was im Innern vorgeht, und hier scheinen alle Mitspielenden sich verabredet zu haben, uns über nichts im Dunkeln, im Zweifel zu lassen. Alles, was bei einer großen Weltbegebenheit heimlich durch die Lüfte säuselt, was in Momenten ungeheurer Ereignisse sich in dem Herzen der Menschen verbirgt, wird ausgesprochen; was ein Gemüt ängstlich verschließt und versteckt, wird hier frei und flüssig an den Tag gefördert; wir erfahren die Wahrheit des Lebens und wissen nicht wie. Shakespeare gesellt sich zum Weltgeist; er durchdringt die Welt wie jener; beiden ist nichts verborgen; aber wenn des Weltgeists Geschäft ist, Geheimnisse vor, ja oft nach der Tat zu bewahren, so ist es der Sinn des Dichters, das Geheimnis zu verschwätzen und uns vor oder doch gewiß in der Tat zu Vertrauten zu machen. Der lasterhafte Mächtige, der wohldenkende Beschränkte, der leidenschaftlich Hingerissene, der ruhig Betrachtende, alle tragen ihr Herz in der Hand, oft gegen alle Wahrscheinlichkeit; jedermann ist redsam und redselig. Genug, das Geheimnis muß heraus, und sollten es die Steine verkünden. Selbst das Unbelebte drängt sich hinzu, alles Untergeordnete spricht mit, die Elemente, Himmel-, Erd- und Meerphänomene, Donner und Blitz, wilde Tiere erheben ihre Stimme, oft scheinbar als Gleichnis, aber ein wie das andre Mal mithandelnd. Aber auch die zivilisierte Welt muß ihre Schätze hergeben; Künste und Wissenschaften, Handwerke und Gewerbe, alles reicht seine Gaben dar. Shakespeares Dichtungen sind ein großer belebter Jahrmarkt, und diesen Reichtum hat er seinem Vaterlande zu danken. Überall ist England, das meerumflossene, von Nebel und Wolken umzogene, nach allen Weltgegenden tätige. Der Dichter lebt zur würdigen und wichtigen Zeit und stellt ihre Bildung, ja Verbildung mit großer Heiterkeit uns dar, ja er würde nicht so sehr auf uns wirken, wenn er sich nicht seiner lebendigen Zeit gleich­gestellt hätte. Niemand hat das materielle Kostüm mehr verachtet als er; er kennt recht gut das innere Menschenkostüm, und hier gleichen sich alle. Man sagt, er habe die Römer vortrefflich dargestellt; ich finde es nicht; es sind lauter eingefleischte Engländer, aber freilich Menschen sind es, Menschen von Grund aus, und denen paßt wohl auch die römische Toga. Hat man sich einmal hierauf eingerichtet, so findet man seine Anachronismen höchst lobenswürdig, und gerade daß er gegen das äußere Kostüm verstößt, das ist es, was seine Werke so lebendig macht. Johann Wolfgang von Goethe

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DIE WIRKLICHKEIT EINER WELT DER GEISTER Das Shakespeare-Phänomen Was macht das Leben in diesen Dramen aus? Was ist das Shakespeare-Phänomen? Shakespeare schrieb, soweit ich weiß, siebenunddreißig Stücke. In diesen Stücken treten ungefähr tausend Figuren auf. Das heißt, Shakespeare – über dessen Person wir wenig wissen – hat in seinen Stücken etwas gemacht, von dem ich glaube, daß es in der Geschichte der Literatur einmalig ist. Es gelang ihm, in jedem Moment für mindestens eintausend wechselnde Standpunkte offen zu sein. Spätestens jetzt sollte jedem klar sein, daß man sich selbst einen schlechten Dienst erweist, reduziert man Shakespeare – welcherart auch immer – auf einen einzigen Standpunkt. Heutzutage geht es meist ums Sexuelle, wir erleben alle erdenklichen sexuellen Interpretationen der Dramen; Interpretationen, die sich um den Nachweis bemühen, daß sie geschrieben wurden, um dieses oder jenes verborgene sexuelle Verhältnis zu enthüllen. Tritt man aber einen Schritt zurück, um einen umfassenderen Blick zu erhalten, erkennt man, daß Shakespeares Einfühlungsvermögen all diesen sich wandelnden Anschauungen zu gleichen Teilen gilt, daß er sich mit ihnen allen identifizieren kann und daß er unaufhörlich eine vor die andere schiebt. Fest steht, daß es für Shakespeare und seine Zuschauer – und für die Zeit, in der er lebte, mit ihrem ungeheuren Gemisch von Menschen, einer Zeit des Wandels, in der neue Ideen hochschäumten und alte über Nacht zerfielen – keinerlei Sicherheit gab. Diese fehlende Sicherheit war ein Segen, denn sie schuf ein sehr tiefes intuitives Verständnis dafür, daß hinter dem Chaos irgendeine seltsame Möglichkeit des Verstehens verborgen lag, die sich auf eine andere Art von Ordnung bezog, eine Ordnung, die nichts mit der politischen Ordnung zu tun hatte. Diese Bedeutung ist in allen Stücken gegenwärtig und wenn man sich weigert, die Wirklichkeit einer Welt der Geister zu akzeptieren, sollte man besser gleich alle Werke Shakespeares verbrennen, denn dann haben sie überhaupt keine Bedeutung mehr. Und Theater zeigt nicht nur die Oberfläche, es zeigt, was hinter der Oberfläche in den komplexen sozialen Beziehungen zwischen den Menschen verborgen liegt – und dahinter wiederum die letztendlich existentielle Bedeutung dieses Treibens das wir Leben nennen. All dies kommt zusammen und wird in dem großen Spiegel reflektiert. Peter Brook

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PREMIERE … 9. Juli 2011 im Markgrafentheater AufführungsRECHTE … Hartmann & Stauffacher GmbH DAUER … ca. 2 h 30 Min., eine Pause Anmerkungen Publius Ovidius Naso, genannt Ovid (43 v. Chr. –um 17. n. Chr), römischer ­Dichter. In seiner mittleren Schaffensphase schrieb Ovid die METAMORPHOSEN ­( Verwandlungen), ein Versepos, das rund 250 Verwandlungssagen aus der griechischen und ­römischen Mythologie enthält, ­d arin auch die Geschichte von Pyramus und Thisbe. Lucius Apuleius (124 n. Chr. bis 180 n. Chr.), römischer Dichter. DER GOLDENE ESEL schildert die Abenteuer des in einen Esel verwandelten vornehmen Griechen Lucius. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), deutscher Dichterfürst. „Zum Schäkespeare Tag“ ist eine kurze, bekenntnishafte Rede von Goethe, entstanden und gehalten 1771. Paul Celan (1920–1970), bedeutender deutsch-jüdischer Lyriker und Übersetzer. Sein ­bekanntestes Gedicht: DIE TODESFUGE (1944,1945). Die Nachdichtung der Sonette Shakespeare entstand zwischen 1959 bis 1963. Peter Brook, geboren 1925, bedeutender Regisseur des modernen europäischen Theaters, sein Buch VERGESSEN SIE SHAKESPEARE ist ein Klassiker der Theaterliteratur. Er lebt und arbeitet in Paris. NACHWEISE: Peter Brook VERGESSEN SIE SHAKESPEARE, Berlin 2003. Paul Celan ­GESAMMELTE WERKE. Bd.5; Frankfurt a. M. 1986. Johann Wolfgang von Goethe K ­ UNSTTHEORETISCHE S­CHRIFTEN UND ÜBERSETZUNGEN, Bd. 18, Berlin 1960. ­­ www.romanum.de. Stephen Greenblatt WILL IN DER WELT, Berlin 2004. PROBENFOTOS (4. Juli 2011): S. 3 Christian Heller, Horst Schily; S. 8-9 Christian Heller, Hermann Große-Berg, Marion Bordat, Horst Schily; S. 12 oben Stefan Drücke, Winfried Wittkopp, Hermann Große-Berg, Robert Neumann, Christian Wincierz; S. 12 unten Marion Bordat, Hermann Große-Berg; S. 13 oben Christian Heller, Marion Bordat; S. 13 unten Martin Laue, Gitte Reppin, Linda Foerster, Steffen Riekers IMPRESSUM: Programmheft Nr. 4 | Spielzeit 2010.2011 | Intendantin Katja Ott Redaktion Katja Prussas | Mitarbeit Agnes Zmenda | Fotos Gert Kiermeyer | Gestaltung Neue ­Gestaltung | Druck Druckerei Conrad Nürnberg GmbH Bild- und Tonaufnahmen während der Vorstellung sind nicht gestattet. Textkürzungen sind nicht ­gekennzeichnet, Überschriften stammen zum Teil von der Redaktion.

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Ich hab einen Traum gehabt – das geht über Menschenverstand zu sagen, was das für ein Traum war. Der Mensch ist glattweg ein Esel, wenn er sich erfrecht, diesen Traum auszulegen. Zettel, ein Sommernachtstraum


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