Journal für Musik # 83, 7–9/2010 EUR 4 www.skug.at
Faust M.I.A. Scout Niblett Maja Osojnik Iggy & The Stooges Super Seaweed Sex Scandal Progrock-Blindtest mit Austrofred Berlin Biennale Hubert Fichte Slavoj Žižek
editorial vol. 83 Nur noch ein paar Monate, dann feiert skug seinen 20. Geburtstag! Die vorliegende Ausgabe ist demnach unsere letzte unbeschwerte Teeny-Nummer. Also genießen Sie noch all die Fremdwörter, die wir selber nicht verstehen. Das nächste Mal können wir sie alle wasserfest durchdeklinieren! Wo die Musik spielt, versuchen wir diesmal u. a. anhand von Scout Niblett, M.I.A., Maja Osojnik, Stimmgewitter Augustin, Dubstep sowie Super Seaweed Sex Scandal (von skug-Neuzugang Philipp Rhensius) zu eruieren. Unserem Alter entsprechend lassen wir aber auch ausschweifenden Exegesen freien Raum (Faust, Iggy & The Stooges, Sound-Space-Visual II) und stellen uns einem Blind-Date zum Thema Progrock (Host: Austrofred). Entgegen dem uns anhaftenden StubenhockerInnen-Klischee waren wir diesmal jedoch auch in Hanoi (Soundstuff-Festival), Berlin (Biennale) und Istanbul bzw. im nahen Klagenfurt, wo readable-Chef Thomas Ballhausen am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teilnahm. Selbst in Wien ging es outdoor. Wir haben im Rahmen der Mikroclub-Reihe das neue Musik/Kunstvenue Das Werk heimgesucht, noch vor der offiziellen
Eröffnung. Immerhin treten dort ja bereits Bands auf – siehe Christian Königs Live-Foto der Dub-Funksters Shongi. Auch Gerry Jindra, den wir somit auch als neuen skug-Grafiker begrüßen, werkt dort. Aber keine Angst! Wir leben dieses StubenhockerInnen-Klischee wieder üppigst bei thinkable (Žižek, elffriede.interdisziplinäre.aufzeichnensysteme, Hubert Fichte) und readable (u. a. mit Patti Smith, Carl Weissner, Helmut Salzinger) aus. Dazu gibt es Flimmerndes von Nagisa Oshima, Joris Ivens und Klaus Wildenhahn. Und natürlich Reviews zum Saufüttern und eine La Passe durch den geheimnisvollen Buchstaben »X«. Nota Bene: Geschriebenes wird hörbar: skug # 83 on the radio: 21. Juli, 23–24 Uhr, www.byte.fm skug-Soundsystem (Deisl/Neidhart), 6. August, Klangbad-Festival/Scheer Die Redaktion skug Vol. 84, 10–12/2010 erscheint im Oktober 2010
© Christian König
inhalt vol. 83 04
SALON skug Bah vs. Liii superviced, skug-Soundsystem, »zycie mozna sobie ulozyc«
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Herzlos Wider die politische Demutsstarre
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SOUND/SPACE/VISUAL Vol. 2 Rhythmisierung des Alltags
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skug EMPFIEHLT Wien im Film, Prince, Konfrontationen Nickelsdorf, Glatt & Verkehrt Krems, ÖNCZkekvist, Hugh Masekela …
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MIKROCLUBS Vol. 2 D.I.Y.-Progress
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Scout Niblett Alles hören wollen
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FILM Nagisa Oshima, Joris Ivens, »All Tomorrow’s Parties«, »Welt am Draht«, Klaus Wildenhahn
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M.I.A. Kulturheldin der »Beautiful People«
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LA PASSE – X Zwischen X-Beliebig, Xenakis und XXX
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Maja Osjonik Knabbern & knistern
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ARTFILE Konstruierte Wirklichkeiten in Berlin, fraktale
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Stimmgewitter Augustin Chorgesang & Punk
Sound-Architekturen in Istanbul
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Wo der Dub steppt Aliens versus Kaffeetassen
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Super Seaweed Sex Scandal ipod & Jazz
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Blind-Date Progrock-Lecture mit Austrofred
20 24
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THINKABLE Slavoj Žižek lässt keine Ruhe, elffriede macht wieder
Maschine, Fichte ist empfindlich nahe
Faust Der Maelstrom als Klangbad
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READABLE Bücher von Patti Smith, Carl Weissner, Bodo Kirchhoff, Joachim Lottmann, Nicholson Baker, Mieze Medusa, Cornelia Travnicek und Bücher über »Toy Instruments«, Heiner Müller,
Iggy & The Stooges »Punk existiert nicht«
»100 Meisterwerke der Weltliteratur«, Friedrich Gulda, Helmut Salzinger
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REVIEWS Von 5/8erl in Ehr’n bis Zorro Zensur
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ABONNEMENT/IMPRESSUM
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Hanoi Soundstuff Festival Elektronik, Noise, Avantgarde
aktuelles auf www.skug.at
Français Sans Coeur English Interview with hypnagogic pop star Lieven Martens Artikel Johannes Springer über »Wien im Film« Termine skug-Empfehlungen gegen den Alltag Review Collection Around The World 83 I 3
salon skug fluc
Praterstern Wien (U1/U2/S-Bahn) Eintritt: frei
JÜRGEN PLANK/HEINRICH DEISL/ALFRED PRANZL TEXT
rial. In freier Interaktion der drei Akteure fließen Auditives und Bilderwelten ineinander, um ein kleines Gesamtkunstwerk aus Realität und Illusion zu erschaffen. Oder um es mit Walter Benjamin zu sagen: »Der apparatfreie Aspekt der Welt ist zu einem künstlichen geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Technik.« Für diesen Salon-Abend heißt das: Bah vs. Liii spielen im fluc, ohne im fluc zu spielen. © Simone Schwaiger © Bah vs. Liii superviced
www.myspace.com/bahvsliiisv
Mi., 14. 7. 2010, ab 21 Uhr Live: Bah vs. Liii superviced – live on canvas DJs: Heinrich Deisl/Hans Kulisch Überall spielen Bah vs. Liii, nur nicht on stage! Aus dem Off (zum Teufel, wo spielen sie? Im Hinterkammerl oder gar am Klo?) wird das Duo auf die Leinwand gebeamt. Dank tontechnischer Finesse ist es körperlich präsent. Sehr stark sogar – es vibriert auf der Bühne! Florian Fennes vervielfacht via Loopstation Klänge aus Baritonsaxofon und Klarinette, Veronika Mayer bündelt im Notebook akustisches Archivmaterial, live gesampelte Sounds von Saxofon und Video und generiert daraus Tongebirge von abstrakter Schönheit. Christine Schörkhuber aka superviced überträgt die Musik von Fennes/Mayer in den Zuschauerraum, überlagert von zusätzlichem Videomate-
/skug empfiehlt
Mi, 11. 8. 2010, ab 21 Uhr skug Soundsystem skug-Allstar DJs Weil Hochsommer ist und alle eh lieber unter der Platane des fluc sitzen, gibt es diesmal einen chilligen, diskursiven, lärmigen und tanzbaren Abend mit dem skug-Soundsystem, bei dem sich einige skug-DJs die Ehre geben werden. Plus ein bisheriges Best of 2010 der skug-Redaktion zwischen Rock, Electronica, Metal und Dubstep. Mit dabei: Laura Snapes, Mieze Murakami, Heinrich Deisl und Paul Poet.
Gasse« und »The Wedding March« sind genauso dabei wie Barbara Alberts »Nordrand« oder »Kassbach« und »Den Tüchtigen gehört die Welt« von Peter Patzak. Während früher die Repräsentationsbauten als Protagonisten auftauchten, hat sich seit den 1970ern das filmische Interesse immer mehr an die Peripherie verlagert. Regisseurgespräche, Symposien und Spezialführungen runden das Programm ab.
Mi, 8. 9. 2010, ab 21 Uhr Performance: »zycie mozna sobie ulozyc« DJs: Heinrich Deisl/Manni Montana Benedikt Guschlbauer (moozak.org – Electronics), Elisabeth Grabner (Cafe Olga Sanchez – Geige), Severin Chen (MDW-Student – tPercussion, Tasteninstrumente) und Michael-Franz Woels (skug, Kampolerta – Saiteninstrumente, Skript) inszenieren gemeinsam mit Jolanta Warpechowski (SOPOGRO, Mimamusch – Vocals, Movements) ein amalgamierendes Spiel der Improvisation. Kreuzreaktionen der unterschiedlichen Sound-Standpunkte weben ein moussierendes Klangnetz, fangen die Satzfragmente des polnisch-deutschen Textes »Leben ist Teilungssache« sowie die tänzerischen und vokalen Ausdrücke und -brüche der Performerin Jolanta Warpechowski instrumentierend auf. www.play.fm/artist/spuhmicha
Sommer-Reihe mit Platzkonzerten im Innenhof des WUK. Bei freiem Eintritt sind u. a. Otto Lechner, Laura & The Comrats, pauT, Gottfried Gfrerer, Andy Glandt (D) und Solo Kouyate (Senegal) zu hören. Beginn: 20.30 Uhr. www.wuk.at
www.wienmuseum.at
© Filmarchiv Austria
Stadtbilder aus 100 Jahren Bis 19. 9. »Wien im Film« im Wien Museum Wien als filmischer Topos jenseits der Walzerseeligkeitsklischees: Das Wien Museum versammelt 80 (inter-)nationale Filme von der Stummfilmzeit bis heute, die die Metropole Wien mittels ausgewählter Sequenzen in ihren vielfältigen Facetten zeigen. Es geht um das Zurechtrücken Wiens, denn wie sagte Orson Welles 1968: »The Vienna that never was is the grandest city ever«. Klassiker wie »Die freudlose 83 I 4
10. Kasumama Festival 7.–11. 7. in Moorbad/Harbach Ein rundes Jubiläum wird beim Afrika-Festival in Moorbad/Harbach im Waldviertel gefeiert, live u. a.: Die Rapperin Sister Fa (Senegal), The Mohatella Queens (Südafrika) und die wunderbare Sängerin Sarah Ndagire (Uganda). Ein umfangreiches Tanzund Workshop-Programm gibt es auch, einfach das Zelt am Badeteich aufschlagen und abhängen! www.kasumama.at
WUK-Platzkonzerte 13. 7.–13. 8. feat. Otto Lechner Heuer bereits zum fünften Mal: die beliebte
© FM Service
Prince 13. 7. Stadthalle Wien Ins U4 wird er zwar nicht mehr für einen Secret Gig einkehren, es genügt, wenn Exzentriker Prince in der Wiener Stadthalle regiert! Kolportiert werden Special Guests wie Maceo Parker, doch Roger Nel-
/skug empfiehlt
sons Band bürgt ohnehin für ein energiegeladenes Bühnenfeuerwerk. Der US-Amerikaner vereinigt die Essenz des Pop in sich und hat viele unsterbliche Songs geschrieben, von »Sign O‘ The Times« über »Purple Rain« bis »Raspberry Beret«. Wie stiloffen sein Schaffen ist, bezeugen Grammy Awards in so unterschiedlichen Kategorien wie R&B, Pop oder Rock.
chige Klausur ins Kulturaustauschzentrum CESTA in Tábor, Tschechien. Dort erarbeiten die Jungtalente mit verschiedenerlei Backgrounds von Jazz, Noise bis Klassik in diversen Konstellationen Werke fürs Grande Finale, das am 31. Juli in Wien stattfindet. Geplant sind auch Studioaufnahmen des in seiner Größe variierenden Orchesters. Ein Grenzen sprengendes Ereignis!
www.fmservice.at
www.cesta.cz, www.oncz.org
31. Konfrontationen 15.–18. 7. Nickelsdorf Välkommen im burgenländischen Wallfahrtsort für Fans improvisierter Musik. Heuer werden die Konfrontationen hauptsächlich von Mats Gustafsson, der sich der Liebe wegen im Grenzort zu Ungarn einheiratete, ›komponiert‹. Mit skandinavischen Highlights wie The Thing, Sven Ake Johansson oder jungen Wilden wie Mariam Wallentin, dem transatlantischen Ensemble von Roscoe Mitchell & Evan Parker, Brötzmann/Kondo, The Ex, Heaven And, Oren Ambarchi, Magda Mayas u. v. m. www.konfrontationen.at
© Belle Kinoise
Faiz Ali Faiz, Staff Benda Bilili 15. 7.–1. 8. Glatt & Verkehrt Krems Im Vorfeld spielen bereits Netnasikum, 5/8erl in Ehr’n oder Maja Osonjik, ehe die beschauliche Sandgrube 13 der Winzer Krems mit herausragenden Themenabenden aufwartet. Am 28. 7. trifft der pakistanische Qawwali-Sänger Faiz Ali Faiz auf Thierry Robin, einen bretonischen Oud-Spieler, der auf den Spuren der Romamusik wandelt. Den »Rumble In The Jungle«, frei nach dem Boxkampf zwischen George Foreman und Muhammad Ali, den 1974 in Kinshasa Auftritte von Miriam Makeba oder James Brown begleiteten, bestreiten Keziah Jones und Staff Benda Bilili (29. 7.). »Ritmos de Colombia« heizt mit Cumbia usw. ein (30. 7.) und »Ferner Klang« widmet sich ostasiatischen Gruppen, etwa den obertonsingenden Hanggai aus der Inneren Mongolei. www.glattundverkehrt.at
40 Improvisations-MusikerInnen! 31. 7. ÖNCZkekvist im Radiokulturhaus Wien Newcomer aus den Improvszenen von Österreich, Tschechien und Norwegen finden im Kooperationsprojekt ÖNCZkekvist zusammen. Nach der Premiere in Oslo 2009 begeben sie sich heuer auf eine einwö-
Franz Hautzinger, Odean Pope 26.–29. 8. Jazzfestival Saalfelden Weltoffen wie immer gibt sich der Konzertreigen im bergumrankten Salzburger Fremdenverkehrsort. Die verschiedenen Tiersujets auf dem Folder stehen für Vielfalt, die auf der Alm (Wiener Tschuschen Trio …) ebenso gegeben ist wie bei den Short Cuts (ZU, Marc Ribot, Mary Halvorson Trio …) oder auf der Hauptbühne (Myra Melford, Carla Kihlstedt & Satoko Fujii, Exploding Star Orchestra …), wo Franz Hautzingers Third Eye den Auftakt und Odean‘s List, das Oktett von Odean Pope, das Finale besorgen werden. www.jazzsaalfelden.com
© Porgy & Bess
Hugh Masekela 11.–13. 8. im Porgy & Bess Kaum ist das Jazz Fest Wien im Verklingen, präsentiert jenes aus Montreux am 6. 7. Gewinner des vorjährigen Newcomer-Wettbewerbs: die Pianisten Beka Gochiashvili und Isfar Sarabsky sowie den Gitarristen Roland Balogh. Nach Jazzanova feat. Paul Randolph (15. 7.), Bill Evans’ Soulgrass (21. 7.) oder der genialen Makoto Ozone Big Band (28./29. 7.) füllen von 11.–13. 8. der südafrikanische Starjazzer Hugh Masekela und am 17. 8. Living Colour den bestens kuratierten Jazz- und Musikclub. Es folgen Karl Ratzers Night Club Band am 27./28. 8. und Ricky Lee Jones am 1. 9. Den Herbstauftakt besorgt die JazzWerkstatt Wien mit einem viertägigen Festival (7.–10. 9.), während dem Pianisten Paul Urbanek vom 14.–16. 9. Porträtkonzerte gewidmet werden. www.porgy.at
KomponistInnenforum 9.–18. 9. Mittersill Beim mittlerweile fünfzehnten KomponistInnenforum geht es unter dem Motto »Strom« um die besonderen Qualitäten der seit Ende des 19. Jahrhunderts elektrifizierten musikalisch-gesellschaftlichen Verhältnisse. Für eine Woche wird das doch recht idyllische Mittersill quasi unter Strom stehen, wenn Elektrizität, Energietransformationen als kreative Prozesse und Musikmaschinen in Diskussionen und Konzerten reflektiert und vorgeführt werden. Elektroakustische Musik trifft Improvisation trifft Clubkultur. Das von Wolfgang Seierl (mica), Hannes Raffeseder (FH St. Pölten) und dem Büro für kulturelle Sonderprojekte veranstaltete Forum umfasst ein Symposium (Hemma Geitzenauer, Ivan Ristic, Manon Liu Winter, skug-Autor Heinrich Deisl), das »Kofomi-Lab« mit SchülerInnen des BORG Mittersill, ein Publikumsgepräch mit Medienkünstler Bill Drummond, eine Medienperformance des russischen Komponisten Vladimir Tarasov und Konzerte vom Ensemble die reihe, Mia Zabelka, Burkhard Stangl, Electric Indigo, Hans-Joachim Roedelius, Wolfgang Schlögl, Dieter Kaufmann und den Elektroakustikern Cathy van Eck (NL) und Germán Toro Pérez (COL). Verschiedene Locations in und um Mittersill. www.kofomi.com
© EMI
Feat. LCD Soundsystem 19.–21. 8. Frequency St. Pölten Wieder einmal muss man sich in die Höhle des Löwen wagen, um sich die Rosinen rauszupicken. Hot Chip, Massive Attack, Peaches oder Element of Crime bevölkern den Green Park St. Pölten, ebenso wie das Österreichpremiere feiernde LCD Soundsystem (siehe Review, Seite 35). www.frequency.at
DOXA10 Experimentelle Sound Lectures im Netz Kontext-Hacking-Ausgangsmaterial für diese Sound-Aperçus lieferten Sprachaufnahmen zum Thema Landscape-Experimente. Einzelne Wortfetzen, Klopf- und Hustgeräusche (hack bedeutet im Englischen auch trockener Husten), Hintergrund- und Nebengeräusche der Lectures wurden ge- und zerhackt. In roher Anmut Übereinandergeschichtetes erzählt Subtiles zum Thema Entwerfen und oszilliert auf verschrobene Weise zwischen aufbrausend-komplexer und repetitiv-kontemplativer Eindringlichkeit. www.foruml.at
Mehr Termine gegen den Alltag: www.skug.at 83 I 5
ALICE GRUBER/ALEX KALIWODA INTERVIEW/TEXT MAGDALENA BLASZCZUK FOTO
I want to hear everything Vielen ist der Weg nach oben genug. Scout Niblett will mehr: die Stufenleiter der Vollkommenheit. Ihr Reich liegt zwischen den manischen Biotopen eines Daniel Johnston und den Prachtgärten eines Will Oldham. »The Calcination Of Scout Niblett« ist ihr fünftes Album, wieder produziert von Steve Albini, und wieder schnell und schmerzlos aufgenommen. Wobei der Prozess, in dem sie sich zurzeit befindet, alles andere als schmerzfrei ist.
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Als »Kalzinierung« wird der chemische Vorgang bezeichnet, bei dem ein Material durch Erhitzen entwässert, zersetzt und/oder isoliert werden soll. Was dem Chemiker banales Werkzeug, ist Niblett brennende Erkenntnis: In der Alchemie ist die Kalzination wichtig zur Herstellung des Steins der Weisen. Zur Erlangung einer Klarheit, der Klarheit an sich, wird reingekocht und ausgebrannt, was da an unreinen Einschlüssen vorhanden sein mag. Reduktion bis zum Kern. Das ist, was sie möchte. Das ist es, was sie tut. So ist »The Calcination« deutlich roher als »This Fool Can Die Now« von 2007, auf der sie mit »Kiss«, dem Duett mit Will Oldham aka Bonnie Prince Billy, einen Indie-Hit landete. Jetzt stehen die Sterne anders. Kräftig branden die Gitarren, martialisch dröhnen die Drums, und ihre Songs suchen kompromisslos die reine Wahrheit. So seltsam dieses Universum anmutet, so faszinierend selbstsicher ist Niblett in ihrer Offenheit. Eine Audienz vor ihrem Gig in der Arena zu Wien. skug: Wie kam es zum Titel des neuen Albums? Scout Niblett: Die Kalzination ist die erste von mehreren Stufen innerhalb der Alchemie. Das Ziel ist ein pures Selbst, ohne Makel und Unreinheiten. Ich bin im Stadium dieses ›Gekochtwerdens‹. Das ist nicht sehr angenehm, denn du nimmst Dinge an dir selber wahr, die nicht rein sind. Quasi die naturwissenschaftliche Entsprechung von Psychotherapie. Das hat weniger mit Therapie als mit großen Zyklen zu tun, die man selbst durchlebt. Diese Zyklen macht jeder durch: die Erfahrung darüber, wer man eigentlich ist. Üblicherweise läufst du ja rum, ohne dich selber genau zu betrachten. Bis zu dem Punkt, an dem du imstande bist zu sehen, was nicht so erfreulich ist. Das ist das ›Kochen‹: die Fähigkeit, das zu erkennen. Was war der Auslöser dafür? Ich beschäftige mich intensiv mit Astrologie, ich hatte eine schwierige Phase im letzten Jahr, und das wird auch in den kommenden Jahren so bleiben. Das weißt du jetzt schon? Ja. Nicht, dass wir eine Ahnung von Astrologie hätten, aber du bist im Sternzeichen Waage ... solltest du nicht ausgeglichen sein? Nein, die Vorstellung der Waage ist, dass sie versucht, Ausgleich zu erzeugen und zu erreichen, nicht ausgeglichen zu sein. Mein Zeichen wird sehr stark von Pluto und Saturn beeinflusst, deren Archetypen zurzeit auch im Stadium der Kalzination sind. (Scout Niblett lacht) Ja, ich krieg’s zurzeit von allen Seiten. Pluto ist mein Lieblingsplanet, er ist mächtig und bündelt im Kern die Kräfte der Wahrheit. Ist dieses Zum-Kern-Kommen ein Grund für die Reduziertheit des neuen Albums? Mich hat immer mehr interessiert, die Dinge minimal zu halten. Denn ich möchte immer alles hören. Und je mehr Instrumente du hast, desto schwieriger ist es, zu hören, was jedes einzelne davon macht. Ich will hören können, wie ich klingen wollte. Dieses Album ist einfach extremer in diesem Anspruch. Beeinflusst das auch das Aufnehmen? Wir gehen einfach ins Studio, spielen die Songs, und sie werden live aufgenommen. Es gibt keine Overdubs. Reingehen, spielen, fertig. Das ist es. Das möchte ich so. Dazu müssen wir die Songs gut kennen. Aber das ist einfacher, als wochenlang im Studio zu sein. Die Songs sind genauso, wie sie sind, auf dem Album. Nicht mehr und nicht weniger. In erster Linie will ich mich hören können, also meine Stimme, meine Gitarre. Ist das Album also eine Dokumentation deiner Konzerte? Ja, es soll einfach wiedergeben, wie ich klinge. Ich spiele im Studio mit einem Drummer, und das mache ich auch auf der Bühne. Ich liebe es, Songs im Studio festzuhalten, aber aufregender ist es, auf der Bühne zu stehen. Mich faszinieren Live-Gigs von Leuten, die echt leidenschaftliche Performer sind. Dave Doughman
von Swearing At Motorists hat mich echt inspiriert, der musste einfach auf der Bühne sein, das ist ein innerer Drang, den ich auch spüre. Das Auftreten ist eine Möglichkeit, das ›Drama‹ aus mir rauszubringen. Den Zorn, die Wut, all das, was man an Menschen eigentlich nicht so gerne sieht. Ich brauche das für meine Gesundheit, das ist wie eine Therapie. (lacht) Du bist und warst auch immer wieder alleine auf der Bühne, kannst dich hinter niemandem verstecken. Bist du kühn? Ich genieße es, mir selbst Herausforderungen zu stellen, um zu sehen, wie ich diese bewältigen kann. Das ist auch eine Geisteshaltung: Dinge zu tun, weil du daran glaubst, dass du sie tun wirst, und nicht notwendigerweise, weil du besonders gut darin bist. Lange Zeit hast du eine blonde Perücke getragen, dann diese orange Sicherheitsweste. Sind das Kostüme, die dich zur Performerin machen? Also zu einer, die weiß, wo es langgeht? Ich weiß gar nicht so genau, warum ich das tat … Mich hat die Verwandlung interessiert, diese Perücke hat mich nicht gerade schöner gemacht, aber ich wollte damit meine äußere Erscheinung untergraben, ich wollte nicht wegen meines Aussehens veröffentlicht werden. Und das war ein Weg, subversiv damit umzugehen. Du hast mal gesagt: »Musik rettete mein Leben.« Das klingt nach einem üblichen ›Interviewfüllsatz‹ ... Nein, da ist die Wahrheit. Das stimmte vor allem, als ich jünger war. Bestimmte Musik konnte meine Stimmung komplett ändern. Ich war als Kind extrem schüchtern, und allein, wie in einer Art Blase, mit mir selbst. Und ehrlich, die anderen Kids gingen mir auf die Nerven. Ich hatte eine Lehrerin, die Klavier gespielt hat, und immer wenn sie das tat, war sie komplett in ihrer Welt. Das hat mich angesteckt, das wollte ich auch. So habe ich Klavier spielen gelernt, dann Gitarre und Schlagzeug. Sowohl das Musikhören als auch das Musikmachen haben mich gerettet. Und kannst du nun von der Musik leben? Ja, hauptsächlich wegen der Touren. Nicht so sehr aufgrund der Plattenverkäufe. Ich versuche, das Touren bei vier Monaten im Jahr zu halten … das scheint zu funktionieren, ich habe allerdings keine Ahnung wie lange. Das Herumfahren scheint dir Spaß zu machen, in deinen Songs kommen oft Reisen, Seeleute, Trucker vor. Hat Heimat eine Bedeutung für dich? Hmm, Orte beeinflussen mich mehr. Viele Menschen halten Gemeinschaften, Nachbarn, Freunde etc. für wichtig. Ich hatte das nie. Sich zu verändern, bringt mir mehr, das ist vielleicht seltsam ... Das klingt einsam ... lebst du alleine? Momentan nicht, aber das wird sich ändern. Ich bin nicht sehr gut im Zusammenleben mit anderen Leuten. Ich halte das nicht aus. Bist du deswegen auch von Nottingham in die USA gegangen? Das tat ich wegen des Musikmachens. Es war schwierig in England mit dem, was ich mache, und wie ich es mache, über die Runden zu kommen. Wenn du in England spielst, ist das dann wie eine Heimkehr? Ich kenne England 28 Jahre lang, aber ich verbinde damit keine guten, warmen Gefühle. Mir geht nichts ab von dort: weder Kultur noch Leute. Ich empfinde England deprimierend! England ist zurückgeblieben. Es steckt so tief in der Geschichte, der Tradition, ist sehr konservativ. Es erstickt. Auch mit Kritik. Mittlerweile ist mir das egal, wenn ich dort spiele, ist das ein Gig wie jeder andere. Kritik ist auch eine Form der Wahrnehmung. Ist in den USA die Art, wie man kritisiert wird, anders als in Europa? Kritisch zu sein hat in England mehr Bedeutung, es ist Teil der Psycholo83 I 7
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gie, negativ zu kritisieren. Ich glaube nicht, dass »Kritik« gleichbedeutend mit negativer Kritik sein sollte. Es reicht, wenn man sagt, was einem gefällt, aber negative Kritik ist verschwendete Energie. Wie lief eigentlich die Zusammenarbeit mit Bonnie Prince Billy? (Scout strahlt) Das war toll, großartig, nahezu perfekt. Wir haben nicht geprobt, sind sofort ins Studio und haben den Song (»Kiss«, Anm.) ein paar mal durchgespielt. Das war’s. Du hast für ein Will-Oldham-Tribute-Album einen Song beigesteuert: »Trudy Dies« von der LP »Palace Songs«. Den kennt niemand. Ja, aber den mochte ich einfach am meisten, der ist für mich herausragend, eine Perle. Mochte er ihn? Hat er nicht gesagt. Was würdest du denken, wenn jemand ein Scout-Niblett-Tribute-Album machen würde? Wer sollte denn da mitmachen? Das würde mir gefallen. Es wäre interessant zu hören, was andere aus meinen Songs machen, dann ist anzunehmen, dass sie mehr Instrumente einsetzten als ich. »Kiss« wäre dafür sicher ein Hit. Mir fiele dann noch »Hot To Death« ein. Ein paar der Songs von »Kidnapped By Neptune«, die sind zugänglicher. Ich würde mir das von Shellac (Steve Albinis Band, Anm.) wünschen oder Howe Gelb. Oder eine Blasmusikkapelle, wegen der vielen Instrumente. Ja, oder ein Chor! Schreibst du manchmal Songs, von denen du meinst, sie wären perfekt für einen anderen Künstler? Zum Beispiel für Daniel Johnston? Lustig, dass du das sagst. Also, als ich »Kiss« schrieb, hatte ich ursprünglich an Daniel Johnston gedacht. Es war der Song, den er singen sollte. Und wenn es eine Person gibt, die mich dazu inspiriert, Songs für sie zu schreiben, dann ist das Daniel. Ich sollte das wieder machen. Er ist für mich eine Art Seelenverwandter. Daniel ist ja über fünfzig, du bist mit ihm vor zwei Jahren gemeinsam auf der Bühne gestanden, Jad Fair, Norman Blake und Mark Linkous waren auch dabei. Denkst du dann manchmal über dich in zwanzig Jahren nach? Ja, definitiv. Ich denke immer über mich auf eine ähnliche Art, wie ich ihn sehe. Wenn ich darüber nachdenke, was aus mir oder wie ich werden könnte, ist er es, der dem am nächsten kommt. Oder wie ich weitermachen könnte. Er ist schon eine Art Role-Model. Wie wurdest du denn musikalisch sozialisiert? Als ich aufgewachsen bin, habe ich einfach Radio gehört, also Top 40 und
Popzeug. Meine Mutter hörte Everly Brothers, Abba, die Beatles und Rod Stewart. Aber ab einem gewissen Alter hörst du dein Zeug und wirst zielgerichteter. Du hörst nicht mehr bloß, was halt gerade da ist. So mit 16 habe ich ziemlich viel amerikanische Musik gehört. Frühe 1980er mit Black Flag, Fugazi und Discord, dieses sehr männliche Zeug. Dann kam Nirvana. Die haben mich dazugebracht, Gitarre zu spielen. Henry Rollins von Black Flag schreibt ja auch und liest viel. Wäre Spoken Word auch eine Option für dich? Ich habe seine Gedichte gelesen. Ich sah damals seine Spoken-Word-Performances und war echt besessen von ihm. Der hat mich sehr beeinflusst. Ich selbst brauche die Gitarre, oder auch den körperlichen Akt des Singens. Das macht mir mehr Freude, als bloß zu sprechen. Ich liebe die Musik der Worte. Aber ohne Musik sind Worte einfach nur ein Gedicht. Die Musik macht das Ganze zu dem, was es für mich ist. Wie ist das für dich, wenn Fans, deren einziger Inhalt du bist, im Internet Fanseiten machen? Das ist mir egal. Es gibt so viel Zeug im Netz. Auf jeder Tour wirst du fotografiert, Videos von den Shows sind sofort im Netz. Manchmal siehst du eben nicht so toll aus oder der Sound ist nicht gut, das ist durchaus eine Herausforderung. Zugleich ist das tatsächlich das, was da war. Diese Inhalte sind nicht kontrolliert und manipuliert, also ›echt‹. Ohne meinen Kontrolliert-und-freigegeben-Stempel. Das ist ihre Version von mir, und das mag ich. Du fragst immer wieder dein Publikum, ob es Fragen gibt. Was erwartest du da von den Leuten? Ich habe das von Shellac. Die machen das immer wieder. Und ich fand das sehr cool, also mach ich es auch. Aber: Bei Shellac feuern hunderte von Leuten irgendwelche Fragen auf sie, und sie beantworten die immer mit einem Wort. Doch wenn ich frage, sind alle sooo schüchtern, keiner fragt mich irgendwas! Vielleicht solltest du das den Leuten erklären, dass wirklich jegliche Frage gestellt werden kann? Manchmal sag ich schon, dass ich alle Fragen beantworte. Und fast immer tue ich das auch. Damit ist die Audienz beendet. Und siehe da, beim Konzert brüllt Scout nach einer perfekten ersten Halbzeit mit überaus erfreutem Publikum: »Any Questions?« – »Yeah« schreit einer zurück, »Do you have a pet?« – »No, but if I had one, I’d be a frog.« Aha. Wieder was gelernt.
Scout Niblett: »The Calcination Of Scout Niblett« (Drag City/Trost) www.scoutniblett.com
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MIEZE MURAKAMI TEXT XL RECORDINGS FOTO
Riot Girl, Kulturheldin der »Beautiful People« Die englisch-tamilische Sängerin M.I.A., geborene Maya Arulpragasam, hat ihr Mitte Juli erscheinendes Album »/\/\ /\Y/\« (ausgesprochen Maya) mehr oder minder nach ihr selbst betitelt. Es ist ihr drittes Album nach »Arular« (benannt nach ihrem Vater) und »Kala« (ihrer Mutter gewidmet). M.I.A. bleibt ihren politischen Äußerungen wie gewohnt treu und thematisiert ausführlich das Webzeitalter, inklusive iPhones, Twitter und Facebook. Aufsehen erregte sie in den letzten Monaten jedoch nicht nur musikalisch, sondern auch mit schockierenden Gewaltvideos, Verschwörungstheorien und einer Auseinandersetzung mit der Journalistin Lynn Hirschberg von der »New York Times«. »America is killin’ it’s youth« Mit dem geplant skandalösen und tabulosen Splatter-Clip zu ihrem elektro-punkigen, gesangshallenden und auf einem Sample von Suicides »Ghost Rider« basierendem Track »Born Free« schlug sie weite Wellen der Empörung in der Webwelt. Der unter der Leitung von Regisseur Romain Gavras (bekannt u. a. für sein ›Skandalvideo‹ zu »Stress« von Justice) entstandene neunminütige Kurzfilm veranschaulicht detailliert Hinrichtungen per Kopfschuss und durch Explosionen zersprengende Körper. Auch hier hält die Kamera immer genau dann drauf, wenn es unangenehm wird – intensiviert durch Zeitlupenaufnahmen der Schauerbilder. Angesprochen werden also Diskriminierung, Rassismus, Völkermord, ethnische Säuberungen (die zu eliminierenden Subjekte sind alle rothaarig) und polizeiliche Willkür. Nicht umsonst liefert Suicides »Ghost Rider« weit mehr als nur ein klasse Sample. Dessen Slogan »America is killin’ it’s youth« liefert den Subtext von »Born Free«. Neben diesem prächtigst inszenierten Skandal und demzufolge einem der wohl wichtigsten Popvideos des Jahres 2010 wirbelte M.I.A. weiterhin Wind auf, als sie nach einer eher wenig schmeichelnden Cover-Story im »New York Times Magazine« die private Telefonnummer der Journalistin öffentlich twitterte, einen Song darüber aufnahm (»I’m A Singer«) und die originalen Interviewaufnahmen auf ihrer Website veröffentlichte. Was war geschehen? Die Journalistin hatte die Glaubwürdigkeit des politischen Gehalts in der Musik von M.I.A. in Frage gestellt und sah eher radical chic am Werken. Laut M.I.A. wurden zudem Zitate aus dem Kontext gerissen und allzu viel Privates (etwa
ihre Vorliebe für Pommes mit Trüffelgeschmack) in die Öffentlichkeit gezerrt. Nun ist M.I.A. jedoch kein Untergrundphänomen mehr, sondern, nach Grammy- und Oscar-Nominierungen, ein internationaler Star, für den sich eben auch die GossipÖffentlichkeit interessiert. Diesen Durchbruch hat sie schon länger hinter sich, ihr zweites Album »Kala« verkaufte sich um die drei Millionen Mal. Heute lebt sie ein durchaus schickes Leben mit Ehemann Ben Bronfman (Sohn des Warner-MusicCEOs Edgar Bronfman Jr.) und dem gemeinsamen Sohn. Die große Herausforderung besteht eher darin, trotz ihres erlangten Starstatus kompromisslos zu bleiben und die Musik möglichst unmittelbar mit ihren politischen Anliegen zu verbinden, damit diese weiterhin ernst genommen werden. Auf »/\/\ /\Y/\« ist ihr das – provokativ und kontrovers wie eh und je – wieder einmal gelungen. Es ist nichts Neues, ihre Aussagen hallen schlichtweg nach. Sound & Social Networking Die zum Träumen verleitende, futuristische Ballade »Space« schließt »/\/\ /\Y/\« ab. Nach einem kurzen Sirenenauftakt durchdringt ein angenehmer spielkonsolenähnlicher Beat den Track, und man darf einer leisen, süß-hauchenden Stimme zuhören: »My lines are down, you can’t call me.« Das ganze Album ist mit Reflexionen über unsere digitale Infotainment-Gesellschaft durchzogen. Auch auf dem mit Synthesizer versetzten, R&B-poppigen Track »XXXO« wird Social Networking im Internet thematisiert. Dass der Webwelt ein großer inhaltlicher Platz auf »/\/\ /\Y/\« eingeräumt wird, macht schon das Cover klar, auf dem M.I.A.’s Gesicht bis auf die Augenpartie hinter YouTube-Be-
dienungsleisten versteckt ist. Auch der Albumtitel »/\/\ /\Y/\« ist auf einer Apple-Schaltfläche erkennbar – siehe CD-Cover! »/\/\ /\Y/\« ist ein noch experimentierfreudigeres und dennoch zugänglicheres Werk als die vorherigen. Die Songs verweigern sich einer Formel und sind sehr unterschiedlich zueinander geordnet. Abwechslung rules. Die Aufnahmen fanden überwiegend an ihrem derzeitigen Wohnort Los Angeles unter Mitwirkung treuer Wegbegleiter wie Switch, Diplo und Blaqstarr statt. Zwar hätte sie nach Kooperationen mit Timbaland und Jay-Z auch mit Leuten aus dieser Liga arbeiten können, aber scheinbar braucht M.I.A. einen familiären, vertrauten Kreis, um ihre Musik machen zu können. Auch entkräftet sie dadurch den Radical-chic-Vorwurf (zumindest wird sie weniger angreifbar). Die wenigen neuen Kollaborationen ging sie dann auch mit Sleigh Bells’ Darek Miller und dem aus Leeds stammenden Rusko, der kürzlich von Diplos Label Mad Decent unter Vertrag genommen wurde, ein. Auch ihr eigenes Label N.E.E.T. möchte sie expandieren. Von einer gewöhnlichen Plattenfirma soll es ihrer Meinung nach zu einem kreativen Kollektiv umgewandelt werden, welches auch Platz für visuelle Kunst und Fotografie schaffen soll. Rye Ryes Debütalbum »Go! Pop! Bang!« soll dieses Jahr hinzukommen und auf N.E.E.T. veröffentlicht werden.
M.I.A.: »/\/\ /\Y/\« (N.E.E.T./XL Recordings/Indigo/Edel) www.miauk.com www.neetrecordings.com 83 I 11
ANNA STEIDEN/STEPHAN SPERLICH INTERVIEW/TEXT 3007WIEN FOTO
»In mir knabbert und knistert es« Die slowenische Ausnahmemusikerin Maja Osojnik und ihre Band legen mit ihrem prachtvollen neuen Werk »Črne Vode« (»Schwarze Wasser«) ein Album im wahrsten Sinne des Wortes vor: Man kann darin tatsächlich blättern, denn es besteht aus CD und Bildband. Seit ihrer Bearbeitung slowenischer Folklore auf dem ersten Album »Oblaki so rdeci« (siehe skug #69) ist die Musik von Maja Osojnik vielschichtiger, kantiger geworden; aber nicht nur musikalisch hat sich viel getan: Die Band ist größer geworden, die nach wie vor berührenden Texte stammen auch aus eigener Feder und es gibt ein brillantes Design von Eva Dranaz und Jochen Fill (3007wien). Wir haben Letztere gemeinsam mit Maja Osojnik interviewt. skug: Wie kamst du auf die Idee, so ein aufwändiges Projekt wie »Črne Vode« in Angriff zu nehmen, und wie viel Durchhaltevermögen war dafür notwendig? Maja Osojnik: Erstens hab ich mir schon immer gewünscht, dem Publikum mehr zu geben als nur Musik. Ich singe auf Slowenisch, und ich wollte, dass die Leute mehr vor sich haben als nur ein winziges Booklet, so dass sie die Sprache bzw. die Texte wirklich genießen können. Zweitens habe ich mir als Ausländerin in Wien oft gedacht: Wie kommt es dazu, dass man nur aufgrund seines Akzents so schnell in Schubladen gesteckt wird? Wie ich im Buch geschrieben habe: Bei polnischem Akzent denkt man an Putzfrau und Autodieb, bei französischem Akzent an Esprit und Erotik. Ursprünglich wollte ich ja in alle Sprachen übersetzen lassen, die in Österreich ein ›schlechtes Image‹ haben. Dafür hätte man jedoch eine zehnbändige Enzyklopädie gebraucht ... (lacht) So gelangte ich schließlich zu der Entscheidung, meine Freunde mit Liedern zu beschenken, die ich in ihre Sprachen übersetzen lasse. Drittens: Die Zusammenarbeit und Freundschaft mit Eva Dranaz und Jochen Fill von 3007wien. Ich war immer schon begeistert von ihrer Arbeit, und als ich ihre Plakate für das rhiz sah, sagte ich: »Das ist genau das, was ich visuell suche für dieses Projekt.« Die beiden hatten sofort tausend Ideen, und die Zusammenarbeit war sehr intensiv. Über ein Jahr ist das gewachsen, in unzähligen Gesprächen und Sessions. Unser erster Entwurf hatte wie viele Seiten? Eva Dranaz: Dreißig. Und jetzt sind es 96 ... Der Ausgangspunkt war Vergänglichkeit, Leben und Tod. Da die Musik ja schon viel früher fertig war, geschah die Visualisierung zur Musik. Dennoch kam es vor, dass wir bei einer Fotostrecke feststellten, dass das genau zu einem bestimmten Lied passte. MO: Ich hatte bei einem Projekt dieses verlassene Dorf bei der slowenisch-italienischen Grenze entdeckt und habe ihnen davon erzählt. Dann saßen wir fünf Minuten in Stille da, die beiden tauschten nur verstohlene Blicke und bestimmten schließlich: Nächste Woche fahren wir dorthin! ED: Das Dorf hat viel von der Linie vorgegeben. Die Hinterlassenschaften dort 83 I 12
erzählen viele Geschichten, ansatzweise bekommt man mit, was da passiert sein muss, was ja sehr gut zur Musik passt, in der auch viel versteckt ist, wo man stöbern und entdecken muss. MO: Und zum Durchhaltevermögen: Man muss schon ein bisschen verrückt sein, man muss eine Vision und ein Ziel vor sich haben und die Arbeit wirklich lieben. Natürlich gab es Ups und Downs – künstlerische Ups und finanzielle Downs. Allein schon die Übersetzer zu finden! Ich habe in Slowenien begonnen und die Suche bald auf ganz Europa ausbreiten müssen. Jochen Fill: Besonders erstaunlich fand ich, wie schwierig es war, Label und/ oder Vertrieb zu finden. Viele wollten ein quasi fertiges Produkt nicht nehmen, weil es außerhalb der Norm liegt, weil es aufgrund des Formats nicht im Regal bei Saturn stehen kann, weil es schwarz ist, weil man sich hätte überlegen müssen, wie man es verkauft usw. ED: Dabei wollten wir ja genau das: keine normale CD-Verpackung, eine andere Optik und Haptik, um die Emotion, die in der Musik steckt, auch in der Hand halten zu können. MO: Sodass man sich dafür gern Zeit nimmt, sich auf die Couch legt, um die Musik zu hören und im Buch zu blättern. Und plötzlich steht die Zeit für ein, zwei Stunden still. Du hast »Črne Vode« ja einerseits aus eigenen Mitteln, aus Förderungen und anderseits durch das Konzept der Patenschaft bzw. des MäzenatInnentums finanziert ... MO: Die MäzenInnen haben wirklich geholfen und mein Minus Richtung null bewegt – leider nicht ganz ins Plus ... Aber es war emotional etwas Besonderes für mich, dass – im Gegensatz zur Ängstlichkeit der Industrie – bei so vielen Privatpersonen die Bereitschaft da war, das zu unterstützen. Jeder Mäzen hat mir ein Gefühl des Aufatmens gegeben, das mir in schwierigen Phasen geholfen hat. Deshalb ist »Črne Vode« längst nicht mehr nur meins, sondern es gehört so vielen Leuten: Eva, Jochen, meiner Band, den Gastmusikern und den Übersetzern, die teilweise umsonst gearbeitet haben. Wie erklärt sich die Dialektik zwischen den Texten und der visuellen Ebene, die durchwegs mit Düsterkeit oder Vergänglichkeit zu tun haben, im Verhältnis zur Musik, die oft sehr kraftvoll, ja mitreißend daherkommt? MO: Ich sage immer im Scherz: Ich lasse viele Leute sterben – und ein paar lasse ich leben. Ja, es geht viel um Tod und um Liebe, um unmögliche Situationen. Doch es ist vielschichtiger, es geht auch um Charaktere, die versuchen, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Es bewegt sich immer an dieser feinen Grenze zwischen einer ganz süßen Fragilität und einer knappen Ent-
scheidung. Da muss man sich entscheiden welche Thematik man musikalisch unterstützt, welche Stimmung man erzeugt, damit ein Lied in allen Facetten ankommt. Wenn man etwas Glückliches betont, wird es oberflächlich. Man kann durch die Kontraste mehr mit der Interpretation spielen. Und ich glaube, hier findet die musikalische mit der visuellen Arbeit zusammen. JF: Aber ebenso dialektisch, denn da ist nichts wirklich Lebendiges drin, außer Majas Foto und dem Bandfoto. Bei einer vertrockneten Pflanze achtet man viel mehr auf Strukturen und auf den Organismus und erkennt so viel eher das Leben als an einer lebendigen. Wie bei verlassenen Dörfern und Räumen, wo man nur noch Spuren des Lebens sieht. MO: Im Absturz kommt man dem Leben viel näher. Die Musik auf »Črne Vode« bietet ja auch ein sehr kontrastreiches klangliches Spektrum, es gibt viele Gäste, es sind viele Genres vertreten. MO: Für mich soll ein Album für zu Hause ein anderes Erlebnis sein als das Live-Konzert. Eine gewisse Live-Atmosphäre ist mir für eine Platte zwar schon wichtig, aber ich möchte auch die Freiheit bei der Studioarbeit nützen, z. B. um Gäste einzuladen. Diesmal haben wir zu dritt komponiert: Michael Bruckner-Weinhuber, Bernd Satzinger und ich. Ich habe unter anderem die Texte ausgesucht oder geschrieben, und wir haben mehr oder weniger gleichzeitig komponiert und dann gemeinsam mit der Band arrangiert. Für mich ist diese Durchlässigkeit wichtig, Einflüsse der anderen zuzulassen. Ich beschränke mich nicht darauf, ein Konzeptalbum zu machen, das streng in eine Richtung geht, sondern ich finde es spannend zu sehen, wie weit man
gehen kann. Wie kann man eine Songform verlassen, Einflüsse aus Neuer Musik oder Elektronik einbringen? Wo lässt man eine ganz freie Improvisation zu? Wo bewegt man sich noch in einem Feld, in dem man sich zu Hause fühlt? Gibt es schon Ideen für die nächste Produktion oder Platte? Kannst du in Zukunft überhaupt noch eine ›normale‹ CD machen? MO: Nicht so bald! (lacht) Aber ich habe tatsächlich schon zwei Ideen für die nächsten Projekte, doch das soll eine Überraschung werden, auch für mich selbst. Ich habe das Gefühl, dass meine Musik schon etwas härter und kantiger geworden ist, und es interessiert mich, wie weit ich noch gehen kann, aber ich lasse das momentan noch offen. Für mich ist das Projekt schon längst abgeschlossen, obwohl das Buch gerade erst fertig geworden ist. Und für mich heißt das jetzt nicht einfach, das Programm ein Jahr lang abzuspulen – natürlich wünsche ich mir viele Konzerte. Aber in mir knabbert und knistert es schon wieder.
Maja Osojnik Band: »Črne Vode (Black Waters/Schwarze Wasser)« (Viennese Soulfood Records/Hoanzl) Maja Osojnik & Band feat. Schnittpunkt Vokal »Čira Čara« Live am 17. 7. bei Glatt & Verkehrt im Klangraum Krems 83 I 13
JENNY LEGENSTEIN TEXT MICHAELA RIESS FOTO
Chorgesang & Punk Ohne Mitleidsmasche und Sozialromantik und garantiert keine Bierzelt-Coverband: die Straßenzeitung »Augustin« als Stimmgewitter. öffentlichen Konzertauftritten bestreitet, verdankt Stimmgewitter dem Lions Club. Der schlug dem »Augustin«-Chor vor, gemeinsam mit bekannten heimischen Musikern eine CD zu Gunsten der Vinzenzgemeinschaft Eggenberg aufzunehmen. So entstanden dreizehn Tracks in Kooperation mit Vertretern des Austropop (Hansi Lang, Wilfried) und des Neuen Wiener Liedes (Roland Neuwirth, 1. Wiener Pawlatschen AG, Kollegium Kalksburg, Die Strotter), sowie mit der Beautiful Kantine Band. Das war 2003. Drei Jahre später erschien das Album »Kitsch & Revo«, eine Mischung aus Arbeiterliedern und Schlagern. Diesmal arbeitete Stimmgewitter mit VertreterInnen des österreichischen und deutschen Alternative-Pop zusammen. »Wir haben denen die Originale geschickt und gesagt: Macht draus, was ihr wollt, ›doktort‹ das um, wie ihr wollt. Und das haben wir dann auch so genommen«, entsinnt sich Mario Lang. So finden sich z. B. Brecht/Eisler-Songs im Arrangement von Schorsch Kamerun und Texta. Ja, Panik gaben dem Ricky-Shane-Hit »Ich sprenge alle Ketten« eine neue Fasson. Mit »Kitsch & Revo« schlug Stimmgewitter musikalisch neue Wege ein; wichtig war, nicht nur mit Freunden und ›alten Helden‹ zu musizieren, sondern auch mit jungen Bands zu arbeiten.
Edwyn Collins konstatierte einst: »Too many protest singers, not enough protest songs.« Stimmgewitter Augustin – das sind acht ProtestsängerInnen und die »Schmankerl der Schöpfung« eine ganze CD voller Protestsongs. Collins bezog sich damals auf bestimmte Szenen, die bloß die Attitüde des Protests beanspruchten, ohne ihn selbst einzulösen. Die Mitglieder des Stimmgewitters haben keine Attitüde, aber einen Standpunkt, der naheliegenderweise ein gesellschaftskritischer ist. Wobei ›Gesellschaftskritik‹ aber weder Urgrund noch Hauptanliegen des »Augustin«-Chores bildet. In erster Linie geht es einfach darum, Musik zu machen. Hinter der Gründung des Stimmgewitters stand auch nicht der Wunsch, irgendein Sozialprojekt für Obdachlose auf die Beine zu stellen. Riki Parzer vom »Augustin«-Vertrieb und »Augustin«-Redaktionsmitglied Mario Lang kam die Idee für den »Gesangsverein«, eben weil die beiden selber Freude am Singen haben und annahmen, dass es unter den StraßenzeitungsverkäuferInnen ebenfalls Sangesfreudige gäbe. »Böse Zungen würden behaupten, das Stimmgewitter ist ein Rauschkind«, meint Mario Lang. Im kommenden Herbst kann dieses »Kind« seinen 10. Geburtstag feiern. Gang ins Tonstudio dank Lions Club Zunächst gab der Chor sein Liedgut nur bei »Augustin«-internen Feiern zum Besten. Dass das sicher nicht klassische Vokalensemble mittlerweile auf mehreren Tonträgern verewigt ist und jährlich eine beträchtliche Anzahl von 83 I 14
Ja, Punk – nein, Eighties Pop Die aktuelle CD »Schmankerl der Schöpfung« entstand gemeinsam mit der seit 2005 wiedervereinten Hardcore-Legende Seven Sioux. Wie es konkret zur Zusammenarbeit kam, kann Lang nicht mehr sagen, er und Rainer Krispel, der Seven-Sioux-Sänger, kennen sich schon seit vielen Jahren und »wahrscheinlich ist die Idee bei ein paar Bier entstanden«. Eine Vinyl-Single mit »We Are Not The Scared People« und »Übers Meer« war vor einigen Jahren das erste gemeinsame Produkt, heuer im April kam die sechs Tracks umfassende EP heraus. Gemäß Joe Strummers »No Input, No Output« finden sich darauf drei Coverversionen (= Input) und drei neue Songs (= Output). Gecovert wurde erneut »Ich sprenge alle Ketten« (der Song hat für die Linzer Seven Sioux eine besondere Bedeutung. Stichwort: Willy Warma). Die Interpretation von »Love Of The Common People« orientiert sich an jener der Stiff Little Fingers. Den Abschluss bildet der Ton Steine Scherben-Klassiker »Die letzte Schlacht«. Dass Stimmgewitter beim Punk angelangt sind, ist stimmig. Einordnen lässt sich der sich immer wandelnde Stil der besonderen Band nicht. Als »Hardcore Schmalz« bezeichnen sie ihn selbst gern. Entscheidend war die Abwendung von Austropop und Wiener Lied. Mario Lang: »Wir wären dann irgendwo in dem Horst-Chmela-Ambros-Kitsch gelandet, in der Bierzeltabteilung. Und da wollten wir definitiv nicht hin.«
Stimmgewitter Augustin: »Schmankerl der Schöpfung«. (Erhältlich bei »Augustin«-Verkäufern in Wien und »Kupfermuckn«Kolporteuren in Linz. Vinyl und mp3: www.fettkakao.com www.stimmgewitter.org
DIDI NEIDHART TEXT
Wo der Dub steppt ... Das Postulat der permanenten Erneuerung lässt auch Dub-Step in den sonischen Rückspiegel blicken. Aber wieso muss dabei Drum’n’Bass revitalisiert werden? Wie war das eigentlich mit Jungle, als dadurch die tanzenden Körper auf die Probe gestellt wurden? Zu was Arschwackeln? Zur Snare? Zu schnell. Zu den HiHats? Noch schneller. Zur Bassdrum? Auch zu schnell. Und vor allem: Wo ist die überhaupt? Als die Bassdrum zum Bass wurde, der Bass zu einer Frequenzwelle und beide frei durch die Tracks oszillierten, lösten sich ganze Körperorganisationen auf. Lief die Second Line über Dub-Eselsbrücken auf dem Dancefloor herum. Immer auf der Suche nach dem Bass, als sonischem Transportstrahl. Ein Sprechen in Zungen durch Beats, bei dem jeder Schlag seiner eigenen Illogic folgte. Sci-Fi-Musik. Das Problem mit Drum’n’Bass Dann kam Drum’n’Bass, und statt einem Alien-Werden wurde nun ein Kaffeetasse-Werden angeboten. Jazzy Fusion-Mucke, die selbst die komplexesten Rhythmus-Deterritorialisierungen wieder in das alte 4/4-Korsett zwängte. Kurz: All die funky Miles-Davis-haft »On The Corner« herumwuselnde JungleRhythzomatik wieder brav reterritorialisierte, damit einem beim Friseur nicht ins Ohr geschnitten wird. Und dann kommt plötzlich aus heiterem Himmel »The Kings Of Drum + Bass. Compiled & Mixed by 4HERO + DJ Marky«. Jetzt waren 4Hero mit ihrem »Loving The Alien«-Konzept, verqueren Sun Ra-Adaptionen wie nach quantenphysikalischen Grundsätzen zusammengebastelten Bässen und Grooves immer eine der großen Ausnahme davon. Das betont auch ihre Auswahl, die den schwarzatlantischen Disco/House/Soul-Aspekt ebenso betont wie die Jungle-Genealogie von D’n’B. Gerade wenn Robert Owens loslegt, zeigt sich, was da möglich gewesen wäre. Auch DJ Marky mixt eigentlich ein House-Set nur mit anderen Beats zusammen. Dennoch erinnert das alles immer auch an Partys, wo D’n’B alles niedergewalzt und ausgeschlossen hat, was nur irgendwie anders war. Zwar erschließt sich ein (neuer) Genuss von Musik bekanntlich nicht nur im zeitlichen Abstand, sondern auch darüber, ob es einmal eine eigene Involviertheit (egal in welcher Position) gegeben hat (die Antagonismen/Unvereinbarkeiten also immer noch erinnerbar sind). Selten in letzter Zeit (trotz der Auswahl von 4Hero und DJ Marky) eine Musik gehört, deren Revival wirklich nicht auf dem Wunschzettel steht. Umso mehr, weil Dubstep plötzlich wieder damit liebäugelt. Ein Indiz dafür hat Christian Werthschulte auch schon ausgemacht: »Immer wenn Begehren signifiziert werden soll, greifen die Producer auf Frauenstimmen zurück.« Wo will Dubstep hin? Aber wieso das Begehren überhaupt signifizieren wollen? Ist nicht das Tolle bei Dubstep die Weigerung, aus Drums & Bass eine Einheit wie bei D’n’B zu machen? Zwei, die sich eben nicht finden. Was bei Dubstep ja auch die Melodien betrifft. Immer fehlt da ein (erlösender) Ton, oder geht verloren, wird gesucht, an anderer Stelle gefunden, verschwindet wieder. Die Vereinzelung der Spuren bei reduziertem Tempo trifft auf das Prekariat der Rhythms & Sounds. Je mehr Töne hinzukommen, desto mehr reißen sie die Matrix der Tracks auf, lassen Beats durch den Raster fallen, verschlucken Melodien. Auch auf »Steppas Delight 2 – Dubstep Present To Future« finden sich solche Diskurse. Nummern beginnen wie House-Tracks, nur kommt dann kein HouseBeat. Eher läuft alles aus dem Ruder, ist eher die Illusion eines House-Tracks im transatlantischen Widerschein. Eine nicht realisierbare Rückkehr (etwa zu
D’n’B), die im Basswummern stecken bleibt, den Absprung nicht schafft, keine Erlösung anbietet. »Space« ist eben auch nicht mehr so leicht zu haben. Und »Matrix« ist sowieso nur »Avatar« in Grün. Dubstep hingegen verweist in seinen besten Momenten auf eine Dsyfunktionalität, die nicht von ungefähr Bilder wie aus »Alphaville« oder »Welt am Draht« imaginieren lässt. Die ›schönen‹ Stimmen (die Frauen, die ›Soul‹ und ›Begehren‹ verbreiten sollen), kollidieren mit einem sonischen Realen, das schlicht und einfach mitteilt: »Sorry, so geht das nicht mehr. Zwischen ›Tricky Disco‹, Dub-Science, Black Secret Technologies und Techno ist für euch eigentlich kein Platz.« Den nehmen stattdessen posthumane Cyberstimmen ein. Wie etwa bei Darkstars »Need You«, dem nach Chers »Believe« wohl wichtigsten Auto-Tune-Track der letzten Jahre. Aber auch in diesem Umfeld tauchen plötzlich Tracks auf, die eine Affinität zu D’n’B aufweisen, die recht schnell wieder beim Kaffeesud und beim Friseurkunsthandwerk landen könnte. So sehr Dubstep mit seiner Ästhetik der Verlangsamung, der Reduktion, der Entfaltung von Echo- und Hallräumen auch als Gegenpol zum neoliberalen Genusszwang qua permanenter Intensitätssteigerungen gelesen werden konnte, so sehr begibt sich das ewig beschworene »hardcore continuum« (Simon Reynolds) auf der Suche nach den verlorenen »future shocks« selber immer wieder in hektische Innovationszwänge. »The Kings Of Drum + Bass. Compiled & Mixed by 4HERO + DJ Marky« (BBE Records/Hoanzl) »Steppas Delight 2 – Dubstep Present To Future« (Soul Jazz/Trost) 83 I 15
PHILIPP RHENSIUS TEXT
iPod-Jazz Super Seaweed Sex Scandal aus New York sind der beste Beweis dafür, dass die Möglichkeiten experimenteller Musik an der Schnittstelle von Jazz, Noise, Rock und Folklore noch lange nicht ausgeschöpft sind. Die kurzweilige Prägnanz des Punks geht hier perfekt einher mit der Komplexität von Jazzstrukturen. Der Weg in die Zukunft, bei der technische Virtuosität auf die unbeschwerte Eklektik der »iPod-Generation« trifft, hat mit dieser Band seine akustische Entsprechung gefunden.
Die bedeutendsten Protagonisten experimenteller Musik zentral an einem Ort in Europa live erleben zu können, das ist eigentlich nur auf dem Moers Festival möglich. Seit 1972 hat es sich zu einem der wichtigsten internationalen Festivals zeitgenössischer improvisierter Musik entwickelt. Gerade die exzellente Mischung aus jungen Musikern und alten Helden der Jazz- und Experimental-Szene führt immer wieder zu Neuentdeckungen. Eine davon ist die Band Super Seaweed Sex Scandal. Der Alliterationsüberschwang des Namens geht dabei einher mit der überwältigenden Collagenhaftigkeit ihrer Musik. Die mit Abstand jüngsten Musiker in Moers, alle sind erst 22 Jahre alt, sind bestens gelaunt, als ich die sechs am Nachtmittag des Festivalsamstag direkt nach ihrem Auftritt auf der Hauptbühne treffe. Eine Viertelstunde zuvor konnte man Zeuge ihrer Live-Fähigkeiten werden. Niemand schien sich dort ihren innovativen Klangentwürfen – einer wilden Reise in die Gefilde scheinbar inkongruenter Genres – entziehen zu können. Die Besonderheit der Band besteht aus den schnellen, sprungartigen Wechseln zwischen den unterschiedlichen Songteilen, bei dem hektischer Free Jazz ohne Vorwarnung von getragener Folklore abgelöst wird. In »Sexy Noise« wird die vermeintliche Ruhe eines Walzers gekonnt von der schnellen Wellenbewegung des Gitarrenriffs konterkariert, bevor das Stück dann mit ironischem Augenzwinkern in einen leicht verdaulichen Walzer mündet. Das folkloristische Klischee wird vor allem von dem von Borey Shin gespielten Akkordeon erzeugt, das sich besonders von den anderen Jazz-üblichen Instrumenten abhebt und oft für die simplen Melodien verantwortlich ist. Diese Einfachheit steht dabei in Kontrast zu den komplexen Arrangements, die ihrerseits vom Mut des Unperfekten zusammengehalten werden. Denn nicht nur die auffällig kurzen Songs, die teilweise nur anderthalb Minuten lang sind, erinnern bisweilen an den Geist des Punks. Ein Widerspruch? iPods und Jazz-Studium als Kreativitätsmultiplikator Stammen doch fünf der sechs Mitglieder aus dem musikalisch-akademischen Kontext. »Vier von uns haben sich an der New School for Jazz and Contemporary Music kennen gelernt, und wir haben dort schnell gemerkt, dass wir alle dieselben musikalischen Interessen haben«, erzählt Gitarrist Paul Wheeler. Der Tenorsaxophonist John Stanesco ergänzt: »Die meisten von uns studieren Musik, aber wir hoffen, dass die Leute uns das nicht anhören. (alle lachen). Unterstützt werden wir dabei von unserem Bassisten Joe Morella, der als einziger keinen akademischen Hintergrund hat.« »Das stimmt, ich komme aus einem Punkrock-Umfeld. Dort habe ich eher einfache Sachen gespielt und gleichzeitig geschrieen. Was mich dann wirklich
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in die Richtung experimenteller Musik gebracht hat, war die Band The Ex. Außerdem treffen wir uns nur außerhalb der Universität, um zusammen Musik zu machen«, sagt die aus Japan stammende Saxophonistin und Bandleaderin Nonoko Yoshida. Das intendierte Ausblenden des eigenen Musikstudiums als Qualitäts- und Kreativitätskontrolle mit der gleichzeitigen Verwendung der dort erlernten Spieltechniken scheint genau das Rezept zu sein, mithilfe dessen sie ihren einzigartigen Sound erzeugen. Sound? Welcher denn genau? »Sexy Noise«, antwortet Bassist Joe Morella prägnant auf die Frage, wie sie denn ihre Musik beschreiben würden, und erntet damit die sofortige Zustimmung seiner Kollegen. Doch welche Einflüsse lassen sich auf die Musik zurückführen? John Stanesco zeigt sich philosophisch: »Ich denke, am wichtigsten ist für uns die Tatsache, dass wir alle in einer Zeit aufgewachsen sind, in denen MP3s und iPods unglaublich populär geworden sind. Es war schon sehr ungewöhnlich, deine Lieblingsmusik auf einem Gerät vereint abrufen und ständig zwischen den Songs hin- und herswitchen zu können. Wir sind also daran gewöhnt, zwischen verschiedenen Musikstilen enorm schnell wechseln zu können. Früher war das ganz anders, denn es war ja wesentlich aufwendiger, eine Platte auszuwählen, sie aus der Hülle zu holen, auf einen Plattenspieler zu legen und die Nadel zu positionieren.« Der Tenorsaxophonist bringt es auf den Punkt: Jede technische und kulturelle Veränderung, so Stanesco, wirkt sich irgendwann auf die Musik aus, auch wenn man wahrscheinlich erst mit dem nötigen Abstand erkennen wird, dass unsere musikalische Gegenwart von einer enormen Innovations- und Veränderungstendenz geprägt ist. Diese Tendenz lässt sich vor allem in New York erkennen, der unbestrittenen Geburtsstadt des urbanen Jazz und heute einer der wichtigsten ›Laborstandorte‹ avantgardistischer Musik. Mythos New York? Bereits letztes Jahr lag ein Schwerpunkt in Moers auf der Präsentation einiger Bands der New Yorker Szene, welche sich nicht selten auf die Unterstützung von illustren Legenden wie John Zorn verlassen kann. Dieser eröffnete vor ein paar Jahren den Jazzclub The Stone, der sich mittlerweile zu einem bedeutenden Treffpunkt der Szene entwickelt hat. Doch Zorn ist nicht nur an der kulturellen Infrastruktur beteiligt, sondern steht auch mit den oft jungen Bands in direktem Dialog. So war er mitverantwortlich für den ungewöhnlichen Namen der Band, wie Nonoko Yoshida ausführt: »Ich fragte John nach Ideen für unseren Bandnamen. Unser Ziel war es, vier S im Namen zu haben und dabei möglichst sinnfreie Wörter zu verwenden. Super und Seaweed standen bereits fest. Als ich dann weitere Wörter aufzählte, sagte John genau bei Sex Scandal, ja, das ist es, der Name ist perfekt.« Es ist also nicht nur der Mythos der Stadt, der die Bands beeinflusst, vielmehr spielen auch
die persönlichen Beziehungen innerhalb der Szene eine Rolle. »In NY existieren einfach keine Mauern zwischen Newcomern und etablierten Musikern, wie es vielleicht in vielen anderen Städten der Fall ist«, zeigt sich Paul Wheeler begeistert und wird von Yoshida bestärkt: »Ich denke auch, dass die Szene in NY sehr glücklich sein kann über die Nähe zu unseren Vorbildern wie Matana (Roberts) oder Colin (Stetson), die dort alle regelmäßig auftreten. Ich stamme aus Japan, und dort ist es sehr schwer, überhaupt einen einflussreichen Musiker live zu sehen. Und in NY kann man diese Leute einfach treffen und mit ihnen sprechen.« Auf der Seite der Rezipienten sieht die Sache laut John Stanesco jedoch anders aus, als man annehmen möchte: »Ein großer Unterschied zu den Staaten ist, dass hier die Leute die Musik vielmehr wertzuschätzen wissen. Selbst Familien mit ihren Kindern hören hier in Moers zu und verbringen einfach eine schöne Zeit miteinander. Sowas würde man in NY nie erleben. Ich meine, es gibt zwar viele Menschen, die über deine Musik sprechen, aber viele verlassen dann oft sogar während eines Konzerts den Raum, weil sie denken, die Musik sei einfach zu weird oder entspräche nicht den JazzStandards.« Das erscheint absurd, vor allem im Hinblick darauf, dass auch und gerade improvisierte Musik auf höchstem technischem Niveau, bei der der Moment, das Hier und Jetzt entscheidend ist, auf die Interaktion von MusikerInnen und Publikum angewiesen ist. Was das Improvisieren angeht, versucht die Band stets die Waage zu halten zwischen freiem und komponiertem Spiel: »Wir versuchen, beide Elemente gut zu vermischen und das Improvisieren mit den zuvor erarbeiteten Strukturen zu verbinden«, gibt Borey Shin zu Protokoll. John Stanesco führt diesen Aspekt weiter aus: »Ich würde unsere Musik so bezeichnen: Als kompositorisch strukturierte Improvisation. Wenn wir improvisieren, versuchen wir das oft kompositorisch zu tun. Und wenn wir komponieren, versuchen wir oft, es improvisiert klingen zu lassen.«
Super Seaweed Sex Scandal: »Sexy Noise« (SSSS) www.myspace.com/superseaweedsexscandal 83 I 17
HEINRICH DEISL TEXT LARS PAUKSTAT/MANUEL WAGNER/POLYDOR FOTO LARS PAUKSTAT/ELSEWHERE COMPUTER GRAPHICS GRAFIK
Im Maelstrom: Faust Mit dem Doppelalbum »Faust Is Last« haben Faust laute, verstörende, geschichtsmächtige und kontroversielle Musik wie stets veröffentlicht. Vierzig Jahre einer Band, die Krautrock mitinitiierte und Industrial vorwegnahm.
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»Vielmehr scheint die Musik mir, bei aller logisch-moralischen Strenge, einer Geisterwelt anzugehören. Dass ich ihr von Herzen zugetan bin, gehört zu jenen Widersprüchen, die von der Menschennatur unabtrennbar sind.« (Thomas Mann: »Doktor Faustus«) Hamburg, Ende der 1960er Jahre: Die Stadt ist der wahrscheinlich beste Ort für die aufkeimende deutsche Popkultur, man ist durch die Sendungen der BBC quasi direkt mit der britischen Beatmusik verbunden. »Die Geschichte von Faust ist an sich die Geschichte eines Projekts: Man nehme möglichst viele unterschiedliche Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Prägung und mache daraus Faust. Das ist heute auch noch so«, erzählt Faust-Mitbegründer Hans-Joachim Irmler. Es ging darum, gegen das Nachkriegsdeutschland vorzugehen, darum, aus den Ruinen der eigenen Geschichte hinauszufinden. Hamburg bot über London hinweg den Blick in eine internationale Musik. »Es gab ein ausgeprägtes Bedürfnis, sich abzukoppeln von diesem Deutschland, das uns so geprägt hatte und das noch weit davon entfernt war, entnazifiziert zu sein. Weil wir keine Vergangenheit hatten, mussten wir für uns eine neue musikkulturelle Ausprägung finden und beschlossen, uns die Vergangenheit sozusagen selbst zu machen. Wir wollten eine neue deutsche Kultur, die international orientiert ist. Also weder deutschtümeln noch Anglizismen breitklopfen. Wir waren von der britischen Beatmusik zwar sehr fasziniert, aber wir wollten keine Popmusik machen, sondern dass sich in der Musikwelt etwas ändert. Aus heutiger Perspektive scheint dies etwas anmaßend, es war und ist indes unser fester Wille, dass der Output Bestand haben soll.« Es war Uwe Nettelbeck, Ex-Journalist für »Die Zeit« und »konkret«, der die Bands Nukleus (Jean-Hervé Péron, Rudolf Sosna, Gunther Wüsthoff) und Campylognatus Citelli (Hans-Joachim Irmler, Werner »Zappi« Diermaier, Arnulf Meifert) aufeinander losließ, um »so als Witz die nächste Hamburger Boygroup nach den Beatles« zu machen. »Die eine Gruppierung hat gefunden, dass die andere genau das tut, was sie selbst so gerne täte, aber jene nicht richtig konnte. Es gab eine Zeit, da hatten wir drei Schlagzeuger. Es ging einfach darum, möglichst alles auszuprobieren.« Der erste Proberaum befand sich in einem düsteren, ehemaligen Luftschutzbunker. Nachdem Nettelbeck ihnen einen sehr gut dotierten Vertrag mit dem Label Polydor verschafft hatte, verschanzten sich Faust in einer Schule in Wümme, wo neben ihren ersten beiden Platten »Faust« (1971) und »So Far« ein Jahr später in Zusammenarbeit mit Tony Conrad »Outside The Dream Syndicate« (1973) entstand. Geschichte wird gemacht, es geht voran Eingebettet in Verweise zwischen Frank Zappa, frühen Pink Floyd sowie Velvet Underground und aufgeladen mit jeder Menge kunsttheoretischem und Pop-Wissen, übersetzten Faust Rock in das elektroakustische Experiment.
Tapecollagen und Musique Concrète waren, siehe die WDR-Studios und Karlheinz Stockhausen, noch recht akademische Angelegenheiten. Dieser Wissenstransfer explodierte in den frühen 1970ern. Krautrock befreite die Orgel von ihrer Musikalität und machte daraus einen Klangsphäreninkubator, der die Psychedelik jener Tage im Takt des aktuellen Industriezeitalters oszillieren ließ und es in kosmisch-zerebrale Sphären schoss. »Die Nutzbarmachung des Hallgeräts war der eigentlich einschneidende Prozess. Während man sich im Dub ein ganzes Orchester ›zusammenechoen‹ konnte, entstanden beim Hall Sphären. Man hat in einem Kellerloch geübt und kam sich klanglich vor wie in einer Kathedrale.« Diese Fixierung auf Klang als radikale Erweiterung des Rockparadigmas eröffnete in Verbindung mit teils abstrusen Texten und eben der Collage ungleich mehr Steuerungsmöglichkeiten. Irmler macht klar: »Wir fanden es lange absurd, mit dem theoretischen Faust-Konzept – was bewirkt Musik, welchen Stellenwert hat sie, wie kann man Ereignisse des realen Lebens in Musik umsetzen, wie funktioniert Improvisation – auf die Bühne zu gehen. Die große soziale Idee war, dass jeder auf jeden Einfluss nehmen kann und trotzdem ein Individuum bleibt. Aber es gab keine technischen Möglichkeiten, sich zu vernetzen und Live-Konzerte waren extrem schwierig umzusetzen. Außer einem Wahwah-Pedal gab es nichts. Wir hatten mal einen riesigen ARP-Synthesizer. Wenn du von einem Sound in den anderen wechseln wolltest, musstest du die Kollegen in der Zwischenzeit auf einen Kaffee schicken. Die ersten Synthesizer waren, wenn man so will, reine Messgeräte. Eine Hammondorgel kam auf 20.000, gute Synthesizer auf bis zu 100.000 Mark. Aber eigentlich wollte ich immer eine adaptierte Pfeifenorgel.« Weshalb sich Irmler in langen Jahren selbst einen Orgelprototyp zusammenbaute, der auf den Namen »Mimik« hört. Kosmische Klangwelten, Wahwah und ARP hören sich auch nach Sun Ra oder Herbie Hancock an. Natürlich war diese Musik genauso bekannt wie die Experimente Stockhausens. Faust schlug eine Richtung ein, die zwar um die Improvisationskonzepte von Jazz und Avantgarde wusste, diese aber um konkrete Klangerfahrungen erweiterte, wie sie später im Industrial bei Test Dept. oder den Einstürzenden Neubauten (Stahlperkussion, mikrofonierte Mischmaschinen, Winkelschleifer …), und am wahrscheinlich stringentesten bei Steven Stapletons Nurse With Wound Verwendung fanden. Und auch Post Rock zwischen Tortoise, To Rococo Rot und Gastr del Sol bediente sich bei der Collagen-Ästhetik von Faust. Interessanterweise kam es erst letztes Jahr zu einer Kollaboration zwischen Irmler und FM Einheit auf »No Apologies« (Klangbad). »Improvisation war für uns schon immer forschungsleitend, es ist ein Zugang, bei dem sich Erfahrung und Intuition überlagern. Wir sind Musiker, die nicht einfach herumsitzen können, sondern ständig an Instrumenten rumdaddeln wollen. Fausts Spielpraxis war und ist, dass man Bilder gemalt und daraus Stücke abgeleitet hat. Du siehst einen roten Punkt und weißt, hier geht’s nach 83 I 19
oben.« Die Faust’sche Innovationsfreude merkt man nicht zuletzt daran, dass sie »Rien« (Table of the Elements, 1994) von Jim O’Rouke mischen ließen, mit dälek »Derbe Respect, alder« (Staubgold, 2004) einspielten und – als geschichtlicher Rekurs – 2006 für die Compilation »Silver Monk Time« (Play Loud!) die Monks-Nummer »Beware – The Transatlantic Feedback« mit deren Sänger Gary Burger neu aufnahmen. Faust waren wohl nach den deutschamerikanischen The Monks, deren Geschichte sich später immer wieder mit der ihren kreuzte, der zweite Versuch, eine Rockgruppe als umfassendes Kunstwerk zu etablieren. Klar, dass bei derartigen Vorgaben – und bei der britischen Begeisterung für krautige Elektronikexperimente – Bands wie Throbbing Gristle zur logischen Konsequenz wurden. Bis 1974 hatten sich die Zuschreibungen den Avantgardebands der »German invasion« gegenüber so weit verdichtet, dass die Platte »Faust IV« von der zwölfminütigen Drone-Rock-Nummer »Krautrock« eröffnet wurde. Ein Track, der schon im März 1973 in einer »John Peel Session« als eine Art Prä-Remix eingespielt worden war. In seinen Linernotes schrieb Peel: »Das ist echt Musik, die aus einem technologischen Zeitalter geboren wurde und in der es weder Zeit noch Raum für Gefühlsduseleien gibt. Faust malen mit Musik eine düstere Vision, ähnlich wie Leonhard Cohen oder Nico mit Worten. Es ist nicht einfach, Faust mit bekannten Wörtern zu beschreiben.« »… dann mussten wir wieder in die Öffentlichkeit« Danach war es bis 1990 ruhig um Faust. Aber schließlich »war es nicht mehr zu ertragen, was da läuft. Für uns war die Musik der 1980er über weite Strecken echt nicht auszuhalten.« »Faust Is Last« entstand aus einem ähnlichen Antrieb heraus: »Die Gesellschaft wird immer prüder, repressive Mechanismen greifen immer mehr. Formate wie ›Deutschland sucht den Superstar‹ bedienen genau jene bescheuerten Klischees von Bands, die alles richtig machen wollen und damit von schlechter Musik. Aber in Zeiten großer finanzieller oder geistiger Not sind oft die spannendsten Sachen entstanden, denken wir nur an die 1920er Jahre. Krisen wird es immer geben, daher besteht kein Grund, die Hoffnung auf gute Musik aufzugeben.« Faust hatten sich stets für das Direkte stark gemacht – keine Overdubs etc. –, um so nahe wie möglich am reinen Klangerlebnis dran zu sein. Diese Reduktion lässt sich auch in den Coverartworks ausfindig machen: Immer wieder taucht eine geröntgte, zur Faust geballte Hand auf, ob nun bei »Rien«, der Compilationbox »Abzu« (2003), »Live in Edinburgh« (1997), »So Far« (7“, 1972), »Clear« (1971) oder nun bei »Faust Is Last«. »Ich finde den Bandnamen nach wie vor gut: Es hat was von Klassenkampf, etwas Hochgeistiges, kann wild und brutal sein. Bei Faust kannst du an eine mephistophelische Klangmesse und an eine der deutschen Literaturikonen schlechthin denken.« Irmlers Grinsen ist selbst durchs Telefon zu sehen, als er nachsetzt: »Man konnte damit klasse Hippies erschrecken.« Wie in der Beginnzeit gibt es nun seit ein paar Jahren zwei Faust-Formationen. Während in der einen von der Originalbesetzung nur noch Irmler übrig ist, sind in der anderen Diermaier und Péron aktiv. Es ist wie nach einer, nach immerhin gut dreißig Jahren, vollzogenen Trennung, bei der beide den Namen beibehalten haben. Eine gute Möglichkeit für Verwirrungen aller Art also, jedoch unterscheiden sich die Werke der beiden »Fausts« mittlerweile grundlegend. Andy Wilson, Faust-Biograf (»Faust. Stretch Out Time: 1970–1975«, 2006) und Administrator der Faust-Online-Pages, listet bisher an die 40 Bandveröffentlichungen. Hans-Joachim Irmler, umtriebig wie je und eh, verlegte in den frühen 2000ern das Faust-Studio in den baden-württembergischen Ort Scheer und installierte dort 2003 das Klangbad-Festival. Mit dem in einer stillgelegten Papierfabrik untergebrachten Studio »konnte ich mir den Traum erfüllen, in einer Gegend zu arbeiten, wo man sich voll aufs Musikmachen konzentrieren kann. Und ich wollte spannende Acts einladen.« Egal, ob es sich dabei um das russische Ambient-Projekt Volga, die HipHop-Berserker von Food For Animals, den Improv-Musiker Alfred »23« Harth oder den Musikverein Vilsingen handelt. Das Klangbad konnte sich seiner spannenden Programmierung und seines unprätentiösen Ambientes wegen als einer der Festival-Fixplätze im deutsch83 I 20
sprachigen Raum etablieren. Es ist eine Veranstaltung im überschaubaren Rahmen für rund 2.000 Leute, bei der praktisch das ganze Dorf eingespannt ist. Die starken Jungs von der Feuerwehr machen Security, das halbwüchsige Mädchen beim Kartenabriss wird von einer strickenden Anstandstante sekundiert, das Essenszelt verbreitet Ferienlagerstimmung und nach dem Frühschoppen kommen die Scheerer gern zum »Klangbad-Schauen«. Alterswerk? Faust drauf! »Faust Is Last« reicht bis 2006 zurück. Irgendwann hatten Jan Fride (dr), Hans-Joachim Irmler (key), Steven Wray Lobdell (g), Lars Paukstat (voc, perc) und Michael Stoll (b) an die 150 Gigabyte Material für die aktuelle DCD zusammen. Unter den klangalchemistischen Händen von Z’EV wurden die Aufnahmen einer radikalen Neubearbeitung unterzogen – »Z’EV hat eine unbändige Freude daran, Rhythmen ineinanderzupassen« – und die Basics der »A« betitelten, ersten CD für die zweite CD »Z« zu psychedelisierenden Klanglandschaften voll dunkel schimmernder Brillanz erweitert, um heraus-
remixologischen Gesamtwerk aktualisiert. »Faust Is Last« kommt als ungestümer, infernalischer Maelstrom daher, man könnte glauben, Faust seien eine seltsam in die Jahre geratene Jungspund-Band. Dabei definieren Faust einmal mehr den musikalischen Status quo. Klangbadfestival 2010 2010 ist aber auch wegen der DVD »Faust live at Klangbad Festival« das Faust-Jahr. Die Berliner Filmemacher Dietmar Post/Lucía Palacios, die für ihre Dokumentation »Monks – The Transatlantic Feedback« mit dem Grimme-Preis (2008) ausgezeichnet worden waren, zeigen darin das 2005er-Konzert auf heimischem Boden, verdichten die Dynamik eines Faust-Gigs zum audiovisuellen Erlebnis für zu Hause, folgen den Bandmitgliedern praktisch bis zum Bier im Backstageraum und porträtieren sie als das, was sie sind: bodenständige Freigeister. Im zweiten Teil der DVD »Avant-garde In The Meadows« wird das Festivalambiente eingefangen, und es gibt Konzertmitschnitte von Jutta Koether, Nista Nije Nista, dem Kammerflimmer Kollektiv und anderen zu sehen. Das Klangbadfestival findet heuer vom 6.–8. August mit Irmler/FM Einheit, Jimi Tenor + Kabu Kabu, Mekons, These New Puritans und gut zwanzig anderen Bands statt. Darunter ein umfangreiches Österreichprogramm mit Metalycée, Gustav, villalog, Pendler und dem skug Soundsystem. skug ist zum mittlerweile dritten Mal Medienpartner des Festivals. Wieder blitzt Irmlers Grinsen durchs Telefon: »Ihr Österreicher seid gar kein so depressiver Laden, wie alle tun. Ihr habt für ein so kleines Land so viele tolle Bands, wie macht ihr das nur?«
zufiltern, »wie diese Basics in unterschiedlichen Kontexten klingen«. Vielleicht am ehesten so: »Faust Is Last« ist wie eine geschichtsmächtige Tour durch vierzig Jahre alternativer Musikkultur, die sich an ihren ins Heute gebrachten Versatzstücken reibt. Auf der Suche nach Verweisen wird man schnell fündig, immerhin haben Faust einige Koordinaten musikalischer Möglichkeiten ja selbst definiert. Von Industrial- zu Drone-Metal, von elektroakustischen Experimenten der großen kosmischen Krautrock-Musik zu Cut-ups: Gerade durch den Industrial-Perkussionisten Z’EV werden Cut-up-Referenzen zu einem
Faust: »Faust Is Last« (2-CD) Various Artists: »Live at Klangbad Festival/Klangbad: Avant-garde In The Meadows« (DVD; beide: Klangbad/Play Loud/Brokensilence/A-Musik) www.klangbad.de (Studio- und Labelpage) www.klangbadfestival-scheer.de faust-pages.com (historisches und aktuelles Infomaterial)
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AUSTROFRED VS. DIDI NEIDHART TEXT
Progrock-Blindtest In skug #78 haben wir Austrofred mit zeitgemäßer Musik gereizt. Für das Rückspiel hat er nun das Unterste zuoberst gekehrt und entführt uns – im vulgärterroristischen Sinne – in eine Zeit, als Rock auf die dumme Idee kam, progressiv zu werden. Eine Bildungsreise durch eine Überwältigungsästhetik, die noch wirklich zu unterfordern verstand … PFM: »Impressioni di Settembre« (1972) Didi Neidhart: Ritterspiele auf italienisch? Synthesizer als Orgelpfeifen? Das Synth-Solo fetzt schon. Würde ich mittlerweile eher Cosmic-Rock nennen. Am Schluss klingt’s wie die Beach Boys als episches Italo-Pop-Missverständnis. Als Edit ohne Akustikparts oder für den nächsten Tarantino-Film sicher okay. Austrofred: Ja, das war ja schon mal ein recht guter Einstieg. In der Tat handelt es sich um eines der quasi zentralen Werke des so genannten Italoprog. Das Geile bei den italienischen SymphonicRock-Partien, von denen die PFM die international erfolgreichsten waren, war halt das positive südländische Flair, weil das macht immer gleich eine lässige Stimmung, zusätzlich zum Kunstanspruch. DN: Mir würde die lässige Stimmung alleine auch reichen. Yes: »Heart Of The Sunrise« (1971) DN: Jazzgerocktes Gefummel über alle Trommeln, Saiten und Tasten, natürlich unterbrochen durch ›kunstfertige‹ Breaks! Der Synth reißt wieder mal alles raus mit seinem schnellen Genudel, das ich jetzt mal als Disco-Malheur rezipiere. Die haben so viele ›Ideen‹, weil sie keine Idee haben. Taucht mal eine gute Idee auf, kommt gleich der Prog-Zensor. Das könnten Yes sein, oder die Scorpions, die Yes
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parodieren. Für Prog-Rock sind wohl Drummer ohne Groove die Grundbedingung! AF: Die Band hast du korrekt, na ja, erahnt, aber sonst ist es ziemlich daneben, was du da so absonderst. Ich meine, wenn das keinen Groove hat, dann weiß ich auch nicht! Meiner Meinung nach ist das eine der besten Rockkompositionen überhaupt, die übrigens zum Großteil vom Bassisten Chris Squire stammt, und über den lasse ich nichts kommen. Wie jemanden ein solcher majestätischer Cinemascope-Sound kalt lassen kann, ist mir völlig schleierhaft. Jetzt »groovt« das dem Herrn Musikkritiker zu wenig! DN: Ein »Another One Bites The Dust« ist das ja nun wirklich nicht! AF: »Eich Dodln gib i Gas« meinst du wohl. Emerson Lake and Palmer: »Toccata« (1974) DN: ELP! »Pictures At An Exhibition«? Nein, das ist doch von der 3-fach-Live-LP, die ich zur Firmung bekommen habe. Das war’s dann aber auch mit meiner ›progressiven‹ Phase. Ist sofort wieder entsorgt worden. Das ist Musik als Leistungsdenken, als Jahrmarktsartistik. Schaut her, was wir uns alles an teurem Equipment leisten können (und ihr nicht)! Wenigstens gibt’s ein paar sharpe Synth-Sounds, aber die sind halt auch in den total falschen Händen. AF: Leider wird ja die Wahrnehmung der ELP
bei vielen Leuten dadurch getrübt, dass sie die »Pictures At An Exhibition« wieder und wieder im Musikunterricht durchgenommen haben, aber ich denke mir, man kann ja eine solche Spitzenpartie nicht an ihrer Wertschätzung durch heimische B-Pädagogen messen! Wobei man sagen muss, die Emerson Lake and Palmer haben ja wirklich etliche gewaltige Böcke geschossen, geschmackstechnisch, aber wenn sie so Orgel/Bass/Schlagzeugmäßig dahin schottern – einmalig! Triumvirat: »Ride In The Night« (1972) DN: Die erste Nummer, die Spaß macht. Verhunzter Shuffle, Prog-Rock als Euro-Trash, Boogie aus dem Moog, Kuhglocken, Bongos, handgemachte Claps, fette Synths, schwerer Akzent in den verfremdeten, auf Englisch artikulierenden Stimmen. Ideal für die Cosmic-Trash-After-Hour. Sicher ein einmaliger ›kommerzieller‹ Ausrutscher. So stelle ich mir eine typische, vielleicht deutsche 1970er-Disco-Platte vor, für eine Discothek, in der sonst keine Disco-Musik lief. AF: Das sind jetzt die deutschen ELP mit ihrem in der Tat kommerziellen Ausrutscher, der so wahrscheinlich nicht auf ihre Konzeptalben »Spartacus« oder »Pompeii« gepasst hätte. Aber ein charmantes Stückl, da gebe ich dir vollkommen recht. Dass die Triumvirat nicht so berühmt geworden sind wie die ELP, hat übrigens weniger musika-
lische als optische Gründe. Den Faktor Kompensation darf man in der Kunstbetrachtung nie vergessen, weil das waren ja wirklich – und das ist jetzt nicht böse gemeint – relativ schiache Teufel. Le Orme: »Se Io Lavoro« (1977) DN: Das könnte vom Intro her auch 1980iesItalo-Synthpop werden. Eine erfreulich breaklose, scheinbar volldigitale Zone. Zudem mit einem irren Cosmic-Outro. So beginnen sonst Acts wie Animal Collective ihre Songs. Und das soll Prog-Rock sein? AF: Das sind Le Orme, die neben PFM, Banco und Goblin wichtigste Italoprog-Combo, die aber immer schon auch einen gewissen Pop in ihrer Musik drin gehabt hat, also bevor das der Markt erzwungen hat, leider Gottes. Eine absolut superlässige Nummer – vielleicht sogar mein persönliches Nicht-Queen-Lieblingslied – und zwar, jetzt wirst du schauen, von 1977! DN: Also wenn ›der Markt‹ Prog-Rock reguliert, finde ich das ja gut. Eela Craig: »Indra Elegy« (1971) DN: Querflöten-Alarm und gleich Genudel nach dem Intro! Zumindest ein akzeptables Orgel/ Synth-Riff. Heutzutage kommt Popmusik ja aus guten Gründen nur mit so einem Riff über weite Strecken aus. Der Drummer fabriziert auch wieder ein Geholze, das wohl Jazz sein soll. Klingt leicht nach 1970er-Sexfilmchen. Dazu würde auch dieses Schmierentheater von Gesang passen. Die wälzen wohl grundsätzliche Menschheitsfragen, die ich mir aber nie und nimmer von solchen Acts beantworten lassen würde. AF: Uh weh, da gibt’s wohl keine »douze points« für »Autriche, sil vous plait«, vom Kollegen Neidhart. DN: Nein! Dafür eine Klage wegen Nötigung! AF: Die einzige relevante österreichische Progressive-Rock-Combo, die mir untergekommen ist (zumindest nachdem ich meine Paternoster-CD aufs Autodachl gelegt und dort vergessen habe). Das hier ist aus dem klassischen ersten Album, für das in der Musikrubrik der Anzeigenzeitung »korrekt« einer über zehn Jahre lang 2.000 Schilling geboten hat. Ich hoffe, er hat sie mittlerweile gefunden. In den Siebzigern waren die Eelas, wie man da mit einem Fachausdruck sagt, die großen Platzhirschen der Linzer Szene. Dementsprechend hochkarätig war dann auch das Brucknerhaus beim Reunion-Konzert 1995 besucht. Vom Austrofred über verschiedene Raiffeisen-Funktionäre bis hinunter zum Landeshauptmann waren alle dort, die in Oberösterreich was zum Sagen haben. War aber lässig. Os Mundi: »Ouvertüre« (1970) DN: Schon das Intro verkündet: Habe nun, ach! Klassik und auch Jazz studiert. Aber immerhin ein
rückwärtslaufendes Tonband. Ich frage mich, wie viel von solch einer Musik uns erspart geblieben wäre, wenn es damals schon Computerspiele gegeben hätte. Selten die Nutzlosigkeit eines Gitarrensolos so vorgeführt bekommen. AF: Das ist die Ouvertüre aus der lateinischen Messe der deutschen Gruppe Os Mundi, geht dann nahtlos ins »Kyrie Eleison« über. Trotzdem eine sehr kräftige, weltliche Platte, die mir persönlich, speziell durch den ›geilen‹ Orgelsound, teilweise so stark in den Unterleib fährt, dass ich mich frage, wie lässt sich das mit dem Zölibat verbinden. DN: Gute Frage. Aber über das geheime (vulgo auch sexuelle wie erotische) Genießen in der so genannten »geistlichen Musik« haben sich immer auch schon diverse Päpste den Kopf zerbrochen. Denen war Musik auch immer suspekt. Womit sie ja nicht Unrecht hatten. Ramases: »Long Long Time« (1975) DN: Das klingt endlich nach Pop! Ultraschöne Streicher, die zwischen Brit-Bombast (Walker Brothers, Scott Walker) und US-Westcoast (Love) eine irre Zerrissenheit erzeugen. Der erste Track, der eine Idee und wo die E-Gitarre eine Berechtigung hat. Davon könnte ich gerne mehr haben. AF: Na ja, ein bisschen einen Geheimtipp hab ich dir schon auch draufpacken müssen, klar. Das ist der Ramases, halbwegs ein Spinner, der Anfang der Siebziger in England als wiedergeborener Pharao herumgerannt ist und seine Weltuntergangsmessage als Musik getarnt hat. Hat er sich vielleicht vom Sun Ra oder vom Moondog abgeschaut, weiß ich nicht. Vielleicht hat er auch wirklich einen Klescher gehabt. Interessanterweise gilt sein erstes Album als erstes inoffizielles 10ccAlbum, weil die haben ihn da komplett gebackt respektive produziert. Das hier ist aus der gefloppten zweiten Scheibe. Danach war’s leider Gottes finito für’n Ramases. King Crimson: »Starless« (1974) DN: Wie viele Bands gab’s damals eigentlich, die bei ihren Intros immer nach Pink Floyd in Bombay geklungen haben? Das klingt wie Black Sabbath beim Aufwärmen (mit dem Roadie von Ozzy an der Gitarre) und langweilt nach einem sonisch doch interessanten Intro mit Jazzrock für Arme plus Nachdenklichkeiten im Zeichen des Saxofons (oder einer Oboe, egal). Solchen Tendenzen wurde durch das Primat des Grooves zum Glück das Handwerk gelegt. In diesem Fall befürworte ich sogar ethische Gewalt als ästhetische Pflicht. AF: Nachdem der Robert Fripp als eher herberer Typ gilt, können wir nur hoffen, dass er das jetzt nicht liest, weil sonst hast du ein Problem am Arsch. »Roadie vom Ozzy« – geh leck! Der wird aller Voraussicht bald einmal in der skug-Redaktion auftauchen, damit er dich verbirnt. DN: Jetzt habe ich aber in die Scheiße gegriffen!
AF: Meiner bescheidenen Meinung nach ist das eines der quasi ergreifendsten Stückln im KingCrimson-Katalog, aber gut, im Gegensatz zum Herrn Coolibert skughuber bin ich natürlich kein großer gelehrter, theoretischer Musikkritiker, sondern nur ein ganz normaler praktischer Rockstar, der mit beiden Beinen im Hier und Jetzt steht! DN: Zum Glück hat der Fripp dann mit Eno und seiner »Frippertronics« ja was ganz anderes gemacht. Peter Hammill: »Gog Magog« (1974) DN: Ah, da dampft die Orgel! Phantom der Operette? »Rocky Horror Picture Show« auf bombastic Prog-Rock-Camp inklusive hörbar besoffenem Rumpelpumpel-Schlagzeug. Das ist zwar auch unfunky, macht aber mehr Spaß. So haben sich die Leute vor Venom oder Morbid Angel also schwarzsatanische Messen bzw. schiefgegangene LSDTrips vorgestellt: überall Echo drauf und auf Teufel komm raus orgeln und rasseln. Mit ein paar Bier könnte ich das ja durchaus auch als Punk lesen (oder als radikale Weiterführung des ›experimentellen‹ Mittelteils von »Whole Lotta Love«). Hölle am Arsch! Jetzt sprechen die Dämonen auch noch rückwärts! Das übertrifft sogar Goblin! Prog-Rock als 1970ies-Horror-Trash! Fast wie Throbbing Gristle, nur hatten die nie so parodistische Untertöne. Super Haschischfressermusik, die am Schluss von Satan persönlich im Höllenschlund verschluckt wird. Also davon könnte ich auch mehr vertragen. AF: Nominell ein Peter-Hammill-Solostückl, aber in Wirklichkeit ein ausgewachsener Van-der-GraafGenerator-Klassiker. Klar, da ist natürlich ein bisschen eine Satansanbetung dabei, aber man muss sich halt nach allen Richtungen hin absichern. Ich sehe ja auch den Kirchenbeitrag als spirituelle Notfallsversicherung, falls es letztendlich dann doch einen Gott gibt, was ich zwar eh für unwahrscheinlich halte, aber man weiß ja nie … In meiner Jugend habe ich zu dieser Platte einmal ein unschönes Erlebnis gehabt, indem ich mit ein paar Spezln zusammengesessen bin, und auf einmal hat es mich unter den Tisch gedreht. Klarerweise war da auch, wie du dir denken kannst, etwas zum Rauchen mit ihm Spiel. Zwar eh nur ein Packerl Milde Sorte, aber das hat gereicht. Auf jeden Fall finde ich es sehr versöhnlich, dass wir uns da doch noch auf etwas einigen haben können. Weil ich hab mir ja schon ernsthaft gedacht, dieser Mensch hat ja überhaupt keinen Geschmack, was ist denn das für ein Musikkritiker – »Quo vadis, skug!?« DN: In die Hölle.
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DIDI NEIDHART TEXT MICK ROCK/ROBERT MATHEU FOTO
Your Pretty Philosophy Is Going To Hell Was Sie noch nie über Iggy & The Stooges lesen, aber vielleicht einmal nachfragen wollten. »Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht.« (Martin Heidegger: »Sein und Zeit«) Als »Edition« ist nun David Bowies längst nur noch über Second-Hand-Kanäle zu beziehender OriginalMix von »Raw Power« (1973) auch als CD erhältlich. Vergessen wir daher Iggy Pops 1997er-Selbstremixversuch und stellen uns lieber die Frage, wie wir uns jenseits von biografischen Anmerkungen »Raw Power« wieder nähern könnten. »Raw Power« – ein »Wahrheitsereignis«? In »Die Tücke des Subjekts« beschäftigt sich Slavoj Žižek eingehend mit dem Begriff »Wahrheitsereignis« im Sinne Alain Badious. Darunter ist ein Ereignis zu verstehen, das die »Wahrheit der Situation« (Žižek) entgegen deren ›offizieller‹ Darstellung sicht- und lesbar macht. Wäre es nicht verlockend, »Raw Power« in diesem Sinne lesen zu können? Als Gegenentwurf zu der ›Nicht-Wahrheit‹ von Rock? Anders als »Exile On Mainstreet« (das als »Wahrheitsereignis« unbewusst die eigene symbolische Ordnung zerstört, diesen Akt selbst aber gar nicht mitbekommt) operiert »Raw Power« nicht nur bewusster (die Stones zelebrieren ihre eigene Demontage als »Denn sie wissen nicht, was sie tun«), sondern auch von einem anderen Ort aus. Dieser Ort wäre jenes Außen, das sich zwischen Detroitund Glam-Rock entfaltete, in dem die Stooges einen Überschuss, einen nicht wirklich greifbaren Exzess darstellen (anders als die ebenfalls exzessiven MC5, 83 I 24
die aber noch an einen Rock’n’Roll glaubten, mit welchem sich, wenn schon keine Revolution, zumindest viel Geld machen ließ). Aber lässt sich überhaupt so einfach von ›Wahrheit‹ sprechen? »Die Wahrheit ist ein Irrtum, der nicht mehr abgewiesen werden kann, weil er durch eine lange Geschichte hartgesotten wurde«, schreibt Friedrich Nietzsche in »Die fröhliche Wissenschaft«. Müsste dann nicht auch die ›Nicht-Wahrheit‹ von Irrtümern durchdrungen sein? Wollte »Raw Power« überhaupt eine ›Wahrheit‹ artikulieren (jenseits des Sonischen)? Ist »Raw Power« nicht heute selbst Teil der ›hartgesottenen‹ Rockwahrheit, die trotz Punk und Techno nie endgültig abgewiesen werden konnte? Hierfür genügte es, den Cover-Iggy in Drag zu ignorieren: die gefärbten Haare, das geschminkte
Gesicht, die silbernen »Tight Pants«, die eher an queere »Cockettes« und Nurejew als an ehrlichen Rock erinnern. Wenn Glam-Rock das war, was Jacques Lacan einen »Steppunkt« nennt, nämlich ein Ereignis, durch das eine Struktur sich nicht nur verschiebt, sondern verändert (indem ein neuer Herrensignifikant auftritt), dann ist »Raw Power« innerhalb dieser Matrix der Steppunkt des Steppunktes, nämlich jener Punkt innerhalb der Signifikantenkette, an dem »der Signifikant das ansonsten endlose Gleiten der Bedeutung anhält« (Lacan). Ein abrupter Stopp, ein Bruch. Weder voraussehbar (also: ableitbar) noch inkludierbar. So gesehen haben »Raw Power« und Lou Reeds »Metal Machine Music« nicht nur den sonischen Exzess gemein. Beide agierten nicht
im luftleeren Raum, sondern innerhalb von Pop als ›Exiles On Mean Streets‹. Erst als die Rock-Matrix von ihnen in lose Signifikantenketten zerbrochen worden war, konnte Punk erscheinen. Trotz allem historisch ausweisbaren Prä- und Protopunk bedurfte es erst noch der Rock-Dekonstruktion, um neue Verbindungen zu knüpfen und zuvor blinde Flecken sichtbar zu machen. Die Irritation des Mainstreams musste mit diesem selbst verbunden sein, um Dominoeffekte zu entfalten. Das retroaktive Vordatieren von Punk mag rhizomatischen Spaß machen, erfüllt aber eher nerdspezifische Bedürfnisse, anstatt den Kanon zu dekonstruieren. »Raw Power« als »Wahrheitsereignis« zu hypostasieren schafft die Möglichkeit, überall Spurenelemente und Reste dieses Ereignisses wiederzuerkennen (von den Sex Pistols über Guns N’ Roses bis Green Day). Nur so kann es unhinterfragt überleben, Mythos und in einen Kanon zwangsintegriert werden. Der ursprüngliche Schock (als Steppunkt, Bruch, Irritation, Fremdkörper) wird in die ›Rock-History‹ entsorgt, wodurch das ›Ereignis‹ von der Revolution zur Evolution verschoben wird – mögen die Stooges auch ausgesehen haben wie Wesen von einem anderen Stern (selbst zwischen Lou Reed und Bowie bleiben sie Aliens). In diesem Erkennen (von »Raw Power« oder anderen pophistorischen »Steppunkten«) als »Zeichen der Wahrheit« (Badiou) glaubt sich nun das Subjekt (als Fan) im Besitz eines »realen Kerns«, den das Ereignis besitzen soll. Da jedoch das Erkennen immer nur »im begrenzten Mannigfaltigen einer Situation operieren (Žižek) kann« (vor Punk anders als nach Punk, vor Techno anders als nach Techno), erweist sich auch der Besitz jenes »realen Kerns« (etwa als Originalpressung) als Phantasma. Als Imagination, in der das Subjekt schon glaubt, in eine (neue) symbolische Ordnung eingetreten zu sein, nur weil es sich die Ohren durchblasen lässt und nicht weil es auf die erweiterten »Mannigfaltigkeiten einer Situation« (etwa durch neue Hörerfahrungen) stößt. Die sonischen Echos von »Raw Power« bei Theo Parrish oder Moodymann sind ja auch nicht einfach da – sie müssen erst decodiert werden. Sonischer Dub »Raw Power« fängt an wie zu leise aufgenommen. Ein Wattebausch-Sound aus dem Nebenhaus, Keller. Unklar, indifferent, schwammig. Fast möchte lauter gedreht werden (wozu auch Zeit genug ist), doch dann bricht diese Gitarre als sonische Intensität ein. Als Lärm, Noise. Nun fast zu laut! Wenn das Konzept war, so ist es immer wieder aufs Neue irritierend (und erinnert an diverse Underground-Resistance-Maxis, die ihre unglaubliche Dynamik dem Verzicht auf Kompressoren oder Limiter verdanken). Zwar haben die Stooges bereits auf früheren Platten die Gitarre als eigenständiges elektronisches Tool aus dem Geist von Garagen-Punk, Jimi Hendrix und Velvet Underground neu definiert, aber hier kommt das Mischpult als neuer Faktor hinzu. Bowie dreht
nicht einfach die Soli auf Anschlag. Er akzentuiert viel eher einzelne Parts der Rhythmus-Riffs, lässt sie rein- und rausdonnern, bricht sie ab, zieht sie kurz wieder rein, lässt sie plötzlich allein stehen oder im Echo untergehen. Das stellt »Raw Power« ebenso in einen Dub-Kontext wie ganz nahe an Miles Davis’ 1973er-Experiment »On The Corner« (auch hier werden einzelne Spuren immer wieder rein- und rausgefahren). Ähnlich geht er bei den Soli vor. Ron Asheton (dessen visionäres Bass-Spiel auf »Raw Power« seinem Gitarrenstil in keinem nachsteht) spielte als Gitarrist »keinen Dixieland« mehr (wie es in der Review zu »Funhouse« in »Sounds« treffend hieß) und konzentrierte sich stattdessen auf Sounds. Er spielte weniger Gitarre als die daran angeschlossenen Effekte. Der neue Gitarrist James Williamson pfiff zwar auf Fuzzbox und Wah Wah, dachte aber ebenso wie zuvor Ron Asheton (dessen unglaubliche Bassläufe zu »Raw Power« später das Fundament so mancher Spacemen 3-Nummer darstellten und immer noch einzigartig dastehen) in sonischen Dimensionen (mit teilweise frippertronischen Anwandlungen z.B. bei »Gimme Danger«). Bowie lässt diese »sonic assaults« ohne Vorwarnung einbrechen, akzentuiert sie wie die Riffs und kämpft mit den Intensitäten der Sounds. Immer wieder verschwinden sie, werden reines Rauschen, sind nicht identifizierbar (was rauscht da?). Selbst auf der CD-Version zerbröseln die übersteuerten Gitarren zu elektroakustischem Zischen und Brutzeln. Was auf Vinyl noch als (toller) Fehler (Kratzer) gedeutet werden konnte, erscheint nun als Prinzip bzw. als das Unumgängliche: »Raw Power« befindet sich jenseits des Aufnehmbaren, Fixierbaren. Dave Marsh hat das schon in seiner
Review für »Creem» sehr genau erkannt, wenn er von »tremendous bursts of apocalyptic interstellar energy, limited only by contemporary technology« schreibt. Nicht nur hierin finden wir Ähnlichkeiten zu »White Light/White Heat«. Auch davon konnte es keinen ultimativen Mix, keine fertige Version mehr geben, egal wie viele Radio-Tapes, Rohmixe, Sessions oder Live-Konzerte noch erscheinen mögen. Dumpfes Grummeln und Dröhnen (gerade der Ryhthm-Section) machen »Raw Power« zur ersten Dub-LP des Rock (falls wir überhaupt noch von Rock sprechen müssen) und koppeln sie doch zugleich auch in der von Ron und Scott Asheton ebenso stoisch wie funky fabrizierten maschinenhaften Motorik an Krautrock (Kraftwerk, Neu!) an. Vielleicht sind Suicide die einzige Band, die »Raw Power« schon in den 1970ern sonisch gelesen haben, immerhin erinnert das Wummern der Rhyhtmbox auf ihrer ersten LP genau an jenes pulsierende Grummeln, mit dem »Raw Power« für so viel Irritation sorgte. »Punk existiert nicht« In Oliver Marcharts neuem Buch »Die politische Differenz« (erschienen bei Suhrkamp, mehr dazu im nächsten skug) können wir im dort erwähnten Heidegger-Zitat – »der Grund begründet als AbGrund« – durchaus eine Kurzrezension von »Raw Power« erkennen: ein Jahr auf Eis gelegen, fast nicht wahrgenommen, Split der Band. Alles innerhalb von zwei Jahren (1972–1974). Was soll aber die kryptische Rede vom »Ab-Grund«, der »gründet«, gleichzeitig aber »grundlos« ist? Mit Punk-Nihilismus kommen wir dabei nicht weiter (ein Blick in den Abgrund, so intensiv, dass dieser zurückblickt, wäre eine andere Geschichte). Wenn Marchart weiters 83 I 25
meint, der »Ab-Grund bezeichnet den nicht abstellbaren Aufschub und Rückzug oder genauer ›Entzug‹ des Grundes«, dann lässt sich mit »Raw Power« kein Gründungsakt etablieren, sondern wir haben es mit einer »Ent-Gründung« (Marchart) zu tun. Einfacher gesagt: Es gibt keinen unhintergehbaren Grund, sondern viele Gründe, Gründungen. »Gründend und grundlos« (Marchart) zugleich, verweigert sich »Raw Power« den üblichen Symbolisierungsstrategien, die Punk als soziales Phänomen, Iggy Pop als Junkie oder die Stooges als Prä-Punk domestizieren wollen (nichts domestiziert Musik so sehr wie ihre Erklärung aus sozialen und delinquenten Verhältnissen sowie das Stigma ›Vorgänger‹, womit jegliche, noch in ihr schlummernden »Future Shocks« einfach historisiert und zum Eigentum einer bestimmten, sich selbst platzierenden ›Generation‹ gemacht werden). Wer nach einem Ursprung sucht, sucht »nach dem genau abgegrenzten Wesen der Sache (...), nach ihrer reinsten Möglichkeit« (Foucault). Kurz nach einer Idee, einem Begriff zu deren Erklärung/ Definition es keiner anderen Begriffe, Definitionen und Erklärungen bedarf. Nicht umsonst handelt die Rede von den Ursprüngen im ästhetischen Diskurs in der Regel von den ›Formen‹ jener Ereignisse, die aus dem Nichts entstanden und singulär über uns gekommen sind. Aber ist es bei »Raw Power« nicht auch der Mix, der per se keine ›reinste Möglichkeit‹ zulässt? Müssten wir bei »Raw Power« nicht eher Lacans berüchtigten Satz »La Femme n’existe pas« (»Die Frau existiert nicht«) adaptieren: »Punk existiert nicht«? Jedenfalls nicht als eindeutig fixierbare Formel? Jetzt wäre es jedoch ebenso blind zu behaupten, dass alles sowieso immer irgendwie von irgendwas ableitbar sei. Dann gibt es zwar ein permanentes Fließen, aber keine Brüche. Schon gar keine radikalen – und auch keine ästhetischen Erfahrungen in Form des Schocks. Nicht umsonst bedeutet für Badiou (wie für Gilles Deleuze) das »Ereignis« einen »Bruch«, der nicht ableitbar und vorhersehbar ist. Es entstehen neue Beziehungen, die sich jedoch nicht mit den alten Begrifflichkeiten erklären lassen. Die neue symbolische Ordnung ereignet sich als Lacanscher »Akt«, der die Zerstörung bisheriger Signifikantenketten (des Realen) bewirkt. Der Bruch zwischen »Pushin’ Too Hard« (The Seeds) und »No Fun« ist bereits der Bruch mit der symbolischen Ordnung der Sixties. Während die Seeds noch an die Freiheitsversprechungen von ›Sex & Drugs & Rock’n’Roll‹ glaubten, gab es für die Stooges Freiheit nur noch als »Death Trip«. Oder als Jazz. Wie MC5 wurden sie von John Sinclair im Dienste seiner Superidee eines »Heavy Jazz« lautstark mit Free Jazz beschallt (und dabei mit reichlich Dope versorgt). Aber während die MC5 Free Jazz quasi wortwörtlich nahmen, schnappten die Stooges einzelne Ideen auf (das Modulieren um einen Grundakkord etwa, das sich gut mit der Ein-Riff-Idee bei Velvet Undergrund kurzschließen ließ) und schickten diese durch eine Matrix, die von 83 I 26
britischen Bands (Yardbirds, The Who) ebenso geprägt war wie von Jimi Hendrix bzw. VU sowie den in Detroit agierenden Soul- und Funk-Acts. Neben dem Riff hat »I Wanna Be Your Dog« ja auch noch etwas, was Rockbands so niemals hinbekommen haben (v. a. weil es ihnen herzlich egal war): ein Drum-Intro als signifikantes Erkennungsmerkmal. Zudem transferierten The Stooges den Terminus ›Technik‹ (auch im Sinne von ›Spieltechnik‹) gleich auf ihr elektronisches Equipment: lieber Wah Wah, als Gitarre spielen. »Can You Feel It?« Es ist diese »Unstimmigkeit des Anderen« (Foucault), ein prinzipielles Nichteinverstandensein, das uns bei den Stooges immer wieder begegnet (auch als Unstimmigkeit im Mix). Der vermeintliche Ursprung als »Grund« ist leer und sehr nahe am Nichts gebaut (bzw. ihm täuschend echt). Er muss es sein (will er denn »Grund« sein), weil er jenseits bisheriger Möglichkeitsformen (schneller, härter, lauter) situiert ist und sich genau dort auftut, wo er nicht erwartet wird (zwischen den Polen Bowie und Reed gab es zwar immer Platz für Iggy & The Stooges, aber »Raw Power« verhält sich in diesem Ensemble ähnlich wie Reeds »Metal Machine Music« – als »unvorhersehbares Ereignis« im Sinne von Deleuze), und gerade deshalb das Denken dazu zwingt, sich zu ereignen. Für Heidegger bedeutet ein »Unter-Schied« eine »Sache des Denkens«. Eine radikale Differenz, die einen Zwang ausübt. Weit davon entfernt, einfach nur eine Differenz zu sein (etwa zu Genesis oder Yes), markiert »Raw Power« eher eine »Differenz als Differenz« (Marchart). Ein Ereignis am Ort der Differenz. An einem jener Nicht-Orte, wo wir Pop ja immer gerne haben wollen. Eine virtuelle Potentia-
lität, »eine reine Reserve«, ein radikaler Perspektivenwechsel als Störung des Realen. »Das Ereignis ist demnach kein Objekt, kein Referent und kein Gegenstand; oder genauer: Es ist eher ein ästhetisches, ein poetisches Ding.« (Deleuze) Nur, was ist mit »Raw Power« überhaupt gemeint? Okay, »das Reale« – aber das ist dann doch zu einfach und findet sich sowieso eher im Mix. Es stellt sich eher die Frage, warum der Titelsong von einem im Grunde vertrackten, nicht wirklich von der Stelle kommenden, immer wieder stolpernden Beat getragen wird. Gut, »Raw Power« hat einen Sohn namens Rock’n’Roll bekommen. Aber wird das noch einfach so geglaubt, oder haben wir es hier mit einem Wunschdenken zu tun? Und immer wieder die Frage »Can you feel it?« / »Do you feel it?« – aber was denn eigentlich? Gibt es dieses »feel it« überhaupt noch? Bei »Funhouse« lautete die Losung noch: »I Feel Alright«. Was, wenn es aber nichts mehr zu »fühlen« gäbe, wenn »Raw Power« die ›Wahrheit von Gefühlen‹ einfach in Frage stellt? »Power is a guaranteed o.d.«, meint ja auch die Begegnung mit etwas (bzw. die Erkenntnis von etwas), das zu viel für einen ist (»Raw Power can destroy a man«). Ein »magic touch«, der den sonischen Overkill umso zwingender macht. Das Nichts als »The Horror, the Horror« (Marlon Brandos letzte Worte in »Apocalypse Now«). Als das per definitionem nicht symbolisierbare Reale – der Überschuss, das traumatische/ unheimliche Ding. »Raw Power« nimmt die »punk gesture« am Ende von Dennis Hoppers »Out Of The Blue« (1980) vorweg. Eine Verzweiflungstat, bei der alles in die Luft fliegt. Eine Explosion nicht als Anfang von etwas, sondern als Ende einer untoten Existenz.
Iggy & The Stooges: »Raw Power. The Legacy Edition« (2-CD- bzw. 3-CD-Boxset, Sony Legacy)
reviews 5/8erl in Ehr’n »Bitteschön!« Viennese Soulfood Records/Hoanzl Heurigenbankl anno 2010: Soul und Hamur fegen jegliche Larmoyanz hinweg, dass ihr »14 Tog da Schedl wogld«. Al Green in Sepia mit aufgezwirbeltem Schnurrbart im Alt-Grinziger Weinlokal. Das Wienerlied, zwar oft geschmäht oder gar gefürchtet, hat uns doch immer wieder Sternstunden beschert. Nun erlebt es dank Nachwuchs eine Renaissance, und wenn ich mir diesen Nachwuchs anhöre: Zu Recht, bitteschön! Was die 5/8erln hier vorlegen, sucht seinesgleichen an Witz und Groove. Da müssen sich selbst Neuwirth und Co. anschnallen. Brillant arrangiert und interpretiert mit Kontrabass, Gitarre, Akkordeon und zwei perfekt harmonierenden Sängern – kaum zu glauben wie ergreifend und dabei so unverschämt leichtfüßig dieser Wiener Soul daherkommt. Die Texte, schonunglos und mit Hintersinn, spielen mitunter so gekonnt mit Tradition und Klischees, dass der Qualtinger wahrscheinlich im Grab rotiert – vor Freude. Für »Siasse Tschik« sollte es jedenfalls einen Downloadcode auf jedem Packl lange Papers geben ... STEPHAN SPERLICH
Ametsub »The Nothings of the North« Mille Plateaux Wiedergänger der Klick-Kicker-Front. Mille Plateaux war neben Warp lange das ChefHaus der intelligenten Electronica und machte 2004 im Nach-Tsunami der EfAVertriebspleite den großen Abgang, der Deleuze-bewehrte Szene-Vordenker Achim Szepanski den Schritt zum Literatenverleger. Lange schon aufgekauft, probiert’s
der Imprint nun in Hand des Online-Shops Total Recall mit Re-Start. Kein easy business, wo die E-Werker-Szene bis auf wenige Leuchtnamen wie Fennesz oder Jan Jelinek ächzend und glitchend am Boden liegt. So dreht der Clicks&Cuts-Sampler Nummer 5 samt Neu-Genossen wie den Franzosen Kabutogani eher lustlos an der LaptopSchraube. Nur einer bewahrt das kleinlaut britzelnde gallische Dorf: Der 24-jährige Tokyo-Boy Ametsub verfilzt Jazz-Pirouettchen, incunabulesken Flausche-Ambient und sphärische Score-Klüngeleien à la Murcof zu so atemberaubend ziselierten Traumsoundwelten wie weiland 4Hero den Drum’n’Bass Richtung zartes großes Kino weitererfand. Da saftelt nicht nur der seelenverwandte Ryuchi Sakamoto vor Freude von einem Best-Album der letzten Jahre. What a Beep! PAUL POET
Arandel »In D« InFiné Ein höchst interessantes von Minimal Music inspiriertes Musikprojekt, das sich wie Matthew Herbert auf einen Personal Contract for the Composition of Music beruft, d. h. es werden keine Samples und kein Midi verwendet. Die wahre Identität von Arandel steht im Hintergrund seiner Projekte. Die Anonymität dient dazu, dem Profil elektronischer Musik möglichst viele Facetten zu geben. Es geht Arandel darum, die Musik rein organisch, selbst aufgenommen zu halten und dem Zufall eine essentielle Rolle zu geben. Dieser streng geregelte Open Space ist für alles offen und Schlagzeug, Keyboard, Flöten, Streicher, Bläser usw. bilden die
knappe Instrumentierung. An sich kann das Werk mit Augenzwinkern in Richtung von Terry Rileys »In C« von einer beliebigen Anzahl von Instrumenten gespielt werden. Akustische Ambientmusik at it’s best. HANS KULISCH
Luigi Archetti/Michael Heisch »Solid Frozen« Creative Works Records Es lohnt sich, diese fragile Klangästhetik auf einer guten Anlage zu hören. Kopfhörer können den wunderbaren Hall von Michael Heischs (übrigens skug-Autor!) Kontrabass nicht dermaßen gut wiedergeben, denn das Duo aus der Schweiz misst dem Klang im Raum eine hohe Bedeutung zu. Und im Ermessen des Hörers liegt, wie er diesen aufnimmt und was er damit assoziiert. Die sechs Piècen entfalten mit Bedacht auf einem sehr ruhigen Level beinahe eine Wirkung wie Stücke Morton Feldmans. Leise und beharrlich verändert sich ein zunächst stets scheinender Klang. Nicht langweilige Stille oder Stillstand, in dessen Sackgasse sich nicht wenige Wiener Improvisationsmusiker verirrten, ist hier zu konstatieren, sondern ein fragiles Klangnetz, das tieffrequentes Dröhnen, Knister- und Schabgeräusche oder Feedbacks, die eher bei Luigi Archetti (E-Gitarre, Electronics) verortet werden, ebenso einbezieht wie die leisen Töne von Moritz Müllenbach (Violoncello) und David Schneebeli (Viola). Letztere spielen auf allen »Parts 1–6«, ihr Mitwirken geht sehr tieftönig vonstatten, doch liegen ihre Beiträge nicht ganz unter der Wahrnehmungsschwelle, sondern perfektionieren den eloquenten
Gesamtsound des Quartetts. ALFRED PRANZL
The Bambi Molesters »As The Dark Wave Smells« Glitterhouse/Hoanzl Ein Hit wie »Ghostriders In The Sky« ist zwar nicht dabei, dafür aber erhebt sich der Surfrock der Bambi Molesters sehr aus der Garage, dank einer umsichtigen Produktion von Chris Eckman, der auf zwei Stücken auch Mellotron spielt und prächtige Stringarrangements beisteuert. Man glaubt gar, ein volles Orchester stünde dahinter, doch sind es nur acht Streicher, die des öfteren für einen prächtig süßen Klang sorgen. Teils fetten noch Trompeten (texmex-stylish in »Siboney«) bzw. Orgel (auf drei Nummern spielt diese Chris Cacavas) den instrumentalen Gitarrensurfsound auf, ohne dass die in Ljubljana aufgenommene Scheibe überproduziert wirkt. Die Band aus dem kroatischen Sisak, die schon mit R.E.M. oder den Cramps auf Tour war, zählt im Genre Surfrock nach wie vor zu den besten, und schon der Blick aufs Cover suggeriert, in welchem Stil das Quartett zu Hause ist. Eine Frau schwimmt im Early-Sixties-Einteiler. What a wave! Höret die Tremolos! ALFRED PRANZL
Black Francis »Nonstoperotik« Cooking Vinyl/Indigo/Hoanzl Die Pixies-Reunion dient dem Lebensunterhalt, die Soloalben der Befriedigung der Schaffenswut von Frank Black. Sind wir nun bei Nummer 15 oder doch schon in der 20ern? Egal, »Nonstoperotik« ist ein 82 I 27
Monotype Records In einer musikalischen Ära, die oft daran krankt, dass an der Öffentlichkeit vorbeiproduziert wird (ich meine den Mangel an Produktionen für »alle Hörerkreise« im Gegensatz zu den selbsternannten SchöpferInnen und anderen Erleuchteten), ist ein Label wie Monotype Records eine seltene Ausnahme. Ein überzeugendes Label lässt einfach zu, dass jeder Hörer, jede Hörerin alle Veröffentlichungen, Projekte, Alben (seine gesamte Kollektion) unvoreingenommen für sich entdecken kann. Sich hinter dem Begriff Avantgarde zu verschanzen erscheint mir immer wie ein sicheres Spiel. Lasst doch die Menschen zuerst gustieren und danach selbst entscheiden. Der Hörerkreis sollte nicht eingeschränkt werden, niemals! Monotype hält es mit dieser Devise: Jeder Tonträger gründet auf dem Wunsch zu teilen, bezieht eine klare Stellung zum Publizieren, zeigt eine Album gewordene Möglichkeit auf, die sich so auch anderen eröffnet. Trennende Schranken zwischen den Stilen zu beseitigen, alle Musiken zuzulassen haben wir bitter nötig. Die Texte auf den Infoblättern haben mir sofort gefallen, die Reaktionsfreudigkeit, die Ideen und Argumente, und auch wenn es weniger Antworten als Fragen gibt, ist ein Faktum unbestritten: Hier gibt es etwas zu entdecken. THE AMES ROOM ist ein Trio, das seine Auftritte in Niort & Poznan (Frankreich und Polen) mitgeschnitten hat. Jean-
Luc Guionnet am Altsaxophon, Clayton Thomas am Kontrabass, Will Guthrie am Schlagzeug. Ich sagte Trio, mehr habe ich nicht gesagt: eine breite Palette von Möglichkeiten, die jeden Abend neu aufgemischt werden, Nacht für Nacht, ein Tag – ein Gig. Die Musik auf der A-Seite ihres Albums »In« (aber auch auf der B-Seite) ist sehr kraftvoll und rasant, wird regelrecht herausgeschleudert. Hier wird nicht die Geschichte von jemand anderem neu gelesen, sondern de facto & in vivo die eigene geschrieben. Guthries aktives Spiel antizipiert alle sich verzweigenden Pfade, die letztlich wieder zusammenführen. Diese Musik kann sich alle Verweise und Probleme mit Zuordnungen sparen, indem einfach gespielt wird und man dabei immer auf Tuchfühlung bleibt. Darum geht’s doch beim Spielen, oder? Spontane Musik des Augenblicks, nicht mehr und nicht weniger. • GREG MALCOLM & EUGENE CHADBOURNEs Album »Jazz School« fällt ebenfalls in die »full music«-Kategorie (in Ermangelung einer anderen Bezeichnung könnte ich auch »Gitarren« oder »Saiteninstrumente« schreiben). Eine Aufnahme, der wir unsere ganze Aufmerksamkeit zuwenden, die wir anhalten, um wieder von vorne zu beginnen, um einen Track zweimal zu hören, einen anderen zu überspringen oder zum vorherigen zurückzukommen. So viele Details und doch ein Ganzes, so intensiv und dicht,
so konzentriert und vielschichtig und dabei immer fokussiert. Jazz ist keine Automarke oder irgendein günstiges Kreditpaket, wie er auch nichts mit dem zu tun hat, was heute in der Fachpresse den Stempel Jazz verpasst bekommt (warum nennt man das Ganze nicht einfach Instrumentalmusik mit langen Soli?). Jazz ist die Mutter aller Musiken und hat Väter in allen anderen Musiken. Es gibt keinen Unterschied zwischen Cecil Taylor, Stevie Wonder und Mary Lou Williams – wenn man es hören kann. T-Bone Walker ist Don Cherry, der wieder Rick James, Clarence White und Little Richard ist. Diese Art von Jazz, und in dieser Hinsicht sind wir hier in der Jazzschule. Was mich am Jazz immer fasziniert hat, ist sein schier unerschöpfliches Potential, sich selbst zu befruchten – jeder bedeutende Spieler entwickelte sich in totalem Widerspruch zu allen anderen und trägt sie doch alle in sich. Chadbourne und Malcom knüpfen dort einfach an, reiten diese Art von Wellen, stehen an solchen Rändern oder lassen sich auf derartige Spiele ein. Wenn ein Waschbrett und verknotete Saiten zusammenkommen, wenn Melodien auf Verstimmungen und Umstimmungen treffen. Beim Spiel, bei der Arbeit, im Denken und im Flug. Eine Aufnahme, die man behält und zu der man regelmäßig zurückkehrt. • MIRTs »Handmade Man« (Cat 2) beginnt folgendermaßen: »As always in case of my recordings,
places, the states of limbo and passivities are playing an important role«. Sätze wie dieser sind oft reine Dekoration oder Pose, nicht so hier. Ist das ein Tagebuch, eine Collage, ein Journal, eine mit Gedanken und Gefühlen vollgestopfte Tasche oder einfach jemand, der uns an seinen Erfahrungen teilhaben lässt? Ich mag die Reise sehr, kann mich dabei gewissermaßen von mir selbst abkoppeln und möchte während der ganzen Dauer alle Aktivitäten stoppen. Eine rare Musik, und nicht nur Musik, sondern auch ein Moment, um zu atmen, ins Sinnieren zu verfallen, sich einer Sache halb bewusst zu werden und nicht nur die Ohren zu öffnen, sondern alles durch viele Pforten eindringen zu lassen. Und ob das alles nun in einem undurchdringlichen Wald oder in irgendwelchen Downtown big cities passiert, muss erst gar nicht geklärt werden – Monotype hinterlässt bereits Spuren in meinem Gehirn. Zwischen Ideen, die Vergangenheit sind, und Erfahrungen, die erst kommen werden, wie Bücher, die man aufeinanderstapelt und noch einmal lesen möchte. Wir brauchen Labels, die unsere Sinne auf einen bestimmten Punkt konzentrieren und einen klaren Standpunkt vertreten. Wir brauchen Verleger, die von Sehnsucht und echten Verständnis geleitet werden. Großartige Werke, großartiger Job. monotyperecords.com NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR
typisches Black-Album. Schnell eingespielt wirft er uns Songs um die Ohren, die er schon mehr als zweimal geschrieben hat, und dazwischen finden sich Kleinode, die sich in seine Best-of-Liste nahtlos einfügen. Vom Testosteron gebeutelt, läuft er in »When I Go Down On You« zur Hochform auf, und entgegen seiner Neigung zu kryptischen Texten wird er hier auch sehr konkret. Eine dazwischen gestreute Coverversion der Flying Burrito Brothers zeigt, dass Black neben seiner Verwaltungstätigkeit noch immer Fan geblieben ist. Auf das Album über den Sex im Alter in ungefähr fünfzehn Jahren darf man jetzt schon gespannt warten. G. BUS SCHWEIGER
Verbrechen als Ornament, mehr out of als in tune – insgesamt mehr Tod als Leben. Repetitiv, zehrend, unerbittlich. Nur für Mutige, schwermütige Kalifornier und ausgesprochene Feinde der Harmonie.
Broken Social Scene »Forgiveness Rock Record« City Slang/Universal Je größer die Band, desto größer die Mühe die Bande zusammenzuhalten. Das erklärt auch die fünfjährige Wartezeit auf ein Album des kanadischen Kollektivs, das die Wartezeit mit einer Fülle von Soloalben und Kollaborationen verkürzte. Der Liebe zum Breitwandpop mit Herzblut hat das alles nicht geschadet, und so schließen Broken Social Scene genau dort an, wo sie aufgehört haben. Überbordende Mitsingepen mit Tiefgang und einem Haufen Humor, der in der hochverdienten zweiminütigen Ode an die Masturbation »Me And My Hand« gipfelt, knallen dem Hörer entgegen. Dass diese Band nicht dem Sparefroh und der Reduktion huldigt, ist klar, aber Opulenz ist auch ein Stilmittel, und das setzen sie fast immer gekonnt ein. Wir sehen uns in fünf Jahren wieder.
Jones begleitet wird. Wie so oft gibt es eine dünne Linie zwischen Chaos und Spiritualität, und Bushmans Revenge bewegen sich hier souverän. »Jitterbug« wurde in fast altmodischer Weise in einem richtigen Studio live aufgenommen, ohne jegliche Overdubs. Da mehr und mehr Studios zusperren, könnte das bald ein historisches Dokument sein. Eine furiose instrumentale Version von Motörheads »Damage Case« bezeugt, dass die Band noch immer in ihren Zwanzigern ist. Daher auch das rohe Punkfeeling, das immer durchkommt. Superb.
Blessure Grave »Judged By Twelve, Carried By Six« Alien8 Recordings Das aus dem Duo Reyna Kay und T. Graves entstandene Bandprojekt Blessure Grave setzt all seine moribunde Energie auf die Produktion einer Lo-Fi- und Goth-Ästhetik und erzeugt damit einen Klangkörper (ähnlich einer Wasserleiche), der so etwas wie ein verwaschenes Spiegelbild der »Gloompop-Superband« Former Ghosts mimt. Mehr Lamento als Gesang, mehr 82 II28 83 28
MICHAEL GIEBL
Jaques Brel »My Death« Él/Cherry Red Eingestanden, es fehlt mir der Überblick zur Unzahl an Jaques-Brel-Zusammenstellungen der letzten fünfzig Jahre und daher an Möglichkeiten einer angebotsbezogenen Verortung. Da sich die von Cherry Red vertriebene Kompilation »My Death« aber wie eine Einführung zu Brel für den englischen Markt präsentiert (samt umfangreichem biografischem Abriss im Booklet) und unter den 27 Titeln aus den Aufnahmejahren 1957–59 »Ne Me Quitte Pas«, »La Vaise À Mille Temps«, »La Mort« oder »Les Flamandes« in ausbalancierter Tonqualität und mit drei starken Live-Aufnahmen vereint, kann man sie unter Berücksichtigung dieser Akzentsetzungen (sowie der gelungenen grafischen Gestaltung) nur empfehlen. MICHAEL GIEBL
G. BUS SCHWEIGER
Bushmans Revenge »Jitterbug« Rune Grammofon Was einmal als Mischung aus Black Sabbath und Albert Ayler bezeichnet wurde, findet hier eher die Entsprechung in einem Duett zwischen Jeff Beck, der von Elvin
HANS KULISCH
Caribou »Swim« Merge Um es mal ganz prätentiös zu formulieren: Fuck Buttons meet Pink Floyd, so ungefähr klingen die letzten zwei Alben von Caribou, wobei das neue mehr Elektronik und Einflüsse von (Deep) House, aufweist. D. h. viel repetitive Synthi-Einlagen, unendliche, jedoch sehr präzis gemachte Beats. Es ist an und für sich eine positive Entwicklung: Anstatt mehr solche tolle (fast feelgood-)Stücke wie »Melody Day« zu reproduzieren, erschaffen die Kanadier um den ziemlich genialen Dan Snaith herausragende, schweißtreibendtanzbare Songs wie »Odessa« oder »Sun«.
Weniger Melodie, dunkler, mehr Groove. Caribou wollten anscheinend ein wenig gegen die psychedelische Welle reiten und das ganze etwas simpler, dafür aber härter angehen als etwa ihre Konkurrenten für den Syd-Barret-Fan-Club-Vorsitzenden, MGMT (die sind eigentlich ganz ok), doch ihre Route ist anders. »Swim« funktioniert live auch unglaublich gut, das konnten sie bei ihrem Wien-Konzert im B72 beweisen, und eigentlich kann man von so einer Platte nicht mehr erwarten. Der Tour-Drummer Brad Weber (hat übrigens auch ein PsychedelicHouse-Soloprojekt) ist eine Wucht. Egal wo sie auftreten: Caribou können die Situation ordentlich einheizen, vor allem ist ihre Kombination von Live-Instrumentarium und Elektronik sehr gut gelungen, und somit ist die Platte auf den beiden Musikebenen lebendig: zu Hause und auf der Bühne. SAŠA MILETIĆ
Crazy Bitch In A Cave / Hard Ton »On Top-EP« comfortzone/Trost Keine schlechte Idee: Wenn sich der Mainstream immer wieder aus (queeren) Subkulturen die Ideen holt, wieso soll der Mainstream (also das, was sich so in den Charts tummelt) nicht auch mal so richtig durchresignifiziert werden? Denn was ringen all die queeren Versatzstücke (zwischen Madonna, Lady Gaga etc.), wenn sich am heteronormierten Regime nichts ändert. Hier und da eine ›Provokation‹ oder ein ›Skandal-Video‹ abfällt, aber sonst in schöner Regelmäßigkeit immer wieder fixe Identitäten (jenseits der kreativen Flexibilität und dem selten wirklich hinterfragten Spiel mit Maskeraden und wechselnden Kleiderschränken) eingefordert und postuliert werden. Crazy Bitch In A Cave (alias Patrick Weber) setzt genau hier an. Crossdresst R&B, Electropop, House zur »poor drag« D.I.Y-Disco (die auch ganz nahe an Vaudeville und Burlesk-Shows gebaut ist). Disco als Ort der großen, übergroßen Gefühle, die umgarnen, locken, verführen wollen und wo Jimmy Sommerville und Sylvester im Duett singen. Das Drama jedoch ohne Dramaqueeneskness auskommt. »On Top« ist der Himmel bekanntlich immer zum Greifen nahe. Sogar die Sonne erscheint als Glitzerkugel. Ein Teil der Kostüme für die Live-Shows stammt übrigens vom österreichischen Modekollektiv House Of The Very Islands. In diesem Sinne: »Let’s vogue!«
Empowerment. Ob die Weltscheide an sich rumspielt, scheint nicht zu interessieren. Es herrscht weder Überschwang, noch spritzt Testosteron. Hoffnung gibt es nicht und keine Freude; nicht als Kirchentagsbegriffe und nicht als Kulturtechniken. Vielmehr geht »Die Welt« auf Distanz zu derselben, igelt sich ein, verriegelt die Zugänge. Aber nicht ganz: Immerhin setzt sie noch seltsame Funksprüche ab, Morsezeichen einer Unvermittelbarkeit, die rechtschaffen verhärmt ist. Die Verhärmung ist jedoch positioniert. Sie ist das Ergebnis einer gescheiterten Beziehung zu eben jener Welt. Über allen Wipfeln herrscht hier kleinlautes Entsetzen, v. a. in den Texten, die in klassischer Post-NDW-AbsurdrockTradition von medizinischen Bademeistern, Unfallschutzvorschriften für den Arbeitsplatz oder Nebenparagraphen der Straßenverkehrsordnung erzählen. Dergleichen war mal lustig, zum Beispiel 1988, als TDS gegründet wurde. 2010 hat sich darum ein Trauerrand gelegt. TDS musste lernen, dass komische Texte auch nichts nützen. Niemand entkommt der Durchherrschtheit von Pop, die nur eine Dependance der allgemeinen Durchherrschtheit ist. Klassische Nischenmusik, wie TDS sie als Band und als Mikrokosmos aus noch merkwürdigkeitsbeseelteren Seitenprojekten spielen, ist in jene umfassende Akkumulationskrise geraten, die auch das symbolische Kapital erfasst hat. Die alte Sicherheit und Übersichtlichkeit der Nische klingt nicht mehr gemütlich oder Off-idyllisch (wo sie es dennoch tut, z. B. bei vielen anderen deutschen Weirdogruppen vom äußersten Wahrnehmungsrand, ist sie nur noch Schrebergartenarbeit). Auf »Die Welt« wälzt sie sich schlaflos in jenem Bett, dass sie sich selbst ist. Es gibt hier eine vibrierende Leerstelle, die nach außen gestülpt wird. Schon auf früheren TDS-Platten gab es diese Beklemmung, aber auf »Die Welt« scheint sie alles Launige und Lustige verätzt zu haben. Sie hat abgefärbt auf die Can- und Neu-Paraphrasen mit dem künstlichen Hüftgelenk, die Butthole-SurfersMittelphase-Devotionalien, den gelegentlichen SYPH-Groove (nach der Czukay-Behandlung), die Swell-Maps-Anfälle und die The-Fall-Attitüden in Sound und Gestus. Das macht die Welt zwar noch längst nicht zur Scheide, aber »Die Welt ist eine Scheide« zur bislang besten TDS-Platte. Bezugsquelle: brandstifter@kunstzwerg.net FRANK APUNKT SCHNEIDER
DIDI NEIDHART
The Dass Sägebett »Die Welt ist eine Scheide« Declaration of Santo Wenn die Welt eine Scheide ist, wie diese Platte behauptet, so geht davon kein phallozentrisches Mandat mehr aus. Ebenso wenig Geilheit oder altfeministisches
Dirac »Phon« Valeot Records Oops, I did it again: Ist das eine grafische Partitur, in Silberdruck auf schwarzem Recycling-Karton? Im Jahr 2010? Dirac ist ein Trio (oder Kollektiv?), das sich verschiedenen zeitgenössischen Musiken und Praktiken verschrieben hat und eher
auf Interpretation, Timbres und vermutlich auch Prozesse fokussiert. Dafür bin ich aufgeschlossen, wenn ich auch immer das Gefühl habe, dass solche Versuche irgendwo in den frühen 1960er-Jahren steckengeblieben sind und sich seither nicht wirklich weiterentwickelt haben, wo immer der Weg auch hinführen soll. Offen gestanden, ich sehe auch keine Notwendigkeit, wieder solche Alben zu machen. Das Problem ist für mich dabei immer dasselbe: Wenn man seine Arbeit nicht aus einer distanzierten Perspektive betrachtet, riskiert man, dass für Leute, die mit der Materie nicht vertraut sind, alles gleich klingt. Moderner Tanz schaut dann aus wie jeder andere moderne Tanz, eine konzeptuelle Arbeit ebenso, und bei der experimentellen Musik ist es nicht viel anders. Eine letzte Frage: An wen richtet sich diese Musik? (Ich möchte nicht urteilen, ich frage nur.) NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR
Dollhouse »Rock’n’Roll Revival« Playground Music Authentizität in der Rockmusik war schon immer eher eine fragliche Sache. Sollte Musik überhaupt authentisch sein? Ist Bob Dylan eigentlich authentisch? Was ist mit David Bowie? Man könnte das den ewigen »quest for authenticity« nennen, der die Rocker seit jeher plagt und nicht loslassen will. Dollhouse haben sich auch dieses Ziel auf Stirn und Albumcover geschrieben und viel Blues & Soul in die Scheibe einfließen lassen, und die Stücke wie »Free Your Soul To The Music« oder »Rock And Soul Forever« reden ihnen aus der Seele. Die vier Jungs aus Schweden wollen auch eine Brücke nach Detroit schlagen, was sehr lobenswert ist,
und versuchen, die rohe Kraft von MC5 und The Stooges wiederzubeleben. Und es gelingt ihnen teilweise. Es besteht jedoch die Gefahr, dass das Ganze mit der Zeit in Rockhymnen ausrutscht, ohne dem dreckigen Motorcity-Frust oder dem dazugehörigen Blues richtig nahezukommen. Der Versuch, authentisch zu sein, scheitert hier nicht ganz, aber das Authentische muss nicht immer echt sein und auch nicht ständig behaupten, dass es echt sei. Es sollte eher ein kreativer Zugang gesucht werden. Und nicht nur Spritzen, die das Rock’n’Roll-Beast am Leben halten sollten, in dem man es zuerst für tot erklärt, um es dann wiederauferstehen zu lassen in einer eher künstlich inszenierten Prozession. SAŠA MILETIĆ
Dota & Die Stadtpiraten »Bis auf den Grund« Kleinprinzessinen Records Eigenartig verhält es sich mit diesem Album: Man will einfach nicht so recht warm werden damit. Zu gespreizt erscheinen die Texte anfangs, dasselbe gilt für den Gesang von Bandleaderin Dota. Zu wenig in die Tiefe scheint die Stimme zu gehen. Doch beim ca. zehnten Durchlauf beginnt man zu verstehen, und plötzlich verkehren sich die zunächst banal scheinenden Texte in witzige Anekdoten, gespickt mit kleinen Lebensweisheiten: »Es geht nicht um ein Stück vom Kuchen, es geht um die ganze Bäckerei.« Mit der Zeit hat man sich dann auch an Dotas Sprechgesang gewöhnt und lässt sich ein um das andere Mal einlullen – dann: eigenartig schön dieses Album. JÜRGEN PLANK
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Dunkle Dröhnkammern, psychedelische Sommersounds Vier Mal neues Material des Hamburger Labels Dekorder, alles in formschönem Vinyl. Auftakt mit Kirchenglockengeläute: John Twells aka XELA kartografiert auf »The Devine«, dem zweiten Teil einer mit »The Illuminated« begonnenen, spirituell beeinflussten Trilogie, die sonischen und rituellen Qualitäten einer Kirche. Begleitet vom paradigmatischen Klang der Glocken werden hier mit Elektronik und Fieldrecordings Gesprächsfetzen ineinandermontiert, und die bis zur Unkenntlichkeit verfremdeten Chorgesänge auf der zweiten Seite legen Stimmungstexturen à la Organum
frei. Recht bald hat man in diesem extrem dichten Geflecht die Orientierung verloren. • In eine ähnliche Kerbe schlägt »L’Opus L’H« des Niederländers RAYMOND DIJKSTRA, ebenfalls zweiter Teil einer Dreierserie namens »The Advantages of Schizophrenia«. Düstere Welten aus Orgel, Tuba, Tape-Echo und Metallgeräuschen ziehen vorbei, das hier ist beste surrealistische Musik in der Tradition von Nurse With Wound oder HNAS. Eine Platte, die die Hörgewohnheiten ordentlich durcheinanderwirbelt, um zu den versteckteren Arealen der Psyche vorzudringen. • Ziemlich anders dagegen das
selbstbetitelte Debüt von IIBIIS ROOGE und »Youth Culture Index« von KING KONG DING DONG. Die neue Band der obskuren Musiker High Wolf und Neil Campbell spielt sich durch Krautrock-infizierte Psychedelikstimmungen, die z. B. an Flying Saucer Attack oder auch Trans Am erinnern, eingebettet in heimelige Stimmungen zwischen reduzierten Beats und im Raum stehen gelassenen Gitarrenwänden. »Iibiis Rooge« ist ein recht luftiges Album mit einer ordentlichen Prise Pop, Musik für Schwebezustände. Auf die Spitze getrieben werden diese Ansätze auf dem ersten Fulltime-Al-
bum der aus Philadelphia stammenden King Kong Ding Dong, die von mir einen Bonuspunkt für den durchgeknalltesten Bandnamen seit Langem bekommen. In charmanter Super-Lo-Fi-Soundästhetik quengeln sich die fünf Musiker durch elf Nummern, die beim kaputten Folk eines Cpt. Beefheart genauso vorbeischauen wie bei wunderbar kitschigen Songarrangements und verstimmten Gitarren. Als wenn’s ein Jam während der lazy days im Sommer wäre, schon konzentriert, aber ziemlich entspannt das Ganze. Alle: Dekorder/A-Musik. HEINRICH DEISL
duo Contour »s/t« Wandelweiser/EWR Strenge Schönheit: duo Contour – der englische Trompeter Stephen Altoft und der amerikanische Schlagzeuger Lee Ferguson Forrest – interpretieren auf dem neuesten Album aus der Edition Wandelweiser Kompositionen von Jürg Frey und Antoine Beuger. Die CD beginnt mit Freys »22 Sächelchen«, einer Reihe von 22 Kürzeststücken. Sie tragen Titel wie »Abendlied«, »Cadillac«, »Der Photograph« usw. Das Album beginnt mit weichen Trompetensignalen, dem ein langes Schweigen folgt. Zerbrechliche Klänge werden freigesetzt und gehören ganz der gewohnten Wandelweiser-Subtilität an. »A Melody For William Street« dauert dreißig Sekunden lang und umfasst acht absteigende Trompetennoten – scharf und laut, insgesamt sechs Mal, während ein Trommelwirbel auf eine Snare-Drum rasselt. Gerade jenes Stück scheint das in sich geschlossene System der mehrheitlich sehr ruhigen Kompositionen aufzubrechen und endet so schnell, wie es flüchtig aufleuchtet. Die 22 Miniaturen beinhalten kleine Monologe und jazzige Melodien, wenn man so will: musikalischer ›Krimskrams‹. Doch mit welch intensivem Gefühl der Strenge und ausgeprägtem Sinn für Präzision – in aller Klarheit, so wie die Musik gespielt wird, so wie die Instrumente zueinander positioniert sind, selbst dann, wenn es manchmal schwer einsehbar ist, wie die Stücke zueinander liegen. Fast 34 Minuten dauern die »Dedekind Duos« von Antoine Beuger. Der Booklet-Text bezieht sich auf den Mathematiker Richard Dedekind (1831–1916) und erinnert an seine Theorie über die »eindeutige Zerlegbarkeit der Ideale in Primediale im Ring der ganzen Zahlen eines algebraischen Zahlkörpers«. Mögen bei Freys Musik ab und an musikalische Überraschungen auftreten, so bleibt Beugers Musik konsequent statisch und ist gerade mal genug wahrnehmbar, um leise Veränderungen der Luftfarben zu erkennen, etwa auch dann, wenn ein leises Vibrieren der beiden Instrumente im Folgenden
die Töne wie mathematisch zuzuordnen scheint. Auch hier ist die Komposition makellos ausgeführt und atemberaubend präzise gesetzt.
sagen: »Nimm es, trink es, hau’s dir rein, kill dich, alter Brite. Aber bitte mach noch eine Tour für uns. Denn wir möchten knien vor dir und dich knarzen hören«: »You don’t deserve rock’n’roll«. Yessss!
Der Erstling »An meinem Fenster wachsen Blumen« war weniger artifiziell, und hätte sich mehr Beachtung verdient. Dieses hier, nun ja, warten wir, was der Sommer bringt. Oder die Disco.
ALICE GRUBER
ALICE GRUBER
Feloche »La Vie Cajun« Ya Basta Ya Basta, das feine Gotan-Project-Label, ist immer für Neuentdeckungen gut. Feloche gilt als die neue französische Sensation, begleitet von einer fünfköpfigen Band, darunter die Multiinstrumentalistin (Akkordeon-Trompete-Samples) und voluminöse Sängerin Léa Bulle. Die Franzosen präsentieren eine metropolitane Interpretation des Cajun, verquickt mit Blue Grass und Chanson. Feloche ist aber kein Traditionalist, sein Mandolinenspiel dockt an Althergebrachtes an, sein Bricolagestil und Gesang klingen aber voll und ganz nach 21. Jahrhundert. Mitreißend.
Films »Messenger« Noble Musik wie ein Film, der Bandname passt natürlich perfekt. Die Musik mäandert zwischen Klassik, Minimal Music, Electronica und Ambient und ordnet sich nirgends wirklich ein. Die Einspielung basiert auf einem imaginären Märchen, und klassische Instrumente wie Piano, Geige, Cello sowie eine tief im Mix stehende weibliche Stimme geben der Musik einen märchenhaften Charakter. Am besten anzuhören nach der Dämmerung.
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MICHAEL HEISCH
The Fall »Your Future Our Clutter« Domino Records/Indigo Der Mann säuft zuviel. Nichts neues, aber für das Debüt bei Domino, scheint so. Wurde noch ein Zahn verloren, heftig einer nachgeladen, und, zwo, vier losgelallt. Anzunehmen, dass Smith mit den fertigen Musikaufnahmen im Studio machen durfte, was er wollte. Weil den hält doch keine Band mehr aus, wohingegen er diese aktuelle Band für die beste hält, die er je hatte. Harhar, glaubt dem Bastard kein Wort! So macht man Punk-Karaoke, Herrschaften, lass deine Songs einspielen, quäl’ dich durch mehrere nordenglische Studios und pfeif ihnen den Marsch. Das alles wäre ja keinen Cent wert, ehrlich, ein weiterer alter Mann, der das Ende seiner Leber öffentlich macht, wenn das Ding nicht arschkalt rocken würde wie Sau. Wie arrogante Sau. Wie Mark E. Smith Sau. Der »O.F.Y.C. Showcase« ist ein Opener-Song, wie ihn sich wenige Platten erlauben. Der absolute Oberhit zu Beginn, Schlagzeug zuerst, Bass steigt ein, oha verzerrt, dann klassische Rock’n’Roll-Riffs, und über dem schimpft der Alte wie ein rachitischer Rohrspatz. Für »Bury Pts1+3« haben sie ihn dann mit der Technik spielen lassen, derselbe Song dreimal in einem, erst verzerrt, dann keyboardlastig mit rülpsendem Smith, dann ganz klar bombastisch mit des Alten Predigerstimme. Die deutschen Schmerztabletten nach einem Beinbruch haben dies vollbracht, informiert Domino. Der Song sei denselben Weg wie Smith gegangen, vom Schmerz zur Heilung. Per aspera ad astra dank der Krauts. Soll sein. Wenn Pharmaindustrie und Alkoholmissbrauch ein derart kompakt rauhes, hart geriffeltes, in sich geschlossenes Album zu zaubern vermögen, stehen wir nicht an zu
HANS KULISCH
Festland »Welt verbrennt« Zick Zack/Hoanzl Die Melancholie ist zurück am Dancefloor. Morgens in den Discos, also in jenen seltsamen Themenlokalen, die diesen Namen noch führen, soll diese Platte gehört werden. Wenn alle abgeschleppt sind, die das wollten, und jene blieben, die wider die Müdigkeit Gegenwehr betrieben. Wenn das Personal langsam durchatmet, und die Lichtshow auf Orange stehen bleibt. Wenn der letzte Gockel noch immer versucht, eine Henne zu finden, und irgendeine von außerhalb weitertanzt, soll Festland auf Durchlauf spielen. Sonst vielleicht nicht so. Die drei Essener mixen das Setting Schlagzeug, Bass, Keyboard, Gesang auf eine sehr eigentümliche, verhaltene romantische Art, die nicht jeder großen Hütte standhält. Das ist auch nicht die Intention. Deutsche Texte in stiller Subjektivität, dekonstruktive DiscoElemente mit repetitiver Beatstruktur und klassischem Songaufbau sind mehr was für den Nachhauseweg als für das Eintanzen.
HANS KULISCH
Flying Lotus »Cosmogramma« Warp/Rough Trade Man ist ja durch vieles leicht zu beeindrucken als Musiker, aber durch Musik eben nicht. Und wenn man eine Platte zwanzig mal durchgehört hat und sie einem immer noch nichts sagt, dann stimmt irgendetwas nicht. Mit »Clock Catcher« startet das Unternehmen ja verheißungsvoll technoid, aber leider nur ca. acht Takte lang. Dann ertönt »Tantchens Harfe« (Track 15 nennt FlyLo referentiell auch gleich selber so) als Hinweis, dass hier das jüngste Mitglied der Coltrane-Family am Werke ist. Haben wir ohnehin schon zigmal gelesen. Sehr schön jedoch das analoge Kratzen an einer Stahlsaite, bevor die Harfe wieder übernimmt. Ähnlich im Aufbau geht es weiter: Ein solider D’n’B-Loop beginnt, bevor ein hoher Anspruch mit jazzigem Genudel am Bass übernimmt. Der Bezug zu »kosmischem Jazz« der frühen 1970er, etwa Hancock in der »Crossings«- und »Sextant«-Phase (oder auch zu Alice Coltrane), ist durchwegs zu hören, wird beim Hören auch vorausgesetzt (was ja okay ist). Aber die Kürze der Songs macht hier einen Strich durch die
Rechnung. Wenn sich bei Hancock & Co. damals ein Track (oft) schmerzhaft lang über eine gesamte LP-Seite entwickelte, und dem Hörer ein Mitgehen auch über eine Schwelle (oder mehrere) abverlangte, so ist bei »Cosmogramma« meist nach weniger als drei Minuten Feierabend. Hier scheint man eher Demos zu vier bis fünf Cosmic-Jazz-Alben zu hören, Songs in der Komprimierung, Jingles von ganzen Plattenseiten, mit allerdings teilweise echt hippen Namen wie »Zodiac Shit«, »German Haircut« oder »Dance Of The Pseudo Nymph«. Aber alles zu hektisch und teilweise zu infantil verspielt, um »free« zu sein. Bei »Computer Face/Pure Being« startet FlyLo cool mit einem Raymond-Scott-mäßigen Coyote-vs.-Roadrunner-Loop, bevor es dann doch wieder zu viel des Guten wird. Vieles erinnert dabei an südkalifornische ExoticaKomponisten wie Russ Garcia oder Les Baxter (die hier jedoch nicht mit Interpreten wie Martin Denny oder Arthur Lyman zu verwechseln sind). Es gibt Hints auf Frank Zappa (gepitchte Vocals) in der Phase von »We’re Only In It ...« oder »Lumpy Gravy«. Die südkalifornischen Beach Boys mit einer Kassettenkopie der 13. Generation von »Smile!« schimmern auch durch. Einen Exkurs über Hauntology und Hypnagogic Pop tue ich mir und dem Leser aber nicht an, ich muss morgen die Reifen wechseln. Fast am Schluss taucht dann mit »Recoiled« endlich Dubstep auf (der Mann veröffentlicht ja auch auf Hyperdub), aber bevor es richtig gut wird, muss wieder Tantchens Harfe ran, und das Arrangement wird zu dem, was junge Männer wohl für »Carmina Burana« halten. Das Cover bringt ganz gut auf den Punkt, was hier falsch ist: Designermystik in mpg3-tauglicher Qualität (die Attacke am Kompressor ist durchgehend zu lang) ist nicht kosmisch. GARY DANNER
Food »Quiet Inlet« ECM/Lotus Das Duo Food, bestehend aus Thomas Stronen und Iain Ballamy, wird hier unterstützt durch Nils Petter Molvaer und Christian Fennesz. Enthalten sind LiveAufnahmen vom Molde Festival und vom Bla Club aus den Jahren 2007 und 2008. Dies ist bereits das sechste Food-Album und birgt open ended Improvisationen, immer im Kontext von Foods Prioritäten. Melodisches Musikantentum, das Erforschen von Soundkomplexen und Mustern treffen auf akustische Aspekte durch die Verwendung von Glocken, Trommeln, Gongs etc. Live-Sampling kommt als zusätzliches Element dazu. Die Ausdrucksmöglichkeiten reichen hier von minimalistisch bis turbulent. Geschmackvoll wie es sich für eine ECM-Produktion ziemt und von unbändiger Spiellust. HANS KULISCH
Terry Fox »The Labyrinth Scored For 11 Different Cats« Choose Records/A-Musik Fuchs muss man heißen, um drauf zu kommen, dem Schnurren von Katzen ein Denkmal zu setzen. Der 2008 in Köln verstorbene US-Künstler Terry Fox hat bereits wichtige Arbeiten veröffentlicht, als die Begriffe Sound Art oder Audio Art noch relativ unbekannt waren. Nun, dieses »Labyrinth«-Werk, 1977 noch mit Tapes generiert, ist zusätzlich inspiriert von der Struktur eines Labyrinth, das Fox auf dem Boden der mittelalterlichen Kathedrale von Chartres für sich entdeckt hat. Fox kombiniert die 552 Stufen, 11 konzentrischen Ringe und 34 Wechsel des Bodenmosaiks zu einer irrlichternden Komposition von Katzenschnurren. Diffizil unterscheiden sich die Schnurrsounds und verdichten sich auch mal zu einem Katzenorchester. Die Resonanz ist beeindruckend und nur böse
Zungen, die nicht gut hinhören, könnten manches auch als Schnarchen auslegen. Freuen wir uns also auf weitere Nachfolger dieser Vinyl-LP, auf mehr verschlagene Audio Art aus dem Sound Studio der Kunsthochschule für Medien Köln, wo Fox 2003 diese digital aufgenommene SchnurrVersion produzierte. ALFRED PRANZL
Erik Friedlander »Alchemy« Hrönir/A-Musik/Metamkine Vorgaben: Der amerikanische AusnahmeCellist Friedlander, gemischt von Scott Solter (Soundengineer von Fred Frith oder Zeena Parkins), das Mastering von Basic Channels Rashad Becker und das alles auf einer satten 10“-EP. Auf »Alchemy« packt Friedlander in sieben skizzenartigen Minia-
turen schwerst romantisch-intime Gefühlstimmungen aus, wie sie sich etwa bei »Block Ice & Propane« (Skipstone, 2007) abgezeichnet hatten. Er braucht nicht mehr als einen Sampler und sein Cello, um tagträumende Launen voll leidenschaftlicher Entschleunigung aufzuziehen. Wie nicht anders zu erwarten, wuselt und wuchert es unter dieser Oberfläche, Komplexität kam mir schon lange nicht mehr so leger und entspannt vor. Kurz und einfach: Pflichtplatte, mit »!«. HEINRICH DEISL
Funki Porcini »On« Ninjatune/Hoanzl Funki Porcini ist das Pseudonym des englischen Musikers, Produzenten und DJs James Braddell. Er kombiniert Down-
Neues genetisches Erbe »Genotypes« (Genetic Music) gleicht einem Mixtape für Intimfreunde des New Wave. Die Jubiläumszusammenstellung von Genetic Music vereint einige der schönsten Synth- und Minimal WaveSongs aller Zeiten (von Ciaran Harte, Steven Grandell, Cinema 90, Seppuku) mit jüngerem und noch seltenerem Material (von Alive She Died, Jessica Denton & Patrik Fitzgerald, Dr. Numa) aus allen Himmelsrichtungen (Belgien, Deutschland, Griechenland, Japan, Neuseeland, Niederlande, Schweden, UK, USA) der Tape- und Vinylwelt. Was mir hier nicht Neuentdeckung ist, ist mir Herzblutnummer. So einen Reichtum an Hörvergnügen muss man mit echten Freunden teilen. Vielen Dank, Genetic Music! Noch mehr aus dem unerschöpflichen Kassettenerbe:
Mit der Veröffentlichung »More Decisions« (Genetic Music) sind die Songs der Synthwave Band HIDDEN AGENDA aus Santa Barbara, CA, Jahrgang 1983, zum ersten Mal auf CD erhältlich. Ungeachtet zeitgeistiger ›Entfremdungstexte‹ (Living in Hollow, Freeze Up) klingt das vertraut beschwingt und erinnert an Kollegen wie Our Daughter’s Wedding aus New York oder Rational Youth aus Montreal. Neben vier unveröffentlichten Tracks stehen vier überarbeitete Tapeaufnahmen mit dem genrebekannten Mark Lane als Gastmusiker am »Electro-Harmonix Keyboard«. Eine vor allem für Liebhaber und Spezialisten des ›amerikanischen‹ Wave unumgängliche Erst-/Wiederveröffentlichung. • Zeitgenössisches aus den Staaten kommt von NINA BELIEF. Ihr »System Of Belief«
(No EMB Blanc/Genetic Music) besteht aus den Elementen Roland, Korg, Casio und Juno. Nina Belief schreibt, singt und spielt als Solokünstlerin im Geiste der Wiederaufarbeitung der synthetischen Welle, der derzeit vor allem das in den USA rotierende Paralleluniversum aus »Wierd«- und »Minimal Wave«-Records in Gang zu halten scheint – und ist damit jetzt schon eine der bedeutendsten Beitragenden der nostalgieautonomen Wave-Szene aus Übersee, »Identity Crisis« ihr erster Clubhit. Kalte Elektronik für einen neu aufgelegten DIY-Glauben – »This isn’t the future right now«. Des Vertriebs ihrer beeindruckenden 10‘‘-Platte hat sich das deutsche Label zu Recht engagiert angenommen. Watch out for more, believers. • Als Belgrader Band stehen SIXTH JUNE in
gedachter Erbschaft zu Novi-Val-Legenden wie Videosex, Denis i Denis, Luna, Paraf oder Max i Intro. Nicht zuletzt aufgrund der englischen Texte positionieren sie sich mit ihrer LP »Everytime« (No EMB Blanc/ Genetic Music) allerdings näher an der britischen Tradition des Synthpop – und damit an Zeitgenossen wie Ladytron. Das macht »global gedacht« (und wer weiß aus welch sonstigen Gründen?) freilich Sinn, verringert andererseits einen (womöglich schon zu oft eingeforderten?) ›Originalitätswert‹. Hier lässt sich noch zu gewagteren Eingriffen ins klassische Erbmaterial ermutigen. Bleibt nur noch auf die nächsten zehn Jahre Genetic Music zu hoffen! MICHAEL GIEBL
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beats, Filmmusik und Jazz mit HipHop und vielem mehr. Braddells 1990er-Alben »Headphone Sex« oder »Love, Pussycats & Carwrecks« zählen heute zu den Klassikern des TripHop-Genres und beeinflussten nachhaltig Acts wie DJ Shadow oder Boozoo Bayoo. Auf »On« kombiniert James wie gewohnt unterschiedliche musikalische Stile – wie eben Filmmusik, Jazz und Elektronik. Bemerkenswert: der Opener »Moog River« als gelungene Hommage an Robert Moog und Henri Mancini. HANS KULISCH
Gogol Bordello »Trans-Continental Hustle« American/Sony »Live From Axis Mundi« (CD/DVD) SideOneDummy/Trost Der Triumph des Spektakels über die Substanz. Die technoide Simulation der Ekstase, genau das, was Kraftwerk weiland in den Achtzigern verarschten, als sie Schaufensterpuppen und Roboter als Musiker-Simulakrum statt sich selbst auf die Bühne schickten, ist längst der grundelementare Baustein des Pop. Casting-Bands, Download-Entwertung der Kreativware Song, oberflächenfixierte YouTube-Präsenz, Alternative-Mainstream-Image-Design, Tarantino-gestylte Zitat-Komposition im musikalischen Google-Allwissen, all das bedingt die Mechanisierung der Ausdrucksform Musik in Sound- und Vision-Key Departments, wo der Song selbst zum prekären Gut verkommt. Gogol Bordello haben wenigstens auch noch authentischen Schweiß. Als führender Rammbock der Globalista-GypsyPunk-Bewegung ist es aber auch nur mehr Kraft und Furor voller Fideln, Polka, »Oy Oy Oy«, brutalen Samba-Synkopen und Headbanger-Humpta-Power-Riffs. Sandinista-Clash, randvoll mit Schnaps und Shouten, aber auch ohne Weg und Ziel wo der Sechzehntonner hinrollen soll. Der ist mittlerweile beim Major, Produzentenlegende Rick Rubin angelangt, aber auch nur proteinlose Appendix-Ware zum Verkaufsargument Live-Erlebnis. Und da ist man beim abschließenden Indie-Auftritt mit einer Live-DVD wesentlich besser belohnt. Bitte, bitte, bitte wann holt die Musikbranche ihre Großmutter aus der Pfandleihe zurück? PAUL POET
Greie Gut Fraktion »Baustelle« Monika Enterprise/Indigo Sympathisch am öffentlichen Raum ist wenigstens das eine: Gebaut wird immer, selbst bei schlechtem Wetter und fortschreitender Akkumulationskrise. Die Stadt de- und rekonstruiert sich in Permanenz. Sie ist nie fertig und produziert dabei Geräusche, Installationen und Störungen – des Verkehrs, der Ruhe oder der 82 II32 83 32
Identifikation – in denen das alte utopische Versprechen des Urbanen überwintert: Werte und Identitäten zu pulverisieren. Die neuen großstädtischen Milieus wollen davon natürlich nichts wissen. Ihre Stadt soll ein infrastrukturell aufgewertetes Dorf sein. Das antibürgerliche Pathos der Baustelle fiel erstmals den Postpunks während ihrer psychogeographischen Lehr- und Wanderjahre auf. Bands wie die Einstürzenden Neubauten sampelten sie, indem sie sie zwecks Instrumentenbeschaffung plünderten. Nur klebte der klassische Baustellenindustrial noch an bürgerlichen Kunstideen (Entäußerung, existenzielle Befindlichkeiten, Überwältigung). Der hypnotische Baulärm der Neubauten war immer auch: kruder Realismus, verrußte Romantik und schlecht bemäntelte Zivilisationskritik. In ihm kondensierte sich der Niedergang, von dem bürgerliche Kunst seit jeher träumt. Die neuen Betonkinder waren oft nur invertierte Blumenkinder und die Antihippiehaltung war reichlich hippiesk. Gudrun Gut war Mitglied der Neubauten, noch bevor sie Mania D. und Malaria! gründete. Als Greie Gut Fraktion (mit Antye Greie, Ex-Laub) bearbeitet sie 2010 Fieldrecordings von Baustellen, nicht als schwere, dröhnende Zeichen, sondern als Ausgangsmaterial für discoiden Future Funk. In ihrer Post-NDW-Sozialisation (u. a. als Betreiberin des Monika-Labels) hat sie sich mit der besonderen Funktionsweise von Disco, House und Dub vertraut gemacht. Ihre Baustelle ist von daher eine universelle Metapher: für das Ästhetische, für den Track und für subkulturelle Symbolpolitik. Sie isoliert Ähnlichkeitsbeziehungen zum historischen Konstruktivismus, zu Pop als »Mischmaschine«, zu queerer Bauarbeitererotik und zu einer Entfremdung, die nicht mehr die der Neubauten ist (wo ja immer ein letzter Rest »Sozialkundeunterricht« mitschwang). Sie ist jenes ekstatische Moment, das Soul, Disco und später House daraus destilliert haben: kein Verlust, sondern ein Club. Die im Bau befindliche, also entstehende und gleich wieder vergehende Stadt ist ein Track, leicht, flüssig, kristallin. Das ist sehr undeutsch gedacht und ein Zeichen gegen das fertig Gewordene als kleinbürgerliches Glücksmoment, sei es im eigenen Wohnzimmer, in 1981er Kaputtheit oder aktuell im neuen deutschen Subjektrock. FRANK APUNKT SCHNEIDER
The Herbaliser »Herbal Tonic (Best Of)« Ninjatune Jake Wherry und Ollie Teeba lieferen hier ein best of aus der mittleren Phase der Ninjatune-Ära (1995–2005). Diese reicht vom Debüt »Remedies« bis zum letzten Album für Ninjatune: »Take Care, London«.
Sie kombinieren ihre Liebe zu HipHop, Jazz und Sixties-Filmsoundtracks in eine cinemascopehafte Vision zu einem Beat, der gleichzeitig roh und intelligent ist. Die Auswahl an Mitwirkenden war immer von tiefem Verständnis für die Kunst des Rappens geprägt. Von Jean Grae (ExWhat-What), die mit ihnen auf fünf Alben zusammenarbeitete, bis zu MF Doom und Roots Manuva reicht die Palette. Seriöse Arbeit. HANS KULISCH
Matthew Herbert »One One« Accidental Records Herbert in seiner Rolle als Soloartist. »One One« ist der erste Teil einer Trilogie, die Tracks sind nach Orten benannt. Herbert gibt hier den sanften Crooner, und so intim begegnet man ihm selten. Gegen seine anderen Arbeiten mit Dani Siciliano oder seine Jazzversuche wirkt das etwas blutleer. Zu kraftlos kommt seine Stimme rüber. »Leipzig« ist hier das lauteste Stück, aber auch das ist im Vergleich zu aktueller neuer Musik eher ein Füller. Es gibt filigrane Arrangements, die gut anzuhören und für Produktionsfreaks interessant sind, aber im Ganzen ist das eher als Einblick in das breitgefächerte Schaffen des unermüdlichen Genies zu sehen. HANS KULISCH
Matthew Herbert »Mahler Symphony X – Recomposed by Matthew Herbert« Deutsche Grammophon/Universal Erinnern Sie sich noch an die Veröffentlichung, auf der Karajan der Orchesterversion von Schönbergs »Verklärter Nacht« den Garaus machte (als Cover gab’s Wolken auf blauem Himmel)? Auch das war Deutsche Grammophon. Das Picasso Car Syndrom: Sting greift zur Laute und spielt Barockmusik. Was bedeutet hier eigentlich »rekomponieren«? Eine Antwort fällt schwer. Kann ich sagen, dass ich noch immer jede Klang- & Lichtshow von und mit Jean-Michel Jarre den meisten Produktionen von Matthew Herbert vorziehe? Ich hab’s gerade gesagt. Herbert ist für mich schon immer eine Art Marke gewesen, die alle Arten und Formen von »urbanem Spektakel« und anderen Jubiläen (Markteinführung von Autos, Eröffnung neuer Gebäude, Telekom-Pauschalangebote usw.) in sich fassen kann. Sein Name bürgt natürlich immer für einen ziemlich hohen Standard der Aufführungen, Orchester, Shows und einen extraschicken & grandiosen Touch. Doch abgesehen davon, was ist seine eigene Musik? Gustav Mahlers zehnte Symphonie? Ich muss sagen, hier wird etwas gehörig durcheinander gebracht. NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR
Ige*Timer »Ice Cold Pop« Everest Rec./Godbrain Reiseerinnerungen gehen auch so: Auf ihrer Konzerttournee durch Baltimore, New Orleans und Philadelphia haben Klaus Janek/ Simon Berz sozusagen den Klangrecorder mitlaufen lassen und präsentieren auf »Ice Cold Pop« einen akustischen Zusammenschnitt dieser Eindrücke. Janek, klassisch ausgebildeter Kontrabassist mit Faible für Electronica, und Berz, Schlagzeuger und DIY-Elektroniker, umreißen Klanglandschaften, die bei, sagen wir mal, elektronischem Jazz genauso vorbeischauen wie bei Elektroakustik, reduziert pulsierende Beats, Schabgeräusche, elektromagnetische Entladungen und freifließende Assoziationen Richtung Improvisation geben den Ton an. Was diese Platte zur formschönen VÖ macht, ist: Gatefold-Cover, Vinylplatte und der begleitende Fotoband der Filmemacherin Michelle Ettelin, deren Bilder, ebenso wie die Musik, Randbereiche bekannter Blickwinkel auslotet und dabei oft zwischen Kargheit und Intimität pendelt. Am Ende von »New Orleans« und bei »Baltimore« ist dann auch treibende Intensität angesagt. Schwer ambitioniertes Machwerk. HEINRICH DEISL
Jakuzi’s Attempt »III« Markus Steinkellner »Urban Loritz Jam« (DVD) Beide: Wire Globe Recordings Präzis gemeißelte Kolosse. Hier wird noch heftig Noise fort- und in Melodie übergeführt, wie gleich im Intro mit »Whisper«. Entäußerung folgt schleichendes Grummeln, ehe wieder die metallische Noisekeule angezogen wird. Großartiger Songaufbau jeweils auf dieser kurzen EP. Länger improvisierten am 4. Juli 2009 J.A.-Gitarrist Markus Steinkellner und Andreas Tschernkowitz zwischen 4 und 7 Uhr morgens auf dem Dach der Hauptbibliothek Wien zu den Klängen der erwachenden Metropole. Gitarrenfeedbackdröhnen schält sich aus der beginnenden Morgendämmerung, Steinkellner schabt mit einem Drumstick über die Gitarrensaiten. Es wird hell. Dahinter die Mauer zum Dach samt Firmament, welche als Projektionsfläche dienen. Darauf zeichnet sich die morgendliche Rush Hour ab, Taubenschwärme fliegen. Nach einer Rückblende zum Morgengrauen der Bruch mit gelben, dann weißen Fragmenten … Zooms über die Dächer, hinunter zum Urban-Loritz-Platz. Mehr und mehr Menschen strömen, ein Zeitungsverkäufer bezieht seinen Standort … Regisseur Stephan Schwarz ist es gelungen, urbanes Sommermorgenfeeling einzufangen, wozu die E-Gitarren dank Effektpedalen ihr Übriges tun. Guitar Ambient Drones als Stimmungsseismograf. ALFRED PRANZL
James Chance & Terminal City »The Fix Is In« Le son du Maquis/Harmonia Mundi/ Broken Silence In den allerletzten Tagen des Dezember 1979 schrieb Lester Bangs einen Text, der zwar kaum beachtet wurde, aber meiner Meinung nach einen entscheidenden Wendepunkt in der Musikgeschichte & dem Verständnis für Musik markiert: »Free Jazz/Punk Rock« (das lässt sich ganz leicht googeln) – James Chance, Lydia Lunch (Teenage Jesus & The Jerks), D.N.A. (Arto Lindsay), Robert Quine (Richard Hell & The Voidoids), Max’s Kansas City, CBGB, Lou Reed, John Cale … »The Fix Is In« scheint eine Aufnahme jüngeren Datums zu sein (wohl aus dem Jahr 2010, aber darüber ist im Booklet nichts vermerkt, Mist!). Und wieder einmal schleudert Chance einige Paradoxa in die Luft und schlägt ein neues Kapitel auf. »Terminal City« steht passenderweise für die neu formierten Ex-Contortions (zwischen Bayou-Jazz und umstrukturiertem Buddy Holly). Jahre sind vergangen, was auch zu hören ist, in diesem Fall aber heißt, dass Chance herangereift ist wie ein edler Wein, wie ein später Screamin’ Jay Hawkins, Slim Gaillard oder Dick Dale. Auf jeden Fall ein Album von Chance, das man behält und zu seinen anderen stellt. PAUL POET
Quasi »American Gong« Domino/Good to Go I ain’t got no time to drop LSD! Hart und weich zugleich. Das mit Feedback im Dauer-Schluckauf heftig polternde Indie-Duo Sam (Heatmiser) Coomes und Janet (Sleater-Kinney) Weiss hat sich nicht nur auf dem achten Album mit Joanna Bolme am Bass zum klassischen Kraft-Chord-Trio erweitert, ihr gewohntes Quengel-Keyboard hat sich zugunsten einer kill-freudigen Hartgangart reduziert. Es fiept. Es bratzt. Es scheuert. Was der mit zynischen GagaTexten zart säuselnden Beatles-Manier keinen Abbruch tut, sie aber gesund mit einer knochentrocken brachialen Steve Albini/ Shellac-Garnitur paart. No more Mister And Missie Nice Guy! Dazu ähnlich Ted Leo ein kerniges Bänkelsänger-Auftreten für den post-millenialen Emo-Punk und eine harzige Dosis Psychedelia zwischen Byrds und Holy Modal Rounders. Ein rundes watsch- und knospfreudiges FrühlingsBouquet, das mit »Bye Bye Blackbird« noch schnell einen der zehn wichtigsten Songs der verbleichenden Nuller-Dekade kredenzt. Strawberry Marshalls Forever! NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR
James: »The Night Before« Mercury/Universal Der Hit als Lebensversicherung, der Hit als Fluch. »Sit Down« ist einer besten Breit-
wandmitsingsongs aller Zeiten und genau an diesem Hit werden James auch immer gemessen. Nach der Reunion ist »The Night Before« der erste Teil eines kleinen Zyklus, der im Herbst mit »The Morning After« abgeschlossen wird. Nach all den Jahren der Bandgeschichte wird auch mit diesem Album einmal mehr klar: Wer mehr als Midtempoballaden will, der soll sich eine andere Band suchen, aber wer konservativen englischen Breitwandpop will und auch Selbstmitleid in kleineren Dosen aushält, der kann ruhig bei James bleiben, die neuen Songs genießen und beim Konzert bei »Sit Down« laut mitsingen. G. BUS SCHWEIGER
Slobodan Kajkyt »Krst« chmafu records/wireglobe Der 1983 in Jugoslawien geborene Kajkyt spielte seit 1997 in diversen Bands wie Mizar, Jubbooko Sa Negrass, Space. Seit 2002 studiert er an der Grazer Universität bei Georg Friedrich Haas, in der Folge auch bei Clemens Gadenstätter und Gerd Kühr. Ausschnittweise geadelt wurde »Krst« (2009) kürzlich im Ö1-»Kunstradio«. 75 Minuten lang überwiegt elektronische Düsternis mit minimalen Beats, atmosphärischen Drones, begleitet von byzantinisch anmutenden Vocals und Chor. Oktopus, Mastermind des Dark-HipHop-Pioniers Dälek, steuerte den finalen Mix bei. Eine faszinierende, hypnotisch wirkende Arbeit, die völlig eigenständig daherkommt und schon allein deshalb Respekt verdient. HANS KULISCH
Kelis »Flesh Tone« will.i.am./Interscope/Universal Kelis in der Post-Neptunes-Ära. Das war,
angesichts des Flops ihres auch sonst enttäuschenden Albums »Kelis Was Here« (2006), immer auch deshalb ein Ärgernis, weil gegen Kelis Rogers all das Gerede von »Fließbandproduktionen« und »singenden Hupfdohlen« selbst von Seiten der schärfsten KritikerInnen (die im Regelfall aber alle das Gesamtwerk von Phil Spector und Motown quartalsmäßig in den Himmel loben) nichts wirklich ausrichten konnte. Ergänzte sich doch der Second-Line-Funkgeschulte Neptunes-Digi-R&B nur allzu gut mit Kelis’ afrodelischen Exkursen. Und jetzt das! Kelis goes Techno! Selten bei einer CD soviel Ablehnung von anderen skuggies
(die Kelis durchaus schätzen) erhalten wie bei »Flesh Tone«. Was ist da nur passiert? Es geht ja nicht darum, dass hier Techno und House (inklusive der hier praktizierten Formen zwischen Trance und Euro-Sause) per se gaga gefunden wird. Aber wo David Guetta drauf steht, wird halt auch David Guetta vermutet. Jetzt ist mir der aber bisher eher selten untergekommen (Parallelgesellschaften gibt es bekanntlich überall) und hat auf dem für die will.i.am. music group produzierten Album auch nur bei zwei Tracks mitgewerkelt. Wobei das als Single ausgekoppelte »Acapella« mit unterkühlter Robotronic im Tribal-House
Mitverwickeltes Sosein im Beiklang Durch die Temporallappen gegangen ist bei der Juni-Listening-Session u. a. die Promo-CD (Movement Records) der im Genre »andere alternative Jamband mit Songs« schwimmenden, gutmütigen Kinder-TrashFunk-Combo FUNKENFLUT. Diese Wiener Partie hält auch dem mehrmaligen Hörtest stand und kann an Starkregentagen für die nötigen Gedanken-Schwimmflügerl sorgen, um nicht im kaltfeuchten Alltagstrott zu ersaufen. Eskamotieren wir diese Musikerscheinung mit einer typisch skurrilen Textpassage: »Die Sonne gibt‘s nicht wirklich, aber trotzdem macht sie Musik«. • Am anderen Ende der Fröhlichkeitsskala grundelt THE ROSKINSKI QUARTET und wühlt den Grund sanft-traurig mit »Love And Truth And Death And Dancing« (Riptide) auf. Das Mondlicht, das sich bis in die Tiefen dieser fragilen Romantik vorwagt, wird von den melancholischen Schaumblasen dieses Pop-Dekokts in seine Spektralschatten aufgefächert. Musik die einen mit wohliger
Traurigkeit erfüllt, Musik zum Sehnsucht hineingeheimnissen und so. • Das VOICE ELECTRONIC DUO aus Gdansk improvisiert auf »Son« (Montotype) ambient-jazzig; Stimmen und Elektronik sind der rote Draht durch ihre fünf Soundexperimente. Luigi Russolo, Ezra Pound und John Cage werden als Inspirationsdelta genannt, und was anfänglich bei den ersten drei Stücken wie AmbientSchonkost daherfließt, verdichtet sich in »Le monde sonore existe« zunehmend jenseits des Bannkreises der Stimmigkeit zu einer akustischen Grenzerfahrung. Der Schluss- und Titeltrack »Son« schlingelt sich dann wieder versöhnlich durch das Geäder der Zeit. • Ein weiteres Duo der interessanteren Art bilden ANDREAS SCHAERER/BÄNZ OESTER auf »Schibboleth« (UNIT Records). Im stimmlichen Möglichkeitsraum steht bei Andreas Schaerer klassischer Gesang neben Obertönigem, Jodel-Klänge unter der Beat-Box. Bänz
Oester bildet darin den massiv-virtuosen Bass-, Shrutibox- und FootpercussionEstrich, auf dem Schaerer dann seine kapriziösen Stimmbelege aufzieht. • Mit schauspielerischer Leichtigkeit nähert sich BARBARA SUKOWA mit ihren THE X-PATSYS den großen Themen Schwermut, Einsamkeit, Besessenheit, Verlust, Liebe und Tod. Ihr Mann, der Multimedia-Künstler Robert Longo sowie der Video-Artist Jon Kessler stehen ihr als Band-Mitgründer neben weiteren Musikern zur umfassenden düster-dramatischen Neuinterpretation von Country- und Westernliedern mit Texten von Shakespeare bis Tom Waits beim »Devouring Time« (Winter&Winter) zur Schattenseite. • Die hier erwähnten Kleinodien stellen somit luftwurzelnde Musik für High-, Middle- und Lowbrows dar, Adlerhorste mit Bodenhaftung zum Schutz vor der Knorrigkeit des Alltags – und man sollte ihnen Gehör schenken oder leihen. MICHAEL-FRANZ WOELS 82 I 33 83
The Real McCoy – Best in Soul Music Wie könnte es sich zum Start dieser Kolumne besser treffen, als ein Best-of eines wahren McCoy zu rezensieren. VAN McCOY steht heute oft ausschließlich für seinen Disco-Hit »The Hustle« – und ähnlich gelagerte Produktionen der Siebziger. Im Jahrzehnt davor allerdings, also als noch recht junger Mann, komponierte, produzierte und arrangierte er für die Crème de la crème der Soul-Szene, ohne allerdings mit diesen Perlen des Northern Soul die Spitzen der Charts (von Pop oder R&B) zu erklimmen. Das jetzt von KENT herausgebrachte Album »Van McCoy Songbook 1962–1973« belegt wieder einmal, dass es zu viele taube Ohren bei Medien und Publikum gibt. 24 große Tracks von Jackie Wilson, Betty Everett, Nina Simone, Jerry Butler oder Aretha Franklin zeigen einen weniger bekannten McCoy mit perfekten runden Songs und dichten, teils klassisch üppigen Mid-60s-Arrangements, die oft erst Jahre später in neuen Versionen charteten. • Eine weitere Kent-Compilation widmet sich der fast schon tragisch nicht
auf Erfolgskurs gekommenen Karriere eines der besten Soul-Sänger, LOU JOHNSON. »Incomparable Soul Vocalist« ist das Album völlig zu Recht betitelt. Vom heutigen Standpunkt aus ist unbegreiflich, warum diese wunderbaren Songs Johnson nicht in den Olymp der Sweet Soul Music hieven konnten. Es wird v. a. daran gelegen haben, dass Johnson, für den u. a. Burt Bacharach und Hal David komponierten und produzierten, immer ein wenig zwischen den Stühlen gesessen ist, insofern er einerseits Songs mit im Zeitkontext etwas antiquierten, wenn auch exzellenten Arrangements einsang, andererseits auch das Southern-Soul-Genre (u. a. mit Allen Toussaint als Produzenten) bediente. »Ich habe Lou Johnson erst sehr spät in meinem Leben entdeckt, bin aber seither ein unbedingter Anhänger geworden. Er wurde – konkurrenzlos – mein Lieblingssänger, und obwohl ich seine Southern-Soul-Aufnahmen mag, sind es die diszipliniert-eleganten Singles, die er für das New Yorker Big Top-Label
einspielte, die für mich den Höhepunkt des Soul darstellen«, schreibt Compilator Ady Croasdell. • Eine Compilation, an der sich die Geister scheiden könnten, bringt Kent mit »Double Cookin’. Classic Northern Soul Instrumentals« heraus. Nicht ganz von ungefähr wartete das Label lange zu, um eine solche CD auf den Markt zu bringen. Bislang hatte man sich damit begnügt, Instrumentals gelegentlich in den Hit-Compilations zu platzieren. Allerdings lässt man auf »Double Cooking« auf der einen oder anderen Nummer den Chorgesang ohne Lead-Vocals stehen. Wie im Reggae (z. B. die Sound-Dimension-Alben von Soul Jazz) funktionieren die instrumentalen Takes, die man zumeist in ihren Vokalversionen kennt, auch hier perfekt, insbesondere für Tänzer. Abgesehen von der brillanten Performance, ermöglichen sie einen besseren Blick auf Bands und Bandleader hinter den Stars, allesamt Bühnen- und Studioroutiniers wie Willie Mitchell oder Jimmy Conwell. Das wie immer exzellente Kent-Booklet erzählt dazu
die spannende Geschichte hinter diesen Instros. • »Baltic Soul Weekender Nr. 3« (Unique/Groove Attack): Das ist Soul im Geist der Achtziger, geprägt von Disco und Funk – wie er auch die Szene im England der Neunziger noch bestimmte. Das BalticSoul-Festival findet nun seit 2007 jährlich für ein paar Tage im Norden Deutschlands an der Baltischen See statt – und dementsprechend ist auch die Auswahl: »hedonistische« Tanzmusik, fast immer uptempo, die den Groove, den Funk und die Beats in den Vordergrund stellt. Und Stars präsentiert, die hierzulande, mit wenigen Ausnahmen, nie zu den Top-Performern zählten: Archie Bell & The Drells oder CeCe Peniston mit ihren Philly-Style-Hits – teils neu aufgemischt von Leuten wie David Morales. Oder von den englischen Produzenten Christian & Rae, die zusammen mit Bobby Womack und dem Song »Get A Life« den fantastischen Einstieg in diese Compilation geben – jenem Lied, das Womack zurück ins Rampenlicht brachte. HANS GRAUSGRUBER
(und Kelis im Video dazu als afrodelische Exotica-Queen) fast nahtlos an frühere Kelis-Hits anschließt. Zwar dominiert bei »4th Of July« und »Home« eine kleine Spur zu viel Großraum-Trance, dafür entführt uns »Emancipate« elegant in die Cosmic-Disco. Wie Kelis immer noch Sphinx, Sternenkind, Cyberwoman und zu ihrem astralen AlienSoul nun halt auch die Tanzroboter ihre Hüften wackeln lassen können. Vielleicht ist das in mehrerer Hinsicht futuristische (und Boys Noize produzierte) »22nd Century« (»We Control The Dancefloor«) mit seiner Botschaft »We Are The Stars« ja auch der eigentlich zentrale Track von »Flesh Tone«. Trägt Kelis im Booklet nicht eine ähnlich glitzernde Kopfbedeckung wie wir sie auch von Sylvester (vgl. die 1979er-Maxi von »Stars«) und Sun Ra her kennen? Dessen Idee einer »MythScience« finden wir ja auch bei Kelis’ Bekenntnis zu »religion, science fiction, technology« wieder. Zwar bricht »Flesh Tone« auf ganzer Länge betrachtet auch immer wieder etwas ein, aber im Verbund mit Janele Monáe (»The Archandroid«) und Erykah Badu tun sich hier schon einige verdammt tolle afronautische Diskurs-Felder auf.
dass wir hier in Grunde mindestens vier DJ-Sets zum Preis von einem bekommen. Zwar legt sich das Synth-Intro noch schwer in die alte Goldie-Fankurve und fährt mit superben Billigst-Beats aus der Plastikkiste auf, als wäre es 1991 und »Pioneers Of The Hypnotic Groove« als zweite Warp-LP überhaupt erst erschienen, aber dann heißt es gleich »Shake Ya Ass«. Dubstep als elektronische Leichtigkeit. Kristallklar, hell, silbern, die Crossfader zu Afro-, Latin-, Baile-Beats ausstreckend. Das erinnert mitunter auch an Jeff Mills und wirklich werden dann auch UndergroundRestistance-affine Bleep-Blitze mittels Baile in den Outta Space gebeamt. Geschieht mit House ebenso bis Kode9 fast überfallsartig die Ragga-Karte zieht und über Mujawa zu Digi-Soul/R&B (Morgan Zarate, Rozzi Dame) einschwenkt. Motto: Kein Angst vor Pop! Weil wir haben ja noch all die experimentellen, dunkleren Dub-Sachen im Ärmel (Digital Mystikz und Konsorten). Das macht alles dermaßen viel Spaß und selbst beim x-ten Mal Durchhören ist die Verwunderung immer noch, wo denn nun wieder eine neue Abbiegung genommen worden ist. Hier ist Dubstep die große Kunst der kleinen Verschiebungen von Sounds und Beats, die so eigentlich nicht wirklich für einander bestimmt waren. Selten das doch zeitlich limitierte Format DJ-Mix-CD so ausgereizt gehört. Selbst gegen Ende hin, wo es etwas ruhiger und auch grummeliger wird, geht es nochmals zwischen Mambo- und Cha-Cha-Cha-Kuckuckseiern richtig los, bis dann The Bug feat. Flo Dan »Run« dop-
peldeutig fordern. Nur wohin? Am besten wieder zum Anfang der CD!
ultraverzerrten, teilweise extrem verstimmt klingenden ›Gitarrensounds‹, bis sich diese als afronautische Kalimba-Polyphonie zu erkennen geben. Von Crammed Discs folgerichtig »Congotronics« genannt entwickelt diese Musik einen hypnotischen Trance-Groove, der Techno quasi als Beilage sonischer Afro-Beats produziert. Wird dann auch noch an den ebenfalls handgemachten Phasern, Flangern und Echo-Boxen herumgeschraubt, wird klar, in welchem Univserum wie uns hier befinden: On-U-Sound, Lee »Scratch« Perry, Sun Ra, »Starship Africa«, »Space Is The Place«. Wenn Konono No. 1 also immer wieder davon sprechen, eigentlich nur die musikalischen Traditionen ihrer Vorfahren aufrechterhalten zu wollen, dann waren das in diesem Fall wirklich Aliens aus fernen Galaxien. Afronauten eben.
DIDI NEIDHART
Kode9 »DJ-Kicks« K7!/Hoanzl Darauf haben viele lange gewartet. Immer wieder wurden die »DJ-Kicks« von und mit Kode9 verschoben, bis der Glaube daran fast zu einer Verzweiflung wurde. Und dann ist sie plötzlich da und will nicht mehr aus dem Player. Was auch daran liegt, 82 II34 83 34
DIDI NEIDHART
Konono No. 1 »Assume Crash Position« Crammed Discs/Lotus Gegründet vor über 20 Jahren in Kinshasa (Demokratische Republik Kongo), »um die Musik unserer Vorfahren zu spielen« (wie es in einem TV-Interview heißt), sind Konono No.1 mittlerweile so etwas wie der heißeste Scheiß in Sachen Worldmusic. 2008 in dieser Kategorie für den Grammy nominiert (den bekam dann jedoch der Soweto Gosple Choir), von Björk für ihre CD »Volta« sowie die daran anschließende Tour verpflichtet, live beim Sónar, von Gilles Peterson in sein Londoner BBC-Studio eingeladen und von Herbie Hancock schon für seine neue CD gebucht, klingt schon mal nicht schlecht. Dabei fabrizieren Konono No.1 einen elektrisch verstärkten Lärm, bei dem Worldmusic-Fans üblicherweise eher die Nase rümpfen. Zwar spielte die Band schon immer mit mindestens drei Kalimbas (also Daumenklavieren) und anderen, meist aus Müll (Metallschrott) zusammengebastelten Instrumenten (etwa Plastikkübel/ Blechtonnen als ultrafette Bass-Drums), die zündende Idee kam jedoch, als mittels selbstgebastelten Verstärkern der Gruppensound komplett elektrifizert wurde. Dadurch konnten nicht nur andere Bands übertönt werden, es wurden auch ganz neue Möglichkeiten für das Kalimba-Spiel entdeckt. Wer diese Musik zum ersten Mal hört, wundert sich nicht selten über die
DIDI NEIDHART
Yannis Kyriakides/Andy Moor »Folia«/»Rebetika« Beide: Unsounds/Metamkine Für diese beiden CDs haben sich zwei Musiker zusammengetan, deren Output mir in den letzten Jahren immer wieder außergewöhnlich vorkam. Der griechische Elektronikkomponist Kyriakides und The-ExGitarrist Moor unternehmen nichts weniger als einen Aktualisierungsversuch von bis ins 16. Jahrhundert zurückliegenden Volksweisen (»Folia«) und untersuchen, wie sich der Blues der griechischen Diaspora zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das Heute nutzbar machen lässt (»Rebetika«). Während auf »Rebetika« sozusagen nachvollziehbare
Melodiefragmente aus diesen Volksweisen vorüberziehen, hat man es bei »Folia«, das mit Einflüssen aus der südamerikanischen Volksmusik gekreuzt wird, mit nur noch recht abstrakten Soundwällen zu tun, über die sich immer wieder die prägnante Gitarre von Moor erhebt. Bei diesen beiden CDs spielen natürlich auch politische und historische Zusammenhänge eine Rolle. Es geht um das Verschwinden: das von alten Liedern, von Tradition, um Bedeutungsverlust und -verschiebungen, Entfremdung und Aneignung des Neuen. Eine gute Möglichkeit, das Alte und das Neue zusammenzudenken, liefern die Innencover der CDs: Bei »Folia« breitet sich ein dichter Wald, bei »Rebetika« ein dicht besiedeltes Stadtgebiet aus. Musikalisch sind die beiden sowieso top. HEINRICH DEISL
Larsen & Friends »Abeceda« Behind S.R.B./Brokensilence Nichts weniger als eine traumhafte Hommage ist dieser von Larsen mit David Tibet (Current 93, Baby Dee, Johann Johannsson (Touch/4AD) und Julia Kent (Antony & The Johnsons) dargebrachte Live-Mitschnitt aus dem Teatro Colossei in Turin. In dieser Aufführung fürs Settembre Musica Festival wird »Abeceda«, einem zentralen Werk des tschechischen Avangardedesigners/Typografen Karel Teige, der mit der Gruppe Devetsil neue, surrealistische, proletarische Kunst & Poesie schuf, Tribut gezollt. Mit einem vom Dichter Vitoslav Nezva reduzierten Text, der in der Adaption von David Tibet einen poetischen Dialog zwischen Text und Images ermöglicht. Die visuelle Komponente samt Tänzer ist auf Vinyl ausgespart, somit kann man sich umso besser auf die magische Wirkung von Lyrics und insbesondere der Musik konzentrieren. Julia Kents Cello oszilliert prächtig mit der italienischen Post-Rockband, die mit Glockenspiel, Theremin, Gitarren, elektrischer Viola und den Orgel- bzw. Piano/ Harpklängen feierlich-melancholische 25 Movements (analog Teiges ABC) darbietet. Ein wundersamer Abgesang auf eine Zeit, als Dada in vielfältigen Verzweigungen zu neuen Ufern aufbrach. ALFRED PRANZL
LCD Soundsystem »This Is Happening« DFA/EMI Schon James Murphys Soundtrack zu »Greenburg« verwunderte etwas. Tummelten sich doch hier neben Zitaten von Timmy Thomas (»People«), Eno (»Sleepy Baby«) und den Beach Boys (»Plenty Of Time«) auch solche von Simon & Garfunkel (»Birthday Song«) und den Beatles (»If You Need A Friend«). Jetzt ist ein Soundtrack natürlich etwas anderes als eine CD/LP. Die Vorgaben sind strenger/enger, gleichzeitig
kann mehr experimentiert werden (wie der Weg vom Drei-Minuten-Soul-Song hin zum ausladenden Funk-Jam und den »Tongemälden« von Curtis Mayfield via BlaxploitationSoundtracks ja schon einmal gezeigt hat). Doch schon die erste Vorab-Single »Drunk Girls« ließ erstmals beim LCD Soundsystem nichts Gutes vermuten. Aha, Punk Rock. Demgegenüber geht es auf der vollen Länge dann doch mittels Überlandpartie in die Disco. Aber nicht mehr zwingend. Die Frage Song oder Track wird eindeutig zugunsten des Songformats entschieden, nur heben die Songs immer wieder plötzlich als Tracks ab. Und das macht immer noch Spaß! Nur bewegt sich der auf relativ engen Bahnen. Um es kurz zu machen: LCD spielen Blur nach, die David Bowie nachspielen, der Brian Eno nachspielt, dem Pavement (und auch Stereolab) in der Verkleidung der Talking Heads als »Scary Monsters« Reverenz erweisen. Dazwischen tummeln sich O.M.D., Tubeway Army, Japan, Suicide (also Martin Rev), schauen Grauzone beinahe leibhaftig als »Eisbär« vorbei (»You Wanted A Hit«), geht es mit Iggy Pop zum Nachtclubben (»Somebody’s Calling Me«) und gibt es Afro-Beats aus der mutierten Disco-Kiste. Nur kreist das alles derart eng um die Trias Eno, Bowie, Talking Heads, dass es echt eng wird. Zwar können auch mehrere Signifikanten/Referenzen blöde im Weg stehen, Eingänge verstopfen und Handlungspielräume eingrenzen indem sie als kleine Narrative auf gleichwertige Behandlungen pochen. Sich so zusagen positivistisch, historizierend in den Vordergrund spielen und so tun, als wären sie nie Teile (Widerparts) antagonistischer Auseinandersetzungen gewesen. Wenn sich der »Musikexpress« nun beim LCD Soundsystem über »Popmusik für Erwachsene« freut und »Alter Sack macht die Disco schlau« dichtet, dann wird damit nicht nur eine blöde Art von Musikrezeption ausgesprochen. Das Problem liegt viel eher darin, dass etwa Talking Heads/David Byrne spätestens nach »Remain In Light« nicht mehr naiv als sich in den Mainstream geschummelter Postmoderne-Underground gelesen werden können, sondern eher in der Kategorie »Ein Yuppie liest Deleuze« (wie es Slavoj Žižek mal in einem anderen Zusammenhang formulierte) untersucht gehören. Dabei geht es weniger um neue Kombinationen (es müssen sich nicht immer Nähmaschinen und Regenschirme auf Seziertischen treffen) als vielmehr um sozusagen subersive Lesarten einstiger Mainstream- wie Pop-Phänomene. Der Schulterschluss zwischen Punk und Disco war so ein Akt. Das CBGB’s und die Paradise Garage lagen plötzlich in der selben Straße, die längst offensichtlichen Verbindungen zwischen Detroit-Techno und Detroit-Rock wurden neu gemischt. Mit »This Is Happening«
kommt all das weniger zum Abschluss, sondern spielt gar keine Rolle mehr. Dazu passt auch das Dissen von DancefloorMarxisten (»Gotta dance yourself clean, yeah/And blow the marxists into pieces/ Their little argument to pieces«). Und wirklich: Weder Richard Dyer (»In Defense Of Disco«) noch Gang Of Four (auch wenn die eher Maoisten waren) schimmern hier noch durch. Vielleicht hätte sich James Murphy aber einfach auch nur mehr an einige seiner Jugenderlebnisse erinnern sollen, die er unlängst in einem »Pitchfork«-Interview erwähnte. Etwa an jenem Tag, als er sich drei ganz unterschiedliche Platten kaufte. »I got Sex Pistols, Kraftwerks ›Computer World‹ and Venom on the same day. And I thought it was all punk.« DIDI NEIDHART
Jamie Lidell »Compass« Warp/Rough Trade Jamies drittes Werk für Warp ist ein repräsentatives Reife-Produkt eines innovativen Musikers. Soul und Funk sind nur mehr die Absprungpodeste für eine immer wilder mutierende Musik. »Compass« wurde u. a. in Becks Hudson Studios in L. A. oder auf Feists Ranch aufgenommen. Mitstreiter waren diesmal Gonzales, Chris Taylor von Grizzly Bear und Pat Sansone von Wilco. Der Unterschied zu »Multiply« könnte nicht größer sein. Das Ganze ist mehr angeschmutzt als je zuvor, Verweise auf Stevie Wonders »Innervisions« passen irgendwie, doch wäre es zu schade, nur Retro-Vergleiche anzuführen, zu viel passiert hier. Immerhin ist Jamie Lidell weit entfernt, auf Jamiroquai zu machen, denn »Compass« besticht durch irre Drumbeats
und klingt, als würde auf einer Seite eine Schulband in einer großen Halle spielen und Straßentrommler auf der anderen Seite dagegen ankämpfen. Spektakulär auch die Verwendung von Bläsern. Große Sache. HANS KULISCH
Lorn »Nothing Else« Brainfeeder/Ninjatune Flying Lotus gilt zurzeit als der Hero der Elektronikmusik aus Los Angeles. Trotz seines Erfolgs findet er auch noch Zeit für das eigene Label Brainfeeder, das heute als die Adresse für seriöse Elektronik aus L.A. gilt. Daedalus, Samiyam und Dr. Strangeloop sind dafür exzellente Beispiele. Mittlerweile weitet Steven Ellison (Flying Lotus) seine Tätigkeit weiter aus und bringt uns Lorn aus Illinois. Dubstep mit orchestralem Finish gab’s auch schon, DJ Rupture oder Ikonikas Werke funktionieren genauso gut im Club wie in der Lounge. Lorn kann sich da nicht richtig entscheiden, wo er hinwill. Deshalb ist diese Platte eine etwas halbgare Sache. HANS KULISCH
Juan MacLean »DJ Kicks« !K7/Hoanzl Wenn andere mit Software und Controllern auftrumpfen, dann macht es Juan MacLean ganz anders und holt einfach zwei Plattenspieler, Mixer und ein Tape-Delay hervor. So ganz oldschoolig sind seine »DJ Kicks« dann aber doch nicht geworden. Auch der vermutete Electro-Disco-PunkMash-Up-Clash bleibt aus. Stattdessen reisen wir in 18 Tracks um die House-Welt. Die muss hier auch gar nicht mehr in Chicago, Detroit oder New York nach ihrer 82 I 35 83
Comunidad Internacional Soundway-Festspiele: Was kann für den Fan afrikanischer Musik schöner sein als Reissue-Compilations vom Label Soundway? Antwort: neu aufgelegte Original-LPs. Wir haben sie uns lange gewünscht – und jetzt zwei bekommen: Die ghanesische Band HEDZOLEH SOUNDZ spielte 1973 ein Album mit Hugh Masekela ein, das ein Afro-Jazz-Klassiker wurde (»Masekela Introducing Hedzoleh Soundz«). Kaum jemand wusste aber, dass die Band die Mehrzahl der Songs kurz zuvor für ein eigenes Album ohne den berühmten südafrikanischen Jazzer aufgenommen hatte. Das, was Masekela auf seiner Trompete spielt, ist auf den Original Takes – etwas dezenter – eine Flöte, die dem Ganzen zeitweise eine kubanische Note gibt. »Hedzoleh!« (Groove Attack) eröffnet und schließt, relaxed swingend, mit ghanesischer Popmusik in der Tradition des Highlife; dazwischen sind von dichten latinesken Percussions getragene Rhythmen, die gelegentlich von einer dezenten Rockgitarre dominiert werden. Der Titelsong fusioniert, seiner Zeit weit voraus, gleichsam die kongolesische Band Konono mit kubanischen Cabildo-Trommlern und einer Rockgitarre. Ein vergessenes Juwel – ohne Bonustracks oder »alternative versions«. • Als notorischer NottinghillKarneval-Besucher verbrachte ich in den Neunzigern so manche Nacht im »Mambo Inn« in Brixton – ich fürchte, immer zu den schlechtest gekleideten Besuchern in diesem »glitzy ballroom« gehört zu haben, wo sich die Gäste beim Anstellen zum Eintritt häufig noch schnell die Schuhe mit dem
Taschentuch polierten. (Und quasi um die Ecke »feierte« ein Haufen Punks ihr »Fuck Reading«-Festival.) Drinnen legte die Creme der (inzwischen legendären) britischen DJs alles von Brasil über Funk bis Afro auf. Zu den Standards gehörte auch SWEET TALKS aus Ghana, die ich wegen ihres sanft swingenden Highlife-Sounds (der präferierte Stil der Band) liebte. »Angelina« fand dann auch auf die erste »Mambo Inn«-Compilation (Rycodisc, 1994). Anders das nun von Soundway (Groove Attack) wiederaufgelegte Album von 1974, »The Kusum Beat«. Schon der erste Song geht Richtung fettem Afro-Beat (à la Fela meets Neville Brothers) – ein Stil, in dem drei der sechs Songs dieses kurzen Albums spielen, der Rest ist Highlife bzw. Rhythmen, die wie Karnevalsmusik aus Trinidad und Tobago klingen – wenn auch Jahre, bevor das dort aktuell wurde. Auch dieses Album kommt (dankenswerterweise) ohne Bonus-Tracks aus – essenziell! • Es fiele mir schwer, entscheiden zu müssen, welche der inzwischen wohl über zwei Dutzend Soundway-Compilation mir am besten gefällt – »Palenque Palenque!« (Untertitel: »Champeta Criolla & Afro Roots in Colombia 1975–91«, Groove Attack) wäre jedenfalls ein heißer Anwärter. Ohne näher auf die Stile und Entstehungsgeschichte dieser Musik eingehen zu wollen: Alle der hier präsentierten Songs mischen Rhythmen aus Afrika und ihrer Hybriden aus Lateinamerika und der Karibik in jeder nur denkbaren Konstellation höchst individuell und einfallsreich auf. »Palenque Palenque!« ist eine Compilation
aus bekannten Bands wie Wganda Kenya und »Eintagsfliegen« in der Hinsicht, dass diese nie Recording Artists wurden. Es ist auch Lucas Silva, Co-Editor und Chef von Palenque Records zu verdanken, dass sie jetzt aus der Versenkung geholt werden konnten. Diese Musik wurde hierzulande bis jetzt ja fast völlig ignoriert: rhythmisch extrem experimentelle »Volksmusik«, gelegentlich mit einem Schuss Psychedelic, die man getrost als avantgardistisch bezeichnen darf. Und unglaublich gut zusammengestellt. • »Next Stop Soweto Vol. 3« heißt der dritte von vier geplanten Alben zum Sommer-Schwerpunkt Südafrika, den Strut (Hoanzl) nun veröffentlicht hat. Jazz in Südafrika von 1963 bis 1984 ist das Thema – und der Untertitel lautet »Giants, Ministers and Makers«. Dementsprechend uneinheitlich ist der dargebotene Mix aus dreizehn Kompositionen, der von strikter Stiltreue zur jeweiligen US-Epoche (Cool, Jazz-Funk etc.) bis zu mehr oder weniger Lokalkolorit (z. B. Dennis Mpale oder Malombo) reicht, und auf Letzteres hätte man sich im Wesentlichen auch beschränken sollen: denn welche Idee der Compilator insgesamt verfolgte, bleibt ein Rätsel. Vol. 1 (Township-Pop) war ein Volltreffer, Vol. 2 (Soul-Beat) war jedenfalls einen Versuch wert, auf Vol. 3 herrscht leider Konzeptlosigkeit. • Brasil: SERGIO MENDES – der Mann bleibt seinem Stil immer über mehrere Alben treu. So steht »Bom Tempo« (Universal) in einer Linie mit den Vorgängern »Timeless« und »Encanto«. Es ist wie diese stark durch die Zusammenarbeit mit Carlin-
hos Brown geprägt. Eigentlich müsste es Sergio Mendes meets Carlinhos Brown betitelt sein. Die Hälfte der Songs ist dominiert von Browns perkussiv getriebener, Sonne-, Strand- und Karnevalsmusik (Axé) aus Salvador Bahia, der ja auch Sergio Mendes seit seiner Kooperation mit dem TimbaladaChef (»Brasileiro«, 1992) nie abhold war. Flotte Rhythmen, perfekt aufgemischte Covers und gute Laune sind garantiert – plus einigen fantastischen Sänger/innen und kleineren Rap-Parts. Gute Musik, die den Test der Zeit wie so vieles von Sergio Mendes bestehen wird. • Kurz & gut: Das 10-köpfige Orchester GRUPO FANTASMA aus den USA spielt auch auf ihrem fünften Album »El Existential« (Nat Geo Music) eine breite Palette aus Latin-Stilen, von Salsa und Cuban-Style bis Latin-Rock, Tex-Mex und Chicha. Und das trotz der Breite stilistisch halbwegs homogen, dicht arrangiert, mit funkigem Groove und fetten Horns. • Der in London beheimatete GAUDI lässt auf seinem neuen Werk »No Prisoners« (Six Degrees/Lotus) elektronisch generierten Dub-Reggae, versetzt mit Elementen von Weltmusik, postinstrumental (laut Liner Notes gibt’s da auch jede Menge wirklicher Instrumente) via harte Beats dröhnen. Unterstützt wird er bei diesem politisch korrekten und auch tanzbaren Projekt von notorischen Brüdern im Geiste wie Michael Franti oder Dr. Israel oder auch einmal von der Triestiner Chanteuse Elisa Toffoli. Fürs Techno-Dub-Volk. HANS GRAUSGRUBER
vermeintlichen Wiege suchen, muss sich jedoch auch nicht mit 1980ies-Stückwerken aus dem pophistorischen Versandhauskatalog einen konsenstauglichen Anstrich geben. Dazu ist MacLean auch zu sehr deep digger. Zwar wird es manchmal auch etwas zu gemütlich, aber bis das auffällt ist die CD auch schon fast zu Ende. Passt zum heurigen Sommer.
Der Sinn und Zweck liegt hier wohl darin, dass ein Publikum seine Lieblingssongs zu hören bekommt, allerdings in einer total klischeehaften, neoklassisch-romantischkammermusikalischen Umsetzung. Die Auswahl der Songs ist wunderbar, dafür ist die Interpretation ziemlich affektiert (massenhaft Fingersatz-Effekte und fette Transkriptionen). Cyrin ist als klassischer Pianist nicht gut genug, um das ganze Projekt auf solchen Arrangements zu gründen, etwas mehr Texttreue wie auch ein etwas persönlicherer Ton hätten nicht geschadet. Schon gut! Es ist alles okay.
scheinlich nicht sofort klar, was aber wiederum egal ist, da Molden mindestens einen, wahrscheinlich aber zwei zukünftige Wienerliedklassiker hier erstmals der Nachwelt zugänglich macht. »30 Gschbrizzde« und »Waun Der Wiena En Woed Geht« werden noch beim Heurigen erklingen, wenn der Antrag auf ein Ehrengrab für den Urheber in der Wiener Verwaltung in Verstoß gerät und nie mehr auftaucht.
erstmals ein wenig gelüftet: verträumte Gitarren (!) kommen zum Einsatz, nervöses Electronica-Flittern und schwebende Harmonien, wenn auch in Basstonlage, verleihen dem Track eine melancholische Note. Romantisch, in der Tat. Auf der ASeite legen Mondwests Landsmänner von Nomenklatür Hand an seinen Track »Control Me«. Soundästhetisch versteht man sich bestens, auch diese beiden hegen eine Vorliebe für analoge Synthesizer und die dunkelsten Electro-Tiefen der Nacht. Chic.
DIDI NEIDHART
Maxence Cyrin »Novö Piano« Kwaidan Records/Discograph Smells like Tin Spirit (ein wenig), oder: Chopin spielt Justice. Dies ist die Geschichte eines ganz großen Konzertflügels, einiger Schubladen und der Coverversionen wohlbekannter Hits der Popmusik (plus Indie oder Electro). Ich-solo-ganz-allein-im-Dunkeln: Pixies, Beyoncé & Jay-Z, Nirvana, Daft Punk, Arcade Fire, My Bloody Valentine etc.). Natürlich mag ich die Idee, habe ich doch selbst so etwas gemacht, aber um es dem Kollegen freundlich unter die Nase zu reiben, ich finde nicht, dass sein Album den interessanten Punkt des Versuchs erreicht. 82 II36 83 36
NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR
Ernst Molden »Häuserl Am Oasch« Monkey/Broken Silence/Hoanzl Das »Häuserl am Oasch« ist ein Singspiel, das Ernst Molden für das Wiener Rabenhoftheater, das Theater für Theaterignoranten, geschrieben hat und das im Frühjahr eine schon berauschend erfolgreiche Aufführungsserie hinter sich gebracht hat. Hier singt Molden alle Songs selbst, und dem Ersthörer wird der Zusammenhang wahr-
G. BUS SCHWEIGER
Mondwest »Mirror Of Silence EP« Od-Records/Discograph Der famose Franzose Mondwest war in den letzten Jahren damit beschäftigt, Acts wie Heko, Gesaffelstein oder Ascii Disco für sein Label Od-Records zu entdecken und zu gewinnen, nun erfreut er wieder mit einer eigenen EP. Auf »Funky Life« bleibt er seiner Linie treu – dunkle, analoge Synthielines kreisen über gemäßigt rumpelnde Kickdrums, deren 120 bmp die ideale Laufbahn für diesen erdigen, oldschooligen Electrosound darstellen. Auf »Russian Campaign« wird der düstere Schleier
KATHARINA SEIDLER
Mose »s/t« Klangbad/Hoanzl Mose sind Vorarlberger Eigenbrötler, die mittlerweile beim sechsten Album angelangt sind und sich noch immer jedweden Einflüssen widersetzen. Irgendwo zwischen Außenseitercountry mit stets angezogener Handbremse und einer Brise Post Rock werken sich Mose durch ihre Songs in diversen Sprachen, die auch schon einmal so schöne Titel tragen wie »Date With Elvis«. Wer alt genug ist, um noch Souled Ameri-
can zu kennen, der hat einen Eindruck von der teilweise genialen Wirrnis der Band um Sänger Thomas Keckeis. Wenn ihnen der Herrgott weiter die Gabe der Beratungsresistenz gibt, dann ist das eine der wenigen Bands, auf deren siebentes Album man sich freuen darf. G. BUS SCHWEIGER
Mossa »Festine« Thema Das New Yorker Label Thema fragte bei Jeremy Petrus aka Mossa an, eine Single zu veröffentlichen, doch wurde wegen der Fülle an qualititativ hochwertigem Material gleich ein Album daraus. Mossas zweite Platte ist stilübergreifend und berührt Dub, Jazz, Latin, Folk, House und Techno. Dazu holte sich der Kanadier interessante Mitwirkende wie Dave Aju, Mike Shannon, Pezzner und Mathias Kaden an Bord. Das Ergebnis kann sich hören lassen. Typisch moderne Musik, die sich nicht mehr an Genres hält und ausufert. »Buleria« z. B. besticht durch eine Art Electronic-Flamenco der tatsächlich neue Felder bestellt. Beachtliches Werk der Vielfalt und superb produziert. HANS KULISCH
Willie Nelson »Country Music« Universal Unverdrossen produziert Willie Nelson auch mit 76 noch ein Album nach dem anderen. Nach dem erneuten Erkunden des »American Songbook« im letzten Jahr geht es hier um seine Kernkompetenz. Unter der Obhut von Produzent T. Bone Burnett spielt sich Nelson mit vertrauten Musikern durch eine Auswahl von Countryklassikern, die er im Schlaf beherrscht. Natürlich könnte er jede Woche so eine Songsammlung aufnehmen und nebenher noch Golf spielen und seinen Tourplan einhalten, aber es ist die Vertrautheit mit den Songs, die »Country Music« ausmacht und das Wissen um die Gefühle, die diese auslösen können. Hoffnung wird hier nicht oft großgeschrieben, aber sie gibt es: zum Beispiel im großen Abschiedssong »Satisfied Mind«, der auch auf der letzten posthum erschienenen Platte seines Weggefährten Johnny Cash zu finden war. G. BUS SCHWEIGER
Nufa »das Wetter ist schön heute« Klangbad Klangbad wird von Faust-Mastermind Irmler betrieben, er ist auch Produzent des zweiten Albums von Nufa. Bei dieser deutschen Band trifft Atmosphärisches auf Sphärisches, Pop auf Post Rock, Banales auf Intellektuelles, Psychedelia auf Krautrock … Dies ist Krautrock neuester Prägung, der manches Werk aus Hamburg übertrifft. Beim Finale »Ist das Wetter nicht schön heute« löst sich alles auf in Richtung
Dada, Free Jazz, Zappa … Man muss ein Fan solcher Musik sein, um sie wirklich zu mögen. HANS KULISCH
Pan Sonic »Gravitoni« Blast First Petite/Trost Die Abschieds-CD von Pan Sonic? Wohl wahr. Halten wir fest: Pan Sonic war eine der wichtigsten Bands der letzten fünfzehn Jahre. Punkt. Etwas verwirrend sind die Fotos im Booklet, wenn einem da Bilder des Joshua-Tree-Nationalparks, der Steinungetüme der Osterinseln oder Meeresbrandungen begegnen. Andere, wie eine volle Tokioter U-Bahn, schneebedeckte Wälder und abstrakte Geometrien, passen eher in die Vorstellungswelten über eine Band, die das urbane Internetzeitalter miteinläutete. Indes ergeben sich dadurch Impressionen aus den vielschichtigen Einflüssen, mit denen Pan Sonic konfrontiert waren. Über »Gravitoni« ist an sich nicht viel zu schreiben, außer, dass es wieder mal astreiner Pan-Sonic-Sound ist. Lärmgeschwängerte Analogbeat-Kaskaden stürzen auf die Hörer ein, Auslotung der Aggregatszustände zwischen gasförmig und festgefroren. Pan Sonic klingen wie eh und je, sie hatten sich im Laufe der Jahre eine Musikformel erarbeitet, die auf extremer Reduktion und auf der schieren Physikalität des Sounds – egal ob blanker Noise oder Dub – beruht und die zu einem der Paradigmen für Electronica-Produktionen geworden ist. Klar stimmt es traurig, dass Ilpo Väisänen und Mika Vainio mittlerweile getrennte Wege gehen, ist aber unter diesen Bedingungen nur konsequent. Oder hätten wir sie wirklich als eine »Dinosaurier«-Band erleben wollen? Da hatten sich Pan Sonic so lange damit abgemüht, ihre Dub-Leidenschaften auf der Oberfläche zu ›vertuschen‹ ... Vielleicht ist es nun genau die richtige Zeit, Pan Sonic auf Eis zu legen und sich mit z. B. Kode9, Rhythm & Sound, Shackleton oder Kevin Martin auf ein Packl zu hauen. Die Nummer »Trepanointi« weist ja bereits in diese Richtung. Pan Sonic: Respekt und paljon kiitoksia! HEINRICH DEISL
Violetta Parisini »Giving You My Heart To Mend« Universal Im Wiener Nachtleben ist Violetta Parisini als singende Plattenauflegerin oder als Live-Verstärkung der Elektroschlager-Jungs von Tanz Baby! längst ein Bergriff. Mit »GYMHTM« macht sie nun – mit kräftiger Unterstützung ihres Produzenten und Gitarristen Florian Cojocaru – einen Schritt auf die Konzertbühnen. Bereits beim ersten Hören ist es vor allem der facettenreiche Gesang der diplomierten Philosophin, der beeindruckt. Kaum zu glauben, dass Parisini mal größere Probleme mit ihrer Stimme hatte, die sie über längere Zeit total verstummen ließen. Kom-
poniert wurden die abwechslungsreichen Chansons des Debüts vornehmlich auf dem Klavier, um danach in Latin-, Swing- oder auch angejazzte Arrangements inklusive jubilierendem Duettgesang mit Cojocaru gegossen zu werden. Die Stücke folgen nie banalen, allzu nahe liegenden Akkordfolgen und schrauben sich nicht zuletzt deshalb hartnäckig mit wohlig-wehmütiger Melancholie in die nach unglaublichen Wetterkapriolen nach Stabilität lechzenden Gehörgänge. Man könnte einwenden: Hier wurde nichts riskiert und eine totale Konsensproduktion abgeliefert. Dem stelle ich entgegen, dass Frau Parisini und »GYMHTM« 100 % kongruent sind und die Produktion damit auf eine verquere Weise wieder so authentisch wie möglich ist. Es entsteht in keinem Stück der Eindruck, es wäre der Chanteuse etwas aufgezwungen worden, was ihr nicht vollkommen entsprechen würde. Zu einem Konzert von Violetta Parisini kann man ohne Bedenken die eigene Mutter inklusive Neffe/ Nichte mitnehmen und es kann leicht sein, dass es am Ende allen gefallen hat. Und das ist als Kompliment zu verstehen. STEFAN KOROSCHETZ
People Like Us & Wobbly »Music For The Fire« Illegal Art PLU sind eine typische Plunderphonics-Band, und das Album ist eine Konzeptarbeit, die die Lebensspanne einer Beziehung darstellt. Hunderte Samples von Liebesliedern und Stimmen wurden dazu verwendet. Vicki Bennet hat bereits seit 1991 zahlreiche CDs, AVMultimedia-Projekte etc. unter dem Namen People Like Us veröffentlicht. Immer sind ihre Projekte witzig, von profunder Kenntnis
der Popkultur und einem surrealistischen Zugang verpflichtet. Wobbly ist Jon Leideckers Collagenprojekt und Vickis langfristiger Partner. Da es um Kommunikationsprobleme und Herzensbrecherei geht, kann sich jeder damit identifizieren. Das CD-Artwork ist eine Wonne, und zusätzlichen Genuss offeriert das comicartige Lyricsheet, wo der Soundtrack der Samples zu einem kohärenten Ganzen verwurstet wurde. HANS KULISCH
Phantomband »Freedom Of Speech« Sky Records/Bureau B Jaki Liebezeits Band wird alle Can-Fans begeistern. Obwohl sie den Can-Stil durchaus weiterführt, ist die Phantomband, auf dieser Einspielung ohne Rosko Gee (Ex-Traffic), weitgehend unbekannt. Es gibt drei sehr unterschiedliche Alben der Phantomband. »Freedom Of Speech« stammt aus dem Jahr 1981. Die anderen aus 1980 bzw. 1982. Hier verzichtete die Band weitgehend auf den Bass und stellte den Sprachakrobaten Sheldon Ancel ein. Im Gegensatz zum Debütalbum ist »Freedom Of Speech« nicht karibisch beeinflusst, sondern eher eine düstere Avantgarderock-Angelegenheit, mit nur gelegentlichen Dub-Sprengseln. Bemerkenswert ist der Pool an Musikern, aus dem in der Folge zahlreiche erfolgreiche Projekte entstanden. Helmut Zerlett, Olek Gelba oder Dominik von Senger konnte man später in Dunkelziffer, Damo Suzuki Band, Unknown Cases, Club Of Chaos, Trance Groove etc. antreffen. Wiederentdeckter Klassiker der Kölner Schule. HANS KULISCH
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Aus dem Elektronähkästchen – erstes Fach Shelly Johnson, gespielt von Mädchen Amick, war die schöne Geliebte von Bobby Briggs, dem bösen Freund der armen Laura Palmer. Die Rede ist, man ahnt es bereits, von »Twin Peaks«, aber eigentlich geht es um den dritten Release des Wiener Design- und Plattenlabels Kinderkreuzzug. Auf der »Shelly Johnson EP« wird nicht nur im Titel die Affinität der Protagonisten zu den verschrobenen Welten David Lynchs deutlich. Auch musikalisch passen die Songs des Duos MADCHEN AMICK gut in verrauchte Clubs in abgelegenen amerikanischen Kleinstädten: bluesige Männerstimme, schrammelnde Beats, Gitarren oder Synthielines, das Tempo stets gemäßigt, eine Prise Schrulligkeit – so scheppert der düster-anziehende, elektronisch versetzte Indie-CountryBlues der Platte dahin. Feine Sache. • Ebenfalls zwei Österreicher, die Jungs von KOMATON, konnten schon mit ihrer zweiten Platte beim Frankfurter Riesen Cocoon landen. Ihr Track »In Between« wurde auf die zehnte »Cocoon Compilation J« aufgenommen. Die wunderbar organische, verspielt-kreiselnde Nummer befindet sich (durch eine Verkettung von tragischen Umständen unter dem Titel »Sick«) in prominentester Gesellschaft: Ausschließlich die Größten der Großen
der elektronischen Clubwelt gratulierten dem Label zum zehnten Geburtstag, die Liste reicht von Moritz Von Oswald über DJ Koze bis Ricardo Villalobos, von Pantha du Prince bis Reboot. Die nicht selten auf die Dancefloors zur Peaktime schielenden Soundästhetiken des Labels oder seines Vaters Sven mögen nicht jedermanns Sache sein (die Tracks von Extrawelt, Popof und Dubfire tragen in dieser Hinsicht eindeutig zu dick auf), aber dass auf den Buchstaben-Compilations Jahr für Jahr Clubmusik auf höchstem Niveau präsentiert wird, kann man schwerlich leugnen. • Ähnliches gilt für die Sommer-Vorschau »Party Animals Mixed By Marco Carola & Nick Curly« (beide: Cocoon/Word and Sound). Ersterer spielt druckvollen, stark perkussiven, minimalen Tech-House (zu pragmatisch und funktional für meinen Geschmack), während Cécille-RecordsChef Nick Curly es organischer angeht, auf funky House setzt und den Beats, Percussions und Vocals durchaus Luft zum Atmen lässt – so macht ein Sommermix gleich viel mehr Spaß. • Lauschiges für die gepflegte Strandlounge kommt, passend an dieser Stelle, von dem Nürnberger Duo BOOZOO BAJOU; sie zeichnen sich für den siebten Teil der Serie »Coming Home« (Stereo Deluxe/Warner) verantwortlich.
»Wohlfühl-Elektronik« will das Genre heißen, es vereint u. a. Soul- und ReggaeElemente mit wabernden, deepen Beats. Gitarren der Marke wärmend bis funky finden ebenso ihren Platz wie die obligatorischen Percussions. Speziell im ersten Teil bewegt sich der Mix in Sachen Cheesyness streckenweise hart an der Schmerzgrenze, dann aber wird man durch die Kombination von Piano und Raggavocals in Boozoo Bajous eigenem »Killer« wachgerüttelt und verbringt die nächste halbe Stunde eine musikalisch gute Zeit (Henrik Schwarz & Amampondo, Motor City Drum Enselmble ...), bis der Mix gegen Ende wieder in drögen Dub-Wellen versinkt. • Herrlich erfrischend und mitreißend gestaltet der griechisch-französische Oldschool-DiscoSpezialist DIMITRI FROM PARIS seine musikalische Zeitreise »Get Down With The Philly Sound« (BBE/K7/Hoanzl). Auf zwei CDs begibt er sich zurück in das Philadelphia der 1970er Jahre zur Geburtstunde des Disco-Sounds. Wem bei den in jeder Hinsicht strahlenden Grooves von Teddy Pendergrass, Harold Melvin & The Bluenotes oder Eddie Kendricks nicht das Herz aufgeht, der hat eines aus Stein! KATHARINA SEIDLER
Pierced Arrows »Descending Shadows« Vice Eine Band verliert einen Drummer, macht ein paar Monate Pause, ändert den Namen, rappelt sich auf und macht weiter und zwar nicht ganz wie vorher, sondern entwickelt sich auch noch musikalisch weiter. Während viele Bands einen Ausstieg als ein rein technisches Problem betrachten, das so schnell wie möglich gelöst werden soll, damit man weitermachen kann, um den Pfad des Erfolgs nicht allzu früh zu verlassen, verzichten Pierced Arrows auf den doch ziemlich legendären Bandnamen Dead Moon und formen sich neu, obwohl eben ›nur‹ der Drummer ausgewechselt wurde. Respekt. Es ist schon eine Leistung sich von einem Bandnamen zu verabschieden. Ohnehin werden Dead Moon mit 1990er-Jahre-Größen wie Pearl Jam oder Nirvana in Verbindung gebracht und spielen somit eine wichtige Rolle in der Musikgeschichte. Sie wollten anscheinend nicht als eine von diesen Bands enden, die in den Biografien von Stars als Fußnote vorkommen. Pierced Arrows treffen mit dem neuen Album voll ins Bullseye, und zwar im Robin-Hood-Style. Der dreckige Low-Fi-Sound von Fred und Toddy Cole ist unverkennbar, und die Stimme Freds, nicht nur die Farbe, sondern auch das Timing, lässt oft an Captain Beefheart denken. Es ist schwierig
nach zwanzig Jahren immer noch wie eine Garage-Band zu klingen. Pierced Arrows schaffen das.
liches Electronic-Listening-Album, das den Namen neben Göttern wie Aphex Twin und Ken Ishii auch verdient, und von dem Kruder wie Dorfmeister ihr Leben lang träumen dürfen.
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SAŠA MILETIĆ
Patrick Pulsinger »Impassive Skies« Disko B/Trost Brandnew Retro! Wahl-Ösi Patrick Pulsinger gilt nicht umsonst als Sternenjunge des strammen Neunziger-Marschgangs rotweißroten Technos mit ein paar reingedrechselten mellow vibes. »Carrera«, »Dogmatic Sequences«, »Porno« waren internationale Knaller-Statements zur wegbereitenden Flurkontrolle. Aber allen mutete eine gewisse stilimmanente Gleichmut an. Pulsinger, seit Jahren eher vielgeliebter Studioboss und Produzent bis hin zu Patrick Wolf und Hercules and Love Affair, schlenkerte da letztens schon im Altersbrot eher uff Richtung Klassik oder gelungener zum Jazz. Die triebfreudigen Klangwölkchen seines fünften Vollalbums aber blasen all das hinweg, schaffen es, ein im konkreten Vorwärts-Beat badendes Tech-Stakkato abzuliefern, das beständig Richtung Glamour Pop, Electro und Experiment abdriftet, wo Blasmeister Franz Hautzinger im furiosen »Grey Gardens« sich schlüssig mit Bunny Lakes Trällermieze Teresa Rotschopf, den Elektronik-Rockern ElectroGuzzi und Klang-Maestro Fennesz die Klinke als Partner in die Hand drücken. Ein meister-
PAUL POET
Ojra & Kiritchenko »A Tangle Of Mokosha« Nexsound/The Lollipoppe Shoppe Das Zusammentreffen zweier Welten ukrainischer Musik ist auf dieser CD zu hören, wenn die Neo-Folkband Ojra mit Experimentalmusiker Andrey Kiritchenko tief in die eigene Vergangenheit vordringt. »A Tangle of Mokosha« versammelt zehn aktualisierte Interpretationen heidnischer und christlicher Lieder, die während einer musikethnografischen Forschungsreise in die Ostukraine entstanden waren und zu denen Kiritchenko elektronische Einsprengsel mitbringt. OjraSängerin Halyna Breslavets ist u. a. Lehrerin für traditionelle ukrainische Volksmusik, eine ähnlich kraftvolle, enigmatische Stimme findet sich erst wieder bei der russischen Band Volga. Es ist den Labels Nexsound und Lollipoppe Shoppe zu danken, mit dieser CD eine weitere Möglichkeit veröffentlicht zu haben, im Mitteleuropa heutiger Tage etwas über jahrhundertealte ukrainische Musik zu erfahren. HEINRICH DEISL
Oriol »Night And Day« Màgia Roja/Klangbad/Brokensilence Ein neues Signing für Planet Mu. Oriol Singhji aus Barcelona und wohnhaft in England, präsentiert hier sein Debüt mit einer grandiosen musikalischen Leistung. Er bewegt sich geschmacklich zwischen 1970ies-Fusion eines Herbie Hancock oder Stevie Wonder und dem luftigen House eines Theo Parrish, Larry Heard und Recloose, mit kleinen Abstechern zu D’n’B und Dubstep. Oriol verkabelt die Enden neu zu etwas sehr Frischem, zu einer souligen Fantasie, die in etwa einer Sonnenuntergangsparty in einem Fantasieland entspricht. Sehr funky, sehr stylish und up to date. Eine charakteristische Platte für Auskenner und Detroitfanatiker. HANS KULISCH Q’AA »Chi’en« Planet Mu Gewöhnungsbedürftig zunächst, doch elektrische Sitar, Modularsynthesizer oder Hammondorgel helfen mit, dieses krautige Klanguniversum zu erschließen. Sechs Tracks in sage und schreibe 79 Minuten weisen die Richtung, und der Albumtitel, der für Luft und das Kreative steht, besagt, dass die Band aus Barcelona Experimentellem nicht abhold ist. Am krassesten passiert dies in einer »Fieps«-Orgie, wo sämtliche Regler überdreht scheinen, am Anfang von »Peeling Off«, das dann in ein perkussives Mantra umkippt. Mantra, jawohl. Nicht wenig vertrauen Q’AA auf die Kraft der Repetition, und alsbald setzt ein stakkatohaftes Pluckern ein und »Peeling Off« mäandert plötzlich in galaktischen Sphären. Dermaßen fabrizieren die Spanier auch elektronische Schwebezustände, was auf ein spezielles Mastering im Fauststudio schließen lässt. Daran schließt der helle Kraut-goes-HellWahnsinn »She Provides« an und gibt zusätzlich eine Ahnung von No Wave. Grandios: Q’AA vereinigen archaische Klanggewalten ebenso in sich wie akustische Zartheit im finalen Titelsong. ALFRED PRANZL The Reverend Peyton’s Big Damn Band »The Wages« SideOneDummy Auf, Richtung Süden! Cowboy-Junk-SlideHowling-Country-Evangelist-Rock & Bluegrass, ein gelungener Wurf, so ist’s recht genau das, was wir hören wollten. Phantastische, unheimlich starke wie verwunschene Musik, die sofort abhebt. Bei solchen Klängen gibt’s nichts mehr zu diskutieren, kann man doch liegen, tanzen, springen, sie genießen, sich ganz in ihr versenken und wieder davonfliegen (Ihr Geist wird bestimmt folgen). Die Stimme des Sängers ist dunkel und tiefsinnig – ein Medizinmann, Indianerhäuptling, Veteran – und erzählt mehr, als sie tatsächlich sagt. Musik, die
man nie vergisst, auf die man immer wieder zurückkommt, die man sich zu Gemüte führt und innerlich verarbeitet. Ich wünschte wirklich, jedes Album käme so auf den Punkt wie dieses: Wo man nicht mehr zu urteilen braucht, sondern sich an den Händen hält, die Ohren spitzt und tanzt. Erstaunlich, ja viel mehr noch. NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR Dan Sartain »Lives« One Little Indian/Hoanzl Let there be rock: verwurzelt, verkörpert, verschwitzt und auf uns projiziert. Großartiger Mix, ein Kerl mit Eiern und einer guten Stimme. Und sehr authentisch. Oder: Wenn Einflüsse verschmelzen, um etwas weiterzuführen, anstatt sich öde im Kreis zu drehen. Jeder Song dieses Rabauken mit Seidenhandschuhen ist wie ein kurzer 8-mm-Film, erzählt von privaten Schwierigkeiten, von Liebe, innerer Unruhe und einem Ziel, das es wert ist, dass man dafür kämpft. Im Grunde rockt Sartain wie zu den Zeiten, als die Musik starb, rollt aber weiter durch das Tal der Buddy Hollys und anderer O-Suzie-Qs, nur um wieder aus größerer Distanz auf sie zu blicken. Ein Tanz, ein Ball, bei dem die Fahnen hochgehalten werden und man durch Ihr Wohnzimmer marschiert (da liegt Blei in der Luft). Rock ist nicht tot, wenn man ihn lebt. Great hot stuff! NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR Ignaz Schick »Butania Metallica« Edition Zangi/Künstlerhäuser Worpswede Ignaz Schick, seines Zeichens Labelbetreiber von Zangi und Turntable-Improv-Musiker, legt mit diesem Vinyl wenn nicht eine aktuelle Zusammenfassung, dann doch mindestens einen guten Einstieg in sein Werk vor. Gleich von Anfang an geht es um Metaebenen: Als Verfechter eines Open-SourceAnsatzes an Musik gerinnt bei Schick alles, Töne, Geräusche, Melodiefragmente – und die Handhabe all dessen – zu einem ausufernden Klangkunstsystem, das sich zu bestimmten Aussagen darüber verdichtet, was Musik ist und, viel wichtiger, sein könnte. Schick hat sich darauf spezialisiert, mit dem Plattenspieler selbst zu spielen. »Butania Metallica« ist der erste Teil von Soloalben, bei denen er den Turntable mit einem bestimmten Material bearbeitet, in diesem Fall metallische Instrumente wie Gongs und Becken. Hier wird ganz bewusst die Materialität von Klängen jenseits eines Musikkorsetts ausgestellt. Die Platte ist in eine feine schwarze Kartonbox verpackt, dazu gibt es ein Textblatt mit minimalistischsten Infos. Sound- und Coverästhetik sind genau das Richtige für Geräuschkunstsammler. Abgesehen davon ist »Butania« eine höchst konzentrierte Studie darüber, wie Improvisation auf dem Turntable funktionieren kann. HEINRICH DEISL
Spectre »Death Before Dying« Wordsound Nach langer Pause meldet sich Skiz Fernando Jr., alias The Ill Saint, alis The Eye, alias Slotec als Spectre wieder auf Wordsound zurück. Aus den James-Bond-Filmen kennen wir ja die Organisation SPECTRE (»Special Executive for Counterintelligence, Terrorism, Revenge and Extortion«) des Erzbösewichts Ernst Stavro Blofeld, und innerhalb solchen Referenzfeldern hat sich Wordsound ja schon immer gerne bewegt. Nun also »Death Before Dying«, die Kurzformel für Untote, für Wiedergänger, für das Verdrängte, welches ewig wiederkehrt, weil es nie richtig begraben worden ist. Auch hier schöpfen die Intros und Samples aus mit Horror-, Film Noir-, Thriller-, Adventure- und Sexploitation-Soundtracks vollgestopften Trift-Store-Ramschkisten. Exotica als Darkxotica/Trashadelica gelesen. Yma Sumac als Teufelspriesterin, »Soul Vibrations« im Digi-Chip gefangen und mittels Spinett-Akkorden Edgar Alan Poe zugeneigt. Spectre wäre echt fähig, eine komplette CD mit gefährlicher Exotica zu machen. Lasziver HotVoodoo-Sex-Appeal im Tiki-Feuergott-Cocktail-Gift-Becher entlang von Exotica, Erotica, Narcotica. Wer würde sonst auf die Idee kommen, Les Baxters akustische Gänsehaut-Gemälde »This Castle Made Of Quiet« (inklusive überirdischer Theremin-Heimsuchung) in den Lovesong einer Vampirin umzuwandeln? Hier wird wenigstens noch zugebissen und James Bond in einen sexploitiven Horrorstreifen verfrachtet. Nur, und das trübt dann auf die Dauer doch die geheimen Genüsse, kennen wir das alles schon. Was im Prinzip auch egal wäre. Spectres vermantschte, stets parallel out of sync laufende und stolpernde Beats sind immer noch way out, ebenso betreibt er weiterhin BassScience, die ihresgleichen sucht. Es stellt sich eher die Frage, ob hier jemand (der ja nicht gerade wenig einflussreich war) einfach total abgeschlossen (bzw. ausgeschlossen) von der Welt in seinem ganz eigenen Refugium (Schloss? Ruine? Keller? Studio?) lebt und so rein gar nichts von dem mitbekommt, was sich sonst tut. Schon bei Shackleton bzw. auf unzähligen Hyperdub-Tracks war Wordsound ja eine jener Referenzen, die dabei immer wieder aufblitzten. Endlich nahmen junge Acts die losen, verlorenen Fäden wieder auf (und mit Kevin Martin/The Bug ist als Pressure bzw. King Midas Sound ja auch ein alter Wordsound-Kollaborateur mitten im Dubstep-Epizentrum). Vielleicht reicht es Spectre auch, einfach etwas angeregt, ins Rollen gebracht zu haben. So ganz frei von Dubstep sind seine neuen Tracks ja auch nicht. Nur sind das eben auch nicht genutzte Chancen. Schon vor zehn Jahren fanden die Black Secret Technologies von Wordsound aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen keinen Eingang in ein Wurm-
loch Richtung Underground Resistance (was eigentlich logisch gewesen wäre). Wieso das nun mit Dubstep scheinbar auch so ist, muss uns wohl ein Orakel erklären. Bis dahin gibt’s aber zumindest feisten Grusel-Dub back from the grave. DIDI NEIDART Harper Simon »s/t« Pias/Rough Trade Wir befinden uns im Subgenre Söhne. Harper ist der Sohn von »Bridge Over Troubled Water«-Paul-Simon und hat somit eine Last zu tragen, aber auch das Privileg, in Nashville mit alten Studiomusikern, die schon alles gesehen haben, aufnehmen zu können. Dazu kommen noch Freunde aus der Selbsthilfegruppe wie Sean Lennon. Er überrascht mit seiner Nähe zum Country, schafft aber mit seiner unschuldigen Popseele den Spagat in Richtung Eigenständigkeit fast immer souverän. Dass Papa Paul gleich vier Songs mitgeschrieben hat, schmälert den Eindruck etwas, aber wer dessen letztes Album kennt, der ist davon überzeugt, dass jetzt Harper der Songschreiber Nr. 1 in der Familie ist. Songwriterdebüts dieser Klasse gibt es selten. G. BUS SCHWEIGER Spring And The Land »Outside My Window« Early Morning Melody/Hoanzl Der neue 5er aus heimischen Landen schwört auf Vergangenheitsbezug. Wer einen Song »Dylanesque« nennt, dazu den Sound des »Hurricane«-Dylan nachstellt und noch dazu ein paar vokale Eigenheiten des Altmeisters übernimmt, der kann das nicht leugnen. Die Gitarrensounds wurden zwar
eher in der Wühlkiste von Herrn Young gefunden, aber was soll’s, gut geklaut ist hier mehr als die halbe Miete. Auch wenn der Diskurspop manchmal durchblinzelt und Schüchternheit keine Tugend ist, so beschränken sie sich nicht auf eine Kiste, die gnadenlos geplündert wird, sondern stehlen sich auch gekonnt durch etwas abwegigere Fundstücke. Wenn noch mehr Selbstvertrauen dazukommt und der Folk am Weg liegenbleibt, dann ist diese Band mehr als ein Versprechen. G. BUS SCHWEIGER Teenage Fanclub »Shadows« Pias/Pema/Rough Trade Teenage Fanclub verkörperten einmal den Sound einer Generation und definierten mit Songs wie »Your Love Is The Place Where I Come From« oder »What You Do To Me« die Qualität von Pop für alle Bands, denen das Gesamtwerk von Big Star heilig war und ist. Das war vor gut fünfzehn Jahren, aber die Generation Hornby liebt diese Band zu Recht noch immer. Nach fünf Jahren Pause kehren die Schotten nun mit »Shadows« zurück und tun sich schwer, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln. Die drei Songwriter der Band wären eigentlich ein Hoffnungsschimmer, aber kräftige Großtaten sind hier nicht vorhanden. Es herrschen die neue Ruhe und Gelassenheit vor, die zwar auch Norman Blake und Konsorten mehr als würdevoll erfüllen, aber so reicht es nur zu einem herzlichen »Nice That You Are Still Out There«. G. BUS SCHWEIGER
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Aus dem Elektronähkästchen – zweites Fach Reich bestückt war der Promo-Tisch des Elektronähkästchens dieser Tage mit Soloalben. CHRISTIAN PROMMER hatte vor ein paar Jahren die durchaus gute Idee, Classics aus dem Techno-Bereich mit seiner Band Drumlesson-Kollektiv auf ›echten‹ Instrumenten nachzuspielen und ihnen eine jazzige Note zu verleihen. Das Konzept ging auf, weshalb er nun 2010 »Drumlesson Zwei« (K7/Hoanzl) nachschießt. Mit behutsamer Nachbearbeitung durch Prommers und Peter Kruders erfahrener Hand werden also zum Beispiel Klassiker wie DJ Rolandos »Jaguar« oder Jean-Michel Jarres »Oxygene Part IV« neu interpretiert. Dass durch den ungewohnten Blickwinkel neue Perspektiven und Tiefen in den Tracks erschlossen werden, erklärt sich selbstredend. Und live, munkelt man, ist das großes Tanz-Kino. • Minimal-Techno bzw. Minimal-House machen die zwei Berliner Produzenten von CHANNEL X, die vor kurzem ihr erstes Full-lengh-Album »X Files« auf Oliver Koletzkis Label Stil vor Talent (Word and Sound) herausbrachten. Nichts unbedingt revolutionär Neues, aber immerhin jene Art von bouncigen Kickdrums, umspült von elektronischem Geblubber, die einen beim Tanzen so schön aus den Knien abfedern lassen. Außerdem kommt das Album als einheitlicher Mix daher. Schön wären halt noch ein paar Ausreißer, Luftblasen, gewesen, so bleibt die MinimalMasse doch recht fade. • Noch minimalpragmatischer gehen es NIEDERFLUR an. Der Minimal-Techno ihres Albums »Bipolar« (Niederflur Tracks/Kompakt) setzt sich aus futuristischer Distanziertheit gepaart mit Richie Hawtin’scher Deepness zusammen (auf dessen Minus Records ihre vergangenen Releases wie die Faust aufs Auge passten) und tönt, äh, eh ok. • Nix da Minimal, »Rockno« nennt SID LE ROCK seinen Musikstil, denn an rockigen Elementen mangelt es seinem Techno in der Tat nicht. Bis zu deren vorläufigem Ende bei Ladomat beheimatet, wurde der Franko-Kanadier-Berliner nun in die Familie von Shitkatapult (MDM) aufgenommen, deren rotzig-rockiger Zugang zu elektronischer Musik auch ihm nicht übel zu Gesicht steht. Es geht ihm also gut, »Tout va bien« verkündet der Albumtitel. Weniger
die Erdigkeit als vor allem die Funkyness von Rockmusik interessiert ihn, sie verwebt er etwa in Form von Rock-Bassriffs mit maschinellen Beats. Dennoch wird Sid Le Rock dabei nie allzu plump oder brachial, was ihm Pluspunkte auf beiden musikalischen Seiten einbringt. Dass das Konzept gefällt, belegen unter anderem Remixaufträge für Depeche Mode, Placebo oder Gui Boratto. • SAVAS PASCALIDIS versucht auf seinem insgesamt dritten Longplayer »Nuclear Rawmance«, dem ersten auf seinem dritten eigenen Label Sweatshop (Intergroove), den Spagat zwischen Detroitaffinem Techno und modernem House, mit einigem Erfolg. Als bindendes Glied fungieren zum Einen kühlere Flächen, die den technoiden Tracks eine dubbige Atmosphäre verleihen, zum Anderen sehr klar gesetzte Claps oder Drummachine-Beats als Garanten für housige Knackigkeit. In der zweiten Hälfte des Albums bezieht er sich mehr auf seine große Gigolo-RecordsVergangenheit und bedient sich recht oldschooliger Electro-Soundästhetiken. Wenn auch kein funkelnder Stern, so ist das doch ein solides Album geworden. • Ebenso wie Pascalidis dreht auch der alte Technohase Andreas Krüger aka DER DRITTE RAUM gerne an Knöpfen und produziert seine Tracks lieber im Hardware-Maschinenpark als am Schreibtisch vor dem Laptop. »Rosa Rausch« (Save To Disc/Word and Sound) heißt sein siebentes Album, und die irritierende, rosa Poppigkeit des Covers überträgt sich auch auf den Sound. Außer einer gewissen Schwäche für Alliterationen (Tracktitel: »Lieblingsloop«, »Modularmodul«, »Weitwelt« etc.) kann man Krüger nämlich noch eine sich neuerdings manifestierende Vorliebe für sommerlichpoppige Arrangements und eine Portion schelmischer Humor attestieren. Tracks wie das titelgebende »Rosa Rausch«, das jazzige »Random Rag« (Sax-Sample und Kontrabass) oder »Swing-Bop«, das genauso klingt, wie es heißt (1920er-JahreCharleston) sind für meinen Geschmack etwas zuviel des Guten. Auch die technoiden Tracks haben diesmal diesen stark poppigen Beigeschmack, und ob sich dieser nun schwebend oder verpluckert-verspielt gibt, irgendwie schmeckt das komisch. Schon schön, aber zu gewollt witzig, um es
mit einer weiteren Alliteration auszudrücken. • Nun zu Experimentellerem: »The Light At The End Of The Dial« (Gagarin) der Hörspiel-Produzenten und Performer VERNON & BURNS besteht aus vierzehn kleinen, charmanten Sounduniversen, bunten Mini-Welten zwischen Field Recordings und Musique Concrète. Als »soundtrack to the notion of nonsense« wird es angekündigt; das darf man gerne unterschreiben, mit einem Lächeln auf den Lippen. • Die Musik des Kölner Duos DONNA REGINA bewegt sich zwischen Indie-Songs und Pop-Chansons mit elektronischer Note. Seit bald zwanzig Jahren machen Regina und Günther Janssen zusammen Musik, ihr Weg führte sie bereits zu so renommierten Labels wie Strange Ways oder Rough Trade, bis sie seit nunmehr 1999 bei Karaoke Kalk (Indigo) ein musikalisches Zuhause gefunden haben. Auf ihrem neuen Album »The Decline Of Female Happiness« ist von der Electronica ihrer früheren Veröffentlichungen nur noch sehr wenig übrig. Meist entstehen nun aus Gitarre, Geschrammel und melancholischer Stimme organische, aber unauffällig dahinplätschernde Lieder über Alltag, Einsamkeit und Älterwerden. Tut keinem weh, aber ein ordentlicher Schuss Nervenkitzel hätte hier keinem geschadet. • Fanfaren und Trommelwirbel zum Abschluss: Zwei Helden der deutschen experimentellen Musikszene, BLIXA BARGELD & ALVA NOTO, haben ihre illustren Geister vereint und nach einigen, über mehrere Jahre verteilten gemeinsamen Auftritten ihre musikalische Symbiose auf schwarzes Vinyl gebannt: »Ret Marut Handshake« (Raster-Noton/Kompakt) heißt die erste EP, ein Album soll in Kürze folgen. Hier kommt zusammen, was zusammen gehört: sonor, hypnotisch, verdreht, tollkühn, zauberisch, wie sich die gleichsam einzigartigen Elemente, Bargelds Bassstimme und Notos Soundscapes zu einem perfekten Ganzen vereinen. Ebenso faszinieren die zwei Coverversionen der EP, eine des amerikanischen Traditionals »I Wish I Was A Mole In The Ground« sowie eine von Harry Nilssons »One«: Gänsehaut wie beim Fröscheregen. Groß und großartig. KATHARINA SEIDLER
Travels »Robber On The Run« Ownrecords/Alive Auf manches kann man sich auch in diesen Krisenzeiten verlassen: Auf die beständige Qualität der Releases von Ownrecords aus Luxemburg. »Robber On The Run«, das dritte Album der Band aus Massachusetts fängt gemächlich an und bietet fortan bezau-
bernde Melodien, die einen ins Träumeland geleiten. Die E-Gitarre fehlt trotzdem nicht, in aller Ruhe steuert man auf den Höhepunkt des Albums (»What You Haven’t Seen«) zu. Ob der vorgenommenen Konzentration und Verdichtungen benötigen Travels gerade mal 27 Minuten, um ihr musikalisches Universum darzulegen – in diesem
gibt es viel Bemerkenswertes zu entdecken. JÜRGEN PLANK
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Trentemoeller »Into The Great Wide Yonder« In My Room Anders Trentemöller gilt zwar als Technoproduzent, seine Arbeit hatte aber immer
schon eine cinematographische Ader. Hier lebt er seine Vorliebe für Gothic Americana aus. Postpunk, 1950ies Rock’n’Roll-Gitarren u. v. m. verdichten sich zu einem Melodram. Schon die erste Nummer »The Mash And The Fury« zieht einen in den Bann. Sieben Minuten sinnvolle Nutzung von Maschinen – ein klarer Beweis, wie organisch elektronische Musik sein kann. Trentemöllers Debüt ist auch schon vier Jahre her und war schon ein Highlight an düsterer Elektronik. Die besten Tracks enthalten auch hier Vocals. Der Däne hatte immer schon ein Händchen für gefühlvolle Nostalgie und bizarre Schönheit. Sein Spektrum reicht auch hier bis zum Surfsound, was will man mehr. HANS KULISCH Tuó »Walk On Silence« Flowerstreet Records/Alive Ruhig geben sich Tuó, Gitarre und Handtrommel bilden das musikalische Fundament für diese Acht-Songs-Sammlung. Dazu kommt ein lieblicher Zwiegesang, der an die frühen Indigo Girls erinnert. Auch in puncto Songwriting ist dieser Vergleich durchaus angebracht, die große Meisterschaft der Indigo Girls erreichen Tuó freilich nicht – auch wenn das eine oder andere Piano als musikalischer Zuckerguss aufgetragen wird. Viel Azure Ray, Indigo Girls und Cowboy Junkies dürften Tuó bereits gehört haben, sich von großen Bands beeinflussen zu lassen, schadet, wie das Beispiel zeigt, dem eigenen Musikschaffen keineswegs. Insgesamt ist es jedenfalls gut, dass die Tuó-Songs zuweilen ein wenig holpern, sonst wäre das Ganze ohnehin zu glatt ausgefallen. JÜRGEN PLANK Various Artists »Sixteen F**king Years Of G-Stone Recordings« G-Stone/Hoanzl Wieder mal Kruder & Dorfmeister à la GStone? Ordentlich abfeiern? Zwölf Klassiker (auf der einen CD) und 13 neue Tracks (auf der anderen). Sie sind alle durch die Bank Klassiker – hier wird nicht herumlaviert, dafür deep fried ein üppiges Fest bereitet. Weiters fällt mir auch gleich auf, dass diese Musik nicht vom Zahn der Zeit angenagt ist (da sind die Uhren wohl von Anfang an anders gelaufen). Und wieder stellt sich die Frage: Wenn das Mainstream ist und stürmisch beklatscht wird, dann muss es auch seinen guten Grund haben. Hier die unbestreitbaren Fakten und mehr Gründe, warum man bei solchen Produktionen die Arme in die Höhe wirft: Ein erstklassiges Produkt, Beats und Grooves in Überfluss, Maßarbeit – das ist ein Unterschied wie Designerklamotten und ein schlecht geschnittenes T-Shirt (ich weiß,
man kann beides mögen). Jetzt im Ernst, solche Produktionen spiele ich ganz selten, was allerdings ein Fehler ist, denn jedes Mal, wenn ich eine in die Hände bekomme, kann ich nur »Wow!« sagen. Die Struktur, ja einfach alles, was dazugehört, ist so sorgfältig ausgearbeitet, wie’s nur ganz wenige tun, daher: ein voller Erfolg. Hör’n Sie sich das an! NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR Various Artists: »Karpaty OFFer Festiwal 2009 – Monografie Instrumentów Kapackich – Carpathian Instruments & Sounds Vol.1« Sokol Das Grenzgebiet Polens und der Slowakei ist nicht nur von einer langen Geschichte und Tradition geprägt, sondern auch von warmherzigen Völkern und Nationen. Also wird das musikalische Territorium großzügig abgesteckt, gleich einem Klangbogen, der sich von einem Pol zum anderen spannen könnte. Es geht darum, was Menschen verbindet oder wie sie zusammenkommen (Friede, nicht Krieg – Musik, nicht Gewehre). Es geht auch um Instrumente, die so alten Ursprungs sind, dass man sich jedes Mal, wenn man sie spielt, jedes Mal, wenn man eines an die Lippen führt und hineinzublasen beginnt, in die lange Menschenkette einreiht. Es geht um Atem, um Signale, um lebendige Interaktion. Die »Monographie der traditionellen karpatischen Musikinstrumente« bietet auch einen umfassenden Blick (und ist eine Rückbesinnung) auf Sackpfeifen, Flöten, Pfeifen, Hörner und andere unbekannte Instrumente, jedes davon im Besitz eines Menschen, der diese Tradition bewahrt und bis heute lebendig erhält. Indem man solche Instrumente weiterhin spielt, wird man natürlich zu einer Art Teilhaber an der Gesellschaft – wie viele Menschen und Generationen braucht es wohl für ein Instrument und eine Tradition? Dieser Katalog vermeidet natürlich jeden Folklorismus, indem alle Instrumente in ihren gesellschaftlichen Funktionen und Rollen präsentiert werden. Etwas Einzigartiges, das Menschen machen, gemacht haben und weiterhin machen werden. Es passiert sehr oft, dass man bei der Beschäftigung mit fremden Traditionen die eigenen, verdrängten Wurzeln findet, wie man ja auch beim Erlernen anderer Sprachen Ähnlichkeiten und Unterschiede entdecken kann und so erst wahrnimmt, was jede einzigartig macht. Die hier versammelten Instrumente sind gleichsam die vielen Sprachen, die unsere Geschichte spricht, von den Karpaten bis zu Ihnen. Eine beeindruckende Reise. NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR
Franck Vigroux »Camera Police« D’Autres Cordes Für sein drittes Album hat Vigroux wieder tief in den Sphären zwischen Post-Industrial und elektronischer Avantgarde gegraben, Analog-Equipment trifft Turntables trifft Vocoder, Distortion-Flächen, Stimm-CutUps und unterkühlte Beat-Ungetüme soweit man hört. Große Teile der Platte wurden in dem von Luc Ferrari gegründeten Studio eingespielt, wodurch sich wieder jede Menge musikhistorischer Verweise herleiten lassen. Vigroux geht trotz aller vordergründigen Klobigkeit sehr ziseliert mit unterschiedlichen Konzepten von Noise um, nie wird daraus ein Selbstzweck zum Ohren-Kaputtmachen, sondern Noise verdichtet sich auf »Camera Police« in zehn Nummern zu einem Statement über aktuelle gesellschaftliche Befindlichkeiten. Sozusagen ambitionierter Diskurslärm. Einer meiner französischen Lieblingskrachmacher. HEINRICH DEISL The Wave Pictures »Susan Rode The Cyclone« Cargo Records/Hoanzl Es ist ein wunderbares Glück, mehr als eine Band in seinem Leben gehört zu haben. Das ermöglicht beim Ersthören eines Albums mit einem gewissen Alter, so die Synapsen noch schießen, das muntere freie Assoziieren mit Bekanntem. Bei diesem schoss in der Reihe der Songs »aha, Violent Femmes, mit ein bisschen Clap Your Hands Say Yeah, könnte auch Parenthetical Girls akustisch sein, mit Hefner, ja sehr viel Hefner« ein und schon hat das Ding mehrere Schubladen, in denen es verrotten kann. Wenn nicht Song Nummer sechs die unglaubliche Spielfreude einer die eigene Energie liebenden, klugen Band hörbar gemacht hätte. »I Just Want to Be Your Friend« ist ein Sommersong, wie ihn sich noch jeder verdient hat. Sommer und Mensch. Die Herren David Tattersall, Franic Rozycki und Jonny Helm aus Wymeswold, England, seit 1998 am Arbeiten, und hörbar dem New Yorker Anti-Folk zugetan, werden dennoch länger bleiben, wer so g’scheit textet und so unverhohlen leise sein kann, wird eine eigene Schublade kriegen. Denn es ist ein wunderbares Glück, diese Band in seinem Leben gehört zu haben ALICE GRUBER Paul Weller »Wake Up The Nation« Universal/Island Der Output dieses Mannes ist schon beeindruckend: Erst 2008 hat er mit »22 Dreams« ein opulentes Werk rausgeschossen, und jetzt eines mit dem etwas albernen Titel »Wake Up The Nation«. In Wellers Privatleben hat sich vieles getan, seine Ehe ist ge-
scheitert (dafür hat er jetzt eine erst 24-jährige Freundin), und sein Vater John, der ihn als sein Karrieremanager von Anfang an begleitete, ist gestorben. Aber der Modfather ist keiner, der sich durch solche Tiefschläge seiner Kreativität berauben lässt, wenn er auch im Fall von »WATN« regelrecht überredet werden musste, etwas aufzunehmen. Und (nicht nur) dafür, dass der lebenslange Mod ohne Material im Studio eingetrudelt sein soll, sprudelt »WATN« vor Ideen nur so über. Sechszehn Songs in nur 40 Minuten, von aggressiv-wütend bis souly (»Aim High«) ist alles da, sogar ein Instrumental (»Amsterdam«) das Erinnerungen an The Style Council abruft. Nach immerhin 28 Jahren (Split von The Jam) ist sogar der Marmeladinger Bruce Foxton am Bass wieder dabei und kein Geringerer als »Mister Wall of Sound« Kevin Shields vom »blutigen Valentinstag« greift ans zart besaitete Holzbrett. Dafür wurde jeglicher Hippie-Akustikquargel konsequent über Bord geworfen. Was da noch alles kommen wird? Weller wird gerade mal 52! STEFAN KOROSCHETZ The Wichita »Songlines« Lindo/Hoanzl Es gibt einen nicht exakt abgegrenzten, imaginären, geografischen Raum im Bereich der Country- und Folk-Pop-Musik, der ungefähr den Südwesten der USA umfasst. Reno, Nevada ist vielleicht der westlichste Punkt dieser Landkarte, im Osten liegt die Grenze möglicherweise an einer krummen Linie zwischen Tallahassee und Chattanooga. Aber, was wissen wir schon über Orte wie Albuquerque oder Amarillo, außer dass in diesen
Songs jemand gerade von dort abgehauen ist oder eben dorthin will. Auch die Helden in den Songs von The Wichita bewegen sich in dieser mythischen Gegend, und das ist wohl als Referenz an Vorbilder, Wegbereiter, Rock’n’Roll-Saints zu verstehen. The Wichita ist das jüngste Projekt Jürgen Planks (u. a. eine Hälfte der Lassos Mariachis). Auf »Songlines«, dem ersten Wichita-Album, spielt Jürgen Plank solistisch auf mit vokalistischer Unterstützung von Heike Mangold, einen stimmlichen Gastauftritt beim Track »Chattanooga« hat Laura Raffetseder. Als Alternative Country bezeichnet Plank den Stil von The Wichita. Großteils ist die Musik gitarrenlastig, mit Slides, verwehter Mundharmonika, gelegentlich tönen Mariachi-Bläser und das alles im Zeichen der Entschleunigung. In den mehr oder weniger dramatischen Storys, die in den Songs erzählt werden, geht es um verlorene und gefundene Liebe, rastloses Umherziehen, traurige und fröhliche Loser und SometimesWinner. »I Never Made It Up To Memphis« gibt der Protagonist des gleichnamigen Tracks zu und versorgt Elvis Presley, den er nie getroffen hat, mit brauchbaren und unbrauchbaren Ratschlägen. In »Sneak Out« vertschüsst sich ein Unglücksrabe von Musiker aus der Galaxie und mit »Nora Lee« beschert uns The Wichita eine waschechte Murder Ballad. JENNY LEGENSTEINS
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Sommer- und Sternenstaub Auf Staubgold ist einmal mehr Verlass. Drei CDs voran: HASSLE HOUND intonieren Songs von bezaubernder Lieblichkeit, in denen auch mal eine Hawaiisurfgitarre auftaucht oder Spielzeuginstrumente eine spezielle Atmosphäre schaffen. Niemals kann dies, trotz gar süßer Duettgesänge der Multiinstrumentalisten Ela Orleans und Tony Swain, kitschig werden, da Mark Vernons eklektische Samples oder Geräuschloops für Reibung sorgen. Irgendwie naiv tönt das Trio, es hat sich einen kindlichen Zugang zur Musik bewahrt. Instrumentale Ungezwungenheit und ausgefuchste Klangraffinesse machen »Born In A Night« zu einem Meisterwerk, das man immer wieder hören will. • KLANGWART dagegen liefern mit »Sommer« eine Werkschau aus ihrem 14-jährigen Schaffen, die Licht, Wärme, Hitze, Schweiß, aber auch Entspannung geräuschvoll thematisieren will. Die Klänge schwären zwischendurch auch mal dunkel (»Wartehalle«), sind aber in Summe doch stimmig von Sommergefühlen durchdrungen, wie etwa das ruhige Drone-Outro »Amöbenruh«. • »Hitzefrei«, der Opener, ist auch auf »100 Jahre Einsamkeit« vertreten, ebenso der Titelsong der Hassle-Hound-CD. Echte Schätze werden auf dieser von Klangwart-Hälfte Markus Detmer kompilierten Jubiläums-CD gehoben, etwa »Shake«, ein perkussivflockiger Dub von The Flying Lizards (Staubgold 3) oder aktuell HipHop-voodooesk David Last Vs. Zulu mit »Necessary Evil« und das toll orgelgeschwängerte Faust vs. Dälek-Stück. Gute, experimentellere Kräfte sind Oren Ambarchi oder Rafael Toral, netter zu hören sind Jasmina Machina oder
Christian Zanési »Soixante dix-huits tours« Double entendre »Soixante dix-huits tours« heißt nicht nur 78 rpm auf französisch, sondern verweist auch auf die Geschichte hinter diesem Album: Zanési fand 2007 (oder bekam damals, das ist nicht so ganz klar) eine von Pierre Schaeffer im Jahr 1949 mit verschiedenen Samples (Oboe, Flöte, Perkussion, Radiostimmen und anderen Klangfragmenten) bespielte Schallplatte. Sie lieferte Zanési die Inspiration und beschert uns heute eine Aufnahme, die man als klassisches elektroakustisches Album bezeichnen könnte und ganz gewiss ein Werk von hohem kompositorischen und musikalischen Niveau ist: Ausdruck, Abbild, Zeichen, musikalische Umsetzung und kompositorische Gestaltung eines überzeugenden ästhetischen Konzeptes wie auch einer ganz bestimmten Auffassung von Musik. Paradoxerweise habe ich selten die Energie, 82 II42 83 42
das Kammerflimmer Kollektief. • Noch weiter zurück in die deutsche Musikgeschichte beamen einen die Wiederveröffentlichungen von Sky-Records-Alben via Bureau B. MOEBIUS&PLANK waren auf »Rastakraut Pasta« (1980) mit Moebius‘ fulminantem Tube-Artwork der Zeit voraus. Handelt es sich doch teils um die Dekonstruktion von Reggae-Riddims bzw. um ausladend krautig-gitarrige Monster, worauf Holger Czukay Bass spielt. Das Erbe von Can wird in vielerlei Richtungen davongetragen. Und speziell dank Vocoder hebt »Solar Plexus« unkonventionell ab. Zwei Tracks der 35 Minuten kurzen Platte verweisen mit wunderschönem PianoSynth-Ausklang gleich auf ROEDELIUS, dessen »The Diary Of The Unforgotten – Selbstportrait VI“ (Bureau B) aus den Jahren 1973–78 wie ein selbstvergessen anmutendes Solowerk klingt. Schnörkellos zielt Roedelius aufs Wesentliche, orgelt in einer eigenen Umlaufbahn, fährt aber auch wundersame Streicherarrangements auf (»Ampfer«) und ergießt seine Schöpferkraft in die 24-minütige »Hommage à Forst«, wo sich Flangergitarre und Synthies leicht beatangetrieben gute Nacht sagen. Waldund Wiesenmusik par excellence! • Einen gleichfalls langatmigen Ansatz verfolgt WOLFGANG TEMMEL auf »DE/AR GRZ« (Pumpkin Records), eine Reverenz vor Brian Enos »Music For Airports«. Für die Projektreihe SSS – Social Sound Systems nutzte Temmel das Lautsprechesystem der Abflug- und Ankunftshalle des Flughafens Graz, um seine Vision funktioneller Muzak an die Reisenden zu bringen. Dies gelingt auch auf den jeweils mit zehn Minuten in solche Werke tiefer einzudringen, stürmen doch jedes Mal Tausende Gedanken, Bilder, Freuden, Überraschungen und andere Gefühle auf mich ein. Dabei ist diese Musik keinesfalls experimentell oder schwierig, wenn auch sehr avanciert und extrem konsequent, aber ich kann sie nur schwer mit meinem Alltagsleben verbinden. Wir alle sollten es aber immer wieder versuchen, davon bin ich fest überzeugt. NOËL AKCHOTÉ/Ü: F. KULCSAR Zorro Zensur »Ich hab die größte Vulva der Welt« Hobbymusik ZZ besteht aus einer kaum über 20-jährigen, nach Berlin emigrierten Schweizerin, und zwei schlanken, blassen Knaben. Nach dem Live-Video zum Stück »Zuhälterin« zu schließen, bedient einer der Jungs eine Art Keyboard plus Drumcomputer, während der zweite »Zwirnblade« – nur in einer Unterhose steckend – lasziv zum Lowest-Fi-
bemessenen »Departure« und »Arrival«. Akkordeon, Dulcimer, Lap Steel Guitar, Ukulele und Soundeffekte entfalten eine getragen-ruhige Atmosphäre. Wunderhübsch und kurzweilig! • Regennasse Sommer gibt es wohl auch an der Westküste Norwegens, denn PJUSK verlieren sich auf ihrem zweiten Album »Sval« (12k) gehörig in Texturen, die Fjorde, Wasser, aber auch zerklüftete Berglandschaften evozieren. Dieser Ambientsound des Duos gemahnt an kalte Meeresströme, ruhig fließen verfremdete Gitarren ein und strömen elektronisch verwischte Schlieren. Leidlich schöner, geisterhafter Soundscape! • »Karhu Ja Tiikerini« (Cocosolidcity/Cargo) ist dann gar den in den Weißen Nächten Lapplands näher scheinenden Sternen gewidmet. OLIVER BLANK komponiert sphärische Cinemascope-Soundtracks, die einerseits zum Verweilen in Genuss, andererseits zu einer imaginären Gedankenreise einladen. Zart gezupfte Akustikgitarren gleiten auf elektronischen Texturen, auf denen sich bitterzarte Stringarrangements ausbreiten. Schwermütig sind die Pianomelodien, und nur bellende Huskies unterbrechen diese feine Stimmungsmusik mal frech. Begleitet wird dieses Album noch von Blanks DVD-Score »Karhunpeijaiset«, wo James Martin und Jonathan Ben-Ami finnische Landschaften nicht entmystifizieren, sondern etwa mit einem rückwärts auf Helsinkis Wasserstraßen Rudernden animierte Bilder zu ähnlich gelagerten Landscapesounds liefern. • Dagegen gleitet EMERALDS »Does It Look I’m Here?« (Editions Mego/Groove Attack) überraschend melodisch durch Raum und Sound des Stückes tänzelt. Dieses Tableau hat mir schon mal ein kräftiges Schmunzeln abgenötigt. Für den Inhalt der deutsch gesungenen Songs ist aber ausschließlich die in einem schicken Kleid steckende NeoBerlinerin verantwortlich, und dieser geht ganz klar in eine Richtung: »Dünne nackte Männer!«, »Barbie&Ken«, »Ich weiß ich bin gut im Bett« oder auch »Männerporno« sind Titel von spätpubertären Mädchenfantasien, die in so räudiger Aufnahmequalität daherkommen, dass es verwundert, wie eine gewisse Tonia Reeh sich auf dem CD-Cover zu Mixing&Mastering bekennen kann, aber egal – daran soll’s nicht scheitern. Die Typen, die gern mit glänzenden Augen von ihren unglaublich fetten High-End-Anlagen auf dicke Hose machen sind ja oft genau die, die dann Phil Collins-CDs in ihre unbezahlbaren Player schieben. Zorro Zensur kommt jedenfalls mit den einfachsten Mitteln aus und braucht solchen Firlefanz sicher nicht. Es ist zu hoffen, dass die inhaltlich angepeilte Um-
Zeit. Analoge und Gitarrensynths schweben eher ohne Bodenhaftung und floaten majestätisch dahin. James Plotkin hat das Album der Band aus Cleveland ziemlich basslos produziert – unerwartet, dass anno 2010 gerade Mego ein Album veröffentlicht, dass wie Pink Floyd goes Orbital klingt. • Erholung davon bieten KONRAD SPRENGERs Drone-Preziosen. Wo aber ist »Versprochen« (Schoolmap/A-Musik) im Detail zu verorten? Spätestens mit »Geht alleine vom Weg« wird klar: muss irgendwas auch mit Arnold Dreyblatt zu tun haben. Dermaßen schön sind die Stringsounds. Und tatsächlich, Dreyblatt schrieb Liner Notes fürs Album. Was das wohl bedeuten mag? Vielleicht ist das ja auf »T – R – P – S« bezogen, ein wild gesampleter A-CappellaTrack. »Fenchel« dagegen funkelt und rumpelt wundersam verschränkt wie eine Penguin-Café-Orchestra-Komposition und ja: Gongs, Harmonium, Pfeifen oder Drehorgel und elektronische Beimengungen sind weitere schmackhafte Ingredienzen. • Facettenreich ist auch das Werk von Maja Osojnik, die sich mit Matja Schellander im Feld improvisatorisch aufgeladener elektronischer Musik bewegt. Äußerst beeindruckend ist der kompositorische Aufbau von »Old Girl, Old Boy« (Mosz). Etwa zur Mitte überraschen eindringliche Orgelpfeifen, doch ist in diesem Live-Mitschnitt ihres Duos RDEČA RAKETA stets ein markanter Spannungsbogen zu erkennen. Abstrakt mäandernde Schönheit, erzeugt mit Electronics, E-Bass, Subbass-Recorder und wohl nicht wenigen Effektgeräten. ALFRED PRANZL
kehrung des üblichen Sexismus mit einer Prise Ironie gedacht ist, wenn ich auch der Forderung nach schlanken, schlappen, muskellosen (eben nicht: muskulösen!) Männern als Gegenentwurf zum Testosteron-Zuchtstier mit Megakinnlade aus der Rasierklingenwerbung (der sich natürlich im darwinistischen Sinn immer durchsetzen wird) durchaus etwas abgewinnen kann. STEFAN KOROSCHETZ
Weitere Reviews: www.skug.at Bodi Bill: »Two In One« Othmar Binder: »Dabei« Laura & The Comrats: »Creating Memories« Faust: »Faust Is Last« Frittenbude: »Katzengold« Laura Gibson/Ethan Rose: »Bridge Carols« DJ Hell: »Body Language Vol. 9« Hey-O-Hansen: »We So Horny« James Holden: »DJ Kicks!«
HANS KULISCH TEXT
Hanoi Soundstuff Festival Leser des »Wire«-Magazins wissen durch die Lektüre der »Global Ear«-Kolumne, dass es an den unwahrscheinlichsten Plätzen Experimentalmusikfestivals gibt. Normalmusikverbraucher würden wahrscheinlich nicht auf die Idee kommen, in Hanoi ein Treffen der Avantgardemusik zu vermuten.
In Österreich ist das Hanoi Soundstuff Festival vor allem durch die Teilnahme mehrerer asiatischer Musiker am »Into the City«-Festival der Wiener Festwochen 2009 bekannt geworden, bei dem Initiator Tri Minh Doan als Musiker zu Gast war. Beim üblichen Treffen nach den Auftritten wurde der Autor dieser Zeilen auch als Vertreter Österreichs zum Soundstuff Festival 2010 eingeladen. Tri Minh Doan startete sein Festival bereits 2008 mit 800 Besuchern, 2009 waren es schon 2.000, und für 2010 wurden für das drei Tage dauernde Event noch mehr Gäste erwartet. Elektronik, Noise und Avantgarde Der übergreifende Aufhänger waren Elektronik, Noise und Avantgarde, d. h. es gab keine Rockgruppen, keinen HipHop. Dies ist zwar ein noch nicht breit genug angelegtes Spektrum, aber für eine Stadt wie Hanoi, die wie andere südostasiatische Metropolen eher dem Mainstream folgen, doch sehr anspruchsvoll. Paul Dolden und Michael Möller sind Beispiele für das sehr breite und zahlenmäßig beeindruckende Aufgebot eingeladener Musiker. Der Kanadier Dolden kam mit einem eigens für die Veranstaltung komponierten Werk, während der Däne Möller mit einer vietnamesischen Folkloregruppe ein fulminantes Set spielte. Auch wenn der Eintrittspreis pro Tag mit ca. drei US-Dollar für vietnamesische Besucher eher deftig war (kann man doch in Hanoi damit eine Familie für eine ganze Woche verköstigen), gab es gute Stimmung, da das Publikum zur Hälfte aus Touristen und Expatriates bestand und man sich so ein wenig auf einem europäischen Festival wähnte. Erstaunlich war, dass vietnamesische Noise-Acts wie Vu Nhat Tan oder Nguyen Hong Giang keinen Vergleich mit internationalen Kalibern dieser Szene zu scheuen brauchen. Deren Performances waren auf der Höhe der Zeit, und schon den P.A.s auf dem Open-Air-Gelände und drinnen in der Ausstellungshalle sah man an, dass an Technik keineswegs gespart wurde. Locker hätte die Anlage, die jeden Anspruch erfüllte, auch ein AC/DC-Konzert vertragen. Belustigend waren
für manche allerdings die Sprachschwierigkeiten, die es hin und wieder mit den Technikern gab. C-drik Fermont Neben Live-Acts und DJs wurde der Fokus auch auf Lectures gelegt. Diese fanden hauptsächlich vor staunenden vietnamesischen Jugendlichen statt. Hier war das Sprachproblem besonders gravierend, weil oft kein Übersetzer vorhanden war. Da hätte man schon im Vorfeld in der Organisation einiges bereinigen können. Der Autor durfte kurz über die Geschichte elektronischer Musik in Österreich referieren, während beispielsweise Cdrik Fermont über Avantgardemusik in Asien und Afrika berichtete. Das war der wohl bemerkenswerteste Beitrag – wer hätte schon gedacht, dass in Algerien, auf den Philippinen und Indonesien dermaßen viele Avantgardebands existieren und schon lange eine experimentelle Szene floriert. Nicht allein wegen dieser erhellenden Performance war der Belgier Fermont der interessanteste Gast überhaupt. Er betreibt auch ein Label und ist ein wahrer Hans-Dampf-in-allen-Gassen, was experimentelle Musik betrifft. Fermont glänzt als ausgebildeter Musiker auch als Performer und DJ, präsentiert er doch eine Vielzahl von Genres bis hin zu Folkloristischem aus den entlegensten Gegenden. Er gründete auch eine Datenbank zu experimenteller Musik in Asien und Afrika, die auf seiner Website www.syrphe.com einzusehen ist. Eine wahre Fundgrube an Material für den wahren Connaisseur. Dass am Samstag, dem zweiten Tag des Festivals, ein gleichzeitig stattfindendes Gratiskonzert eines berühmten koreanischen Popstars die Besucherzahlen etwas minimierte, tat der guten Stimmung keinen Abbruch. Soundstuff-Hauptact war Robert Henke, seines Zeichens als Monolake Soloartist und Mitentwickler der Musiksoftware Ableton Live sowie neuerdings auch Uniprofessor. Er präsentierte ein überaus elegantes und geschmeidiges Elektronikset, das vielleicht eher in eine Kunstgalerie gepasst hätte als auf ein Open-Air-Festival. Die gebotene Musik des Hanoi Soundstuff Festivals reichte von Noise, Indieelektronik (Denis Jones), Gitarrensounds (Sparky Quano aus Japan: siehe
Foto!), stimmungsvollem Ambient des bekannten Hongkongers Dickson Dee, elegantem Deep House und Techno des c/o Pop-Organisators Ralph Christoph bis hin zu sperrigen Breakbeats des Bangkoker Partylöwen Benz aka Space 360, Laptop-Sounds des Wieners Christof Cargnelli, Avantgarde-Folk der Gruppe The Six Tones und bot auch normalen Clubsound (etwa vom Franzosen Alex Millan) sowie Foundsound vom Engländer Jamie Lloyd. Ideale Veranstaltung für Netzwerker!
www.syrphe.com www.hanoisoundstuff.com
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NOËL AKCHOTÉ TEXT ALESSANDRO BARBERI ÜBERSETZUNG © UNBEKANNT FOTO
Herzlos Ist es schon Sommer? Im Moment ist er noch nicht da … weder Sonne noch Hitze etc. … kein Horizont. Es ist aber ein Moment, in dem man eine Pause machen kann. Ich ziehe Bilanz und gehe meine Rechnungen durch. Kann eine Welt, die fundamental falsch angelegt ist, wirklich auf ihren Untergang zulaufen? Und wenn ja, wie? Verfolgen wir die Sache also wie immer … geht es nicht darum, zu überlegen, wie das Morgen vor uns auftaucht?
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»Jene, die behaupten, dass die Kunst sich zu keinerlei Doktrin bekennt, können daher üblicherweise keine Doktrin anerkennen, die der ihren entgegengesetzt ist.« (Jorge Luis Borges) Eigentlich habe ich ja seit kurzem eine Moral, obwohl nichts geschehen ist: weder der Vulkan, noch Griechenland, noch der polnische Präsidentencrash, noch die öffentlichen Schulden (die übrigens schlimmer sind als meine!) haben dazu beigetragen. Ich glaube, dass man in jeder Krise beobachten kann, dass etwas verlorengeht. Aber in diesem Stadium des planetarischen Kasperltheaters ist es geradezu fantastisch, noch wissen zu wollen, was passiert: »At midnight mirk, in secrecies, I nurse« (Ezra Pound). In der Globalisierung geht etwas gewaltig schief, da die Firmenschilder sich konzentrieren (das ist der Marktstalinismus, der vorgibt, dass der eigentlich ›gelungene Kommunismus‹ im kapitalistischen Neoliberalismus besteht). Und die Leute machen immer wieder andere Sachen. Der Mensch hat nicht so große Erinnerungslücken wie unsere Banken, unsere Telekommunikationsunternehmen oder unsere Versicherungen (die aber bezeichnenderweise immer mehr werden). Marktstalinismus Der totale Traum des Marktes: Finanzmarktsteuer (Ach, wie revolutionär!), eine Lebensversicherung (bei Möglichkeit gleich über drei Generationen … Minimum!) und eine unendliche Schuld, ohne Grund … ohne Grenze. Kurz: Da wird ein riesiger Tsunami auf uns zukommen, der diesmal aber die Märkte wegspülen wird. Bei einer der zahlreichen Demonstrationen in Griechenland konnte ich in den letzten Wochen Folgendes hören: »Wenn wir die Rückzahlungen ablehnen, dann weil es dieses Mal an den Banken liegt zu zahlen!« Es ist zwar nicht ganz so einfach, aber auch nicht viel komplizierter. »Im Grunde geht es für sie nicht mehr weiter, aber ich sage, dass sie Dir das Eigenste nehmen, im eigentlichen wie im figurativen Sinn« (Thomas Bernhard, »Meine Preise«). Die Politik und
ihre Effekte haben seit langem den Wert des Symbolischen. Wie kann man also das Ensemble einer Gesellschaft noch zusammenhalten? Oder die Staaten, die nur über den totalen Kredit überleben können, wobei den BürgerInnen jedes Darlehen versagt wird? Die Staaten kaufen Geld zu einem Kurs, der unter 3% liegt, und die Privatpersonen müssen 21 % ertragen? Aber das wird immer mehr sichtbar, und das ist gut so. Es gibt überall schon Populismen, es gibt Gewalt (es beginnt also), aber es gibt auch Bewegung. »Es sammelt sich nur wenig Heiterkeit, es gibt nur wenig Lachen und gar keinen Humor. Und die Ironie trennt.« (Philippe Muray, »Le Portatif«) Haben wir (Europa, die Welt und überhaupt) jetzt schon eine neue Karte, in der Asien das Zentrum ist? Oder eine Karte der arabischen Welt, die alle Nuancen, Unterschiede, Profile und Geschichten verzeichnet? Europa ist zwar ziemlich alt, aber unproduktiv und unter dem Deckmantel der allgemeinen Demokratie vollkommen ungleich … ohne Atem. Es gibt keine Chance zur Entwicklung, keine Qualitätsarbeit für die Jungen, die Immigranten, die äußeren Kreise oder die Erneuerer. Das Mediokre genießt seinen Kuchen, während es dabei zusieht, dass das Schiff auf den Eisberg aufläuft. Und darauf reagieren nur die Waffen und der Krieg … das ultimative Finale (und das gerade in der Musik). »So weit ich es verstehe, protestieren die Leute.« (Rainer Werner Fassbinder). Übrigens ist auch Afrika eine Kraft. Und ich erzähle Ihnen das, obwohl Sie es ja ohnehin schon wissen. Daher verbringe ich meine Tage mit Lesen (Bücher und viel klassische Musik für Gitarre: Sor, Tarrega, Carcassi, Segovia, Diabelli, Coste, Pujol, Sanz, Ponce, Scarlatti, Dowland, Brouwer etc. …). Nicht wichtig, aber dennoch! Goldene Händlersklaven Beim Wiederlesen von Lautréamont (»Die Gesänge des Maldoror«) stoße ich dann auf folgenden Satz: »Ich habe einen Pakt mit der Prostitution geschlossen, um Unordnung in die Familien zu streuen.«
Das war knapp bevor die Finanzmärkte (und ihre goldenen Händlersklaven) aufgetaucht sind. Aber der Unterschied ist gewaltig und ich werde darauf insistieren. Der Künstler attackiert in diesem Sinne und genau in dem Moment, in dem die Märkte jeden Sinn verloren haben. So kann die Intensität der Menschlichkeit ein ganzes Werk durchstrahlen (und selbst wenn es Jahrhunderte dauert, um verstanden zu werden … das ist ganz unwichtig). Auf der anderen Seite flieht ein Initiationsclan mit dem Geld der anderen. Der eine erfindet die Freiheit der Luft, der andere den Traktor. Wenn es auch nur eine winzige Chance gibt, dass diese Welt hier zu beben beginnt, dann nur wenn man beginnt, eine neue Welt zu entwerfen (ich bin Utopist, ich weiß, aber sonst habe ich schon einen ›wirklichen‹ Beruf). Und wenn es da noch eine Chance gibt, und sei sie noch so winzig. »Ich bin ein Geschichtszerstörer, ich bin ein typischer Geschichtszerstörer. Wenn in meiner Arbeit in irgendeiner Art und Weise die Vorzeichen einer Geschichte auftauchen, oder wenn ich einfach sehe, wie sich hinter dem Hügel der Prosa ein Verdacht der Geschichte abzeichnet ziehe ich diesen Sichtbarkeit.« (Thomas Bernhard, »Drei Tage«). Damit ist in diesen Zeilen alles gesagt. Die Kunst ist auf der Seite des Lebens und der Fruchtbarkeit (auch auf der Seite des Genießens) … dort, wo diese Welt der Chiffren sehr schnell an ihre Grenzen stößt (und sicherlich auch an ihr Ende). Übrigens kann man sich auch ohne negative Wirkungen »vergiften«. Man muss nur seine Lieblingsdroge wählen. Dies allerdings unter einer Bedingung: Die Dosis muss innerhalb der Grenzen ›humaner‹ Chiffren bleiben. Das, was an den ›Sinn‹ rührt (in jedem Sinne des Wortes) hat keinerlei Grenzen. Gehen wir also ruhig unserer Wege. »All I do is sit and sigh-ee-yi-ee-yi-yiii …« (Hank Williams). Spielt eure eigenen Spiele … die Räder drehen sich!
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/artfile/sound /space/visual vol. 2 ROLAND SCHÖNY TEXT
Rhythmisierung des Alltags Gesellschaftliche Konfliktfelder manifestieren sich nicht erst seit dem Getöse der Futuristen über den symbolischen Gehalt von Klängen. Auch schon im prämedialen Zeitalter der Renaissance lassen sich entlang der Demarkationslinie zwischen profaner Lebenskultur und kirchlich geordnetem Alltag politisch-symbolische Lesbarkeiten von Sound entwickeln. Pieter Bruegel d. Ä.: »Kampf zwischen Fasching und Fasten«, 1559. © Kunsthistorisches Museum Wien
Erst über eine weiterreichende historische Rückschau wird evident, dass jene Zäsur der Kulturgeschichte, die 1909 mit der Publikation des Gründungsmanifests der italienischen Futuristen im Pariser »Le Figaro« gesetzt wurde, bloß einen von vielen Paradigmenwechseln im Bereich von Sound Culture und Noise Aesthetics markiert. Dessen fortdauernder Nachhall wäre ohne die medialen Aufmerksamkeitsstrategien der Futuristen undenkbar. Wie nur wenige kulturelle Proklamationen eignen sich die martialischen Worte des Filippo Tommaso Marinetti bis heute geradezu idealtypisch zur Markierung von Prozessen semantischer und politischer Neucodierung. Hieß es doch etwa: »Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.« Die kurze Karriere des Faschisten Marinetti als italienischer 83 I 46
Kulturminister unter Mussolini ab 1924 fällt dabei zumeist unter den Tisch. Während der Ruf des Millionärssohns nach dem Abbrennen von Museen und Bibliotheken in Mailand noch als anarchistisch revolutionär und künstlerisch avantgardistisch daherkam, bereitete diese Form des Fanatismus in Deutschland bekanntlich den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus vor. Reterritorialisierung der Geräusche des Alltags Jedenfalls inszenierten sich die Futuristen auf ihren Tourneen durch die Theater Italiens als plärrend deklamierende Truppe totalitärer Performer der Negation. Per Spektakel etablierten sie jene antibürgerlich codierten Narrative des Maschinellen und des Kriegs, welche später zur Kontextualisierung von Throbbing Gristle, von SPK oder von
Masami Akita, von Maschinenmusik und Industrial Culture unter der Signatur des mittlerweile mythologisch aufgeladenen und mit dem typischen »Post-« versehenen Futurismus herangezogen wurden. Selbstverständlich liegt dies auf der Linie eines weiteren Manifests, nämlich Luigi Russolos 1913 veröffentlichtem »L’arte dei rumori« (Die Kunst der Geräusche). Allerdings holte Russolo mit seinem Diskurs, den er zeitadäquat über die Analyse und die Ästhetisierung von Kanonendonner und Maschinenkrach führte, zum Teil genau solche Aspekte in den Radius der Wahrnehmung zurück, die im Zuge der Ausformulierung der abendländischen kompositorischen Musik sukzessive zurückgedrängt worden waren: nämlich die Geräusche der Straße und des Außenraums. Selektiv wählte er jedoch bloß solche aus, welche das anbrechende
und sich bereits vor Kriegserwartung aufbäumende 20. Jahrhundert in den sich verdichtenden Großstädten Europas kennzeichnete. Genauso wie kurze Zeit später DADA in Zürich inszenierte sich eine Avantgarde demiurgisch von einem scheinbaren Punkt null an als Medienereignis; als antitraditionell und antibürgerlich. Stets bereit zum Skandal. So wurde in einer Phase rasanter Technifizierung des Alltags der Städte durch Elektrizität, Telefon und Flugzeug sowie der Dynamisierung des Bildes im Kinos bei gleichzeitig fortschreitender Industrialisierung eine historische Bruchlinie gezogen, die in ihrer Radikalität auch einen symbolisch aufgeladenen gesellschaftspolitischen Schnitt gegenüber der Feier von Schönheit und bürgerlicher Harmoniesehnsucht bedeutet. Konkurrierende Öffentlichkeiten jedoch, welche sich über akustische Präferenzen definieren, die weit über rein stilistische Innovationen wie etwa Beethovens Violinensätze in den dessen späten Symphonien hinausgehen, lassen sich bereits in wesentlich weiter zurückliegenden Abschnitten der Geschichte ausmachen. Schnittlinie zwischen Kirche und profaner Volkskultur Der französische Wirtschaftswissenschaftler (und übrigens langjährige Berater von François Mitterrand) Jacques Attali beginnt seine prominente, materialistisch orientierte Untersuchung »Noise«1 mit dem Konflikt zwischen den Paradigmen sakraler Musik und den Liedern und Gesängen samt dazugehörigem Lärm und Getöse in der neuzeitlicher Festkultur und den Fastnachtspielen. Dabei bezieht er sich auf das bilderbogenartige Gemälde eines Volksfestes von Pieter Bruegel d. Älteren, »Der Kampf zwischen Karneval und Fasten« (1559).2 Es repräsentiert das Kontrastprogramm zu den in der europäischen Gesellschaft präsenten Normativen von Anstand und Frömmigkeit der katholischen Kirche als Darstellung lebensfroher Überschreitung im Fest. Darin kommt der Konflikt zweier unterschiedlicher Strategien zur Strukturierung des gesellschaftlichen Lebens zum Ausdruck, die letztendlich politisch interpretierbar sind. Zum einen als Bewältigung von Missgeschick, Pech und Leid im Alltag durch Ausgelassenheit und Bereitschaft zu Lust und Verausgabung bis hin zum Exzess, was auch als Ritualisierung der Erweiterung von Toleranz gelesen werden kann. Und zum anderen als Ausübung der Buße und somit der Tendenz zu Einkehr und Stille in der Fastenzeit. Diese ist mit einer alternativen Perspektive zur bloß kurzfristigen Entledigung von allen Sorgen verbunden. In der ideologischen Architektur des Katholizismus ist nämlich auf der Gegenseite des Bekenntnisses zur Entbehrung in der vorösterlichen Zeit das Versprechen auf Ewigkeit konfiguriert. Als Antagonismen stehen somit der Aufruf zum temporären Schweigen und zur Stille und der Lärm des Festes einander gegenüber. Genau daraus schält Attali den Begriff »Noise« als Leitmotiv seiner 1977 er-
schienenen und bis heute oft ins Treffen geführten Studie heraus. Wenn Attali vom Potential der Laute und Klänge spricht, meint er das keineswegs in einem mystischen oder theoretischen Sinn, sondern viel mehr als reale lautliche und soziale Unterscheidung. Den unterschiedlichen Laut- und Klangsphären schreibt er klassenspezifischen Charakter zu. Allerdings kann der Lärm des Festes als polyphone Verdichtung akustischer Vielheiten aus lustvollen und schmerzlichen Schreien, Gebrüll, wildem Gesang, dem Durcheinander der Stimmen und nicht zuletzt dem Klang verschiedener Musikinstrumente in Pieter Bruegels berühmtem Gemälde naturgemäß lediglich visuell transportiert werden. Denn der Blick richtet sich weit zurück in das prämediale Zeitalter, sofern mit Medien, wie im 20. Jahrhundert, die technischen Medien gemeint sind und nicht sämtliche Mittel der Informationserzeugung generell.
Ordnende Hierarchie der Klänge Bezug nehmend auf diese Benachteiligung durch fehlende Möglichkeiten zur Dokumentation der akustischen Realität der Zeit, argumentiert Attali außerdem, dass eine linguistische Analyse der Sounds des Alltags oder der wohl strukturierten musikalischen Klangformen als gesellschaftliche Repräsentationsformen wenig Sinn hätten. »To my mind, the origin of music should not be sought in linguistic communication. Of course, the drum and song have long been carriers of linguistic meaning. But there is no convincing theory of music as language. The attempts that have been made in that direction are no more than a camouflage for the lamest kind of naturalism or the most mundane kind of pedantry.3« Obwohl Attali in weiterer Folge phasenweise grob marxistisch ökonomisch argumentiert und der Entstehung musikalischer Konzepte primär als Ergebnis politisch ökonomischer Prozesse ordnende Funktion zuweist, führt er in diesem Punkt ein schlagendes Argument ins Feld. Es mag trivial klingen, doch sind schlicht und einfach keine akustischen Aufzeichnungen vorhanden, welche eine Analyse von Bedeutung und Wirkung einzelner Phoneme in unterschiedlichen Kontexten ermöglichen würden. Dass dieses Manko den Futurismus in eine privilegierte Position versetzt, liegt auf der Hand. Abgesehen von der Erweiterung unserer Vorstellungswelt durch heutige Originalklangorchester, die an Rekonstruktionen historischer kompositorischer Musik arbeiten und abgesehen von aufwendig produziertem Sounddesign für Filmproduktionen, die beispielsweise im Zeitalter der Renaissance situiert sind, ist das spätindustrielle Getöse der Maschinen, das Marinetti besang, durch verschiedenste reale Maschinengeräusche immer noch derart in den Alltag der Gegenwart integriert, dass es im Ohr anschaltbar und somit als akustischer Topos präsent bleibt. Die noch vage Soundästhetik
des Futurismus durch Affinität zum Kanonendonner und Russolos experimentelle Krachmaschinen Intona Rumori genauso wie später etwa Zwölftonmusik, diverse Verfahren der Tonalitätsvermeidung und serielle Kompositionsformen oder Rock’n’Roll über das Plug in der Gitarre und die Ansage, von nun an lauter als die Elterngeneration auftreten zu können, stellte stets spezifische soziale Kontexte der Differenz und der Dissidenz her. Die Folie für diese Entwicklung der Deterritorialisierung von Sounds konstituierte sich Jahrhunderte vorher im Zuge sukzessiver Durchsetzung abendländischer Harmonien verbunden mit dem Rhythmus des Kirchenjahres und dem als topografisches Netzwerk angeordneten Klang der Kirchenglocken seit dem Spätmittelalter, wodurch eine hegemoniale politische Ordnung in den Alltag einzog. Die hier einsetzende Unterteilung des Alltags in unterschiedliche Sphären des Hörens durch Ritualisierung mit ihren entsprechenden mentalen und symbolischen Aufladungen lässt sich jedoch lediglich über visuelle und schriftliche Quellen rekonstruieren, während mit der Einschreibung der Harmonielehre über das Netzwerk der Kirche jene tonale Struktur etabliert wurde, die seit der kompositorischen Musik der Renaissance allmählich in klassenspezifische Formen musikalischer Repräsentation überging. Jaques Attali: »Noise. The Political Economy of Music«. Translated by Brian Massumi. Minneapolis a. o.: University of Minnesota Press 1985. 1
Das Gemälde »Kampf zwischen Fasching und Fasten«, von Pieter Bruegel d. Ä. (um 1525/30 Breda?–1569 Brüssel), datiert mit 1559, befindet sich im Kunsthistorischen Museum in Wien. Lokalspezifisch wird es unterschiedlich bezeichnet. 2
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Jaques Attali, Page 25
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/ausweitung der partyzone – teil 2 DANIELA DERNTL & ANGELIKA STROBL TEXT/INTERVIEW CHRISTIAN KÖNIG FOTO
werk in progress Wie man eine hochbetagte Kunststofffabrik im 16. Wiener Gemeindebezirk im Rekordtempo und D.I.Y.Verfahren in ein Kunst & Kulturzentrum par excellence verwandeln kann? Ohne Geldgeber, dafür mit einem heftig überzogenen Bankkonto? Stefan Stürzer und seinem Verein DAS WERK gelang trotz aller Widrigkeiten das KunstWERK: 13 Ateliers, ein Kunst- & Kulturcafé inklusive monströser Partyzone im Keller werden im August offiziell eröffnet. skug sah sich mal Das Werk an und plauderte mit Neo-Geschäftsführer Stefan Stürzer aka Stizz über das kleine Wunder der Neulerchenfelder Straße 6. skug: Erzähle uns doch was von eurer Vereinsgeschichte ... Stizz: Im Jahr 2006 haben wir den Verein DAS WERK gegründet. Grundausstattung war damals ein Turntable. Jetzt haben wir eine ganze Fabrik. Der Verein besteht zurzeit aus zirka 20–30 Leuten, ein gutes Drittel davon ist weiblich. DAS WERK sieht sich in erster Linie als Vernetzungsplattform. Wir fördern Künstlerprojekte, die sich abseits vom etablierten Kunstbetrieb bewegen. Bei unseren Veranstaltungen wollen wir durch niedrige Eintrittspreise auch finanziell schwächer gestellten Menschen Kunst und Kultur auf hohem Niveau ermöglichen. Wir verlangen maximal fünf Euro Eintritt. So fühlt sich auch keiner von den Gästen verarscht. Was habt ihr in eurer neuen Location vor? Es soll hier ein einzigartiges Kulturzentrum entstehen. Im Erdgeschoss haben wir unser Kunst- & Kulturcafé mit Fokus auf Theater, Lesungen, Ausstellungen Film- und Diskussionsabende. Junge, unbekannte KünstlerInnen sollen sich mit renommierteren vernetzen, austauschen und Synergien kreieren. Neben den dreizehn Ateliers (die übrigens schon alle vermietet sind) gibt es noch eine Werkstätte und einen Keller, in dem ca. 800 Personen Platz haben. Wie ist es überhaupt so weit gekommen? Mit einem Eigenkapital von minus 6.000 Euro auf dem Konto und einem dreiseitigen Konzept in der Hand stand ich im Dezember 2009 vor dem Vermieter. Natürlich dachte ich mir kurz: Oje, entweder das wird hier was oder ich muss auswandern nach Südamerika. Glücklicherweise überzeugte das Konzept. Ihr habt im Jänner mit der Renovierung begonnen, in welchem Zustand war das Gebäude? In einem furchtbar schlechten! Es stand über sechs Jahre leer, früher war hier mal eine Kunststofffabrik, Baujahr 1840. Wir hatten Schimmel, ein löchriges Dach und weder Heizung, Wasser noch Strom. Ca. zwanzig Leute haben in den letzten Monaten fünfzehn bis achtzehn Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche auf ehrenamtlicher Basis geschuftet. Hattet ihr bereits Erfahrung, wie man ein Haus renoviert? Na ja, wir hatten einen Elektriker, einen Tischler, einen Dachdecker, Ton- und Lichttechniker an Bord. Bei komplizierten Bauarbeiten ließen wir uns von Profis die Arbeit erklären, brachten uns den Rest selber bei und machten dann alleine weiter. 83 I 48
Und wie habt ihr das alles finanziert? Quester, der Baustoffhandel, unterstützte uns von Anfang an mit 70 Prozent Rabatt auf Materialien. Anders wäre das sowieso nicht zu leisten gewesen. Ottakringer, Red Bull und Austria Tabak kamen später als Sponsoren dazu. Wir haben aber von Anfang an klar gestellt, dass wir weder Banner aufhängen noch die Sponsoren in irgendeiner Form vermarkten. Bekommt ihr Förderungen? Bei Departure haben wir eingereicht, das ist gut gelaufen. Ganz anders schaut’s bei staatlichen Förderungen aus. Auf Die MA 7 (Kulturabteilung Stadt Wien) oder den Bund kann man ziemlich vergessen. Die sind am langsamsten von allen. Wie habt ihr euer Leben während der Renovierung finanziert? Manche haben noch mehr Schulden gemacht, andere sind zu ihren Freundinnen gezogen oder haben gleich ihr Lager im Werk aufgeschlagen. Durch die von mir gegründete Firma kann ich in Zukunft meine Mitarbeiter anstellen. Alle Leute, die mitarbeiten, haben sich ihren Arbeitsplatz selbst geschaffen. In Zeiten wie diesen ist so etwas doch eine wunderbare Sache! Objektiv betrachtet ist das eine große Verwandlung vom nomadischen Kulturverein zur Firma mit fester Location und den Strukturen, die man braucht, um einen Laden am Leben zu erhalten. Hast du Angst, dass du dich als Betreiber kommerziellen Zwängen unterwerfen musst? Nein, dafür bin ich viel zu sehr Punk. Wir werden auch weiterhin autonom handeln und uns nicht durch Subventionen kaufen lassen. Wir kalkulieren so, dass sich das Gebäude selbst erhalten kann, und wir in Zukunft auf Subventionen nicht angewiesen sind. Sind basisdemokratische Entscheidungen bei einem Projekt dieser Größenordnung noch möglich? Konsens ist wichtig, klar. Deswegen halten wir wöchentlich Plena ab und disktuieren alles, was ansteht. Diese Treffen halten auch das Kollektiv, also unseren Verein, zusammen. Dass es bei 20 bis 30 Leuten manchmal zu Streitereien kommt, ist unumgänglich. Aber solange wir Sachen ausdiskutieren können, passt das für jede(n). Im Großen und Ganzen geht es bei uns aber harmonisch und relaxt zu. Alles Werk in progress halt.
www.daswerk.org
/film PAUL POET TEXT
Die rote Sonne scheint rot Nuberu Bagu – die neue Kino-Welle Nippons schlug über ein Jahrzehnt früher als 1968 ein. Die DVD-Kollektion »Japanische Meisterregisseure« wandelt mit Nagisa Oshima durch Trümmerbilder einer gelben Weltrevolte. »Egal in welchem politischen System wir leben, die Leute am unteren Ende bleiben auch dort.« Die Filme des Nagisa Oshima sind Filme des schönen Ekels. Moritaten am letzten Kotabort der sozialen Fahnenstange, verzweifelt wie Hunde pudernde Außenseiter, die sich mit Angstschweiß, Geschlechtssaft, Reisschnaps und bewusst dummen Gewaltexzessen die gesellschaftliche Verankerung wegsaufen. Also an sich purster Rock ’n’ Roll, gegen sich selbst und die verpackende Industrie Amok laufender Hedonismus in unfreiwillig politischer Mission. September 1951 trat Japan in das Anpo-Treatment ein, den Friedenspakt mit den USA, der das Land von der unmittelbaren Besetzung mitten in die Geschäfts- und Kriegsalliierten-Stellung bis hinein in den ›pazifistischen‹ Korea-Krieg zwang. Das Kulturleben wurde vom Kaiserhaus und Beamtenapparat bilateral zwischen harmlosem lokalen Exotismus und Hamburger-Seligkeit einreglementiert. Allein die Studentenschaft konnte sich durch die zugestandene Selbstverwaltung als Zengakuren neben den organisierten WorkerProlls und Yakuza eine revoluzzernde Schattenwelt erhalten, die die Autorität unterwanderte und offen hinterfragte. Oshima, als Sohn eines marxistisch orientierten Samurai und Poeten, kämpfte da schon früh als Filmstudent gegen die nationale Chuzpe, Onkel Sam und Hirohito. Als er 1959 begann, seine ersten Langfilme für Shochiku, eines der sechs japanischen Großstudios, zu drehen, waren es Taiyozoku, Sonnenanbeterfilme, Parallelwerke zu Beach Party- und Elvis-Schmonzettchen, voller praller Bikini-Girls, Petticoats und Softdrinks. Nur dass Oshima das knallbunte Setting in den Dreck der Ghettos und Stricher-Straßen von Tokio und Osaka versetzte. Das dritte Werk, bereits im Titel »Das Grabmal der Sonne« (1960) bewusster AgitProp, ist bereits ein vom glamourösen Juvenile-DelinquentReißer losgelöstes Kaleidoskop von »Dog Eat Dog«Kampf der Slums, nur dass der Sozialpornogehalt durch unwirklich übersättigte Farben, atemberaubend schöne Menschen und bewegte Panoramen unterwandert wird, ein bizarrer Vorläufer des französischen Style-Kinos der Achtziger Marke Beineix oder Besson, was wiederum das heutige asiatische Kino eines Kim Ki-Duk oder Shunji Iwai prägen sollte. Mit dem im selben Jahr folgenden »Nacht und Nebel in Japan« sollte er sein Meisterstück schaffen: Bei einer Hochzeit unter alternden UniAktivisten während des gewaltsamen Demo-Todes eines Studenten (die die tatsächliche Hochzeit des 83 I 50
homosexuellen Oshima mit der Schauspielerin und Aktivistin Akiko Koyama sowie das Ableben des japanischen Dutschke Michiko Kanba parallelisierte) kommt es zur kollektiven Aufarbeitung von gegenseitigem Hass und der Ohnmacht zum PolitAktivismus, den das reifende Alter scheinbar so mit sich bringt. Minimal aufgelöste Gruppentiraden zum wunderbar spartanischen melancholischen Sound von Riichiro Manabe, der ungerechtfertigt wegen seiner »Godzilla«-Scores im Schatten von Toru Takemitsu stehen sollte. Dazu brechtisch distanzierte Theatertableaux, Song-Einlagen und überspitzte Rückblenden. Ein heute noch ohne Abstriche in die Seele schießendes Juwel intellektuellen Unterhaltungskinos. Das Studio zog den Film nach drei Tagen wegen politischer Unverträglichkeit zurück, worauf Oshima mit Showazen den Vorreiter der Independent-Produktionen schaffen und etliche Jahrzehnte Japan-Kinos eröffnen sollte, in denen Querköpfe wie Wakamatsu, Suzuki, Fukasaku oder Terayama Pulp, Polit-Aktivismus und Pink Porno kombinieren sollten. Aus der radikalen Phase Oshimas um Marx, »gangrape« und Schnellschusswaffen finden sich hier »Sing a Song for Sex« und der grandiose »Die Nacht des Mörders« aka »Japanese Summer: Double Suicide«, der wie
eine Grindhouse-Variante von Godards CaféMarxisten wirkt. Wunderbar und essentiell, dass das österreichische Polyfilm-Label solche Juwelen in umwerfend restaurierten Prints wieder zugänglich macht. Bizarr, dass ein bedingungsloser Verachter des Nippon-Kinos wie Oshima gleich die ersten vier Filme der »nationalen« Edition ausmacht und kaum Begleitinformations- und kein Zusatzmaterial mitgeliefert wird. Heute kennt man Oshima vor allem für den ersten Hardcore-Bums und sichtbaren Blowjob im Arthaus-Kino mit seinem französisch produzierten »Im Reich der Sinne« von 1976 – nach drei Schlaganfällen ist er längst nicht mehr produktiv und fast vergessen. Damn time to catch up!
»Japanische Meisterregisseure« (DVD-Edition, 1–4 zu Nagisa Oshima, Polyfilm). Es folgen Filme von Nomuro Yoshitaro, Keisuke Kinoshita, Yasujiro Ozu.
/film
Vom Winde verweht Gesang der »Sie werfen den Weizen ins Feuer! Sie werfen Wandervögel den Kaffee ins Meer! Und wann werfen die
Nicht wirkliche Wirklichkeit
Säckeschmeißer die fetten Räuber hinterher?« Ein knochentrockener, auf die Befriedung der Naturgewalten durch die Faustkraft des kollektiv zusammenwerkenden Menschen im Pakt mit der Industrialisierung konzentrierter Propaganda-Halbstünder über die Deicherbauung in der niederländischen Zuidersee wandelt urplötzlich das Gesicht vom Eisenstein-Kitsch aus geflexten Muskeln, Schlamm und Schweiß und der großen übermenschlichen Perspektive zu einer grimmig globalisiert denkenden Tirade über Güterverschwendung am Rücken des Arbeiters, die manisch newsreels montiert. Dazu die Brecht-Gesänge und Schräg-Hymnen von Hanns Eisler. »Neue Erde« von 1933, eine von über hundert Doku-Prop-Inszenierungen des holländischen Weltenwanderers, Bürgerkinds und Kino-Kommunisten Joris Ivens (1898–1989). Poetische Kriegsfilme, gibt es die? Darf es die geben? Ich rede hier nicht von sterbenden Soldaten in Zeitlupe auf dem Engelschorteppich, während im Hintergrund Pirole oder Afghanistans Rothalstaucher zärtlich zirpen. In seinem Gralswerk »Der 17te Breitengrad« von 1968 studierte Ivens über Monate das einfache Leben von dauerbombardierten Reisbauern an der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südvietnam, die Alltäglichkeit des Horrors und Widerstandsunterrichts zwischen Pflanzenpflücken und Kuschelscherzen. Poetischer Naturalismus, dem es manchmal reicht, einen im Wind verwehten Brautschleier lange zu beobachten, wie er in »Valparaiso« von 1963 zur großen Bossa-Schunkelmucke Gustavo Beccaras von den Ghettos auf den Stadthügeln via Drahtseilbahn in die gesicherte Zukunft des reichen Hafens getragen wird. Ein Jahrhundert umwerfender Zelluloid-Gedichte, von politischen Ideologemen und Technikgläubigkeit widersprüchlich zerrissen, im Scirocco des menschelnden Wanderherzens stets aufbrausend und umwerfend.
Die Party-Torte des Post-Independent. Als der britische Pop-Promoter Barry Hogan 1999 seine hauptbetreute Band Belle & Sebastian den Bowlie Weekender gestalten ließ, quasi ein lebendes Party-Mixtape einer Band mit möglichst allen Musikern, die einen beeinflusst haben (und die man beeinflusste), sowie aktuelle Freunde und Liebhabereien, schuf er den Grundstein der »All Tomorrow’s Parties«-Serie, das mittlerweile einflussreichste Indie-Konzert-Konzert-Happening des Globus, heute auch in Japan, USA und via Label (Fuck Buttons!) umtriebig. Der Ort: meist abgelegene britische Touristen-Resorts an der Küste, wo man nicht nur die Konzerthalle, sondern Hotelzimmer und öffentliche Plätze und Parks beliebig musikalisch verunsicherte und mit den Fans zur Familie verwuchs. Und bloß keine »Cunts wie Blur und fucking Fatboy Slim«. Unter den Kuratoren Feinspitze wie Steve Albini, Mike Patton, Simpsons-Schöpfer Matt Groening, Bad Seed und Dirty-Three-Member Warren Ellis und Mogwai. Tarnation-Regisseur Jonathan Caouette schuf mit Warp Films als Produktionsfirma und zahlreichen Zufallsfilmern, die ihre Hometapes von den Events über ein Jahrzehnt miteinsandten, einen wunderbaren filmischen Blumenstrauß aus Found Footage und Pixel-Material, der nicht mehr sein will, als was er tut: teilhaben an einem handgestrickten Ausnahme-Event einer desorientierten Musikszene, die in der Download-Auflösung das eigene künstlerische Netzwerk in allem adäquaten Genuss abfeiert. Und da kann man sich nur im Sperrfeuer grandioser Konzertfetzen von Nick Caves kongenial grantelnden Grinderman, den live gut wie nie greinenden Portishead, Iggy und seinen Stooges, Slint, Daniel Johnston ergeben, verbeugen und freudig schlucken.
»Wer wird bei der Laterne stehen?« Das Lied der Lili Marleen als Symbol der entgrenzt virtuellen Realitäten. Als Autorenfilm-Querulant Rainer Werner Fassbinder mit seinem Theater-Naturalismus vom WDR 1973 für eine TV-Reißer-Version des USScience-Fiction-Pulps »Simulacron III« von Daniel F. Galouye verpflichtet wurde, war Philip K. Dick in Deutschlandien noch inexistent bis unbekannt, waren William Gibson und Matrix noch Jahrzehnte entfernt und hatte sich Zukunftsgeballer in der Krautflimmerkiste schön, aber zaghaft (mit kleinen Perlen wie Tom Toelles »Millionenspiel« und Rainer Erlers »Delegation«) von der »Raumpatrouille« abgehoben. Umso unvorstellbarer, wie der wegweisende Bombenkrater von »Welt am Draht« gewirkt haben muss: Fassbinders typisch tuntige Abstraktion von Genre-Posen und ThrillerStereotypen zum kunstbesessenen Vogue-Vorläufer und in die existentialistische Abstraktion wurde zur ersten Formulierung des computer-generierten Parallelwelt-Traumas. Programmierer Fred Stiller erkennt in einem allmächtigen Forschungskonzern bei einem Weltsimulationsprojekt, dass möglicherweise auch die seine eine programmierte Welt sein könnte und eine Macht ihn für diese Erkenntnis von der Festplatte löschen will. In fein ziselierten, psychedelisch langsamen Seventies-Kadragen von Michael Ballhaus, zum Industrial Ambient vorgreifenden Fiep-Kaskaden von Komponist Gottfried Hüngsberg, tummeln sich Wald- und Wien-Stars wie Rudolf Lenz und Adrian Hoven in immer absurderen Outfits um das Individuum, das vergeblich nach Erdung und Wahrheit im Simulakren-Labyrinth sucht. Wer geht zuerst aus? Der Mensch oder das Betreiberlicht?
PAUL POET
PAUL POET
»All Tomorrow’s Parties« (Regie: Jonathan Caouette, u. v. a., Rapid Eye Movies)
Rainer Werner Fassbinder: »Welt am Draht« (Special Edition, Doppel-DVD mit umfangreichen Extras, Arthaus)
»Joris Ivens Weltenfilmer« (5-DVD-Kollektion mit 306 Seiten starkem Buch von André Stufkens, Absolut Medien)
PAUL POET
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Aus plebejischer Blickrichtung
JOHANNES SPRINGER TEXT
Eine filmische Praxis, die über genaue Beobachtung zur gesellschaftlichen Kraft werden soll: Zum 80. Geburtstag Klaus Wildenhahns erscheint eine Auswahl seines Schaffens als Fernsehdokumentarist. »Ihr könnt euch gleich noch mal hinlegen, nech?« seufzt der junge Arbeiter, als die Werkstore von VW mit greller, die Nacht durchbrechender Helligkeit an die Ankunft zur Schicht erinnern, in Richtung Klaus Wildenhahns Filmteam. Er hatte, nachdem ihm die Drehgenehmigung fürs VW-Werk Emden entzogen worden war, damit begonnen, die Arbeiter auf ihren Busfahrten aus den umliegenden Dörfern der niedersächsischen Provinz zu begleiten und sitzt nun neben den schlafenden und erzählenden Arbeitern, mitten in der Nacht auf dem Weg zur Frühschicht. »Man kann davor nicht schlafen, nicht essen; ich muss mich immer übergeben, der Magen stellt sich nur langsam um … Erst Dienstag pendelt sich der Körper auf die Umstellung ein.« Das Bild des mitfahrenden, den Lebensumständen und Äußerungen der Arbeiter 83 I 52
eine sehr praktische, aufmerksame Solidarität entgegenbringenden Wildenhahn taucht häufiger auf in seinen Filmen. So sieht man den englischen Bergarbeiterstreik 1984 in den ersten Sequenzen ausschließlich aus der Perspektive der Flying Pickets, der mobilen Streikposten, die in ihren Kleinbussen zu jenen Zechen fahren, welche sich dem Streik noch nicht angeschlossen haben. Die auf den Autobahnbrücken postierte Polizei, die alle Bewegungen der Streikenden zu kontrollieren hat, wird aus der Froschperspektive des Wagens gefilmt. Auf der anderen Autobahnseite sind Kohlewagen für Industriebetriebe zu sehen, die, geschützt von Polizeieskorten vorne und hinten, durch ein Land im Ausnahmezustand transportiert werden. Man gerät in eine Polizeikontrolle, die mit Verhaftung wegen Landfriedensbruchs droht, falls
der Minibus aus Yorkshire weiter nach Nottinghamshire fahre, wo die dortigen Minenarbeiter von der Arbeit abgehalten werden sollen. Es ist sehr bald klar, dies ist keine ausgewogene, mit O-Tönen und Argumenten aus allen politischen Lagern operierende Dokumentation. Wenn Maggie Thatcher zu sehen ist, die Methoden des Streiks als unbritisch apostrophierend, dann nur aus den Fernsehgeräten in den Wohnungen der Arbeiterfamilien, die sogleich ihre Kritik an den Medien anbringen können. Wildenhahn glaubt an die bewusstseinsbildende Kraft spontaner dokumentarischer Beobachtung, daran, ohne allzuviel erklärendes Beiwerk dem Zuseher die Organisierung der Welt als Problem und als offene, zu gestaltende Aufgabe in die Hand zu geben. So wird aus seinen Filmen auch nie Propaganda in
/film
einem klassischen Sinne, die inneren Widersprüche seiner Forschungsfelder werden nie ausgespart. So hört man bald das Council Collective, Paul Wellers und Jimmy Ruffins Stimmen sich mit Wildenhahns Übersetzung vermischen. »Don’t say this struggle does not involve you. If you‘re from the working class this is your struggle too«; bei »Bruder gegen Bruder« gibt es einen Schnitt: die nun im Zentrum stehenden scabs, Streikbrecher, werden weder denunziert noch glorifiziert, es wird ihnen zugehört, wenn sie von ihren Ängsten und Nöten erzählen, der soziale Druck der Kleinstadt kommt zur Sprache, die ganzen Dilemmata einer in Rückzugsgefechten und anbahnenden Niederlagen sich befindenden Arbeiterbevölkerung werden spürbar, wenn sich im Arbeiterclub die Konflikte untereinander häufen. Wildenhahn nimmt sich die Zeit und beobachtet. Von den Betroffenen her Ein russischer Bauarbeiter fragt 1928 nach einer Filmvorführung von »Zuiderze«, einem Dokumentarfilm zur holländischen Meer-Landgewinnung, den Regisseur Joris Ivens, ob er ein Schwindler oder Betrüger sei. Ivens hätte behauptet, aus dem Mittelstand zu kommen, die Art jedoch, wie der Film Arbeit zeigt, könne nur mit den Augen eines Arbeiters gemacht worden sein. Ivens erwidert, dass dies das schönste Kompliment sei, das ihm gemacht werden könne. Er habe erst selbst durch eine kurzzeitige Ausübung der Arbeit mit schweren Steinen ein Gefühl für die dargestellte Tätigkeit entwickeln müssen, um Blickwinkel und Bildausschnitt der Kamera auf die entscheidenden Momente dieser speziellen Handlung, Schulter und Kinn, zu legen. Wildenhahn, der diese Schilderung in seine 1973 publizierten theoretischen Schriften »Über synthetischen und dokumentarischen Film« aufnahm, zielte damit auf grundsätzliche methodische und thematische Prinzipien auch seiner
eigenen Dokumentarfilmarbeit ab. Formalästhetische Ideen und Handschriften sollen nicht mitgebracht und äußerlich einem Gegenstand angetragen werden, vielmehr soll aus dem darzustellenden Vorgang eine diesem angemessene und ihm dienende Ästhetik entwickelt werden, was sich in seinem Credo des Dokumentarischen niederschlägt: »Filme mit dokumentarischer Tendenz kommen von den Betroffenen, von der Basis her und laufen auf eine Perspektive zu.« In welchem Feld die zu filmenden Vorgänge zu finden seien, ist ebenso klar: im Alltag und der Arbeitswelt der »arbeitenden Klassen«. Nun mag das für einen Regisseur, der wie Wildenhahn in den frühen 1960er Jahren zum NDR-Fernsehen (»Panorama«, später Redaktion »Fernsehspiel«) kam und dort auf Figuren wie Rüdiger Proske, den Brecht-Adepten Egon Monk oder Eberhard Fechner traf, nicht überraschen, schließlich wird dieses heterogene Ensemble, beizeiten auch mit dem Begriff der »Hamburger Schule des Fernsehdokumentarismus« belegt, gerne als in Dimensionen der Sozialkritik und parteilichen Beobachtung der deutschen Gesellschaft harmonierend skizziert. Mal nichts sagen Indes, Wildenhahn, den man heute zu Recht als einen der größten deutschen Dokumentaristen würdigt, ist mit seiner nach Deutschland importierten Herangehensweise des Direct Cinema – es werden reale Personen in ungestellten Situationen gezeigt, es wird ohne festen Drehplan gearbeitet, eine spontane Näherung an den Gegenstand findet statt, Fragen, Anweisungen oder Nachinszenierungen werden ausgespart, nondiegetische Kommentare und Musik werden spärlich verwendet, unauffälliges Agieren im Hintergrund ist insgesamt Trumpf – durchaus auch innerhalb der ihm politisch nahestehenden Zirkel angeeckt. So beschreibt er in einem Interview die methodischästhetischen Differenzen, die er spürte: »Das Verbalisieren war Trumpf unter den linken Studenten ... Mir ging es darum, nicht parolen- oder textgläubig zu sein, sondern der Methode des Cinéma Vérité zu vertrauen und sich darauf einzulassen mit diesen Leuten, also mit der Arbeiterklasse umzugehen. Ich glaube, das Entscheidende war damals, dass diese linken Bildungsbürger der Arbeiterklasse letztendlich wohl nicht zutrauten, ihre eigene Sache im O-Ton auszudrücken. Die glaubten, ihnen
das mit gesetzten Worten vorerzählen zu müssen.« Auch später, z. B. in der so genannten KreimeierWildenhahn-Kontroverse, in der es um die Grenzen und Mittel solcherart gemachter Dokumentarfilme ging und das Direct Cinema retrospektiv betrachtet nicht gerade als Sieger hervorgegangen ist, tritt Wildenhahn streitlustig auf. Bei ihm soll das Objekt der Berichterstattung zum sprechenden Subjekt werden, ob es ostfriesische Landarbeiter sind wie in »Emden geht nach USA«, altgewordene kommunistische Revolutionäre wie in »Barmbek: Der Aufstand wird abgebrochen« oder Bauarbeiter, die »In der Fremde« (in der niedersächsischen Provinz) ein Futtermittelsilo errichten. Über die von Wildenhahn gepflegte Form von Langzeitbeobachtungen wird Vertrauen aufgebaut zu einer überschaubaren Gruppe, einem begrenzten Umfeld an Gefilmten, und jene sind es dann auch, die zu Autoren werden, ganz wie in einem guten forschenden ethnographischen Verfahren. Überraschungseffekte Das kann ein Risiko darstellen, aber Wildenhahn liebt dieses wie eine Improvisation im Jazz: So fragt ihn der US-amerikanische Filmemacher Richard Leacock, der von Wildenhahn in Boston aufgesucht wird, in seiner filmischen Hommage an das Direct Cinema: »Was machen wir denn nun die ganze nächste Woche?« Wildenhahn entgegnet, es sei ihm auch ein wenig peinlich, er wisse es nicht genau, aber irgendetwas wird passieren. Und dieses Etwas wird mehr Komplexität zutage fördern und dem Zuschauer mehr Impulse geben als ein Drehbuch oder ähnliches. Häufig genug kann dies für Klaus Wildenhahns Werk als eingelöst betrachtet werden. Ein aus der Jetztzeit der Kreativindustrien und kreativen Klassen betrachtet interessanter und zu wenig beachteter Strang ist Wildenhahns in vielen Dokumentationen unter Beweis gestellte Sensibilität gegenüber künstlerischen Arbeitsweisen. Wenn man dann John Cage von einem Grundeinkommen träumen oder die Tänzerinnen von Merce Cunningham in einer Probenpause über Sozialhilfe in New York City diskutieren sieht, die Relationen zwischen Mäzenen und Künstlern vorgeführt bekommt, erkennt man in Wildenhahn auch einen unbequemen Chronisten der Kulturökonomie.
Klaus Wildenhahn: »Dokumentarist im Fernsehen« (5 DVDs + Booklet mit 14 Filmen von 1965–1991, Absolut Medien)
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FRANK APUNKT SCHNEIDER TEXT
I want to XXX you Bei X verschlanken sich die Register: viereinviertel Seiten Konversationslexikon, eine dreiviertel Seite Duden und im Regal: eine CD, 20 LPs, 15 Singles ... Dabei hat der Buchstabe X eine Botschaft bzw. sogar zwei: Er steht für Überschreiben (›Ausixen‹) und für Lust in ihrer sexkulturindustriellen Wucherform. Nie lagen Mangel und Begehren pornographischer beisammen. X ist reiner ›Palimpsex‹, nimmt die Fülle in die Mangel und füllt den Mangel bis zum Rand: »The lights, the noise, the letter x – it’s all designed to inflame the senses« (Ned Flanders über Las Vegas). Das X kann aber noch mehr: auf dem Straight-Edge-Handrücken ist es ein Bekenntnis zum Protestantismus, auf dem RAF-Fahndungsplakat Verfassungspatriotismus, und für Junkies steht der 22. Buchstabe mal wieder für den achten. Verständlich, dass sich Bands immer wieder an entsprechenden Namenskonstruktionen versuchen …
Gina X Performance Semi-wiederentdeckte Italo-Discowave-Entfremdung aus NDW-Deutschland. X L.A.-Trashpunkpowerpophochklassik unter Ray Manzareks Fittiche, der ihnen ein paar Old-School-Tricks beibrachte. In ihrem historischen Moment unschlagbar, später behäbiger Neorock in REM-Furchen. Xanthippe Eine der ersten literaturhistorisch belegten Riot Wives. In einer erfundenen Anekdote leerte sie ihren Nachttopf über Sokrates aus – vermutlich zu Recht … X-Beliebig Österreich war 1981 ziemlich Joy Division, v. a. in Wiener Neustadt, wo siebeneinhalb Bands den JD-Sound aus niederösterreichischem Qualitätsfrust nachbauten. Weit vorne, aber etwas zu hastig: X-Beliebig. Single und LP sind heute gesucht wie die Weltformel. X-Chromosom Kleinste gemeinsame Nennerin im Geschlechterdurcheinander; selbst das Y soll nur ein verkümmertes X sein, sich also zu X verhalten wie Penis zu Vagina. The X-Ecutioners Leistungssport, Hochkultur und DJ Culture als Powertrio.
»Faktor X« Die supposé-CD von Žižek, dem Sloterdijk der Linksradikalen. Hier erklärt er die kapitalistische Warenform mit Überraschungseiern und das p.c.-Problem anhand von »Shreik«. Ein echter Action-Denker kriegt sogar die kleinbürgerliche Reproduktionsfalle produktiv. Geza X Erfand als Produzent (»Holiday in Cambodia«, Germs, Black Flag, Avengers, Weirdos …) den »California Wall of Urge«, eigene Platten enthalten hitförmige Verwirrung. 83 I 54
Iannis Xenakis: Komponist und Architekt (1922–2001). In erster Disziplin gefeiert und gewürdigt (Retrospektive bei Wien Modern 2009), in zweiter doch eher unbekannt, aber großartiger Vermittler beider. Der für die Weltausstellung in Brüssel 1958 entworfene Philips-Pavillon (siehe Bild!) war beispielhaft für die mögliche Synthese von Architektur und Musik. Veröffentlicht wurde dieser unter Le Corbusiers Namen, in dessen Büro Xenakis zwölf Jahre lang arbeitete. Der Entwurf stammt aber von Xenakis, was die Frage zum Bekanntheitsgrad als Architekt klären sollte …
X Files Wollten nur den MysteryBoom vom Zaun brechen, traten aber gleich eine ganz neue Ära der Serienunterhaltung los, die nun bis ins Unermessliche getoppt wird (aktuelle Etappensiegerin: »Lost«). Ihre Welt ist das Gewimmel konkurrierender Verschwörungen – als pluralistisches Gegenstück zur krypto-nazistischen universellen Verschwörungstheorie. Im Unterschied zum Antisemitismus tappen Scully und Mulder nämlich grundsätzlich im Dunklen. Xhol Caravan Das Problem der meisten Krautrockbands war, dass sie aus Wiesbaden (und/oder Hannover) kamen. Trotzdem gehört »Electrip« von 1969 zu den Klassikerinnen eines Genres, das noch längst nicht über die Schwelle seiner Deutschrockwerdung gestolpert war: schummriger Free Form Soul, Blood Sweat & Tears-Bläser-Flusen (ca. James Last Orchester auf LSD), locker dahinwallender Soft-Jazz, Orgelsoli länger als der menschliche Verdauungstrakt und ein faires Hypersensibilisierungsangebot für Menschen mit Querflötenphobie. Xiu Xiu Gequeert werden muss letztlich alles, aber der zum Altherrenstammtisch verkümmerte Indiepop hatte es am Nötigsten. Wie man/ frau sie ausspricht, weiß trotzdem niemand. X-Men Wie viele SuperheldInnen eine jüdische Erfindung, was hier aber am slicksten mitgroovt. Hat mit Dazzler eine Nebensuperheldin, die früher Discokönigin war und Geräusche in Licht und Energie umwandeln kann … x-mist.com Von Nagold im Schwarzwald aus operierender Überlebender der deutschen Underground-Mailorder-Kultur. X-Ray Spex Klangästhetisch erste Riot Girrl Band, die Punk nicht als
Re-Release von Rocksexismus spielte, sondern als das ganz Andere, das sagt: »Oh Bondage, Up Yours!«. Die einzige brauchbare deutsche Popzeitschrift der 1980er und 1990er soll sich nach ihnen benannt haben. XTC Police für Nicht-Doofe? Kaum war die neue Energie in der Welt, wurde sie schon wieder Pop und im selben Atemzug Kunstmusik. Entlegene Akkorde und gezwirbelte Rhythmen inspirierten eben erst abgemeldete MuckerInnen zu Soonto-be-Grabbelkisten-Bands, während XTC bis tief in die 1980er-Popsophistikation definierten. X-TRO Sci-Fi-Trash, genrehistorisch ziemlich last minute. Guter Überblick über das, was uns blüht, denn: »Nicht alle Außerirdischen sind freundlich!« – Manche bekämpfen uns sogar mit unseren eigenen Fehlern, z. B. den Clowns. XXX Pornoindustrielle Überaffirmation des X-ratings für ErwachsenenFilmchen. Der zensorische Doublebind wird als das erkannt, was er ist: ein Mangelemblem, das Begehren anlockt und begeistert vermehrt. Leider hat Porno das verdreifachte Versprechen von X nie eingelöst. Auch die pornographische Kulturware ist nur ein weiteres Überraschungsei. XZIBIT Unterstreicht als Host bei »Pimp My Ride«, wie tief WestcoastHipHop zu sinken imstande ist.
/artfile ROLAND SCHÖNY TEXT
Konstruktionen von Wirklichkeiten Die 6. Berlin Biennale kommt locker und dennoch dezidiert politisch daher, während die stadträumlichen und ökonomischen Veränderungen in der deutschen Kunststadt unübersehbar bleiben. Wäre man zynisch genug, könnte man das Unternehmen Berlin Biennale komplett hinterfragen. Längst fehlt der Thrill, im ehemals neu entdeckten Stadtteil Mitte. Kunst gibt’s da inzwischen fast in jedem Häuserblock, genauso wie Bars und Restaurants, die sich mit italienischer Küche, kleinen Snacks und Rotwein nur so übertrumpfen. Also wozu noch der Rummel? Doch die Herausforderung liegt genau in der Möglichkeit, in eben diesem Umfeld für kritische Positionen der Kunst unabhängig von deren Situierung auf dem Markt, Publikum mobilisieren zu können; also darin, ein Statement zu formulieren, ohne das Ganze Brimborium von Event und Kunststadtgerede rundherum. Das letzte Stück Freiland Fast befreiend wirkt deshalb die Begegnung mit der formal mutigen Arbeit des 1986 in Skënderaj in Albanien geborenen Petrit Halilaj. Sie führt auf eine verwilderte Wiese hinter das Gebäude der Kunstwerke, die Ausgangspunkt und Zentrum der Berlin Biennale sind. Dort befindet sich eine Art Hühnerstall für Legehennen. Man betritt das scheinbar letzte noch nicht durchökonomisierte Stück Land. Davor ist das Publikum im großen Erdgeschoßraum der Kunstwerke mit einer riesigen Installation aus Schalungsbrettern und Gerüstteilen konfrontiert. Von der Decke hängt das reale Gerüst des Einfamilienhauses der Eltern des Künstlers. Diese sind gerade im Begriff, ihr Eigenheim zu vergrößern. Verbunden mit den brüchig wirkenden Zeichnungen von Halilaj, in denen es ebenfalls um Skizzen, Ideen und Darstellungen eines Einfamilienhauses geht sowie verbunden mit einem Video zu einer Intervention in Istanbul (ebenfalls mit Hühnern) ist dies der Aufriss des Biennale-Themas. Sie soll sich unter dem Motto »Was draußen wartet« um Wirklichkeitskonstruktionen drehen. Selbst wenn das kuratorische Statement von Kathrin Rhomberg hie und da Gemeinplätze berührt oder den Begriff der Wirklichkeit etwas unentschieden zwischen sozialer oder medialer Wirklichkeit, zwischen Lebenswelt des Alltags und der unterschiedlichen symbolischen Repräsentation von Realität belässt, so vermittelt die Arbeit von Halilaj dennoch einen Eindruck davon, was gemeint ist. Sie ist eine Art Exposition der Leitmotive dieser sechsten Berlin Biennale. Dass Petrit Halilaj die Eingangstür verrammeln ließ, kommt allerdings als viel zu starkes Zeichen daher. Damit auch die Sonntagsausflügler in den Kunstwerken wissen,
Petrit Halilaj: »The places I’m looking for, my dear, are utopian places, they are boring and I don’t know how to make them real« 2010, Installationsansicht, 6. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst
was gespielt wird! Doch gerade Biennalen sollen auch mal was durchprobieren und nicht auf die totale Perfektion hinarbeiten. Fragen nach Wirklichkeiten So gesehen passt dann doch vieles in seiner ernsthaften Schlacksigkeit. Die Berlin Biennale thematisiert formale Operationen, sie fokussiert Ökonomien, auch solche der Aufmerksamkeit, sie analysiert Ortskontexte, bringt persönliche Träume ins Spiel oder fragt, welche Konsequenzen totales Sicherheitsdenken nach sich zieht. Und natürlich steht dahinter generell die Frage nach der Möglichkeit der Abbildung gesellschaftlicher Wirklichkeiten. In der gesamten Geografie der Ausstellung entstehen an den einzelnen Orten Zonen der Weite, die es ermöglichen, Werke und Welten intensiv zu erfahren. Ein ganzer Gang etwa ist in den Kunstwerken einer großformatigen Fotoserie von Mohamed Bourussia (F) gewidmet: inszenierte Fotos von Jugendlichen in Pariser Banlieus. Oder die filmische Großprojektion auf zwei gegenüberliegenden Leinwänden von Mark Boulous (US/NL): Sie zählt zu den Publikumsmagneten. Auf der einen Seite Szenen des Wahnsinns permanenter Börsenspekulation auf der Chicago Mercantile Exchange. Im Zentrum steht der Kampf um den Rohstoff Öl. Gegenüber projiziert sind daher Szenen und Statements von Mitgliedern des Movement for the
Emancipation of the Niger Delta. Visuell intensive, rhythmisch aufeinander bezogene Filme, die einander gegenseitig kommentieren. Dass Raumfragen generell eine enorme Rolle spielen, stellt sich am Ausstellungsort Oranienplatz 17 heraus: ein leerstehendes, ehemaliges Kaufhaus am Rande des Szeneviertels und einstiges Terrain Berliner Hausbesetzungen und Straßenkämpfe. Kreuzberg SO36. Heute Pilgerstätte für Abenteuer suchende Oberschüler. Hier bietet die Biennale vor allem ein reiches Videoprogramm mit filmischem Charakter. Hervorgehoben sei das Video »Beyond Guilt« der beiden israelischen Künstlerinnen Ruuti Seela & Maayan Amir, die – wie in billigen Pornos
Ruti Sela & Maayan Amir Beyond Guilt #1, 2003, from the video trilogy »Beyond Guilt« (2003–2005)
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/artfile
– in Badetoiletten sexuelle Szenen mit jungen Männern provozierten, so aber eindrucksvolle Antworten in Form persönlicher Aussagen über deren Identität, deren Militärdienst und somit Beziehung zu Macht und Gewalt erhielten. Gelegentlich taucht die Frage nach den Parametern für die Auswahl auf. Doch Biennalen sind eben jene Zusammenhänge, in denen Werke und KünstlerInnen zur Debatte gestellt werden. Zugleich ein fast poetischer Kurzfilm von Friedl vom Gröller (Kubelka). Dann wieder Israel–Palästina. Avi Mograbi konfrontiert mit einer Szene am Sperrzaun zum palästinensischen Gebiet, an dem er selbst die israelischen Soldaten provoziert, indem er sie aus seiner Perspektive als Bürger als seine Bediensteten bezeichnet und auffordert, palästinensische Kinder passieren zu lassen. Unerwartete Begegnungen Zugleich eine überraschende Begegnung mit Zeichnungen des Free-Jazz-Musikers Sven-Ake Johannsen und Arbeiten von Henrik Olesen oder Thomas Locher. Es sind außerdem in einem der Stockwerke Teppiche aus Berliner Privatwohnungen als eigene Erzählform ausgelegt. Eine Intervention von Hans Schabus. Dass die Frage nach Realitätsbezügen nicht durch-
rascht, ist aber gar nicht so sensationell. Vielmehr lässt sich dies als Hinweis verstehen, dass natürlich auch die Klassiker kritische Leseweisen der Wirklichkeit entwickelten und dies keineswegs alleine eine Sache der 1970er oder 1990er Jahre ist. Eine Plakataktion, welche die Biennale-Kuratorin Kathrin Rhomberg und Direktorin Gabriele Horn wegen der temporären Nutzung eines Leerstandes in Kreuzberg als Gentrifizierungs-Verbrecherinnen anprangert, mag als Kontrapunkt erfrischend wirken, bleibt aber inhaltlich falsch, weil nicht die kritische Kunst gentrifiziert, sondern Investoren und Spekulanten die Stadtteile verändern. Außerdem begann die Renovierung des ehemaligen Kaufhauses in Kreuzberg bereits lange vor dem Biennale-Vorhaben. Die harten Prozesse der Veränderung finden also nach wie vor unmittelbar vor der Türe statt. Die Biennale im Gegenzug etwas lockerer daherkommen zu lassen, wirkt daher plausibel. Avi Mograbi: »Details 2 & 3«, 2004 DVD, Farbe, Ton / DVD, color, sound 9‘ 23“
gehend politisch gestellt wird, sondern formale Fragen merkbar und differenziert eingebracht werden, tut dieser Biennale gut. Die Einbeziehung von Werken des dokumentarischen Zeichners Olaf Menzel in der Nationalgalerie wiederum über-
Berlin Biennale, bis 8. 8. 2010 www.berlinbiennale.de
ROLAND SCHÖNY TEXT/FOTO
Fraktale Sound-Architektur Das Format Straßenmusik angedockt an einen visionären Entwurf. Dies war zu erleben im Zuge einer SoundPerformance anlässlich der Eröffnung der skulpturalen, begehbaren Architektur »The Morning Line« im Stadtraum von Istanbul. Sie funktioniert als transportable Struktur zur Umsetzung spatial organisierter Kompositionen und setzt Zeichen in Richtung neuer Sichtweisen auf das Thema der Intervention im öffentlichen Raum. Mai 2010, eine Freifläche am Rande stockender Verkehrsströme in der Megacity Istanbul. Direkt am Eminönü Meydanı erhebt sich »The Morning Line«. Eine modular aufgebaute Struktur, die Raumzusammenhänge andeutet, nach außen hin aber offen bleibt. Hier bearbeitet Lee Ranaldo seine Gitarre. Es ist die längst zum Sonic-Youth-Markenzeichen avancierte blaue Fender »Lee Ranaldo Jazzmaster« mit den extrabreiten Tonabnehmern. Sie fungiert als Soundgenerator und hängt, nein, kreist in zunehmender Geschwindigkeit, mit einem Seil am Wirbelkasten befestigt, an einem der fragmentarisch wirkenden noch oben gerichteten Ausläufer der ornamentalen Skulptur. Symbolisch wie real intensiviert sich die Feedback-Kommunikation mit einer Batterie vernetzter rundherum in der offenen Architektur verborgen platzierter Lautsprecher. 83 I 56
Unwillkürlich dehnt sich der fast intime Kreis des Publikums. Topografische Verdichtungen von Sound Neben der handlichen Monitorbox hat Ranaldo sein elektrotechnisches Reisegepäck verkabelt. Unter den abgetretenen Pedals etwa Delay und Moogerfooger Ringmodulator. In Bereitschaft außerdem Drumsticks und Streicherbogen zur späteren Malträtierung seiner Gitarre. Was passiert, evoziert automatisch die ganze Geschichte von Entgrenzungen, die sich in dieser mythisch aufgeladenen Sound-Maschine des Rock bündelt. Zugleich lässt die Performance eben genau diese Geschichte auch wieder vergessen, weil die Ströme doch wieder in eine andere Richtung weisen. Genauso fliegend, schwebend, kreisend, wie sich
das blaue Ding im Raum bewegt, verschieben, verdichten und überlagern sich beschleunigte, surrende, flächige Sound-Schichtungen verschiedener Tonhöhe, während sich in Sichtweite – scheinbar tonlos – Kolonnen gelber Taxis über die nahe Galata-Brücke durch das nächtliche Istanbul wälzen. Der Ort der Performance ist einer der ältesten Plätze der Megacity am Bosporus. Sofern solche Bilder in einer durch Moderne und Kemalismus geprägten Türkei noch gültig sind, ist dies die geographische Schnittstelle zwischen westeuropäischer und orientalischer Tradition. Am Südufer des Goldenen Horn gelegen, eröffnet sich von hier aus der Blick Richtung Szeneviertel Beyoglu auf der anderen Seite des Wassers, während der berühmte Gewürzbasar und einige prominente Moscheen das Viertel in unmittelbarer Nähe kennzeichnen.
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Matthew Ritchie with Aranda\Lasch and Arup AGU: »The Morning Line«, 2007, Installation view: Istanbul 2010 –European Capital of Culture. Foto: Murat Durusoy/ T-B A 21, 2010
Einem jener Orte Istanbuls also, an dem traditionelle Zeichen und urbane Gegenwart einander wie selbstverständlich überlagern. Die ornamentalen Bauteile der sich in kontraststarkem Schwarz entgegen der Prinzipien linearer Geometrie unregelmäßig ausbreitenden Skulptur wirken hier wie Bindeglieder zwischen den Kulturen und Geographien. Anlässlich der Eröffnung der Sound-Architektur spielte Ranaldo sein Stück »Maelstrom For The Morning Line« live in den digitalen Speicher der mit einem System von 50 Lautsprechern verbundenen Software der Klangarchitektur ein. Als einer von insgesamt siebzehn MusikerInnen und KomponistInnen, die von Russell Haswell und dem türkischen ITÜ – MIAM, dem Centre for Advanced Studies in Music, in Istanbul eingeladen wurden, für die sich fraktal erweiternde Architektur »The Morning Line« topografisch wahrnehmbare Kompositionen zu entwickeln. Das architektonische Konzept für die Klangskulptur geht auf einen Entwurf des Malers Matthew Ritchie gemeinsam mit dem Architekturstudio Aranda\Lasch und dem Konstruktionsbüro Arup AGU zurück. Entwickelt wurde das Projekt im Kontext der Reihe »Art Pavillons« der Thyssen-Bornemisza-Stiftung im Lauf von mehr als drei Jahren und dann schließlich als eine der wenigen zeitgenössischen Konzepte in den Kontext von Istanbul 2010 eingebracht. Sound architecture off to the limits »Going to the limits« war eine der visionären Vorgaben. Die Grenzen dessen erreichen, was aktuell auf diesem Gebiet möglich ist. Sowohl als Intervention im öffentlichen Raum in Form einer technisch ausgereiften Medienarchitektur wie auch im Bereich gegenwärtigen musikalischen Denkens. Gleichsam als Musikprogramm inmitten des urbanen Zusammenhangs laufen die einzelnen Kompositionen
von Carl Michael von Hausswolff, Jónsi & Alex, Cevdet Erek, Bruce Gilbert, Chris Watston oder Jana Winderen nämlich täglich im Intimbereich von »The Morning Line« auf dem Eminönü Meydanı. Unwillkürlich wird das näherkommende Publikum involviert, da es beginnt, die Bündelungen und Veränderungen der nach Raumkoordinaten angelegten Musikstücke durch einen Wechsel des Standpunktes zu erwandern. Die Komposition »No Rest Event For The Static« von Hausswolff etwa basiert auf einander wie klare Wellenlinien überlagernden Schwingungen, die zeitlich zueinander verschoben abgespielt werden. Anstelle der Wiederholung tritt die unendliche Variation. Währenddessen beginnt etwa das Stück von Florian Hecker mit einer Überfülle komplexer Geräusche, die an eine improvisierte Version der Technik der stochastischen Synthese von Iannis Xenakis, also an Prinzipien von Bündelungen nach mathematischen Wahrscheinlichkeiten in Prozessen der dynamischen Synthese erinnern. Damit wäre schon einer der zentralen Bezugspunkte für »The Morning Line« genannt. Die modulare Struktur kann nämlich als Inversion und damit auch Weiterentwicklung der bisher umgesetzten und mittlerweile historischen Sound-Pavillons gelesen werden. Im Gegensatz zu ähnlich signifikanten Medienarchitekturen wie dem berühmtem Philips-Pavillon 1958 in Brüssel oder dem Kugelauditorium von Fritz Bornemann nach Ideen von Karlheinz Stockhausen 1970 suchte Matthew Ritchie gemeinsam mit Ben Aranda nach Möglichkeiten der realen wie auch der symbolischen Öffnung. Der räumliche Eindruck entsteht daher vor allem auf akustischer Ebene. Die MusikerInnen entwickelten ihre Raumkompositionen gemeinsam mit dem britischen Tontechniker und Musiktheoretiker Tony Myatt vom Music Research Centre der University York. Denn nur in
Lee Ranaldo, Performance »Maelstrom for The Morning Line«, 23. Mai 2010.
Tony Myatt, Tontechniker und Musiktheoretiker vom Music Research Centre der University York.
allerhöchster Präzision umgesetzt funktionieren solche Konzepte. Als auditive Zone der Intensivierung und des aktiv Sich-treiben-Lassens, während das Treiben der Megacity Istanbul rundherum sich zum Film verdichtet.
»The Morning Line« Eminönü Square Istanbul, bis 19. 9. 2010 www.en.istanbul2010.org/PROJE/GP_659314 www.tba21.org/program/current/83/ artworks2?category=current 83 I 57
/thinkable DIDI NEIDHART TEXT
Wo die wilden Kerle wohnen Slavoj Žižek lässt keine Ruhe. Eine neue DVD und ein schon etwas älteres Buch belegen dies erneut. Ein zwiespältiges Vergnügen ist garantiert. Im Booklet zu »Alien, Marx & Co. – Slavoj Žižek im Porträt« (u. a. auch mit kleinen spitzfindigen Essays zum Thema Philosophie im Medienzeitalter) erklärt Jens-Christian Rabe »Das Žižek-Prinzip« wie folgt: »Ich sehe was, was du nicht siehst – obwohl es direkt vor deiner Nase liegt.« Die Betonung liegt hierbei natürlich beim angesprochenen »du«. Etwas anderes wäre da schon »Ich sehe was, was ich nicht sehe – obwohl es direkt vor meiner Nase liegt.« Womit wir wieder bei Žižek wären: Kann ein ›Ich‹ überhaupt das Direkte vor seiner/ihrer Nase sehen? Žižek wäre kein Lacanier, wenn er das bejahen würde. Žižek spielt Punk Žižeks eigene »blinde Flecken« erscheinen immer weniger unter diesem Gesichtspunkt. So erfrischend sein Denken in »Auf verlorenem Posten« stellenweise sein mag, so komisch wirkt mittlerweile sein bockiges Draufhauen auf alles, was nur irgendwie mit Identitätspolitiken (vulgo das Minoritäre, Differente, Feministische, Queere etc.) zu tun hat. Das erinnert nicht nur an das längst überwunden geglaubte Gerede von »Nebenwidersprüchen« (oder wie es Franz Josef Degenhardt mal formulierte: »Zwischentöne sind Krampf im Klassenkampf«), sondern schlittert bei Žižek auch immer mehr in eine Richtung, wo political correctness einfach »Verklemmtheit« vorgeworfen wird (interessanterweise argumentierte ja auch Jochen Distelmeyer mit diesem Begriff gegen jene, die seine neuen Lieder als ›Schlager‹ gelesen haben). Kurz: Alles linksliberale Weicheier! Dann doch lieber »Auf verlorenem Posten«, »für immer Punk« sein wollen und provozierendes Anecken mit der positiven Besetzung von Begriffen wie »Terror«, »egalitärer Schrecken«, »Umerziehungslager«, »Gulag« (wobei der Vorschlag einzig aus sich heraus schöpfende Kunst-Genies für zwanzig Jahre dorthin zu schicken schon verlockend ist). Gerade bei »Auf verlorenem Posten« untergräbt er sich immer wieder selber als Scharlatan, der jede Menge politischen Schabernack im Schilde führt. Kaum wird es in der »atonalen Welt« ohne fixen, verbindlichen Herrschaftssignifikanten (also in den neoliberalen globalkapitalisierten Kontrollgesellschaften) zu nebenwidersprüchlich, wird der totalitäre Joker 83 I 58
gezogen. 2009 über Rammsteins angebliche Überaffirmationsgesten zu schreiben (»Fürchtet euch nicht, genießt Rammstein!«), als ginge es um Laibach von vor 20 Jahren, passt da leider ebenso ins Bild wie die Forderung nach »Informanten« (also Spitzeln). Das verwundert (und ärgert) umso mehr, weil Žižek beim Perodikum »Lacanian Ink« (www.lacan.com) sehr wohl große Anstrengungen unternimmt, an den Verkomplizierungen der Verhältnisse mitzuarbeiten. Žižek spielt Žižek Als Entwirrer des Komplizierten und Verkomplizierer des scheinbar banal Einfachen präsentiert er sich hingegen bei der ursprünglich als TV-Portrait gesendeten Philosophie-Doku »Alien, Marx & Co.« Natürlich sind das alles vergnügliche Inszenierungen, die wir hier sehen. Žižek als ein im wahrsten Sinne des Wortes ›wandelnder Exzess‹, aber umgänglich und sympathisch. Kokett, aber nicht eitel (Žižek ist keine Diva, wie Lacan es war). Mitunter jedoch auch ein verkappter Kontrollfreak (wie im Vorgespräch mit einem französischen Radioredakteur); andererseits flippt er wie ein kleines Kind aus, als ihm DDR-Spezialitäten wie »Vita Cola« angeboten werden (bei einem Restaurantgespräch im Bonus-Teil). Und zu allem eine Rede parat! Das erinnert mitunter an Spongebobs »Ich bin bereit!« (auch Žižek kultiviert bekanntlich seine Ticks). Ein ewiges ›Bla bla, blubber, fasel, fasel‹ – egal ob auf Englisch, Deutsch, Französisch, Slowenisch. Egal ob Marxismus, Hollywood oder sowjetische Science-Fiction-Filme. Faszinierend vom Anfang bis zum Ende. Er überwältigt einfach, zieht alles auf sich, ist der Mittelpunkt der Party. Nur, sehen wir hier jemanden ›beim Denken‹ zu (wie es bei Deleuze der Fall ist) oder (hauptsächlich) beim Reden? Um das nicht falsch zu verstehen: Es geht hierbei (gerade mit Lacan als Herrschaftssignifikanten) ums Quasseln! Um jene Momente, wo der Redefluss entgleist und das Unbewusste selber zu sprechen (quasseln) beginnt. Žižeks ›Wunsch‹, nur ›als Text‹ wahrgenommen zu werden, scheitert so auch immer wieder an seiner Lust nach medialer Überpräsenz. Hier noch verstärkt durch Begegnungen mit Alain Badiou und Jacques Rancière via Monitorzuspielungen. Hier sitzt Žižek,
zusammen mit den virtuellen Manifestationen der restlichen linksradikalen, anti-identitätspolitischen »Gang of Three« der »Politik der Wahrheit«, in einem fast dunklen Raum, der, je nachdem, auch an dem unterirdischen Schlupfwinkel von Dr. No oder Dr. Evil erinnern kann. Vielleicht helfen diese Assoziationen ja auch über weite Strecken von »Auf verlorenem Posten« hinweg. Ebenso machen die DVD-Extras enorme Lust auf Philosophie. Vielleicht ist das ja auch der Punkt: Wenn schon alles qua Politik Scheiße ist, dann wäre Philosophie als Futter für die Birne ja wieder eine Option. Sonst bezichtigen sich bald ein stalinistischer Norman Bates und Jerry Lewis als Peppone gegenseitig der Farce.
Slavoj Žižek: Auf verlorenem Posten, 319 S., edition suhrkamp 2009, EUR 14,– Susan Chales de Beaulieu, Jean-Baptiste Farkas: »Alien, Marx & Co. – Slavoj Žižek im Porträt«, DVD plus Extras und einem Essay von JensChristian Rabe, ca. 100 Minuten, filmedition suhrkamp, 2010, EUR 19,90
/thinkable FRANK APUNKT SCHNEIDER TEXT ELFFRIEDE.INTERDISZIPLINÄRE.AUFZEICHNENSYSTEME TEXT/ZEICHNUNG
Die Maschine (Teil 3) Eine formatkritische Fortsetzungserörterung mit Bonusmaterial + Aboexemplaren aus Wehrmachtsbeständen … Was bisher geschah: Das meiste, was man so hört und liest und sieht und weiß, ist ja das Ergebnis des Formats, in dem es dann da ist. So ist das nun einmal, denkt Wuselsam, aber dann schenkt ihm seine Tante eine Filtrierungsanlage, die aus Sachen das Format entfernt. Wow! Aber soll er sie auch anschalten? Um mit dieser schwerwiegenden Frage nicht allein zu sein, öffnet er eine Dose Schopenhauer. Später taucht dann noch Hölderlin auf, der sich bis dato bedeckt gehalten hatte … WUSELSAM: Na gut, aber ich weiß jetzt immer noch nicht: Soll ich das Dings … die Maschine jetzt anschalten …? 1. SCHOPENHAUERKOPF: Gute Frage: Wollen wir mal so sagen: Was nervt ist, dass das, was nervt, noch viel mehr nerven würde, wenn es nicht existieren würde. 2. SCHOPENHAUERKOPF: Ganz falsch! Das, was gut ist, wäre doch viel besser, wenn es das, was es gut macht, endlich mal loswürde. HÖLDERLIN: Das ist jeweils nicht uninteressant. 1. SCHOPENHAUERKOPF: Erst die Form gibt dem Inhalt die Möglichkeit zu leiden. Inhalt ohne Form wirkt immer so ungeboren. 2. SCHOPENHAUERKOPF: Eine gute Form ist das Problem, ohne das es keine Lösung gäbe. Eine schlechte ist nur verräumlichter Inhalt. WUSELSAM: Aha, genau wie das Universum, quasi. ALLE: Inwiefern??? WUSELSAM: Na ja, als Gott alt genug war, sagten die anderen zu ihm: »Jetzt mach mal.« Denn sie erwarteten Großes von ihm. »Das ist Gott«, raunten sie, wenn sie an der Stelle vorbeikamen, wo Gott saß und nachdachte, »da können wir uns auf was gefasst machen. Ein echtes Talent. Wird mal ein ganz Großer. Einer, auf den wir schon immer gewartet haben.« – »Was genau soll ich eigentlich machen«, fragte Gott. »Einfach irgendwas, Du
machst das schon.« »Ja, aber was denn genau …« »Du kannst machen, was Du willst.« »Ach so, was ich will, verstehe.« »Genau, was Du willst.« »Und was erwartet ihr euch da so?!« »Nichts Konkretes, aber wir sind schon total gespannt. Sag einfach Bescheid, wenn Du was hast.« Aber Gott wusste nicht, was er machen sollte. »Na los, sagten die anderen.« »Jetzt wird’s aber Zeit«, riefen sie – und flüsterten: »Ich denke, gleich hat er’s.« »Aber was soll ich denn machen«, fragte Gott. »Mach doch mal was Eigenes.« »Ach so«, sagte Gott, »ja, was Eigenes, gute Idee«. »Ja genau, was worauf Du Lust hast. Uns ist alles recht.« – »Ein echter Newcomer«, sagten sie und gingen weiter. »Moment noch«, rief Gott, »wie habe ich mir das denn vorzustellen?« »Das wissen wir auch nicht«, sagten die Anderen. »Das weißt nur Du.« »Ah okay«, sagte Gott, »verstehe«. »Genau, bis dann. Wir freuen uns schon.« »Ja«, sagte Gott, »aber wie lange hab’ ich denn Zeit?« – »Och, wir wollen Dich da gar nicht unter Druck setzen.« »Okay, aber bis wann soll ich denn fertig sein?« »Egal, schau halt mal, wie lange Du so brauchst.« »Okay«, sagte Gott, »also keine Deadline oder so«. »Nö, keine Deadline. »Verstehe«, sagte Gott, »keine Deadline, ja dann«. »So ist es – dann noch frohes Schaffen.« – »Der braucht doch keine Deadline«, sagten sie. »Ok«, sagte Gott, »ich soll quasi machen, was ich will«. »Genau, sei einfach Du selbst.« »Ja vielleicht«, sagte Gott, »sollte ich das machen«. »Unbedingt solltest Du das machen. Wir wollen uns nämlich überraschen lassen. Also hau rein und meld Dich, wenn Du fertig bist.« »Okay, aber vom Umfang her … Wie viel Moleküle hab ich denn?« »Völlig egal, Du bist da ganz frei.« »Ach so, da bin ich ganz frei, ja prima. Na dann kann ich ja direkt loslegen.« »Genau.« Und weil Gott gar nicht wusste, was er machen
sollte, machte er einfach ein Universum. »Oh, das ist es also, was Du gemacht hast«, sagten die Anderen: »ein Universum …« »Genau«, sagte Gott, »soll ich euch zeigen, wie es funktioniert?« »Äh, später vielleicht«, sagten die Anderen und legten das Universum aufs Fensterbrett. Und sie beschlossen, beim nächsten Mal genauere Vorgaben zu machen. Ein Universum reicht schließlich. Manchmal sahen sie es im Vorbeigehen an und sagten: »Ach ja, das Universum, wie hieß der noch mal. Gott, hieß der. Ach so, Gott, ja, und was macht der jetzt so? Keine Ahnung, den sieht man nicht mehr, ich glaub, der wohnt jetzt irgendwo. Ja genau, hab ich auch gehört. Aber dass der sein Universum einfach da lässt, direkt unverschämt. Da haben wir uns ganz schön getäuscht in – wie hieß der gleich wieder … – Gott hieß der. Ja genau, Gott. Wir geben ihm alle Freiheit, und was macht er: ein Universum, nicht zu fassen …« 1. SCHOPENHAUERKOPF: Und genau das ist das Problem, nicht nur mit dem Universum, sondern überhaupt … (Fortsetzung folgt)
22. 9.–30. 11. im literaturhaus wien elffriede.interdisziplinäre.aufzeichnensysteme in summen und kanten oder: ästhetik – grenze des erträglichen eröffnung der ausstellung: 22. 9., 19.30 uhr. kur. barbara zwiefelhofer, es spricht: martin breindl, performance »stimmenrekorder« von elffriede i. a. + fishy www.elffriede.net www.elffriede.net/literaturhaus_10/elffriede_literaturhaus.html
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/thinkable DIDI NEIDHART TEXT
Empfindlich nahe Hubert Fichte war eine Ausnahmeerscheinung in der Literaturszene der BRD. Unehelich geboren, Halbjude, schwul, Weltenbummler. Mit »Die Palette« (1968) wurde ›Pop‹ gesprochen (und als »Beat und Prosa« im Hamburger Star-Club performt). »Er wusste, dass unter dem Labyrinth seiner Wahrnehmungen andere Labyrinthe anderer Wahrnehmungen lagen.« (Hubert Fichte: »Der Kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs«) Anlässlich des 75. Geburtstags des 1986 im Alter von nur 51 Jahren verstorbenen Autors Hubert Fichte werden mit »19 Empfindlichkeiten« literarische, künstlerische und akustische Fäden aufgenommen, weitergesponnen, verwirrt. Neunzehn Beiträge (u. a. von Peter O. Chotjewitz, Günter Grass, Katharina Höcker, Wolli Köhler, Brigitte Kronauer, Thomas Meinecke, Wolf Wondratschek, Daniel Richter) als mannigfaltiges Kaleidoskop eines nie angeschlossenen Werdens. »Die Recherche ist auf die Zukunft gerichtet, nicht auf die Vergangenheit.« (Gilles Deleuze: »Proust und die Zeichen«) Welt aus Zeichen Die unvollendete »Geschichte der Empfindlichkeit« war ein auf neunzehn Bände angelegtes Werk mit dem Ziel, »an der privaten individuellen Entwicklung eines Mannes die Geschichte der Homosexualität seit 1900« (Gisela Lindemann) darzustellen mit Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« als Blueprint. Ein über zwei Meter langer Werkplan aus unzähligen an die Wand genagelten, geklebten Blättern, die auch an Drehbuchentwürfe oder wissenschaftliche/detektivische Recherchearbeiten in der vordigitalen Zeit erinnern. Ein streng durchkonzipiertes, intertextuelles Werk, Band für Band, Kapitel für Kapitel. Bestehend aus schon geschriebenen und erst noch zu schreibenden Büchern, jenseits
herkömmlicher literarischer Normen. Von daher kennt Fichtes Blick auf die Welt auch keine Zentralperspektive. Seine ›Ichs‹ (»Ich bin für Ichs«, so Fichte in »Die zweite Schuld«) lassen das auch gar nicht zu. Es sind Blicke, die nach jenen Zeichen suchen, durch die sich erst so etwas wie ›Welt‹ oder ›Wirklichkeit‹ zusammensetzen kann. Geheimzeichen von Subkulturen ebenso wie jene signs, die in ihrer Allgegenwärtigkeit schon nicht mehr gesehen werden. »Immer geht es dabei um eine streng abgrenzende Formung der Wirklichkeit, auch der des eigenen Ichs, die aus dem Diffusen, Zufälligen, aus dem Ansturm des Möglichen erstens etwas Sortiertes, Geordnetes, Nummeriertes, Katalogisiertes, zweitens etwas Zeichenhaftes und damit Sinnspendendes macht.« (Brigitte Kronauer) Gerade hier wird die stete Aktualität von Fichte deutlich. Wenn Deleuze über Proust schreibt: »Jedes Zeichen hat zwei Hälften: es bezeichnet einen Gegenstand, es bedeutet etwas davon Unterschiedenes«, dann bedarf es bei Fichte zumindest einer Ergänzung. Gerade in seinen ethnopoetischen Studien »Xango« (1976), »Petersilie« (1980), »Lazarus und die Waschmaschine« (1985) zu synkretistischen Religionen in Bahia, Haiti und Trinidad bedeuten die Zeichen immer auch etwas doppelt Unterschiedenes (gleichzeitig afrikanische Gottheit und katholische Heiligenfigur signifizierend). Zeichen und Sprache Das Authentische, Unmittelbare, die Diktatur des Fetisch O-Ton-Reality war Fichte mehr als suspekt.
Seine Interviews (etwa jenes mit Jean Genet oder die 2000 bei supposè auf CD erschienenen »Interviews aus dem Palais d’Amour ...« (1972) sind weniger Frage-Antwort-Spiele als literarische Interventionen, die Fichtes »Empfindlichkeit« auch als »Empfänglichkeit« durchscheinen lassen. Klar geht es um käuflichen Sex, um verbotene Liebe, die Inszenierung von Erotik, um Cruising, Schwänze, Obdachlose, Homosexuelle, Gammler – aber es fehlt jegliche Sozialpornografie. Was auch mit ein Grund dafür ist, dass diese Interviews nach Jahrzehnten sozialpornografischem Privat-TVVoyeurismus nun paradoxerweise wirklich wie Literatur im Sinne von Fake-Interviews daherkommen. Wie bei Proust geht es bei Fichte um die »Erforschung verschiedener Zeichenwelten« (Deleuze). Um Codes, Symbole, um Geheimnisse, die durch ihre Übersetzung in Literatur jedoch keineswegs gebannt und fixiert werden können. Die geheimnisvollen Zeichen enthüllen sich als geheimnisvolle (eben verhüllte) Zeichen. Fichte selber ist/bleibt ein Geheimnis. Auch in den neunzehn Passagen des vorliegenden Bandes. Oder wie Kathrin Röggla in ihrem Text »Who the fuck is hubert fichte?« schreibt: »jedenfalls nicht irgendwer. und niemals in der einzahl. denn es gibt den st. pauli-fichte, den waisenhausfichte, den starclub-fichte, den kinderschauspieler-fichte, den synkretismus-fichte.«
Mario Fuhse (Hg.): 19 Empfindlichkeiten. Reaktionen auf Hubert Fichte, Männerschwarm Verlag 2010, 245 Seiten plus CD, EUR 19,90 83 I 60
/readable BARBARA WAKOLBINGER TEXT
Jesus died for somebody´s sins but not mine In ihrem ersten Prosawerk gibt Patti Smith bisher ungekannte Einblicke in ihre Kindheit und Jugend, die tiefe Freundschaft zu Robert Mapplethorpe und ihr eigenes Wachsen als Künstlerin im New York der 1960er und 1970er Jahre. Sie sind Liebhaber und beste Freunde, Künstler und Muse – sie treiben sich gegenseitig voran, erschließen ihre Grenzen und halten einander über Wasser. In einer kalten New Yorker Nacht legen Patti Smith und Robert Mapplethorpe den Schwur ab, einander niemals zu verlassen. The plot of our life sweats in the dark like a face The mystery of childbirth, of childhood itself Während Robert seiner katholischen Erziehung und den Plänen der Eltern für sein Leben entflieht, blickt Patti auf eine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen zurück. Sie ist geprägt von Neugier, Fantasien, langen Krankheiten und der Sehnsucht, einen Ausweg aus der Unzulänglichkeit der Sprache, all das auch auszudrücken, zu finden. Rimbaud und Rock’n’ Roll sowie eine ungewollte Schwangerschaft treiben Patti Smith im Sommer 1967 nach New York, das trostlose Leben als Fabrikarbeiterin und ihr Kind zurücklassend. I’m gonna be somebody, I’m gonna get on that train, go to New York City, I’m gonna be so big, I’m gonna be a big star and I will never return Auf der Suche nach einer Unterkunft, Arbeit oder auch nur der nächsten warmen Mahlzeit trifft sie in Brooklyn auf Robert Mapplethorpe. Kunst in allen Ausprägungen beherrscht das Leben der beiden. Hunger, Existenzängste und Verzweiflung mischen sich mit dem Gefühl der Freiheit und Hoffnung oder vielmehr der unbändigen Überzeugung, künstlerisch tätig sein zu müssen. Die Entscheidung zwischen Abendessen und Leinwänden fällt meist nicht schwer. Oh, baby, it would mean so much to me, Oh, baby, to buy you all the things you need for free. Robert zeichnet und fertigt Installationen aus unterschiedlichsten Alltagsmaterialien, die das Paar wie kostbare Wertgegenstände sammelt. Patti illustriert und schreibt. Gemeinsam ist ihnen ihr Gefühl für Stil und Mode; auf Aussehen und Kleidung wird mehr Wert gelegt als auf frisches Brot. Patti und Robert leben von ihrer Liebe zur Kunst, dem unabdingbaren Vertrauen zueinander und dem bisschen Geld, das Patti bei ihrer Anstellung in einem Verlag verdient. Über Monate übernimmt Patti die finanzielle Verantwortung für sich und Robert, der es nicht erträgt, dauerhaft zu arbeiten. Should I pursue a path so twisted? Should I crawl defeated and gifted? Die beiden tauchen ein in das dichte, kulturelle Bewusstseinsnetz, das New York zu diesem Zeitpunkt für junge Künstler darstellt. Sie erleben die letzte Generation einer Bohème, die im revolutionären Klima des Vietnam-Protestes um
künstlerische Identität, Selbstverwirklichung und Inspiration ringt. Schmelztiegel dieser Generation ist das Hotel Chelsea, in dem Dylan Thomas seine letzten Stunden verbrachte, Bob Dylan dichtete und Jimi Hendrix und Janis Joplin zu Abend aßen. Dorthin zieht es Patti und Robert; immer wichtiger wird der Gedanke, Kunst zu machen und damit Erfolg zu haben: mit oder ohne den Rest der Welt. We do not eat, eat anything at all. Love is, love was, love is a manifestation. In dem bunten Treiben der Künstlerszene finden sowohl Patti als auch Robert neue Freunde und Unterstützer, langsam scheinen beide ihrem Traum näher zu kommen, von ihrer Kunst zu leben. Nur Roberts langsam entdeckte und zunehmend ausgelebte Homosexualität verdüstert die Idylle. Patti muss sich mit dieser neuen, anderen Seite ihres Seelenverwandten abfinden und die Veränderung von einer Liebes- zu einer Freundschaftsbeziehung verkraften. Beide entdecken neue Bedürfnisse, die sie sich allein zu zweit nicht mehr vollständig befriedigen können. Patti entwickelt sich in musikalischer Hinsicht, Robert bekommt seine erste Kamera. Schließlich zieht Patti aus dem gemeinsamen Loft aus, der Eid scheint gebrochen. Die beiden bleiben einander jedoch verpflichtet und in tiefer Freundschaft verbunden; Robert schießt das ikonische Foto auf dem Albumcover von »Horses«, gemeinsam stellen sie ihre Werke aus. With love we sleep With doubt the vicious circle Turn and burns Without you I cannot live Als Robert an AIDS erkrankt, verspricht Patti, ihm die Geschichte ihrer gemeinsamen Jugend aufzuzeichnen. In »Just Kids« gelingt ihr das in einer sensiblen und eindringlichen Sprache, die nicht nur die besondere, ritualhafte und oft beinahe mystische Beziehung der beiden beschreibt, sondern auch die Suche und das Werden zweier Künstler aufschlüsselt. Das Leiden und Zweifeln und Beharren an der Kunst sowie die Darstellung der Initiation in die schillernde Künstlergesellschaft der späten 1960er und 1970er Jahre machen die Geschichte spannend und überzeugend. Gleichzeitig bleibt es eine berührende, aber selten zu emotionale Liebeserklärung Patti Smiths an ihren Wegbegleiter und Freund Robert Mapplethorpe.
Patti Smith: »Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft« Übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010, 336 Seiten, EUR 20,60 83 I 61
/readable THOMAS BALLHAUSEN TEXT
Transatlantische Beziehungen Literaturlegende Carl Weissner hat sich als Vermittler der Beat Generation und Übersetzer einen Namen gemacht, mit »Manhattan Muffdiver« hat man nun Gelegenheit, ihn auch als Autor kennen zu lernen. – Der Versuch einer Einschätzung. »Manhatten Muffdiver« ist ein Ausbund von Wut und Humor, oszilliert in seiner Bedeutung zwischen Cocktail und Oralsex. Weissner, der an William S. Burroughs, Charles Bukowski und Frank Zappa geschulte Hüne, zehrt in der Darstellung von Szene und Szenen, in seiner Darbietung von Exzess und Erschöpfung von Momenten der produktiven Verwischung, von Schmutzspuren und Zitaten. Der notierende, aufmerksam beobachtende Guerilla berichtet manisch aus dem nebeligen Zwischenreich zwischen Fakt und Fiktion und bedient sich dabei der avantgardistischen, Subversion stiftenden Praxen des Schneidens und Montierens. Der dahingehend etymologisch sozusagen Unwiederholbare wagt sich dabei in die (im besten Sinne: naheliegende) Projektionsfläche New York, einen Übergangsort, in dem fantastische und erschreckende Räume nur auf seine Entdeckung warten. Seine Nachrichten aus Pocahontas-Land erweisen sich nach und nach als Nach-Richten im Sinne von beiläufigen Berichtigungen, als eingerichtete Blickaufnahmen auf die schillernden und auf die wenig erbaulichen Momente des U.S.-amerikanischen Albtraums. Die Prosaminiaturen, die sich zu größeren Zusammenhängen verbinden lassen, sind nicht unwesentlich vom Wunsch getragen, das Allerschlimmste auch noch zu sehen und davon zu erzählen. Die Notate, die gewissenhaft in den unerlässlichen Moleskine-Kalender eingetragen werden, rufen die Registraturen des Traditionellen auf, um das Ungewöhnliche und das Schockierende zu beschwören: die kotzenden Schönheiten, die verdorbenen Prinzessinnen und die gefallenen Priester, den ganzen Reigen wohlbekannter dramatis personae. Formal wählt Carl Weissner für seine ganz im Sinne der Leserschaft durchgeführten Loops und Abschweifungen, gegen deren Umsetzung er sich ständig und wenig erfolgreich permanent ermahnt, ausgerechnet die humanistisch vorbelastete literarische Form des Briefs. Aufsetzend auf der literaturhistorisch bedeutenden Konstante transatlantischer Korrespondenz, sucht er ganz vorsätzlich diese direkte Form der Ansprache aus. Freilich hat sie in ihrer vorliegenden Gestalt nicht ihre pragmatische Formelhaftigkeit, nichts mehr von ihrem schöngeistigen Zuckerwerk oder ihren klebrigen Verzierungen. Als gebräuchliche Ersatzhandlung mit langer und mitunter heftig umstrittener Tradition bleibt sie in diesem Fall aus weniger edlen und wesentlich menschlicheren Gründen haften. Die vorsätzlichen Entlastungen, die hier zu Papier gebracht wurden, kennen keine feststehenden postalischen Wendungen mehr, nur noch die vorsätzliche Interpretation und Umschrift der observierten, erlebten und erfundenen Gegenwart. Weissners Mitteilungen werden, ganz einer Beobachtung von Franz Kafka folgend, als Gesten der Entblößung vor einem gierig wartenden, aus Gespenstern bestehenden Publikum erfahrbar. 83 I 62
Ein- und Überfälle werden zeitlich verortet und unter dem Begriff des Romans gebündelt, die grundsätzlichen brieflichen Funktionen von Appell, Vermittlung und Äußerung werden davon aber kaum berührt. Stattdessen begegnet man immer wieder – unter anderem auch in den ergänzenden Prosastücken – Szenen des Verfallens, des Fallens und Stürzens. Den Erwartungshorizont der Leserschaft mal einlösend, dann wieder unterlaufend, wird mit Haltungen und Posen jongliert, wird spielerisch umrissen, was auf dem Spiel zu stehen scheint, was vielleicht schon verloren ist. Jede Romantik hat ihren Preis.
Carl Weissner: »Manhattan Muffdiver« Mit einer Einleitung von Fritz Ostermayer und einem Nachwort von Thomas Ballhausen Wien: Milena Verlag 2010, 162 Seiten, EUR 17,90
/readable
Die Da-Da-Da-Maschinen
Spielzeug ist ein schlechtes Wort. Toy hingegen ist ein gutes Wort. Es kommt mir angemessen, es kommt mir richtig vor, dass Eric Schneider das Buch über seine Instrumentensammlung, die man im Internet unter www.miniorgan.com findet, »Toy Instruments« nennt. Diese grüne Webseite ist Interessierten und Freaks seit Jahren bekannt. Nun aber liegt ein Bildband vor, in quadratisch-praktischem Format, der, ohne Vollständigkeit für sich reklamieren zu können, schon jetzt ein Standardwerk ist. Man könnte sagen, dass das EWHO (Erstes Wiener Heimorgel Orchester), jene Band, der ich angehöre, eine toy group ist. Seit 15 Jahren beschäftigen wir uns mit den Geräten, die Eric Schneider mit Leidenschaft sucht, sammelt, katalogisiert und der Öffentlichkeit vorstellt. In diesen 15 Jahren hat sich viel verändert. Das World Wide Web ist einem hohen Prozentsatz von Menschen zugänglich, was zur Folge hat, dass sich nicht nur Sammler besser zusammenschließen und austauschen können, sondern auch, dass seltene Geräte über Online-Auktionshäuser einfach zu kaufen sind. Früher musste man lange suchen, um eine Casio PT-30 zu finden, Second-Hand-Shops und Flohmärkte ablatschen. Fast schon Nostalgie. Eric geht es auch um Nostalgie – unter anderem. »Design, Nostalgia, Music«. So steht es auf dem Cover von »Toy Instruments«. Für mich ist Eric ein wichtiger Experte. Man kann ihn immer fragen, er gibt Auskunft über Preise, Geschichte und Erhältlichkeit eines Keyboards. Jetzt aber hat er seine Sammlung in einer Weise präsentiert, die den kulturgeschichtlichen Aspekt der kleinsten elektronischen Musikinstrumente an die Oberfläche bringt. Hier geht es nicht mehr ausschließlich um den
Klang: In diesem Buch findet man Fotos der Geräte, Abbildungen ihrer Werbeprospekte, Anleitungen und Verpackungen – kurz das Wohnzimmergefühl des Allein-Krautrock. Einige der beschriebenen Geräte sind hinlänglich bekannt: Etwa die Casio VL-1. Die Begleitautomatik dieses Keyboards ist durch den Trio-Hit »Da Da Da« hinlänglich bekannt geworden. Oder das Stylophone von Dubreq, das Eric in seinem kurzen Vorwort als eigentlichen Anstoß zu seiner Sammlung angibt und das auch auf dem Buchcover abgebildet ist. Die Liste der Musiker und Bands, die die beschriebenen toy instruments live und auf Aufnahmen verwendet haben, ist lang und führt über David Bowie und The Human League bis zu PJ Harvey. Darum sage ich: Spielzeug ist ein schlechtes Wort. Mit diesen Klassikern begnügt sich das Buch natürlich nicht. Es fügt eine Reihe von Klons dieser erfolgreichen Geräte hinzu – bis hin zu einem unglaublichen Stylophone-Imitat namens Elektronica, das in der UdSSR hergestellt wurde. Die wohl interessanteste Abteilung ist die, in der man Neues von damals entdeckt: eine elektronische Geige aus Mexiko, eine Body-Rap-Machine mit Sensoren für die Arme, ein japanischer Voice Corder, mit dem man selbst Vinyl-Singles erzeugen kann, usw. Vielleicht wäre eines dieser Geräte unter meinem Christbaum gelandet, wenn der Spielzeughändler im Regal dreißig Zentimeter weiter nach rechts gegriffen hätte! Eric Schneider muss sich eingrenzen, grenzt sich auch freiwillig ein. Von den 1950er bis in die 1990er Jahre reicht seine Sammlung. Natürlich: Was früher Design und Haptik war, ist längst ins Unangreifbare, in Software übergegangen. Heute gibt es ein VL-1-App für das iPhone. Während also die Geräte aus der Sammlung von Eric Schneider museal werden und in ihm einen besessenen Archivar gefunden haben, sind die Klänge, die sie zu erzeugen vermögen, mehr als nur retro: In diesen 30 bis 40 Jahren flackert im Übergang vom klassischen Instrument bis zur ausschließlich software-gesteuerten Musik eine Phase auf, in der Musik aus der Erfahrbarkeit eines Geräts erzeugt werden konnte. Man musste nicht mehr andere Bands imitieren, um zur eigenen Musik zu kommen. Ich
blättere also nicht mit Wehmut oder Pessimismus durch dieses einzigartige Buch, sondern mit der Lust, jedes dieser Dinger angreifen zu dürfen, darauf zu spielen, Musik damit zu machen. DANIEL WISSER Eric Schneider: »Toy Instruments. Design, Nostalgia, Music« New York: Mark Batty Publisher 2010, 192 Seiten, $ 19,95
Hören Sie die vier Takte?
Nicholson Baker erzählt in seinem neuesten Roman »Der Anthologist« von den Schwierigkeiten des alternden und von seiner Partnerin verlassenen Dichters Paul Chowder, eine Einleitung zu einer Anthologie englischsprachiger Lyrik zu verfassen. Gleich zu Beginn der Geschichte entsteht der Eindruck einer therapeutischen Selbsthilfe mittels des Schreibens – Gedanken über die Anthologie, Anekdoten aus dem eigenen und dem Leben bekannter amerikanischer Lyriker sowie theoretische Erklärungsversuche vermischen sich hierbei. Mithilfe verschiedenster, mitunter auch graphisch veranschaulichter Mittel, spielerischer Tricks und oft schön abstruser Erläuterungen versucht Chowder, seinen Hauptkritikpunkt möglichst deutlich zu machen: dass der vielgepriesene jambische Pentameter in der englischen Dichtung keineswegs eine Vorrangstellung genießt, sondern ein Großteil dieser freien Verse mit vier Hebungen verfasst wurde. Im Laufe des Romans erfährt man mehr über die Ticks und aus dem Leben des zaudernden Anthologisten, der mitunter etwas verschroben wirkt, dabei aber immer mit einem gewissen Charme ausgestattet ist: »Wir winken uns zu. Alles Gute. Wiedersehen. Hüte dich vor pendelnden Halbmondklingen. Ich trete durch die Tür des
Waschsalons nach draußen. Auf die Straße. Tja, das war meine Begegnung mit Edgar Allan Poe.« Baker verbindet in seinem Roman Lehrhaftes und Lebhaftes. Künstlerisch bewegt sich die Geschichte selbst immerzu zwischen Prosa und Lyrik, wird aber dominiert von sich eher poetisch anlassenden kurzen Sätzen kombiniert mit alltäglichen Bildern: »Ich habe eine Campbell’s Chunk Soup aus Büchern. Das Bett, für das man die Gabel braucht.« Der Dichter geht somit während des Lesens niemals verloren; immer wieder tauchen Wortschöpfungen auf, die daran erinnern: »Rupasnil. Schönheit.« oder »Zellophanozean«. Auf mehr oder weniger spielerische Art wird dem Leser ein Zugang zu Metrik und amerikanischer Poesie ermöglicht, ohne mit erhobenem Finger zu belehren. Zwar fehlen Höhepunkte, aber genau deren Abwesenheit macht schlussendlich den Reiz dieses Romans aus, der – auch für lyrisch nicht versierte Leser – mühelos und unangestrengt dahinplätschert. SABINE WEISHAUPT Nicholson Baker: »Der Anthologist« Übersetzt von Matthias Göritz und Uda Strätling. München: C.H. Beck 2010, 271 Seiten, EUR 20,50
Die Krise als natürliches Habitat Stets drückt durch finanzielle, sexuelle und künstlerische Performanzen – in einem Leben, in einem Kunstwerk – ein mehr oder minder gequältes Ich sich aus. So auch in Bodo Kirchhoffs »Erinnerungen an meinen Porsche« und Joachim Lottmanns »Geldkomplex« – zwei Romane aus jenem denkwürdigen Jahr 2009, in dem wir endgültig in die Finanz- und Wirtschaftskrise uns verliebten. Dementsprechend drücken sich die hyperpräsenten Ich-Erzähler in beiden Romanen durch Performanzen aus, 83 I 63
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die so designed sind, dass sie in diese fiebrig-kriselnde Welt, also in die als turbokapitalistisch verschlagwortete Gegenwart passen. Dabei wird die Krisenhaftigkeit unserer bzw. der Welt von Johannes Lohmer und Daniel Deserno nicht bloß ökonomisch, sondern als quasi-transzendental aufgefasst; denn die Krise ist unser natürliches Habitat. Und die beiden Protagonisten haben, so wie auch die Leser, ihren Spaß dabei. Das ist die Moral von der Geschicht’. In jedem der beiden Romane gibt es eine sinnbildliche Verflechtung sexueller, finanzieller und künstlerischer Performanzlinien: Bei Kirchhoff dient der Porsche (Design, Preis, Phallus …) als Metapher für das männliche Glied – der Geldkomplex steht Lottmann als Schlagwort für das Leben in einer hinreichend zivilisierten, d. i. durchmonetarisierten Gesellschaft. Denn sexueller, finanzieller und künstlerischer Erfolg sind gekoppelt, dieses Thema variieren die beiden Romane: was für Daniel Deserno der durch eine Attacke auf seinen Porsche erzwungene Rückzug in die Kurklinik Waldhaus, das ist für Johannes Lohmer sein durch mangelnden künstlerischen Erfolg bedingtes Versumpfen in jener Armut, die in den künstlerischen Milieus der deutschen Hauptstadt in so erregender Nähe zu relativem Reichtum gedeiht. Als der (ehemalige) Investmentbanker Deserno und der (wieder publizierende) Schriftsteller Lohmer dann aufs Neue sexuellen/ finanziellen/künstlerischen Erfolg – wir verweigern die Differenzierung – genießen, da verdanken sie diese sich realisierende Glücksmöglichkeit ihrem konsequent durchgehaltenen Stoizismus: Sie haben die Spielregeln akzeptiert, sie haben die Krise nicht als Anstoß zur Kritik missbraucht – und sie werden belohnt. Wie im Märchen. MICHAEL BÄRNTHALER Bodo Kirchhoff: »Erinnerungen an meinen Porsche« Hamburg: Hoffmann und Campe: 2009, 224 Seiten, EUR 17,95 Joachim Lottmann: »Der Geldkomplex« Köln: Kiepenheuer & Witsch: 2009, 350 Seiten, EUR 9,95
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nicht verschwiegen. Ganz ohne Kanon geht’s wohl also doch nicht. THOMAS BALLHAUSEN Titus Ackermann, Jonas Greulich & Thomas Gronle (Hrsg.): »100 Meisterwerke der Weltliteratur« Köln: Ehapa 2009, 112 Seiten, EUR 10,30
Schöne Bescherung
Was sind denn die Klassiker der Weltliteratur? Sind es die Werke, die wir in den einschlägigen Enzyklopädien und Lexika finden? Sind es die Arbeiten, die von der Wissenschaft bearbeitet und vom Feuilleton gepriesen werden? Oder sind es immer die Texte, die wir (noch) nicht gelesen haben? Mit den Klassikern und dem normativen Kanon ist es – salopp formuliert – ein rechter Jammer. Immer wieder vereinnahmt und politisch aufgeladen ist die Debatte um die richtige Lektüre und die Wertigkeit der so genannten Hochliteratur ein sprichwörtliches Fass ohne Boden. Je nach Ausrichtung der Diskutanten ist der Kanon eine Bedrohung, ein Richtwert, ein feststehender Satz unverzichtbarer Texte oder der Ausdruck der sich darin abbildenden Herrschaftsverhältnisse. Unabhängig von der Positionierung der geneigten Leserschaft kann man sich über einhundert dieser Meisterwerke – unabhängig von ihrer bisherigen Wertung im Rahmen der sehr schönen Publikation zu solchen erhoben – schnell und vergnüglich informieren. Die Comicinitiative Moga Mobo, die im deutschsprachigen Raum (und auch darüber hinaus) ein berechtigtes Ansehen genießt, hat zur Umarbeitung literarischer Vorlagen in Comics von je einer Seite eingeladen. Das sehr ansehnliche Ergebnis ist ein Lesevergnügen besonderer Art. In bis zu acht Panels werden die ausgewählten Werke zusammengefasst. Der mediale Transfer gelingt dabei überzeugend, die Haltung des pars pro toto führt zu ebenso spannenden wie fordernden Verkürzungen: »Lord of the Rings« oder »Der Mann ohne Eigenschaften« in (nur) acht Bildern sind schon eine Leistung an sich. Dass beim Großteil dieser zumeist sehr gelungenen Umarbeitungen die jeweilige Kenntnis des Ursprungstextes hilft, oder zumindest eine weitere Humorebene erschließt, sei dabei aber auch
Endlich: Salzinger
Helmut Salzinger ist ein Mythos. Er steht für kluges Schreiben über Pop und Politik, in deutscher Sprache, im Zeitraum 1960/70er Jahre. In dieser Funktion konnte einem der 1993 mit Ende 50 verstorbene Salzinger in den vergangenen Jahren wiederholt begegnen. Mit der von Frank Schäfer herausgegebenen Anthologie ist es endlich auch möglich, das zu lesen. »Best of Jonas Überohr« besitzt dabei gegenüber den antiquarisch (etwa »Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution?« 1972/1982) oder bei Kleinstverlagen erhältlichen Titeln (etwa »Ohne Menschen«, Werner Pieper/Die Grüne Kraft) den unschätzbaren Vorteil, viele Texte Salzingers zu versammeln; Texte, die außer Musik von Dylan und Captain Beefheart auch Literatur von Fichte, Wolfe und Pynchon sowie LSD und RAF behandeln – so dass tatsächlich die Möglichkeit einer Gesamtschau entsteht. Erkennbar wird neben den Kombinationen, für die der Mythos Salzinger steht – Rockmusik/Bejamin’scher Marxismus, Rockmusik/Hippietum, Salzingers deutsche Rezeption gegenkultureller Strömungen aus den USA – besonders die Subjektivität dieses Autors. Es handelt sich bei ihr um ein für die Auseinandersetzung mit den Gegenständen heuristisch sehr effektives Instrument, da Salzinger nicht posiert, sondern sich auf seine Gegenstände einlässt. Manchmal scheint dabei sein Drang, etwas in ihnen finden zu wollen, stärker zu sein als das, was sie hergeben; manchmal überwiegt das Suchen nach Formulie-
rungen gegenüber der Erkenntnis und führt zu Redundanzen; und in wenigen Fällen kommt das Sich-Einlassen auch gar nicht zustande und wird dabei als Versuch kenntlich. Alles interessant. Schäfer, dem für seine editorische Arbeit zu danken ist, beschränkte die Textauswahl insbesondere auf Kritiken aus »Die Zeit« und »Sounds«. Ich hätte mir ein offeneres Konzept gewünscht, in dem zum Beispiel auch Salzingers legendäre Beschimpfung der PunkGeneration und die verzweifelten Natur-Beschreibungen seines Spätwerks Platz gehabt hätten. So ist es ein total interessantes Buch geworden, aber kein »Best of«. JOCHEN BONZ Helmut Salzinger: »Best of Jonas Überohr. Popkritik 1966–1982« Herausgegeben von Frank Schäfer Hamburg: Philo Fine Arts 2010 (Fundus 187), 367 Seiten, EUR 16,–
Kann Spuren von Vögeln enthalten »Zwischen den Buchdeckeln«, verkünden Mieze Medusa und Cornelia Travnicek, die Herausgeberinnen der Anthologie »How I fucked Jamal« im Vorwort, würde »gekuschelt, gekocht, geködert, gechattet, gekratzt, getrunken, geschleckt, getanzt, gearbeitet, gehurt, gereist, geredet, beschnitten und telefoniert«. Worum geht es in einem solchen Werk? Der Buchrücken sagt es kurz und knapp: »Sex goes international goes literature«. Acht Frauen und neun Männer setzen sich in 17 Erzählungen mit diesem Thema auseinander, begeben sich »auf das glatte Eis des globalisierten Beischlafs«. Auch wenn man Jörg Vogeltanz’ stilisierte, aber sehr eindeutige Illustrationen beim Lesen in der U-Bahn nicht unbedingt gern jedem Gegenüber vor die Nase hält, ein Buch à la »Feuchtgebiete« ist »How I fucked Jamal« nicht geworden. Zwar
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stehen manche Geschichten diesem sequenzenweise in nichts nach, wird hier ebenso selbstbewusst und mögliche Intimitäts- und Ekelgefühlsgrenzen der Leser ignorierend (wenngleich insgesamt aber viel ernsthafter) mit dem Thema Sex umgegangen. In den meisten Erzählungen des Bandes geht es jedoch weit weniger explizit zur Sache. Vielmehr dominiert die Ausleuchtung unterschiedlichster Beziehungsarten und -formen, Begehrlichkeiten und Verliebtheiten, zu denen Sex als ein Bestandteil dazugehört. Auch die angekündigte Internationalität spielt nicht überall eine bedeutende Rolle, wenngleich das Thema Reisen mitsamt seinen Kulturunterschieden und Sprachschwierigkeiten, seinen Ortswechseln und Distanzen doch ein zentrales Element ist. Die Gesamtstimmung des Sammelbandes ist ausgeglichen – positiv, negativ und neutral gestimmte Geschichten halten sich die Waage, ebenso ›starke‹ und ›schwache‹ Männer- und Frauenfiguren. Es ist jedoch kaum möglich, 17 so unterschiedliche Erzählungen über einen beurteilenden Kamm zu scheren – mit all ihrer beachtlichen Perspektiven-, Personen- und Schreibstilvielfalt, ihren erheiternden und melancholischen, provokanten und romantischen, bedrückenden und philosophischen, (schmerzhaft) ehrlichen und politisch inkorrekten, abstoßenden und charmanten, experimentellen und erregenden Inhalten wird es jedem und jeder Lesenden und seinen/ihren individuellen Vorlieben und Gefühlen überlassen sein, das reichhaltige Angebot dieser jedenfalls gelungenen Anthologie in Gefallen und Missfallen einzuteilen. SABINA C. ZEITHAMMER Mieze Medusa, Cornelia Travnicek (Hg.): »How I fucked Jamal« Wien: Milena 2010, 200 Seiten, EUR 16,–
Theatrale Erbschaftsstreitigkeiten Von der Bühne mag Heiner Müller
derzeit noch weitgehend verschwunden sein, in Theater- und Literaturwissenschaft aber hat er sich mittlerweile fest etabliert als bedeutendster Dramatiker deutscher Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Was Müller im Grunde immer angestrebt hat, nämlich der Erbe Bertolt Brechts zu werden, hat sich nicht nur insofern erfüllt, als er in seinen letzten Lebensjahren zum Direktor des von seinem Vorbild gegründeten Berliner Ensembles avancierte. Dass die wechselhafte, von Nacheiferung bis Kritik reichende Beziehung zu Brecht essentiell für das Verständnis des Dramatikers Müller ist, hat man zwar oft festgestellt, erstaunlicherweise aber nie im Detail untersucht. Der ausgewiesene Müller-Kenner Frank Raddatz, mit dem Müller nicht nur einige seiner aufschlussreichsten Interviews und Gespräche geführt hat, sondern der bereits 1991 eine der wichtigsten Studien zum Werk vorgelegt hat, ist nun dem verwickelten Kampf Müllers um die Nachfolge Brechts nachgegangen. Das Resultat ist bestechend: Es gelingt Raddatz zu zeigen, wie die unterschiedlichen ästhetischen Prinzipien und Zielsetzungen avancierter Theaterentwürfe aufeinander treffen und produktive Reibungen erzeugen. Gegen den rationalistischen Impetus des Epischen Theaters, die Zuschauer von allen rauschhaften und affektiven Wirkungen der Bühnenkunst zu befreien, um ein veritables Theater des wissenschaftlichen Zeitalters zu erschaffen, setzt Müller immer stärker auf die deterritorialisierende Wirkung solcher Kategorien wie Rausch, Fest, Magie und anderes, das mit den anthropologischen Wurzeln des Menschengeschlechts und den Kräften des Un(ter)bewussten verknüpft ist. So wird etwa nachvollziehbar, warum Müllers Theater massiv auf Gewaltorgien setzt, denn diese können nicht rationalisiert werden und bringen so das Tabuisierte zur Sprache, das mit den kollektiven Traumata der Geschichte des 20. Jahrhunderts untrennbar verbunden ist. Dass Müllers Texte ihre volle Wirkung nur als gesprochene Sprache zu entfalten vermögen, ist ein weiteres oft konstatiertes, aber nie gründlich untersuchtes Kennzeichen seiner Literatur. Der Sammelband »Heiner Müller sprechen« versucht dem
abzuhelfen. Da er aus einem wissenschaftlichen Kolloquium hervorging, handelt es sich, wie in solchen Fällen meist üblich, um eine Mischung von Beiträgen unterschiedlicher Qualität und mit mal mehr und mal weniger direkten Bezug zum Thema. Genug Aufschlussreiches ist darin dennoch zu finden und da zudem eine CD mit von Josef Bierbichler gesprochenen Müllertexten beiliegt, ist die Anschaffung ohnehin verpflichtend. UWE SCHÜTTE Frank M. Raddatz: »Der Demetriusplan oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich« Berlin: Verlag Theater der Zeit 2010, 240 Seiten, EUR 18,– Heiner Goebbels/Nikolaus MüllerSchöll (Hg.): »Heiner Müller sprechen« Berlin: Verlag Theater der Zeit 2009, 293 Seiten, EUR 18,–
Objekt der Begierde
Vorweg: Die vermeintliche Biographie über den Pianisten/Komponisten Friedrich Gulda der Musikpublizistin und Ö1-Journalistin Irene Suchy besteht aus – salopp formuliert – vielen Zitaten (oft ein bis zwei Buchseiten lang), der ungeprüften Wiedergabe von mit Zeitzeugen geführten Interviews, deren subjektive Intention die kritische Hinterfragung wohlweislich erspart geblieben ist und der Nobilitierung des Buches durch die narrativ-verbindenden Texte der Autorin. Die Verwirrung, die Suchy dem Leser schenkt, beginnt schon beim »Prolog« sich nennenden Versuch der Autorin, dem journalistischen Werk einen quasi-wissenschaftlichen, seriösen Anspruch zu geben. Der Text mäandert vor sich hin und ist in keiner Weise in der Lage, die diskursiven Standpunkte einer Biografieschreibung zu reflektieren. So wird die Distanz des Biographen Niemetschek zu seinem »Objekt« Mozart zwar bewundert – genau diese kann aber
die Autorin mit ihrer Arbeit, die primär dem einer klassisch-romantischen Romanbiographie verpflichtet ist, nicht einmal ansatzweise einlösen: Das farbig-widersprüchliche Leben Guldas wird nicht hinterfragt, Anekdoten und Intimitäten werden reichlich kredenzt, es wird aber nicht das vermittelt, was die Faszination Guldas als Grenzgänger zwischen Klassik, Jazz und Freie Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachte. Vielmehr werden kritiklos Quellen übernommen, sprachlich wird der Brusatti-Sound kopiert, aber in keiner Weise erreicht. Geradezu Mysteriöses ereignet sich aber öfters im Buch und vermittelt Blockbuster-Spannung. Ein Beispiel: Gulda spielt in Buenos Aires in einem Kino vor 5.000 Personen – muss wohl ein großes Kino gewesen sein. Oder: Auf einem Archivband aus dem ORFHörfunkstudio Kärnten treten angeblich Gulda sowie der Pianist Brandner 1960 mit Mozarts Doppelklavierkonzert KV 365 auf. Suchy folgert: »Wie sich aber Gulda verdoppelt in eine Live-Aufnahme geschlichen hat, bleibt offen.« Richtig grimmig wird es aber, wenn die ehemalige Lebensgefährtin des verstorbenen Musikavantgardisten Otto Zykan diesen in die Biographie schmuggelt. Zykan war aber nie Weggefährte Guldas; Suchys weitere Behauptung, Gulda hätte Schönberg, einen gehassten »Neutöner« – außer in einem Klavierabend 1952 – in »undokumentierten Konzerten im Zwanziger Haus« gespielt, ist geradezu frivol. Falsch ist u. a. auch, dass Zykan 1968 erstmals das Schönberg-Klavierwerk für die Schallplatte eingespielt hat – die Koryphäe Eduard Erdmann hat dies bereits1957 für Columbia getan ... Perpetuum mobile. Darf ich Ihnen bitte Qualität zumuten (© Elfriede Gerstl), Frau Suchy? WILHELM SVOBODA Irene Suchy: »Friedrich Gulda. IchTheater« Graz: Styria 2010, 312 Seiten, EUR 24,95
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Offenlegung der grundlegenden Blattlinie laut Mediengesetz: skug ist ein vierteljährlich erscheinendes Magazin, das sich nach allen Seiten offen mit historischen und aktuellen Entwicklungen in den Bereichen Pop bis Neue E-Musik, Jazz, Film und Kunst sowie den damit verbundenen ästhetischen, sozioökonomischen und kulturpolitischen Aspekten auseinandersetzt. Als offene Diskursplattform vernetzt skug unterschiedlichste Standpunkte und Perspektiven und forciert deren Transformation in den öffentlichen Diskurs. Durch das Zusammentreffen von theoretischen Reflexionen und der Unmittelbarkeit von Fan-/MusikerInnen-Aspekten in einem Medium agiert skug gleichsam als Seismograph und teilnehmender Beobachter aus der Mitte (pop-)kultureller Phänomene heraus. 83 I 66