Daniel Müller-Jentsch, Lukas Rühli, Marco Salvi, Markus Schär, Patrik Schellenbauer, Gerhard Schwarz und Rudolf Walser Mit einem Nachwort von Ulrich Bremi
Mit Beiträgen von
Herausgeber
2. Au fla ge Gerhard Schwarz und Urs Meister Alois Bischofberger, Jérôme Cosandey, Urs Meister,
44 Chancen, die Zukunft zu gewinnen
Ideen für die Schweiz Verlag Neue Zürcher Zeitung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag © 2013 Avenir Suisse und Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2. Auflage
Gerhard Schwarz, Urs Meister, Avenir Suisse Planung, Koordination Jörg Naumann, Simon Hurst, Dominique Zaugg, Avenir Suisse Gestalterische Leitung Arnold.KircherBurkhardt AG www.arnold.kircherburkhardt.ch Buchumschlag Charis Arnold, www.charisarnold.ch Gestaltung Irene Maier, n c ag, www.ncag.ch Korrektorat n c ag, www.ncag.ch Druckvorstufe n c ag, www.ncag.ch Druck Kösel GmbH & Co. KG, www.koeselbuch.de Zitierweise Gerhard Schwarz, Urs Meister: Ideen für die Schweiz (Zürich: Avenir Suisse und Verlag Neue Zürcher Zeitung) Herausgeber
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben – auch bei nur auszugsweiser Verwertung – vorbehalten. Da Avenir Suisse an der Verbreitung der hier präsentierten Ideen interessiert ist, ist die Verwertung der Erkenntnisse, Daten und Grafiken dieses Werkes durch Dritte hingegen ausdrücklich erwünscht, sofern die Quelle exakt und gut sichtbar angegeben wird und die gesetzlichen Urheberrechtsbestimmungen eingehalten werden. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung ISBN 978-3-03823-821-8
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Inhalt
01 _ Der Fluch des Erfolgs – ein Vorwort
_ 09
Gerhard Schwarz Wohin bewegt sich die Schweiz? Die Schweiz in Europa – und in der Welt
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02 _ Grosse Trends, grosse Herausforderungen, grosse Chancen
Markus Schär und Gerhard Schwarz Die Welt ist flach Kein Ende der Geschichte Totengräber des Systems Die Explosion der Optionen Apokalypse oder Paradies?
03 _ Liberale Arbeitsmärkte trotz
protektionistischer Versuchungen Patrik Schellenbauer Liberale Arbeitsmärkte sind überlegen Herausforderung: Schwindende Flexibilität des Arbeitsmarktes Ideen für morgen Ideen für übermorgen
04 _ Glaubwürdige Geldpolitik und stabiles Finanzsystem Alois Bischofberger und Rudolf Walser Der Vorteil einer eigenen Währung Herausforderung: Geld- und Währungspolitik in turbulenten Zeiten Ideen für morgen Ideen für übermorgen
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_ 19 20 22 24 27 29
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05 _ Neutralität – auch in der Besteuerung
_ 81
Marco Salvi Steuerarten sind keine Monumente Herausforderung: Eine von der Trockenlegung bedrohte Steueroase Ideen für morgen Ideen für übermorgen
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06 _ Wahlfreiheit und Benutzerfinanzierung in der Bildung Patrik Schellenbauer und Rudolf Walser Bildung als Grundlage des Wohlstands Herausforderung: Effizienz und Transparenz verbessern Ideen für morgen Ideen für übermorgen
07 _ Nachhaltigkeit und Bedarfsgerechtigkeit in der Altersvorsorge
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08 _ Ansätze zur Begrenzung des Wachstums der Gesundheitskosten
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Urs Meister Hohe Kosten, wenig Transparenz Herausforderung: Steigende Kosten, wachsende Umverteilung Ideen für morgen Ideen für übermorgen
09 _ Grundzüge einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik
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Jérôme Cosandey Nicht alle Eier im gleichen Korb Herausforderung: Veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Prämissen Ideen für morgen Ideen für übermorgen
Daniel Müller-Jentsch Spirale zwischen wachsender Mobilität und subventioniertem Angebot Herausforderung: Verkehrspolitik Ideen für morgen Ideen für übermorgen
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_ 171 174 177 180 185
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10 _ Funktionierende Märkte statt politische Pläne im Energiesektor
Urs Meister Weit weg von der Autarkie Herausforderung: Überbordende politische Feinsteuerung Ideen für morgen Ideen für übermorgen
11 _ Die räumliche Entwicklung zur 9-Millionen-Schweiz Daniel Müller-Jentsch Die Schweiz wächst zu einer Stadtlandschaft zusammen Herausforderung: Fortschreitende Zersiedlung Ideen für morgen Ideen für übermorgen
_ 191 194 196 203 209
_ 215 218 222 226 232
12 _ «Kumulus» – Langfristigkeit für Aktiengesellschaften _ 237 Marco Salvi Die verletzte Löwin des Kapitalismus Herausforderungen: Aktionärsdemokratie contra Aktionärsdiktatur Ideen für morgen Ideen für übermorgen
13 _ Eine Verwesentlichung von Föderalismus und direkter Demokratie
Lukas Rühli Sonderfall Schweiz: Erfolgsfaktor oder Hemmschuh? Herausforderung: Alte Strukturen in einem neuen Umfeld Ideen für morgen Ideen für übermorgen
14_ Eine Neudefinition des Milizprinzips Patrik Schellenbauer Das BIP erzählt nicht die ganze Geschichte Herausforderung: Freiwilligenarbeit und Miliz sind auf dem Rückzug Ideen für übermorgen
Die 44 Ideen im Überblick
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15_ Kein «Business as usual» – ein Nachwort
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Ulrich Bremi
16_ Literatur und Autoren Literatur Die Autoren
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Ideen für die Schweiz
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01
Der Fluch des Erfolgs – ein Vorwort Gerhard Schwarz
_ Wohin bewegt sich die Schweiz?
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_ Die Schweiz in Europa – und in der Welt
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Kluge Politik – starke Wirtschaft Stärken stärken – Schwächen schwächen
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ufruhr im Paradies – der Titel eines unlängst erschienenen Buches beschreibt die Befindlichkeit der Schweizerinnen und Schweizer präzis. Sie geniessen den höchsten Lebensstandard, den es für die
breite Bevölkerung in der Geschichte je gab. Und sie erregen sich, weil nicht alle Wohnungssuchenden in den wieder begehrten Kernstädten ein bezahlbares Angebot finden, weil unter den Pendlern in den Stosszeiten die in Tokio oder Los Angeles üblichen Zustände herrschen, weil Wirtschaftsflüchtlinge ihr Gastrecht missbrauchen oder weil Manager, die
Millionen beziehen (aber nicht immer verdienen), die mit ihrer Macht und ihrem Einkommen verknüpfte Verantwortung Die Probleme der Schweiz haben meist mit dem Wohlstand zu tun, den sie sich über Jahrhunderte erarbeitet hat.
nicht genügend wahrnehmen. Kurz: Die Menschen in aller Welt können die Schweizer um ihre Sorgen beneiden. Die Probleme der Schweiz – die nicht verniedlicht werden sollen – haben nämlich meist mit dem Wohlstand zu tun, den sie sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erarbeitet, und mit dem Erfolg, den
sie im letzten Jahrzehnt erzielt hat. Von der günstigen Situation zeugen harte Zahlen. Selbst über die Jahre der Finanzkrise hinweg verzeichnete die Schweiz Wirtschaftswachstum sowie Überschüsse im Staatshaushalt. Sie erfüllt deshalb, während Europa unter der Schuldenkrise ächzt, als eines von wenigen Ländern die Maastricht-Kriterien. Und sie behauptet im Global Competitiveness Report des World Economic Forum seit Jahren einen Spitzenplatz, nachdem noch vor zwanzig Jahren führende Ökonomen befürchtet hatten, sie werde «vom Sonderfall zum Sanierungsfall». Dennoch wäre Selbstzufriedenheit fehl am Platze. Die Schweiz kam nur mit Einsatz, Umsicht, Klugheit – oder Schläue? – sowie einigem Glück so weit. Und sie bleibt letztlich Einäugiger unter Blinden. Es steht bei weitem nicht alles zum Besten. Zudem hätte es auch anders kommen können – und es kann wieder ganz anders kommen, wenn die Schweiz ihr Erbe nicht bewahrt und entwickelt, sich nicht für die Zukunft rüstet.
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Das ist der Hintergrund, vor dem die Beiträge in diesem Buch geschrieben wurden. Sie wollen Anstösse zur Weiterentwicklung des Erfolgsmodells Schweiz geben, oft mutig vorausschauend, aber zugleich doch meist an das Bestehende anknüpfend, wie es Walter Adolf Jöhr, einer der führenden schweizerischen Ökonomen des 20. Jahrhunderts, gefordert hat.
Wohin bewegt sich die Schweiz? Kluge Politik – starke Wirtschaft Dieses Buch ist also kein Prognosebuch. Wohin sich die Schweiz bewegt, kann man ohne prophetische Gaben nicht wissen. Auch der Rückgriff auf Szenarien, auf ganze Pakete zukünftiger Entwicklungen, hilft nicht weiter. Sie suggerieren nämlich so etwas wie widerspruchsfreie Zukünfte. In der Realität kommt es aber immer zu kaum vorhersehbaren Wechselwirkungen verschiedenster Trends. Daher haben wir auf die Szenariotechnik bewusst verzichtet. Hingegen beschreiben wir einleitend einige der derzeit erkennbaren globalen Megatrends, im Bewusstsein, dass sie jederzeit abbrechen oder durch neue Trends ergänzt und ersetzt werden können, dass man sie bestenfalls als grobe Muster zu erkennen vermag, dass sie auf unbekannte Weise miteinander interagieren und dass ihre einfache Fortschreibung in die Irre führen würde. Gleichzeitig haben wir auch
Gegenwärtig steht die Schweiz gemäss einer Fülle von Indikatoren im internationalen Vergleich geradezu glänzend da.
einige kurzfristige Entwicklungen zu Rate gezogen. Beide, die grossen Trends und die Aktualitäten, vermitteln eine Ahnung dessen, was auf die Schweiz zukommen könnte, und waren Inspirationen für die hier präsentierten Vorschläge. Grundsätzlich folgen diese aber der Überzeugung von Willy Brandt, dass die Zukunft zu gestalten die beste Art sei, die Zukunft vorherzusagen. Gegenwärtig steht die Schweiz gemäss einer Fülle von Indikatoren im internationalen Vergleich geradezu glänzend da. Das verdankt das Land
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einerseits einer etwas klügeren Politik: mit der Schuldenbremse, die einen über den Konjunkturzyklus ausgeglichenen Haushalt fordert, dem Steuer wettbewerb, der die Gemeinwesen zum Masshalten zwingt, einer geschickten Rollenverteilung zwischen Staat und Unternehmen in der Innovationspolitik, einem flexiblen Arbeitsmarkt und einer dualen Berufsbildung, dank denen die Arbeitslosigkeit, zumal jene der Jugendlichen, auf Tiefstständen verharrt. Anderseits beruht der relative Erfolg der Schweiz auf einer starken Wirtschaft: Die Chemie- und Pharmaindustrie mit Flaggschiffen wie Novartis, Roche oder Syngenta steigerte ihre Exporte seit 1990 auf das Siebenfache; mit einem Anteil an den Exporten von 30% und einer Wertschöpfung von 490 000 Franken pro Kopf ist sie heute klar die wichtigste Branche. Aber auch die Uhren-, die MaschiIhre herausragende Stellung kann die Schweiz nur halten, wenn sie sich nicht ausruht, sondern weiter Ehrgeiz beweist.
nen- und die Medizintechnikindustrie, die einerseits Spezialitäten mit höchster Wertschöpfung und anderseits dank Vollautomatisierung Massengüter zu geringen Kosten herstellen, tragen dazu bei, dass die Schweiz als einziges westliches oecdLand seit 1990 ihren Industrieanteil halten konnte und im Ranking der Industrieproduktion pro Kopf mit Abstand an der Spitze steht, also das am stärks-
ten industrialisierte Land der Welt bleibt. Dazu kommt der Finanzplatz, der zwar unter der Bankenkrise und der Dauerdebatte um Bankgeheimnis und Steuerabkommen leidet, aber – vom Publikum meist übersehen – in der Vermögensverwaltung, im Risikomanagement und mit Informationstechnologie weltweit anerkannte Spitzenleistungen erbringt. Stärken stärken – Schwächen schwächen Ihre herausragende Stellung kann die Schweiz jedoch nur halten, wenn sie sich nicht ausruht, sondern weiter Ehrgeiz beweist: Grundsätzlich muss sie, so ambitiös dies klingen mag, wirtschaftlich stets und überall
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etwas besser sein – auch wenn ihr dies noch mehr Neider und Gegner einbringt. Das zwingt zu dauernder Standortpflege und zu einem unablässigen Fitnessprogramm, um günstige Bedingungen für die Aussenwirtschaft zu schaffen. Für die kommenden Jahre sagen die Analytiker der Credit Suisse der Schweiz trotz Schuldenkrise, Wachstumsschwäche und Währungsturbulenzen in den wichtigsten Exportmärkten ein «kleines Wirtschaftswunder» voraus. Und es könnte sogar mittelfristig anhalten, wenn Bert Rürup und Dirk Heilmann (2012) zu glauben ist: In ihrem Buch «Fette Jahre» erklären sie gemäss dem Untertitel, «warum Deutschland eine glänzende Zukunft hat». Bis 2030 gehe die Globalisierung ungebremst weiter, mit immer neuen Schwellenländern, die den Anschluss schafften. Maschinen, Elektrotechnik, Fahrzeuge und Chemie machen drei Viertel der deutschen Exporte aus, und diese vier Kategorien gehören in allen bric-Ländern zu den wichtigsten Importgütern. Daraus schliessen Rürup und Heilmann: «Die von Investitionsgütern dominierte Produktpalette der deutschen Industrie passt wie der Schlüssel zum Schloss zur Nachfrage der Schwellenländer.» Das gilt für Schweizer Unternehmen nicht minder. Sie gliedern sich nicht nur in die Wertschöpfungsketten der deutschen Konzerne ein, sondern stehen auch oft mit ihnen im Wettbewerb. Dazu kommen als spezifische Trümpfe der Schweiz der Rohstoffhandel, der Finanzplatz und die Produktion von Luxusgütern, für die sich Milliardenmärkte öffnen.
Die Schweiz braucht wegen ihrer vielen natürlichen «Nachteile» eine mittel- bis langfristige Reformpolitik, die Stärken stärkt und Schwächen schwächt.
Doch diese ohnehin vielleicht etwas gar optimistischen Aussichten dürfen nicht zu Selbstgefälligkeit verleiten. Die Schweiz braucht wegen ihrer vielen natürlichen «Nachteile» – obwohl sich diese beim zweiten Hinsehen nicht immer als Nachteile erweisen – eine mittel- bis langfristige Reformpolitik, die Stärken stärkt und Schwächen schwächt. Das ist die Folie, auf der dieses Buch
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geschrieben wurde. Es ist eine Sammlung von liberalen, marktwirtschaftlichen Ideen zur Stärkung der Schweiz, ohne Anspruch darauf, alle Themenfelder abgedeckt und alle Probleme bedacht zu haben. Das Buch lanciert keine Grossprojekte à la Olympische Spiele 2022 oder Swissmetro, und es behandelt keine Sektoren wie den Finanzplatz oder die Landwirtschaft, sondern Rahmenbedingungen für alle, von den Regeln des Wirtschaftens über die politische Organisation bis zum gesellschaftlichen Zusammenleben. Das Buch stellt Ideen vor, die Avenir Suisse in den letzten Jahren lanciert hat, die aber noch der Verwirklichung harren, aber auch Ideen, die neu, noch nicht im Detail ausgearbeitet und bewusst provokativ sind. Darunter finden sich umfassende Vorschläge wie eine fundamentale Steuerreform ebenso wie spezifische etwa zur Raumplanung; kurzfristig umsetzbare Reformen wie mehr Wahlfreiheit bei der Anlagestrategie im Überobligatorium der beruflichen Vorsorge ebenso wie zeitlich weitreichende wie das Bildungskonto; und Innovationen, die traditionelle Stärken wie das Milizsystem oder Allen Ideen ist neben der liberalen Perspektive eines gemeinsam: Sie fallen weitestgehend in die Zuständigkeit der Schweiz.
den Steuerwettbewerb stützen, ebenso wie einige, die für die Schweiz ungewohnt sind, im Ausland aber bereits praktiziert werden, wie das Mobility Pricing. Allen Ideen ist neben der liberalen Perspektive eines gemeinsam: Sie fallen weitestgehend in die Zuständigkeit der Schweiz, sie sind nicht gänzlich unabhängig von dem, was ringsum passiert, aber
doch so angelegt, dass von der Sache her wenig Abstimmungs- und Koordinationsbedarf besteht. Sie sollen dazu dienen, das Haus Schweiz weiterhin in Ordnung zu halten, es also vorausschauend so zu gestalten, dass es in möglichst vielen Situationen seine Qualität und Stabilität behalten kann. Zugrunde liegt diesem Ansatz, wie erwähnt, die Auffassung, dass es unmöglich ist, zu wissen, was die Zukunft bringt. Nichts wäre daher
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verkehrter, als auf die Projektion der oben beschriebenen Trends in die Zukunft zu setzen. Gerade für eine kleine Willensnation wie die Schweiz sind Zukunftsoffenheit, Flexibilität und Risikodiversifikation besonders wichtig.
Die Schweiz in Europa – und in der Welt Das ist auch der eine Grund, weshalb sich zur Politik gegenüber der eu kein eigenes Kapitel findet: Die eu ist zwar der wichtigste aussenpolitische Partner der Schweiz, die Rolle der Schweiz in der Welt hängt aber noch von vielen anderen Faktoren und Akteuren ab, deren Entwicklung sich ebenfalls nicht prognostizieren lässt. Der andere Grund ist, dass eine kluge Aussenpolitik – durchaus verstanden als Interessenpolitik – letztlich eine dienende Funktion hat. Sie ist kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung dafür, dass die Schweiz Gestaltungsspielraum für jene Reformen behält, die sie im Interesse von Wohlstand und Selbstbestimmung umsetzen möchte. Eine solche kluge aussenpolitische Strategie ist nicht einfach. Die Herausforderung
Als Kleinstaat mit grosser Exportwirtschaft musste sich die Schweiz seit je dafür einsetzen, dass das Recht und nicht die Macht die internationalen Beziehungen prägt.
besteht darin, in einer Welt, in der Handelsschranken und Währungskriege drohen, einerseits dafür zu sorgen, dass die Schweizer Unternehmen günstige Bedingungen geniessen, und anderseits jene spezifischen Bürgerrechte nicht zu gefährden, die die Schweiz auszeichnen. Als Kleinstaat mit grosser Exportwirtschaft musste sich die Schweiz seit je dafür einsetzen, dass das Recht und nicht die Macht die internationalen Beziehungen prägt. Die Entwicklung scheint heute angesichts der geopolitischen Spannungen oft in eine andere Richtung zu gehen. Die Schweiz kommt mit ihrer direkten Demokratie unter Druck – aber schutzlos ist sie diesem Druck nicht ausgesetzt. Vorauseilender und willfähriger Nachvollzug von Rechtsentwicklungen im Ausland ist daher weder klug noch notwendig.
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Allerdings bräuchte die Schweizer Regierung ein klares Mandat, um eine interessengeleitete Aussenpolitik betreiben zu können. Der Druck auf die Schweiz dürfte nämlich stark bleiben, ja sogar zunehmen. Mit der Renaissance der Machtpolitik in einer multipolaren Welt droht zudem die Verlagerung der wirtschaftspolitischen Entscheide von etablierten internationalen Gremien, in denen die Schweiz mitwirkt, wie imf, Weltbank, wto oder oecd, in solche der mächtigen Staaten wie G-8, G-20 oder European Stability Board. Dieser Verschiebung kann die Schweiz nur mit einer vorausschauenden, die eigenen Möglichkeiten realistisch einschätzenden, in der Bevölkerung verankerten Aussenpolitik begegnen. Mangelnde Abstimmung, wie sie zwischen der Aussenwirtschafts- und der Entwicklungspolitik immer wieder vorkam, kann sich die Schweiz nicht leisten. Und weder Kraftmeierei noch blindes Vertrauen auf gemeinsame Werte und vermeintliche Freunde sind verlässliche Grundlagen für eine zielführende Aussenpolitik. Angesichts der aktuellen Probleme in der eu, der defizitären Staatshaushalte, der strukturellen Ungleichgewichte und der Währungsprobleme, aber vielleicht noch mehr angesichts der gigantesken Instrumente, mit denen diese Probleme bekämpft werden, wäre es derzeit absurd, einen eu-Beitritt anzusteuern. Und weil die Krankheit und ihre Remedur wohl noch eine Weile dauern werden, empfiehlt sich auch auf mittlere Frist keine völlige Abkehr vom bilateralen Weg. Er ist sowohl für die Schweiz als auch für die eu eine Erfolgsgeschichte: ein «Rosinenpicken auf Gegenseitigkeit», wie es der Journalist Jörg Thalmann einmal ausdrückte. Gerade deshalb sollte er aber einerseits nicht überfrachtet werden, denn immer neue Anliegen in die bilateralen Verträge integrieren zu wollen, würde der Glaubwürdigkeit der Schweiz schaden und sie zunehmend zum Bittsteller machen. Und anderseits sollte kluge Aussenpolitik immer auch die Lage des Partners realistisch einschätzen und seine Interessen berücksichtigen; deshalb sollte sich die Schweiz offen zeigen für einen institutionellen Rahmen, der es ihr erlaubt, eine Semi-Autonomie zu
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wahren, und der gleichzeitig verhindert, dass sie für die eu zu sehr zu einem lästigen Pfahl im Fleisch wird. Die Vorstellung von der Schweiz als kleinem gallischem Dorf im Imperium Europaeum hat ohne Zweifel ihren Reiz. Aber mit Blick auf ein gedeihliches Zusammenleben sollte man das Modell nicht übertreiben, sonst kippt sein Charme leicht ins Unsympathische. Vor allem aber sollte die Schweiz, trotz ihrer Lage inmitten Europas, für die ganze Welt offen bleiben – nicht nur angesichts der europäischen Turbulenzen, aber angesichts dieser Entwicklungen erst recht. Deshalb ist der Ausbau des Netzes von Freihandelsabkommen mit hoher Priorität voranzutreiben: Nur so lassen sich die Chancen nutzen, die der Aufstieg von Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika bietet. Und nur so kann die Schweiz ihren Platz als kleines, wohlhabendes, freiheitsliebendes und – vor allem – von den Bürgerinnen und Bürgern gestaltetes Land in einer immer komplexeren Welt finden und sichern.
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Nachhaltigkeit und Bedarfsgerechtigkeit in der Altersvorsorge Jérôme Cosandey
Abstract
_ Nicht alle Eier im gleichen Korb _ Herausforderung: Veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Prämissen
_ Ideen für morgen
Aufhebung des gesetzlichen Rentenalters Einführung einer Schuldenbremse in allen Sozialversicherungen
_ Ideen für übermorgen
_ 128
_ 130 _ 132 _ 136 136 139
_ 140
Entpolitisierung des Umwandlungssatzes im BVG 140 Vollkapitalisierung der öffentlich-rechtlichen Pensionskassen 142 Freie Pensionskassenwahl durch die Mitarbeiter 145
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Abstract Nachhaltigkeit und Bedarfsgerechtigkeit in der Altersvorsorge
Das Schweizer Dreisäulensystem der Alterssicherung geniesst internationale Anerkennung. Allerdings stellen die Individualisierung der Gesellschaft, die Alterung der Bevölkerung sowie tiefere Renditen am Kapitalmarkt unsere Sozialwerke vor wichtige Herausforderungen. Die Altersvorsorge muss nachhaltig finanziert werden und individuelle Bedürfnisse der Versicherten besser berücksichtigen. Mittelfristig sollte eine Schuldenbremse in allen Sozialversicherungen eingeführt und das Rentenalter angehoben werden. Damit wäre primär die erste Säule (ahv) gestärkt. Lang fristig sollte in der beruflichen Vorsorge der Umwandlungssatz entpolitisiert und dezentral durch die Vorsorgeeinrichtungen bestimmt sowie die Unterdeckung öffentlich-rechtlicher Pensionskassen nicht mehr geduldet werden. Zuletzt sollten die Mitarbeiter selber ihre Kasse frei wählen können. Abstract Prévoyance vieillesse: durabilité et couverture des besoins
Le système suisse des trois piliers de la prévoyance vieillesse jouit d’une reconnaissance internationale. Cela étant, l’individualisation de la société, le vieillissement de la population et la baisse des rendements du marché des capitaux constituent d’importants défis pour les assurances sociales. La prévoyance vieillesse doit être financée de façon durable, et prendre mieux en considération les besoins individuels des assurés. À moyen terme, un frein à l’endettement devrait être introduit dans toutes les assurances sociales, et l’âge légal de la retraite reculé. Dans un premier temps, ceci renforcerait le premier pilier (avs). À long terme, le taux de conversion de la prévoyance professionnelle devrait être dépolitisé et déterminé de façon décentralisée par les institutions de prévoyance. En outre, le découvert des caisses de pension de droit public ne peut plus être toléré. Finalement, les collaborateurs devraient pouvoir choisir eux-mêmes leur caisse.
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Abstract Sostenibilità e rispetto dei bisogni nella previdenza alla vecchiaia
Il sistema svizzero dei tre pilastri nell’assicurazione alla vecchiaia gode di stima internazionale. Tuttavia l’individualismo nella società, l’invecchiamento della popolazione così come i bassi rendimenti nel mercato dei capitali pongono le assicurazioni sociali dinanzi ad importanti sfide. La previdenza alla vecchiaia ha bisogno di un finanziamento duraturo e sostenibile e di saper venire incontro sempre meglio ai bisogni degli assicurati. A medio termine occorre introdurre un freno all’indebitamento nelle assicurazioni sociali e innalzare l’età legale di pensionamento. Così facendo il primo a trovarne giovamento sarebbe il primo pilastro (avs). A lungo termine bisognerebbe spoliticizzare il tasso di conversione e determinarlo in modo decentrale attraverso le istituzioni di previdenza. Inoltre il sottofinanziamento delle casse pensioni pubbliche non andrebbe più tollerato. Per finire i collaboratori dovrebbero col tempo poter scegliere individualmente la propria cassa. Abstract Towards sustainable, needs-based pension provision
Switzerland’s three-pillar system of old-age provision has an international reputation. However, the increased individualisation of society, an ageing population and lower returns on the capital market are posing major challenges to the social security systems. Pension provision needs to be sustainably financed and to take better account of the individual requirements of those insured. In the medium term, a debt brake should be introduced into all social security schemes and the statutory retirement age increased. This would primarily strengthen the first pillar (old-age and survivors’ insurance). In the long term, the conversion rate used in occupational pension provision should be de-politicised and fixed locally by the pension schemes. The shortage of cover at public-law pension funds should also no longer be tolerated. Finally, employees should in due course be able to choose their fund themselves.
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Nicht alle Eier im gleichen Korb Das Schweizer Dreisäulensystem der Alterssicherung besteht aus der für die gesamte Bevölkerung obligatorischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ahv/iv) als erster, der obligatorischen beruflichen Vorsorge als zweiter und der nicht obligatorischen und teilweise steuerbegünstigten privaten Vorsorge als dritter Säule. Ziel der ahv ist die Existenzsicherung. Die berufliche Vorsorge soll den gewohnten Lebensstandard sichern. Mit der privaten Vorsorge sollen zusätzliche Bedürfnisse gedeckt werden. So ist die erste Säule zentralisiert und durch den Bund organisiert. Sie wird weitestgehend im Umlageverfahren finanziert. Bei dieser Finanzierungsart werden die laufenden Ausgaben eines Jahres grundsätzlich durch die laufenden Einnahmen desselben Jahres gedeckt. Die heute ausbezahlten Renten werden von den heute Erwerbstätigen finanziert. Deshalb kann in diesem Zusammenhang nicht von Die erste Säule ist durch ein hohes Mass an Umverteilung zwischen Jung und Alt sowie zwischen Arm und Reich geprägt.
einer Sparkapitalbildung gesprochen werden. Die Leistungen werden durch eine Maximalrente begrenzt. Dagegen sind die beitragspflichtigen Einkommen nicht begrenzt. Das kommt bei hohen Einkommen einer stark progressiven Besteuerung gleich. Die erste Säule ist also durch ein hohes Mass an Umverteilung zwischen Jung und Alt sowie
zwischen Arm und Reich geprägt. Die Solidaritäten zugunsten der weniger bemittelten Bevölkerungskreise sind gewollt und entsprechen dem in der Bundesverfassung festgeschriebenen Postulat der angemessenen Deckung des Existenzbedarfs durch ahv, Invalidenversicherung (iv) und Ergänzungsleistungen (el). Das Umlageverfahren ist gegen das Auf und Ab auf den Kapitalmärkten weitgehend gefeit, reagiert aber stark auf Veränderungen bei den wichtigen demografischen Variablen. Dagegen wird die berufliche Vorsorge an die Arbeitsstelle gekoppelt und durch dezentrale, selbständige Vorsorgeeinrichtungen organisiert.
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Sie wird grundsätzlich im Kapitaldeckungsverfahren finanziert. In einem reinen Kapitaldeckungsverfahren zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber jährlich Sparbeiträge auf ein persönliches Konto des Arbeitnehmers ein, die am Kapitalmarkt investiert werden. Dank den am Markt erwirtschafteten Renditen und dem Zinseszinseffekt wächst das Vermögen zusätzlich – man spricht deshalb vom Kapitalmarkt als «drittem Beitragszahler». Das angesparte Altersguthaben bleibt jedoch dem Kapitalmarktrisiko ausgesetzt. Beim Erreichen des ordentlichen Rentenalters wird das angesparte Vermögen als lebenslängliche Rente (Leibrente) oder je nach Reglement in Kapitalform bezogen. Die Höhe dieser Rente wird mit dem sogenannten Umwandlungssatz bestimmt, der die Jahresrente in Prozent des Vorsorgevermögens ausdrückt. Die dritte Säule wird individuell organisiert und ist freiwillig. Sie wird ebenfalls im Kapitaldeckungsverfahren finanziert. Sie kann steuerbegünstigt in der gebundenen Form von Versicherungs- oder Banklösungen erfolgen (Säule 3a) oder völlig frei, jedoch ohne Steuervorteile gestaltet werden. Instrumente sind z. B. Sparhefte, Wertschriftendepots oder selbst bewohnte Immobilien. Letztere unterliegen bei einem allfälligen Zwangsverkauf Wertschwankungsrisiken, können jedoch den Eigentümer vor steigenden Mietpreisen schützen. Das Schweizer Dreisäulensystem geniesst einen guten Ruf. International orientieren sich Länder, in denen die Altersvorsorge grösstenteils staatlich organisiert ist und auf dem Umlageverfahren beruht, bei ihren Reformbemühungen am Schweizer
Im Inland ist das Dreisäulenkonzept fest verankert und Gegenstand einer breiten gesellschaftlichen Übereinstimmung.
Modell. Im Inland ist das Dreisäulenkonzept fest verankert und Gegenstand einer breiten gesellschaftlichen Übereinstimmung. Jedoch dürfen wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Selbst bei der breit diversifizierten Schweizer Altersvorsorge decken die Alterung der Bevölkerung, Unsicherheiten auf
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den Finanzmärkten und die Individualisierung unserer Gesellschaft zunehmend Unzulänglichkeiten auf und schaffen Reformbedarf.
Herausforderung: Veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Prämissen Demografische Trends und Entwicklungen am Kapitalmarkt: Die Lebenserwartung
im Alter 65 ist seit Einführung der ahv 1948 um 7 Jahre (50%) gestiegen. Zusammen mit einer starken Reduktion der Geburtenrate von durchschnittlich 2,4 Kindern pro Frau in 1950 auf Standen 1948 noch 6 Personen in erwerbsfähigem Alter einem Rentner gegenüber, sind es heute 3,4.
1,5 Kinder pro Frau in 2010 führt dies zur Alterung der Gesellschaft. Dennoch wurde das Rentenalter nie angehoben. Standen 1948 noch 6 Personen in erwerbsfähigem Alter einem Rentner gegenüber, sind es heute 3,4. Ohne Gegenmassnahmen wird dieser Altersquotient bis 2040 auf ungefähr zwei fallen. Die Finanzierung der ahv im Umlagever-
fahren steht deshalb vor massiven Herausforderungen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (bsv) schätzt für die ahv ein negatives jährliches Umlageergebnis von 8 Milliarden Franken ab 2030 (bsv 2011a, bsv 2011b). |1
Gemäss Berechnungen von Avenir Suisse (Rühli 2011) |2
ist sogar ein Fehlbetrag von 12 Milliarden Franken 2030 bzw. von 18 Milliarden Franken 2040 zu erwarten. Dieser Fehlbetrag wäre doppelt so gross wie die gegenwärtigen gesamten iv-Ausgaben. Auch die zweite Säule steht vor grossen Herausforderungen. Die gesetzlichen Umwandlungssätze von 6,9% (gültig 2012) und 6,8% (ab 2014) wurden aufgrund der Lebenserwartung der Rentenbezüger, wie sie vor dem Jahr 1990 gemessen wurde (finma 2011), und mit einer durchschnitt1 2
Annahme: Szenario Mittel des bsv, Nettoeinwanderungssaldo von 50 000 Personen pro Jahr bis 2020, danach graduelle Reduktion auf 40 000 Personen pro Jahr bis 2030. Annahme: mittleres Bevölkerungsszenario des Bundesamtes für Statistik, jährlicher Nettoeinwanderungssaldo von 22 500 Personen pro Jahr.
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lichen Renditeerwartung von 4,0% bestimmt. Zum Vergleich ist seit 2000 der Pictet bvg-25 Index – der die Anlagestrategie einer durchschnittlichen Pensionskasse wiedergibt – jährlich um durchschnittlich 2,7% gestiegen (Pictet 2012).
Aufgrund globaler Überschuldungsprobleme ist eine längere
Zeit mit einem Umfeld tiefer Zinsen und Kapitalmarktrenditen durchaus wahrscheinlich. Der dritte Beitragszahler schwächelt. Die zugesprochenen Renten sind deshalb zu hoch und nicht voll finanziert. Dies führt zu jährlichen Umverteilungen von 600 Millionen Franken bis 1,5 Milliarden Franken (Cosandey 2012a). Diese beträchtlichen Quersubventionen von Rentnern durch Aktive sowie des Obligatoriums durch das Überobligatorium sind im Kapitaldeckungsverfahren systemwidrig. Ein rascher Anstieg der nominellen Zinsen aufgrund steigender Inflation würde Umverteilungen
Die beträchtlichen Quersubventionen von Rentnern durch Aktive sowie des Obligatoriums durch das Überobligatorium sind im Kapitaldeckungsverfahren systemwidrig.
zwar reduzieren, könnte jedoch die Renten der Pensionierten mittelfristig schmälern. Im Gegensatz zur ahv werden die Renten der zweiten Säule nicht automatisch an die Inflation angepasst, sondern jede Pensionskasse entscheidet für sich, ob sie eine Rentenanpassung vornehmen kann oder will. Darüber hinaus steigen die Gesundheitskosten mit dem Alter signifikant. Die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft wird zu einer Explosion der Alters- und Pflegekosten führen. Gemäss obsan (2008) betrugen diese Kosten 2005 erst 7,3 Milliarden Franken, für 2030 werden sie auf 18 Milliarden Franken geschätzt. Die Finanzierung dieser Ausgaben über Krankenkassenprämien, Ergänzungsleistungen oder staatliche Ausgaben wird unsere Gesellschaft vor grosse Herausforderungen stellen. Schliesslich haben diese demografischen Trends und Entwicklungen am Kapitalmarkt nicht nur monetäre, sondern auch reale Konsequenzen. Pensionierte und vor allem die Pflegebedürftigen sind auf die Verfügbarkeit des Produktionsfaktors Arbeit angewiesen. Ein noch so hohes ange-
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spartes Kapital hilft nichts, wenn dieses keine Arbeitsleistungen kaufen kann, weil es diese nicht gibt oder sie unerhört teuer sind. Eine Abhilfe kann in einem solchen Fall nur das Ausland liefern: durch Zuwanderung z. B. von Pflegepersonal oder durch Auswanderung von Rentnern in günstigere Länder. Budgetverdrängung durch explodierende Sozialversicherungsausgaben: In der
konsolidierten Betrachtung von Bund, Kantonen, Gemeinden und den staatlichen Sozialversicherungen (ahv, iv, alv und eo) stieg der Anteil der öffentlichen Ausgaben für soziale Wohlfahrt und Gesundheit von 43% (1990) bis auf 53% (2007). Bis 2020 wird ein weiterer steter Anstieg auf 63% prognostiziert (Feld und Schaltegger 2011). Die Explosion dieser Ausgaben ist vor allem auf die Alterung der Gesellschaft zurückzuführen. Auf Stufe Bund werden die steigenden Ausgaben der Sozialversicherungen andere Positionen des Bundesbudgets verdrängen. Die Schuldenbremse der Eidgenossenschaft deckt zwar das laufende und ausserordentliche Budget ab. Die gesetzlichen Leistungen der Sozialversicherungen werden jedoch dadurch nicht tangiert. Das überproportionale Wachstum der Aufwendungen für die Sozialwerke birgt die Für die Ausfinanzierung der Altersrenten der öffentlichen Hand werden Sparmassnahmen, erhöhte Steuern und/oder Schulden auf Kantonsund Gemeindeebene nicht zu vermeiden sein.
Gefahr, dass andere Aufgabengebiete – besonders die aus standort- und wachstumspolitischer Sicht wichtigen Bereiche Bildung und Infrastruktur – zunehmend zurückgedrängt werden. Auf Kantons- und Gemeindestufe wird die Unterkapitalisierung der öffentlich-rechtlichen Pensionskassen erhebliche Fehlbeträge verursachen. Laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen (bsv) bräuchte es für eine Vollkapitalisierung der öffent-
lich-rechtlichen Pensionskassen 30,1 Milliarden Franken per Ende 2010 (bfs 2011a).
Unter Berücksichtigung der Marktentwicklungen und der tech-
nischen Parameter, wie sie bei privaten Vorsorgeeinrichtungen verwendet werden, schätzt Avenir Suisse den Finanzierungsbedarf für eine Vollkapi-
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talisierung jedoch auf 50 Milliarden Franken (Cosandey 2011). Zum Vergleich: Die Gesamtschulden der Eidgenossenschaft beliefen sich 2010 auf 110 Milliarden Franken
(bfs 2012).
Für die Ausfinanzierung der Altersrenten der
öffentlichen Hand werden Sparmassnahmen, erhöhte Steuern und/oder Schulden auf Kantons- und Gemeindeebene nicht zu vermeiden sein. Fehlende Personalisierungsmöglichkeiten in den Sozialwerken: Unsere Gesell-
schaft ist durch Individualisierung im privaten wie im beruflichen Umfeld geprägt. Die «normale Laufbahn» gibt es nicht mehr. Hohe Scheidungsraten, Patchwork-Familien, die steigende Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt und die zunehmende Abkehr von der traditionellen Rollenverteilung («Vater Ernährer, Mutter Erzieherin») führen zu neuen Erwerbsmustern. Auch das berufliche Umfeld verändert sich stark. Mehr Mobilität (Wechsel der Arbeitgeber, Home Office, Auslandeinsätze), nichtlineare Karrieren aufgrund von Aus- und Weiterbildung oder des Sprungs in die Selbständigkeit, Mehrfachbeschäftigung sowie eine starke Zunahme der Anzahl Neugründungen, Fusionen und Firmenschliessungen machen jede Erwerbsbiografie mehr denn je einzigartig.
Die Gestaltung der ahv und der beruflichen Vorsorge setzt weiterhin eine traditionelle Laufbahn voraus.
Die Gestaltung der ahv und der beruflichen Vorsorge setzt weiterhin eine traditionelle Laufbahn voraus: ununterbrochene Vollzeitstelle bei einem Arbeitgeber in der Schweiz, mit dem Alter steigende Löhne, keine Scheidung. So können bei der ahv entgangene Jahresbeiträge aufgrund von Auslandeinsätzen je nach Aufenthaltsland nicht nachgeholt werden. Im bvg ist die Ausreise in die eu zwingend mit einer Barauszahlung des Überobligatoriums (inkl. Quellensteuer) verbunden. In der Schweiz arbeiten mehr als 300 000 Erwerbstätige für zwei oder mehrere Arbeitgeber (bfs 2010). Trotz Gesamtlohn über der bvg-Eintrittsschwelle von 20 880 Franken werden viele dieser Mitarbeiter von der beruflichen Vorsorge nicht erfasst, da der Koordinationsabzug mehrfach abgezogen wird.
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Ideen für morgen Aufhebung des gesetzlichen Rentenalters Drei Stellschrauben können eine nachhaltige Finanzierung der Altersvorsorge sichern: Renten kürzen, mehr sparen oder länger sparen. Rentenkürzungen haben politisch kaum Chancen, dies hat die Umwandlungssatzabstimmung im März 2010 gezeigt. Mehr sparen führt zu kleineren verfügbaren Einkommen der aktiven Bevölkerung. Höhere Lohnbeiträge erhöhen die Lohnnebenkosten und bewirken eine Verschlechterung der Standortattraktivität der Schweiz. Folglich müssen wir länger sparen, was einer Rentenalterserhöhung gleichkommt. Im internationalen Vergleich steht die Schweiz mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 82,3 Jahren sehr gut da. Sie wird innerhalb der oecd nur von Japan (83,0 Jahre) übertroffen
(oecd 2012a).
Dennoch
stossen hierzulande politische Vorstösse zur ErhöEine Verlängerung der Lebensarbeitszeit in der Schweiz – gleich lang für Männer wie für Frauen – drängt sich auf.
hung des Rentenalters auf heftigen Widerstand. Ein anderer Trend lässt sich in 12 oecd-Ländern beobachten (Abbildung 7), darunter Dänemark und Norwegen, aber auch süd- und osteuropäische Länder wie Italien und Spanien, die eine Erhöhung des Pensionsalters auf 67 bzw. 68 Jahre entweder beschlossen oder sogar bereits umgesetzt haben
(oecd 2011a).
In allen 12 Ländern liegt die Lebenserwartung mindestens
fünf Monate tiefer als in der Schweiz (sogar 4 Jahre in den usa, 5 Jahre in Tschechien), und der Anteil der Bevölkerung im Landwirtschafts-, Bau- und Industriesektor, der eine stärkere körperliche Abnützung mit sich bringt, ist meistens höher. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit in der Schweiz – gleich lang für Männer wie für Frauen – drängt sich deshalb auf. Veränderte Erwerbsbiografien, die höhere Lebenserwartung bei guter Gesundheit der Senioren und die absehbaren Engpässe auf dem Arbeits-
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Abbildung 7
Sehr hohe Lebenserwartung, aber nur mittleres Rentenalter in der Schweiz 12 oecd -Länder mit einer Lebenserwartung bei Geburt, die tiefer liegt als in der Schweiz, haben ein Rentenalter von 67/68 entweder beschlossen oder bereits umgesetzt. Die gesetzliche Rentenbezugsdauer ist nur in Frankreich und Japan höher als in der Schweiz. Lebenserwartung bei Geburt 84 JPN 83 CH 82
ITA SWE
FRA
IRL/NZL
81
GRC FIN
80
SVN
ISL
NOR NLD AUT/LUX/KOR BEL PRT
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ESP AUS ISR
CZE
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POL 76
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75 HUN/TUR 74 61
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Vorgesehenes Rentenalter
Quelle: OECD 2012, Whitehouse 2011
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markt machen das Konzept eines gesetzlich fixierten Rentenalters obsolet. Es schränkt die Optionen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein. Schweden hat daraus die Konsequenzen gezogen und das starre ordentliche Rentenalter abgeschafft
(Box 7).
Dabei wurde gesetzlich nur eine Unter-
grenze für die Frühpensionierung vorgegeben. Je später die Pensionierung erfolgt, desto höher fällt die Rente aus. Das System sieht auch Teilrenten vor, um eine graduelle Reduktion des Arbeitspensums zu ermöglichen. Wir ziehen dieses Modell einer Rentenalterserhöhung in kleinen Schritten vor. Box 7
Rentenalter auf Skandinavisch Dänemark: Koppelung des Rentenalters an die Lebenserwartung Dänemark verfügt in der gesetzlichen Rentenversicherung (folkepension) über einen automatischen Anpassungsmechanismus des Rentenalters. In der Sozialreform von 2006 wurde festgelegt, dass das gesetzliche Renteneintrittsalter zwischen den Jahren 2024 und 2027 in Halbjahresschritten von 65 Jahren auf 67 Jahre erhöht wird. Gleichzeitig wurde beschlossen, dass eine durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 14,5 Jahren nicht überschritten werden darf. Das heisst nicht, dass die Renten nach 14,5 Jahren gestoppt werden, sondern dass das Rentenalter regelmässig geprüft und mit 15 Jahren Vorlaufzeit nach oben oder nach unten angepasst wird (Feld und Schaltegger 2011). Schweden: Abschaffung des gesetzlichen Rentenalters Schweden hat seine Altersvorsorge 1999 grundlegend reformiert. Das neue System besteht grundsätzlich aus zwei Säulen, von denen die eine im Umlageverfahren, die andere im Kapitaldeckungsverfahren finanziert wird. Für beide Säulen ist eine Pensionierung erst mit 61 Jahren möglich, eine obere Alterslimite hingegen gibt es nicht. Je länger eine Person arbeitet, desto höher fallen seine beiden Renten aus. Jeder kann somit aufgrund seiner persönlichen Präferenzen und seiner finanziellen Situation sein Rentenniveau (und sein Rentenalter) selbst steuern. Dieses Modell fördert auch die Einbindung älterer Mitarbeiter in den Arbeitsprozess, mitunter in Teilzeitanstellung. Erfahrene und gut qualifizierte Arbeitnehmer scheiden dadurch nicht mehr automatisch aufgrund einer willkürlichen Altersguillotine aus dem Arbeitsprozess aus.
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Einführung einer Schuldenbremse in allen Sozialversicherungen Wer heute die Zeitung aufschlägt, erlebt ein Paradox. Der Auslandteil ist voll von Artikeln über die dramatische Schuldensituation in Griechenland, Italien, Spanien oder den usa. Gegenüber diesen Ländern gilt die Schweiz mit einer Staatsverschuldung von weniger als 40% des bip als Vorbild. Wer aber in der Zeitung zum Schweiz-Teil weiterblättert, stellt mit Schrecken fest, wie sich die Politiker über die Sanierung der Sozialversicherungen streiten. Bei der ahv diskutiert man, ob der Reservefonds zwei Jahre früher oder später auf 50% eines Jahresbetreffnisses schwindet, nicht aber über mögliche Wege, die defizitäre Entwicklung einzudämmen. Bei der iv zweifeln viele Politiker die Notwendigkeit der Revision 6b an. Damit kommt eine gewaltige Verschuldung auf uns zu: Das jährliche Defizit könnte 2050 8% des bip betragen (Feld und Schaltegger 2011). Offensichtlich packt die Politik solche Reformen ungern an. Das ist zwar nachvollziehbar, aber un-
Es ist wichtig, Massnahmen zur Selbstdisziplinierung frühzeitig zu verankern.
verantwortlich: Kein Parlamentarier streicht gerne Leistungen oder führt neue Steuern ein, wenn sich diese Massnahmen erst in zwanzig Jahren auszahlen, also lange nach seiner Legislatur. Deshalb ist es wichtig, Massnahmen zur Selbstdisziplinierung frühzeitig zu verankern. Wie Odysseus sich an den Mast binden liess, um den lockenden Gesängen der Sirenen zu widerstehen, braucht die Politik Fesseln, also eine Schuldenbremse, die sie dazu zwingt, rechtzeitig zu handeln, wenn bei den Sozialversicherungen ein Defizit droht. Eine solche Schuldenbremse dürfte allerdings keineswegs nur Mehreinnahmen anpeilen, sondern müsste auch die Leistungsseite einbeziehen. Bei der ahv, die von der finanziellen Tragweite wie vom langfristigen Problemdruck her neben der beruflichen Vorsorge den grössten Handlungsbedarf aufweist, schlagen wir in Anlehnung an eine AvenirSuisse-Publikation (Feld und Schaltegger 2011) konkret eine Schuldenbremse in der Form eines «Autopiloten» vor. Dabei definiert die Politik heute, wel-
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che Massnahmen zu ergreifen sind, wenn ein vordefinierter Zustand erreicht wird. Bei der ahv könnte ein solcher «Autopilot» nach dem Vorbild Dänemarks gestaltet sein und eine automatische Anpassung des Renteneintrittsalters an die Erhöhung (oder Senkung) der Lebenserwartung vorsehen. Damit soll die durchschnittliche Lebenserwartung im Ruhestand konstant bleiben (Box 7). Ebenfalls denkbar wäre eine Kombination von Leistungskürzungen, z. B. durch die Sistierung des Mischindexes |3, und Beitragserhöhungen in der Form zusätzlicher Lohnbeiträge oder Mehrwertsteuerprozente, wenn das Niveau des ahv-Fonds einen Grenzwert erreicht hat. Die Definition eines «Autopiloten» hat zwei Vorteile. Das vorzeitige Anstreben eines Konsenses soll verhindern, dass einerseits die Politik in Krisenzeiten durch Grabenkämpfe handlungsunfähig wird und andererseits eine Fortführung des Status quo nicht kontrollierbare finanzielle Konsequenzen nach sich zieht. Des Weiteren soll eine strenge «Autopilot»Regel die Politik davon abhalten, das Auslösen von automatischen Korrekturmassnahmen abzuwarten. Sie soll die Entscheidungsträger vielmehr dazu ermuntern, frühzeitig Reformen zur nachhaltigen Finanzierung der Sozialwerke vorzunehmen.
Ideen für übermorgen Entpolitisierung des Umwandlungssatzes im BVG Mit Hilfe der Versicherungsmathematik kann die Höhe einer lebenslänglichen Rente aufgrund angesparter Kapitalien bestimmt werden. Dabei hängt die Höhe der Rente primär von der Lebenserwartung beim Pensionierungszeitpunkt und von der zu erwartenden durchschnittlichen
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Die ahv-Renten werden mindestens alle zwei Jahre anhand des Mischindexes angepasst, der die Entwicklung des Lohnniveaus sowie der Inflation je zu 50% berücksichtigt.
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Kein «Business as usual» – ein Nachwort Ulrich Bremi
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deen entstehen gelegentlich aus einem «Geistesblitz», der durch ein Gespräch, eine Lektüre, eine Beobachtung oder durch die eigene Gedankenwelt ausgelöst wird. Viel häufiger steckt hinter Ideen aber eine
weniger romantische, systematische und konzentrierte Arbeit. In diesem Buch führen erarbeitete «Ideen für die Schweiz» zu Vorschlägen zur Veränderung von Prozessen und Strukturen für unsere direkte Demokratie, die unsere Identität prägt. Die Ideen richten sich also nicht nur an die Schweiz, sondern primär an die Schweizerinnen und Schweizer. Für Avenir Suisse arbeiten Ideenträger, die sich nicht nur darauf beschränken, eigene Gedanken zu entwickeln und zu publizieren. Das
Unternehmen pflegt ganz besonders die interne Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Auffassungen mit dem Ziel, die Leserinnen und Leser besser zu befähigen, eigene Entscheide Die wichtigste Erkenntnis ist wohl die, dass in der Schweiz Handlungsbedarf besteht und eine klarere strategische Führung nötig ist, wenn wir politisch selbständig und erfolgreich bleiben wollen.
zu fällen oder selbst Beiträge zu konstruktivem Streiten zu leisten. Kleine, politisch selbständige, erfolgreiche Länder werden seltener. Sie sehen sich konfrontiert mit grossen Nationen oder Gemeinschaften, die ihr wachsendes Einflusspotenzial zunehmend nutzen. In den vergangenen Jahren und Wochen haben wir die möglichen Konsequenzen für unser Land und für alle Einzelnen von uns kennen gelernt. Die wichtigste Erkenntnis ist wohl die, dass in der
Schweiz Handlungsbedarf besteht und eine klarere strategische Führung nötig ist, wenn wir politisch selbständig und erfolgreich bleiben wollen. Nun ist aber gerade dieses Erfordernis offensichtlich nicht leicht zu erfüllen. Wir tun uns schwer mit der Festlegung und vor allem mit der Umsetzung von Strategien. Unser Denken bleibt zu oft in unterschiedlichen Gruppeninteressen stecken. Damit ist die Frage gestellt, wie die Schweiz gegenwärtig mit neuen oder auch mit aufgewärmten Ideen umgeht. Im Vergleich zu anderen
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Ländern stehen uns auf allen politischen Ebenen mehr Instrumente zur Verfügung, um eine Idee zu einem entscheidungsfähigen Antrag werden zu lassen. Unser Initiativrecht ist weit entwickelt und es wird auch intensiv genutzt. Allerdings sind die schweizerischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zurückhaltend in der Zustimmung zu neuen Ideen, besonders wenn sie mit nicht leicht überblickbaren Risiken verbunden sind. Neues lassen wir gern vorerst andere Länder versuchen und entscheiden uns dann aufgrund der ausländischen Erfahrungen. Trotzdem: Unser Initiativrecht ermöglicht die Umsetzung vorbehältlich der Zustimmung der Stimmbürger. Im wirtschaftlichen Bereich spielen Ideen eine wesentlich andere Rolle. Dort ist entscheidend, wie
Die immateriellen Werte werden entscheidender als die materiellen, auch wenn dies in den Bilanzen noch kaum sichtbar ist.
gut die Umwandlung von materiellem Eigentum in geistiges Eigentum, und umgekehrt, gelingt. Die immateriellen Werte werden entscheidender als die materiellen, auch wenn dies in den Bilanzen noch kaum sichtbar ist. Die Basis dafür liefern hauptsächlich Ideen in allen unternehmerischen Bereichen. Glücklicherweise sind wir in dieser Hinsicht stark, nicht zuletzt dank unserer Bildungsund Forschungsarbeit, einschliesslich der dualen Berufsausbildung. Zudem: Im politischen Feld disqualifizieren wir einen neuen Gedanken rascher als «Bier-Idee» als im wirtschaftlichen. Die Politik misst Neues rasch an seinem vermuteten Nutzen für die eigenen Gruppeninteressen. Die Wirtschaft und auch die Wissenschaft behalten auch momentan Unnützliches in einem griffbereiten Lager. Für sie gibt es kaum «unrealistische Ideen», sondern nur «noch nicht realistische». Wo braucht eigentlich die Schweiz neue Ideen? Genauer gefragt: In welchen Bereichen ausserhalb der wichtigen «Förderung des Wohlstands» sind wir darauf angewiesen? Einer davon ist die «Förderung unserer identitätsstiftenden Merkmale in der Zukunft». Die Schweiz definiert sich
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kaum geografisch, kulturell oder wirtschaftlich. Trotzdem ist sie eines der stabilsten Länder der Welt. Wir verfügen über zahlreiche Schriften, die dies historisch erklären. Aber genügt die historische Begründung für die Zukunft? Ein Beispiel soll hervorgehoben werden. Eines unserer Wesensmerkmale ist mit dem Begriff «Milizprinzip» bezeichnet. Es hatte und hat entscheidende Bedeutung für unsere Armee, aber auch für unsere politischen Behörden auf den Ebenen von Gemeinden, Kantonen und Bund. Es umschreibt den sehr grossen Bereich von freiwilliger oder ehrenamtlicher Tätigkeit eines grossen Teils der Bevölkerung. Wir wissen, was wir unter Milizprinzip verstehen, wenn es auch schwer kurz und korrekt zu definieren ist. Wie oft in solchen Fällen gelingt uns eine Beschreibung, wenn wir den gegenteiligen Begriff suchen. Was ist dann das Gegenteil von «Miliz»? Professionalität ist es nicht, weil der Milizeinsatz sehr hohe qualitative Ansprüche erfüllen muss, um wirklich positive Wirkung zu erzeugen. Persönlich finde ich keinen treffenderen Begriff als «Teilnahmslosigkeit». Die Teilnahme am Leben ausserhalb unserer Hauptbeschäftigung, unserer Herkunft, wirkliches Interesse an dem, was nicht in unserem Spezialfach liegt, die Neugier nach dem Leben und nach den Menschen ausserhalb dieser stärker werdenden Grenze Die Absicht, unsere Identität, unsere politischen und wirtschaftlichen Stärken zu erhalten, soll nicht nur eine Idee bleiben.
umschreibt den schweizerischen Milizgedanken. Dieses Element unserer Gesellschaftspolitik muss neu überdacht werden, wenn wir der modischen Teilnahmslosigkeit entgegentreten wollen. Da setzt dieses Buch an. Die Absicht, unsere Identität, unsere politischen und wirtschaftlichen Stärken zu erhalten, soll nicht nur eine Idee bleiben. Sie kann auch weder mit trotziger Distanz
noch mit schrittweisem Nachgeben umgesetzt werden. Es braucht Persönlichkeiten, die in den wichtigsten Teilbereichen realistische Vorschläge auf lange und kurze Sicht zusammenfügen, vorlegen und vertreten.
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In allen gesellschaftlichen Schichten und in unseren Behörden verfügt die Schweiz über diese Kompetenz. Die Frage ist, ob wir so in der Lage sind, die Grenzen der eidgenössischen Gemeinsamkeit weiter zu fassen. Die Schweiz hat durchaus Chancen, ihre Identität zu erhalten. Sie ist für viele Menschen aus anderen Ländern ein wertvoller Partner. Aber sie muss eine Kultur pflegen, die Ideen und Ideenträger sucht. Wir verfügen über gute Erfahrungen im Umgang mit Minderheiten, weil wir aus lauter Minderheiten bestehen. Aber verfügen wir auch über einen guten Umgang mit Einzelnen, die andere Meinungen und Ideen vertreten? Diesbezüglich schöpfen wir unsere Möglichkeiten noch nicht aus. Das vorliegende Buch beinhaltet Ideen und Vorschläge von einzelnen Autoren. Ich empfinde dies als Aufforderung an viele Schweizerinnen und Schweizer, dazu Stellung zu nehmen und vor allem, eigene Gedanken beizufügen. Und vor allem: Mit «Business as usual» lösen wir die neuen Herausforderungen der Schweiz nicht.
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Die Autoren
Alois Bischofberger (*1944) ist seit 2008 Senior Consultant bei Avenir Suisse, wo er sein Schwergewicht auf Fragen der Makroökonomie und der Altersvorsorge legt. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich arbeitete er in einem Unternehmensberatungsbüro und trat 1973 in die Credit Suisse ein, wo er von 1986 bis zur Pensionierung im Jahr 2008 Chefökonom der Bank war. Ulrich Bremi-Forrer (*1929) arbeitete während 28 Jahren im Kader der Bauer AG (später Kaba Holding AG, Zürich), davon ca. 20 Jahre als CEO. Er leitete als Kantonsrat die FDP-Fraktion, später die FDP-Fraktion der eidgenössischen Räte. Nach dem Ratspräsidium (1990/91) übernahm er die Leitung der Verwaltungsräte der Swiss Re, der Georg Fischer AG und der «Neuen Zürcher Zeitung» bis zum Jahre 1999. Jérôme Cosandey (*1970), Dr., ist seit 2011 Projektleiter bei Avenir Suisse und widmet sich dort dem Reformbedarf in der beruflichen Vorsorge (BVG) und der Finanzierung der Sozialversicherungen. Nach der Promotion an der ETH Zürich arbeitete er von 1998 bis 2005 bei einem internationalen Beratungsunternehmen, danach in leitender Stellung bei einer Grossbank. Urs Meister (*1974), Dr., ist seit 2007 Projektleiter bei Avenir Suisse und ist dort vor allem für Energie, Telekommunikation sowie weitere (Netz-)Infrastrukturen und den Bereich Gesundheit verantwortlich. Zuvor arbeitete er bei verschiedenen Beratungsunternehmen. An der Universität Zürich ist er ausserdem Lehrbeauft ragter am Lehrstuhl für Unternehmensführung und -politik. Daniel Müller-Jentsch (*1969), Dr., ist seit 2007 Projektleiter bei Avenir Suisse und beschäftigt sich unter anderem mit Fragen der räumlichen Entwicklung, des Standortwettbewerbs und der Zuwanderung. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der London School of Economics und der Yale University arbeitete er sieben Jahre als Ökonom im Brüsseler Büro der Weltbank.
Die Autoren
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Lukas Rühli (*1979), lic. oec. publ., ist seit 2010 Projektleiter bei Avenir Suisse, wo er sich mit dem Kantonsmonitoring (u. a. «Gemeindeautonomie zwischen Illusion und Realität») bzw. dem Föderalismus im Allgemeinen, den Sozialwerken sowie der Datenvisualisierung beschäftigt. Zuvor studierte er Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich und stiess 2008 als Rechercheassistent zu Avenir Suisse. Marco Salvi (*1969), Dr., ist seit 2011 Projektleiter bei Avenir Suisse, wo er vor allem für die Themen Steuer- und Wohnpolitik verantwortlich ist. Er studierte Volkswirtschaft und Ökonometrie an der Universität Zürich und promovierte an der EPFL. Zuvor arbeitete er in leitender Funktion bei der Zürcher Kantonalbank. Er ist zudem Dozent für Ökonomie an der ETH Zürich und an der Universität Zürich. Markus Schär (*1956), Dr. phil., arbeitete 2007 bis 2012 als freier Publizist für Avenir Suisse, vor allem als Verantwortlicher für die Informationsbroschüre «avenir aktuell», und berichtet jetzt als Redaktor der «Weltwoche» aus dem Bundeshaus. Er promovierte in Geschichte an der Universität Zürich und absolvierte ein MBANachdiplomstudium an der Universität St. Gallen. Patrik Schellenbauer (*1963), Dr., ist seit 2009 Projektleiter bei Avenir Suisse und betreut schwergewichtig die Themen Bildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt. Er studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich und stiess 1998 zur Zürcher Kantonalbank, wo er ab 2004 den Bereich Immobilienrisiken leitete. Er ist zudem Lehrbeauftragter der ETH Zürich für Immobilien- und Stadtökonomie. Gerhard Schwarz (*1951), Dr., ist seit 2010 Direktor von Avenir Suisse in Zürich. Zudem ist er Vizepräsident der Progress Foundation, Mitglied des Stiftungsrates der St. Gallen Foundation for International Studies und Lehrbeauft ragter der Universität Zürich. Er studierte Volks- und Betriebswirtschaftslehre in St. Gallen, Great Barrington und Cambridge/Mass. und war viele Jahre Leiter der Wirtschaftsredaktion und stellvertretender Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung». Zuletzt sind von ihm erschienen: «Steuerpolitische Baustellen» und «Der Wert der Werte». Rudolf Walser (*1941), Dr., ist seit April 2008 Senior Consultant bei Avenir Suisse. Bis 1979 war er 1. Botschaftssekretär bei der Schweizerischen OECD-Mission in Paris, danach arbeitete er bis 1982 in leitender Funktion bei der F. Hoffmann-La Roche AG in Basel. Es folgte die Tätigkeit als Mitglied der Geschäftsleitung und Chefökonom von Economiesuisse – Verband der Schweizer Unternehmen.
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