Barbier-Mueller, Menz: Gertrud Dübi-Müller

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«Der alte Maler hatte seinen Tod kommen sehen und seine Freundin Gertrud angerufen, um ihr zu sagen, sie solle nicht warten, bald wäre er nicht mehr da.»

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Cäsar Menz Dr. phil., studierte Kunstgeschichte in Basel und arbeitete am Kunstmuseum Bern und im Bundesamt für Kultur. 1994 – 2009 wirkte er als Direktor der Musées d’art et d’histoire in Genf, deren Honorardirektor er heute ist. Seit 2011 ist er im Steuerungskomitee der Fondation Pierre Arnaud in Lens/ Crans-Montana.

Monique Barbier-Mueller · Cäsar Menz

Monique Barbier-Mueller Tochter des Solothurner Sammlers Josef Müller, ist diplomierte Übersetzerin und selbst eine international bekannte Sammlerin. Mit ihrem Mann Jean Paul Barbier-Mueller gründete sie in Genf das Musée BarbierMueller, das international beachtete Ausstellungen organisiert.

Gertrud Dübi-Müller – Sammlerin, Fotografin, Mäzenin

Ein faszinierender Einblick in das sorgsam gehütete Reich von Gertrud Dübi-Müller (1888 – 1980), Fotografin, Sammlerin, Freundin und Förderin von Künstlern der Moderne, wie Ferdinand Hodler, Cuno Amiet, Hans Berger oder Giovanni Giacometti.

ISBN 978-3-03810-139-0

9 783038 101390

www.nzz-libro.ch

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Monique Barbier-Mueller · Cäsar Menz

Gertrud Dübi-Müller

Sammlerin, Fotografin, Mäzenin

VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Gertrud Dübi-Müller (1888 – 1980) gehörte zu den wichtigsten Kunstsammlerinnen der Schweiz im 20. Jahrhundert. Verwaist und auf sich selbst gestellt, entwickelte die Solothurnerin zusammen mit ihrem Bruder Josef (1887 –1977) eine originelle Sammeltätigkeit. Kaum volljährig, leistete sie sich den Kauf eines Gemäldes von Vincent van Gogh. Zu ihren Freunden gehörten Cuno Amiet und Giovanni Giacometti. Besonders eng fühlte sie sich Ferdinand Hodler verbunden, der ihre jugendliche Schönheit in 17 Bildnissen festhielt. Früh erkannte sie das Talent der Schweizer Künstler Hans Berger, Albert Trachsel und Ernst Morgenthaler. Ihre Sammlung enthält aber u. a. auch Werke von Matisse, Degas, Cézanne, Braque, Picasso, Liebermann. Die von ihrer Nichte Monique Barbier-Mueller und dem Kunsthistoriker Cäsar Menz verfasste Publikation erlaubt einen Einblick in das sorgsam gehütete Reich einer faszinierenden Persönlichkeit, die als Sammlerin, Fotografin und Mäzenin in die Kunstgeschichte eingegangen ist.


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Übersetzung des Textes «A ma tante» aus dem Französischen: Claudia Steinitz, Hamburg Gestaltung: Urs Stuber, Frauenfeld Satz: Daniela Bieri-Mäder, Niederbüren Lithorgrafie: Walker DTP, Albert Walker, Winterthur Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-139-0 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


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Einleitung

Hauptwerke der Sammlung Getrud Dübi-Müller Cäsar Menz

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Cuno Amiet – Lehrer und Vermittler Ferdinand Hodlers Modell, Muse, Fotografin und Sammlerin Eine Sammlung entsteht und wird der Allgemeinheit geschenkt Monique Barbier-Mueller

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A ma tante Anhang

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Anmerkungen Biografie Genealogie Ausgewählte Literatur Bildnachweis Dank


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Cäsar Menz

Einleitung Es ist immer wieder erstaunlich festzustellen, wie reich die Bestände der Schweizer Museen sind, und dies, obwohl ihnen keine fürstlichen Sammlungen zugrunde liegen und die Schweiz bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht zu den weltweit wohlhabendsten Ländern gehörte. Die meisten der vor allem im letzten Viertel des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Museen verdanken einen Teil ihrer wertvollen Bestände Sammlerpersönlichkeiten, denen es ein Anliegen war, die von ihnen sorgsam zusammengetragenen Kunstwerke der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So vererbte, um hier nur einige Beispiele zu nennen, der Genfer Gustave Revilliod (1817–1890) seine vielfältige Sammlung von Gemälden, Skulpturen, Möbeln, Glas, Porzellan und Fayencen mitsamt dem von ihm zu deren Präsentation errichteten Palais Ariana der Stadt Genf. Oskar Reinhart (1885–1965) übergab einen Teil seiner Sammlung schweizerischer und deutscher Kunst in Form einer Stiftung seiner Heimatstadt Winterthur. Sein Wohnhaus Am Römerholz gelangte mit dem der europäischen Kunst gewidmeten Sammlungsteil 1965 in den Besitz der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 1986 erfuhr das Kunsthaus Zürich durch die Stiftung des Ehepaars Betty und David Koester eine gewichtige Bereicherung seiner Bestände niederländischer und italienischer Kunst des 17. Jahrhunderts. Die Sammler der Familien Bühler, Hahnloser und Reinhart beschenkten das Kunstmuseum Winterthur mit herausragenden Werken. Die Kunstinstitute von Basel, Bern, Genf und Zürich wären ohne eine Vielzahl mäzenatisch denkender Sammlerpersönlichkeiten keine Häuser mit internationaler Ausstrahlung geworden. Und auch die kleineren Museen hätten ohne gewichtige Schenkungen, Stiftungen und Legate ihren Provinzstatus kaum überwinden können. Als William Rubin (1927–2006) 1976 die Ausstellung «European Master Paintings from Swiss Collections. Postimpressionism to World War II» im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) zeigte, stellte er im Katalog anerkennend fest: «In relation to its size, Switzerland enjoys the highest concentration of fine modern painting in the world.» (Proportional zu ihrer Grösse weist die Schweiz weltweit die stärkste Konzentration an moderner Malerei auf.)1 Wesentlich zu diesem Phänomen beigetragen haben auch Solothurner Persönlichkeiten. Es sind dies der Biberister Papierfabrikant Oscar Miller (1862–1934) und die vier Geschwister Emma (1875–1920), Marguerite (1884– 1958), Josef (1887–1977) und Gertrud (1888–1980) Müller. Allen ist gemeinsam, dass sie ihre Sammlungen mit einem präzisen Blick für künstlerische Qualität und oft in direktem Austausch mit den von ihnen geförderten Künstlern der Moderne aufgebaut

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haben. Angeregt von Miller und künstlerisch geschult durch Cuno Amiet (1868–1961), der ihnen Malunterricht erteilte, sowie freundschaftlich verbunden mit Ferdinand Hodler (1853–1918) und Giovanni Giacometti (1868–1933), waren sie von einer Sammelleidenschaft erfasst, die in mancher Beziehung aussergewöhnlich und beispielhaft ist. Unter den Geschwistern Müller sind zweifellos Josef und seine nur um ein Jahr jüngere Schwester Gertrud die konsequentesten Sammlerpersönlichkeiten. Früh verwaist und auf sich selbst gestellt, entwickelten sie ihren Enthusiasmus für die moderne Kunst bereits in sehr jungen Jahren. Am Anfang stand ihre Begeisterung für die Malerei von Amiet, Giovanni Giacometti und Hodler, aber auch – sehr zeittypisch – ihr Interesse für die Gemälde von Vincent van Gogh (1853–1890). Dank den Erträgen aus den von ihrem 1894 verstorbenen Vater und Industriepionier Josef Adolf Müller-Haiber (1834–1894) mitbegründeten Sphinx werken in Solothurn, einem auf die Herstellung von Schrauben und Uhrenbestandteilen spezialisierten Unternehmen, verfügten sie über die nötige materielle Grundlage für die Befriedigung ihrer Leidenschaft. Josef Müller, der als einziger Sohn eigentlich dazu berufen war, das väterliche Unternehmen weiterzuführen und deshalb an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich ein Ingenieurstudium und anschliessend ein Praktikum in den Vereinigten Staaten absolviert hatte, entschloss sich nach schweren inneren Kämpfen, Künstler zu werden und sein Leben ganz dem Ausbau seiner Sammlung zu widmen. 1922 liess er sich in Paris nieder, wo er in einem einfachen Atelier am Boulevard Montparnasse 83, das ihm auch als sehr bescheidene Behausung diente, lebte. Sein Interesse galt nicht nur der europäischen Avantgarde, er baute nach und nach auch eine herausragende Sammlung afrikanischer, ozeanischer, präkolumbischer und japanischer Kunst

auf. 2 Daneben faszinierten ihn die Kunst der Antike und spezifische Aspekte der Volkskunst. In seiner Sammlung prominent vertreten waren die Schweizer Künstler Cuno Amiet, Hans Berger (1882–1977), Alberto (1901–1966) und Giovanni Giacometti, Ferdinand Hodler, Albert Trachsel (1863–1929) und Félix Vallotton (1865–1925). Ihre Arbeiten fanden darin gleichberechtigt Platz neben herausragenden Ensembles mit Werken von Georges Braque (1882–1963), Paul Cézanne (1839–1906), Max Ernst (1891–1976), Wassily Kandinsky (1866–1944), Fernand Léger (1881–1955), Henri Matisse (1869–1954), Joan Miró (1893–1983), Pablo Picasso (1881–1973), Auguste Renoir (1841–1912), Georges Rouault (1871–1958) und einigen mehr. Im Kriegsjahr 1942 kehrte Josef Müller in die Schweiz zurück und richtete sich mitsamt seiner umfangreichen Sammlung im Gebäude der Schanzmühle, im Stammsitz der Familie in Solothurn, ein. Als ehrenamtlicher Konservator der Kunstabteilung des dortigen Museums zeichnete er für ein vielfältiges Ausstellungsprogramm verantwortlich, in dem die Gegenwartskunst einen gewichtigen Platz einnahm. Einen Teil seiner Gemälde und Plastiken brachte er in eine nach ihm benannte Stiftung ein, die nach seinem Tod im Jahr 1977 in die Obhut des Kunstmuseums Solothurn gelangte.3 Die vorliegende Publikation ist Josefs Schwester Gertrud gewidmet, deren Sammlung im Kunstmuseum Solothurn zu bewundern ist. Der 1981 vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK) in Zürich herausgegebene Katalog 4 legt beredtes Zeugnis ab von der Qualität dieser Gemälde, Plastiken und Skulpturen, die Gertrud im Laufe ihres Lebens zusammengetragen hat. Hinter dieser Sammlung offenbart sich eine in vieler Hinsicht faszinierende Persönlichkeit, von der mir ihre Nichte, Monique Barbier-Mueller, Tochter von Josef Müller und selbst eine international bekannte Sammlerin,5 bisweilen erzählt hat. Im Bann dieser Lektionen in «oral history» habe ich sie jeweils ermuntert, ihre Erinnerungen an ihre Tante schriftlich festzuhalten.

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Im Jahr 2014 übermittelte sie mir einen sehr lebendigen und einfühlsamen Text zum Leben ihrer Tante «Trutti», den sie später noch weiter ausbaute. Er schildert anschaulich die Lebensumstände einer Frau, die bereits in jungen Jahren mit Amiet und Hodler freundschaftlich verkehrte. Kaum volljährig geworden, leistete sie sich den Kauf eines Gemäldes von Vincent van Gogh. Mit ihrem 1911 erworbenen Automobil der Genfer Marke «PicPic», in dem sie selber am Steuer sass, unternahm sie ausgedehnte Reisen. Sie unterstützte Amiet als Sammlerin und Mäzenin. Hodler war seit der ersten Begegnung mit der jungen Frau äusserst angetan von deren Eleganz und Schönheit, die er in nicht weniger als 17 Bildnissen auf die Leinwand zu bannen suchte. Mit grosser Selbstverständlichkeit stand sie Hodler und Amiet Modell und hielt deren Lebensumstände in ihren Fotografien fest. Sie stand auch in engem Kontakt mit dem Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler (1845–1924), war befreundet mit den Malern Hans Berger, Giovanni Giacometti und Ernst Morgenthaler (1887–1962), korrespondierte mit René Auberjonois (1872–1957), Alice Bailly (1872–1938), Max Liebermann (1847– 1935) und Albert Trachsel. Die sehr sportliche Frau war ausserdem eine begnadete Reiterin, kletterte im Hochgebirge und begeisterte sich auch für den Eiskunstlauf. 1921 heirate sie den Advokaten Otto Dübi (1885–1966), den Direktor der familieneigenen Sphinxwerke, mit dem sie eine harmonische Ehe führte und der sie in ihrer Sammelleidenschaft aktiv unterstützte. Bekannt wurde sie auch als Fotografin. Allein schon ihre berühmt gewordenen Porträts von Cuno Amiet und Ferdinand Hodler zeugen von ihrer grossen Begabung und der gestalterischen Qualität ihrer Arbeiten, die in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur konserviert werden. Niemals hat sich Gertrud Müller ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit gedrängt. Als Sammlerin wahrte sie grösste Diskretion. Nur Familienangehörigen und engen Freunden war es ver-

gönnt, in ihr sorgsam gehütetes Reich der Kunst einzutreten. Dagegen war sie aber sehr grosszügig und verständnisvoll, wenn es darum ging, ihre Werke als Leihgaben für Ausstellungen zur Verfügung zu stellen. Vom Wunsch beseelt, den Hauptteil ihrer Sammlung der Allgemeinheit zugänglich zu machen, errichtete sie 1966 zusammen mit ihrem Mann die Dübi-Müller-Stiftung, die insgesamt 190 Werke und Objekte umfasst und nach ihrem Tod 1980 an das Solothurner Kunstmuseum gelangte. Die vorliegende Publikation versucht, die Persönlichkeit von Gertrud Dübi-Müller, ihre Bedeutung als Sammlerin und Mäzenin wie auch ihre vielfältigen Beziehungen zu den Künstlern ihrer Zeit darzustellen und Einblick zu geben in das Leben einer vielseitig begabten, sehr eigenständigen und selbstbewussten Frau, die durch ihr Wirken selbst Teil der Kunstgeschichte geworden ist.

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Hauptwerke der Sammlung Getrud Dübi-Müller DÜBI-MÜLLER-STIFTUNG, KUNSTMUSEUM SOLOTHURN


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Der nachfolgende, alphabetisch nach Künstlernamen geordnete Bildteil vermittelt einen Einblick in die Qualität und Originalität der von Gertrud Dübi-Müller angelegten Sammlung mit bedeutenden Werkgruppen der Schweizer Künstler Cuno Amiet, Hans Berger, Ferdinand Hodler, Ernst Morgenthaler, Albert Trachsel und Félix Vallotton. Die Sammlung ist aber auch international ausgerichtet und enthält wichtige Arbeiten von Georges Braque, Paul Cézanne, Edgar Degas, Vincent van Gogh, Juan Gris, Max Liebermann, Aristide Maillol, Henri Matisse, Pablo Picasso und Georges Rouault.

In der Absicht, grosse Teile der Sammlung öffentlich zugänglich zu machen, errichtete Gertrud Dübi-Müller 1964 zusammen mit ihrem Mann Otto die Dübi-Müller-Stiftung, die insgesamt 190 Werke umfasst und im Kunstmuseum Solothurn beheimatet ist.

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23 Giovanni Giacometti, Auf der Laube (Sul balcone), um 1910, Ă–l auf Leinwand 111Ă— 75 cm.

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24 Vincent van Gogh, Der Irrenwärter von Saint-Rémy, 1889, Öl auf Leinwand, 60 × 46 cm.

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32 Ferdinand Hodler, Entzücktes Weib, 1911, Öl auf Leinwand, 165,5 × 85 cm.

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33 Ferdinand Hodler, Bildnis Gertrud Müller, Ganzfigur, 1911, Öl auf Leinwand, 175 × 132 cm.

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36 Ferdinand Hodler, Selbstbildnis im Malerkittel, 1914, Ă–l auf Leinwand, 45 Ă— 40,5 cm.

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37 Ferdinand Hodler, Das Jungfraumassiv von Mürren aus, 1914, Öl auf Leinwand, 63 × 86,5 cm.

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Ferdinand Hodlers Modell, Muse, Fotografin und Sammlerin Am 27. Juli 1902 darf die Bevölkerung der kleinen Stadt Solothurn ein besonderes Ereignis feiern: die Eröffnung des neuen Kunstmuseums. Es war vor allem dem örtlichen Kunstverein zu verdanken, dass dieses gemessen an der Grösse der Stadt mit ihren etwa 10 000 Einwohnern eindrucksvolle Gebäude errichtet werden konnte. Eine zentrale Rolle bei dieser Museumsgründung spielte der Biberister Industrielle Oscar Miller, dessen Sammlung moderner Schweizer Kunst wegweisend war.49 So war es nur selbstverständlich, dass seine Freunde Cuno Amiet und Ferdinand Hodler, deren Werke prominent in Millers Sammlung vertreten waren, am Anlass teilnahmen. Unter den Gästen befinden sich auch die 14-jährige Gertrud Müller und ihr Bruder Josef. Zum ersten Mal begegnen die beiden Geschwister Ferdinand Hodler. Dieses Zusammentreffen sollte für beide prägend werden. 1909 erhält Gertrud die Gelegenheit, den bewunderten Meister näher kennenzulernen. Sie begleitet ihre Schwester Marguerite zu einem Besuch bei Hodler in seinem Genfer Atelier an der Rue du Rhône 29.50 Wohl war sie ebenso beeindruckt vom grossen Künstler wie ihr Bruder Josef, der nach einem Besuch bei Hodler am 25. April desselben Jahres erstaunt festhielt: «Man spürte gleich, dass in diesem letzten Atelier Hodlers der Geist eines Riesen herrschte.» 51 1909 sollte für die Geschwister ein entscheidendes Jahr beim Aufbau ihrer HodlerSammlungen werden. Marguerite kauft das Werk Femme joyeuse, die kaum volljährige Gertrud erwirbt zwei Werke des Künstlers, nämlich die Landschaft Steigende Nebel am Wetterhorn (1908)52 29 und Sitzende junge Frau im Garten (1909)53. Ihr Bruder Josef, der damals an der ETH in Zürich studiert, entdeckt anlässlich der Hodler-Ausstellung im Zürcher Künstlerhaus die bedeutende Landschaft Eiger, Mönch und Jungfrau im Mondschein 54 sowie das grossformatige Hauptwerk Die Liebe 55 93, mit denen er seine Sammlung fulminant begründet. Gertrud soll ihn zum Kauf des skandalumwitterten Gemäldes ermuntert haben. Getruds Besuch bei Hodler ist folgenreich und steht am Anfang einer innigen Beziehung. Der alternde Hodler ist sehr angetan von der Schönheit der jungen Frau aus Solothurn, aber auch von ihrem genuinen Interesse an Kunst und nicht zuletzt von ihrem exquisiten Kleidergeschmack. Er beginnt mit ihr zu korrespondieren und schlägt ihr schliesslich vor, sie zu porträtieren. Im Jahre 1911 reist Gertrud mit einer Auswahl von Kleidern und ihrem Fotoapparat im Gepäck nach Genf. Zu ihrem eigenen Erstaunen wählt Hodler eine grossformatige Leinwand und porträtiert sie als Ganzfigur. Das

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63 Ferdinand Hodler vor dem Bildnis Gertrud M端ller, Ganzfigur. Gertrud D端bi-M端ller, 1911.

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67 Gertrud M端ller beim Handharmonikaspiel f端r den ruhenden Hodler. Gertrud D端bi-M端ller (Umkreis), um 1915.

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68 Ferdinand Hodler als Trommler vor der T端r seines Ateliers, im Hintergrund Laetitia Raviola. Gertrud D端bi-M端ller, 1917.

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69 Ferdinand Hodler beim Schneeschaufeln in seinem Ateliergarten. Gertrud D端bi-M端ller, Dezember 1917.

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70 Ferdinand Hodler malt im Ateliergarten am Bildnis Emma Schmidt-M端ller. Gertrud D端bi-M端ller, 1915.

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«Ich konnte ihm doch nicht gestehen, dass ich noch einen Monat warten musste, bis ich mündig war und über mein Vermögen frei verfügen konnte!»


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84 Die Geschwister Gertrud, Josef und Marguerite Müller.

A ma tante KINDHEIT UND JUGEND

85 Die Schanzmühle in Solothurn.

Gertrud war die jüngste der drei Schwestern meines Vaters, er war ein Jahr älter als sie. Die Mutter starb bei ihrer Geburt, sieben Jahre später starb auch der Vater. Die Waisen 84 kamen in die Obhut eines ledigen Onkels, der sich wohl nicht übermässig um sie sorgte. Nur das Kindermädchen Rösli gab ihnen die Liebe, die ihnen fehlte. Als die älteste Schwester, Emma, als perfekte englische «Miss» aus London nach Solothurn zurückkehrte, war sie entsetzt über das etwas vernachlässigte Aussehen ihres kleinen Bruders und ihrer Schwestern Marguerite und Gertrud. Das war durchaus nicht tragisch, und die Kinder waren sicher glücklich. Aber sie ähnelten wohl eher kleinen Wilden als englischen Modestichen. Emma verkündete, die Kinder bräuchten eine anständige Bildung. Sie engagierte eine deutsche Gouvernante, Frau Müller (ohne Verbindung zu unserer Familie), geborene Vetter, die sie über eine Anzeige gefunden hatte. Die Dame war Witwe. Sie interessierte sich nicht für die Kinder und versuchte auch nicht, ihre Zuneigung zu gewinnen. Glücklicherweise blieb das Kindermädchen Rösli im Haus und sorgte für sie. Emmas Rückkehr brachte auch andere Veränderungen. Fortan ersetzte ein Service aus Wedgwood-Steingut mit einem albernen Streumuster aus gelben Blümchen das gewöhnliche Geschirr. Auch moderne Möbel kamen ins Haus, und im Esszimmer musste der schöne alte Kachelofen (dem mein Vater noch Jahrzehnte später nachtrauerte) einem moderneren Modell Platz machen. Zufrieden kehrte Emma nach Zürich zurück, wo sie den deutschen Ingenieur Jakob Oskar Schmidt heiratete. Sie bekam zuerst eine Tochter (Erika oder Erica, die später den Architekten Ralph Peters heiratete), dann einen Sohn, Rudolf. Er wurde später mein Patenonkel und war ein eklektischer, aber sachkundiger Antiquitätensammler. 197 Selbst ich spürte noch etwas vom Einfluss dieser kleinen Modernisierung auf das Leben in unserem Familienhaus, der Schanzmühle. 85 Mehr als vierzig Jahre trennten mich von meinem Vater, doch obwohl er mir nur wenige Erinnerungen anvertraut hat, habe ich ein deutliches Bild vom Alltag der Waisenkinder. Es war ein recht strenges Leben, wenn man zum Beispiel danach urteilt, wie sie Weihnachten feierten. Abgesehen von den Hausangestellten schien sich niemand um sie zu kümmern. Emma und Marguerite feierten nur mit ihrer engsten Familie. Weihnachten unterschied sich für die Heranwachsenden von gewöhnlichen Tagen des Jahres nur dadurch, dass es Schokolade gab.

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86 Die Geschwister Gertrud und Josef Müller,

1907.

Die Gouvernante hatte vielleicht gute Absichten, gab aber selbst zu, dass sie Kinder nicht besonders mochte. Ihr Vertrauen konnte sie nicht gewinnen, und die Kinder waren nicht bereit, sie zu duzen. Wenn sie mit ihr sprachen, benutzten sie immer die mundartliche Form «Ihr», die dem Siezen entspricht. Mein Vater erinnerte sich mit Groll daran, dass seine Schwestern und er nicht ganz normal mit anderen Kindern spielen durften. Es kam auch nicht infrage, dass er mit Freunden angeln ging, und noch schlimmer: Nie durfte er bei der Sonntagsmesse ministrieren! Und wie sehr hasste er seinen Matrosenanzug, der ihn von den Klassenkameraden unterschied und ihm so lächerlich vorkam! Marguerite heiratete mit nur neunzehn Jahren Walter Kottmann, den Arzt der Familie. Nun hofften die beiden Jüngsten, sie würde als erste Massnahme nach ihrer Mündigkeit die ungeliebte Gouvernante entlassen, doch sie überliess Josef und Gertrud ihrem Schicksal. Später reiste Gertrud zu Sprachaufenthalten nach Genf und London. Mein Vater blieb allein mit der Gouvernante, eine traurige Zeit für ihn, wie seine Schwester später erzählte. Als sie endlich mündig waren, hatte sich der Gesundheitszustand des alten Onkels, der mit ihnen in der Schanzmühle lebte, sehr verschlechtert. Er brauchte eine bessere Pflege, als die Gouvernante ihm geben wollte. Schliesslich übernahm Gertrud ihre Entlassung, ein harter Schlag für sie, die erstaunlicherweise damit gerechnet hatte, einen sicheren Platz für ihre alten Tage zu haben. Der Grund für die tiefe Abneigung der Müller-Kinder für «Frau Professor» war die Strenge, mit der sie die ihr anvertrauten Kinder, sei es aus Gleichgültigkeit oder aus Ungeschicklichkeit, tief verletzte. Allerdings hatte sie offenbar einen interessanten Freundeskreis. Als Gertrud später den Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler 87 kennenlernte, wunderte sich dessen Gattin sehr, dass die «bösen» Kinder aus Solothurn, von denen sie so viel Schlechtes gehört hatte, dieselben jungen Müllers waren, die sie nun endlich persönlich traf. Meine Tante Gertrud, die von den Geschwistern Trutti genannt wurde, hatte kaum Erinnerungen an ihre jungen Jahre. Sie war auch nicht der Typ, der über die Vergangenheit geklagt hätte. Ich fand sie pragmatischer als ihren Bruder, der sein Leben lang eine Mutter idealisierte, die er kaum gekannt hatte.

87 Carl Spitteler, seine Tochter Meitje und Gertrud Müller im Auto. Gertrud Dübi-Müller (Umkreis), um 1917.

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Italien verzauberte die Geschwister, aber ganz Europa bot sich ihrer Neugier und ihrem Durst nach Bewunderung dar, der jeder Neuheit offen stand. Grenzen? Praktisch aufgehoben. Und dann kam das Auto, das ideale Instrument, um dem Ruf der Strasse, der Leidenschaft des Reisens zu folgen! Wie brachte eine ledige junge Frau die Kühnheit auf, sich ein Auto zu kaufen? War Gertrud von den begeisterten Gesprächen der Studienfreunde ihres Bruders beeinflusst? Und warum hat nicht er sich als Erster ein Fahrzeug gekauft? Weil er sich auf einen längeren Amerikaaufenthalt vorbereitete? Noch eine Frage, die offen bleibt. Auf alle Fälle fuhr die dreiundzwanzigjährige Gertrud 1911 tapfer allein nach Genf zu Piccard-Pictet, wo der berühmte «Pic-Pic» hergestellt wurde, um ihr Auto zu bestellen. Zu jener Zeit war der Kunde König: Alles war Massanfertigung, jeder Wunsch oder besondere Geschmack des künftigen Besitzers wurde berücksichtigt. Höhe und Neigung des Lenkrads waren der Grösse des Fahrers angepasst. Sollten sich die Türen des Fahrzeugs nach vorne oder nach hinten öffnen? Was war die beste Einstellung für die Scheinwerfer? Alles wurde bis ins Kleinste geprüft und getestet, die Auswahl beschränkte sich nicht wie heute auf ein halbes Dutzend Farben für die Karosserie.

94 Gertrud Müller in ihrem Automobil der Marke «Pic-Pic». Gertrud Dübi-Müller (Umkreis), um 1911.

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Vor allem aber musste man fahren lernen: die Kurbel zum Anlassen des widerspenstigen Motors drehen, ohne einen gefährlichen Rückschlag zu riskieren, der das Handgelenk verletzen würde, wissen, wie man die Karbidlampe anzündet, und viele andere heute unvorstellbare Komplikationen. Nach einer gründlichen Ausbildung in diesem männlichen Universum war meine Tante die erste Frau in Solothurn, die ein Auto fuhr! 94 Dies wurde nicht immer gerne gesehen! Meine Tante erinnerte sich an die Staubwolken, die ihr «Pic-Pic» auf den noch nicht asphaltierten Strassen aufwirbelte. Die armen Fussgänger wurden beinahe erstickt und erholten sich nur langsam, aber die kühne Fahrerin setzte auf die nächste Generation und hatte immer eine Tüte mit Bonbons dabei, um sie grosszügig an die Kinder zu verteilen. HODLERS PORTRÄTS VON GERTRUD MÜLLER

Neben ihren zahlreichen Unternehmungen fand meine Tante immer noch Zeit, um in Genf für Hodler Modell zu sitzen. Sie kannte die Stadt ganz gut, denn sie war dort in einem Pensionat gewesen, um Französisch zu lernen. Mich interessierten vor allem diese Sitzungen. Die erste begann schlecht. Nach dem Fahrunterricht in der Fabrik kam Gertrud mit einer Stunde Verspätung, Hodler war ausser sich. Das sollte sich nicht wiederholen. Meine Tante erinnerte sich sehr gut an ihre Überraschung, als er aus dem Stapel ein mittelgrosses Leinwand-Chassis herausholte, kurz ansah und wieder wegstellte. Dann holte er ein anderes hervor, weitere folgten, ohne dass meine Tante, die mit Angst sah, wie die Chassis immer grösser wurden, sich Gehör verschaffen konnte, indem sie schüchtern zu erklären versuchte, dass sie eher

95 Cuno Amiet, Der grüne Hut, 1897/98, Öl auf Leinwand, 61× 50 cm,

6 Cuno Amiet, Der violette Hut (Bildnis Gertrud Müller), 1907.

Kunstmuseum Solothurn.

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105 Fabrik der Sphinxwerke in Saint-Louis, Frankreich.

Seit 1911, als meine Tante in Genf für Hodler Modell stand, 33 reisst die Liste der gekauften Gemälde und Porträts des grossen Künstlers bis zu seinem Tod nicht mehr ab. Auch später nutzte sie jede Gelegenheit, um das Ensemble der Werke des befreundeten Malers zu ergänzen. Hodler verdankten mein Vater und seine Schwester die Entdeckung der Arbeiten von Hans Berger bei seiner Ausstellung 1911 im Musée Rath in Genf. Die Gemälde, die beide dort kauften, waren die ersten einer langen Reihe. 17–20 Man kann sagen, dass Gertruds Kauflust bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs nicht nachliess. In späteren Jahren sind einige grössere Käufe eindeutig als Gemeinschaftserwerb des Ehepaares Dübi-Müller gekennzeichnet. Mein Onkel hat seine Rolle als aufgeklärter Amateur immer anständig ausgefüllt, wollte sich aber täglich auf einer ausgiebigen Wanderung von den Arbeitsstunden im Büro erholen und hatte wenig Lust, den Rest des Nachmittags in einem Verkaufssalon zu verbringen. Meine Tante hingegen war dafür immer zu haben. Bei Versteigerungen liess sie sich auch von Möbeln, Antiquitäten oder altem Schmuck verführen. Ihr Neffe Rudi Schmidt begleitete sie gern bei solchen Ausflügen, entweder diente er ihr in seinem Lancia Cabriolet als Chauffeur, 103 oder sie nahmen beide den Zug. Bern, Luzern, Zürich und Genf waren die bevorzugten Ziele, aber nach Kriegsende fuhren sie auch bis Paris, London oder wieder einmal München.

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Trotz ihrer finanziellen Unabhängigkeit hat sich meine Tante nach der Heirat offenbar in ihren Käufen gebremst. Ich sehe darin den Einfluss ihres Gatten. Habe ich recht? Später, als ich erwachsen war, kam es jedenfalls vor, dass sie mir in dem Gefühl, etwas zu weit gegangen zu sein, indem sie unüberlegt einen Kunstgegenstand gekauft hatte, lachend sagte: «Erzähl es nicht deinem Onkel! Ich zeige es ihm später!» Es klang wie ein Scherz, aber diese Taktik kannten wir alle: Man muss den geeigneten Zeitpunkt finden, um einen spontanen Kauf zu offenbaren. So spart man sich mögliche Vorwürfe, die noch stärker treffen, wenn man sie sich selbst macht. EIN BESUCH BEI MEINER TANTE

Besuchen Sie mit mir das Haus meiner Tante. Man betrat das Grundstück Dübi-Müller von der Fegetzallee, wenn man von der Landstrasse zwischen Biel und Basel abbog und durch die Felder zur Kantonsschule fuhr. Der auf drei Seiten von Gebäuden begrenzte Hof stand allen offen. Rechts lagen die Garage und vor allem der Pferdestall meines Onkels. Das Wohnhaus betrat man über das linke Gebäude. Gusseiserne Töpfe auf dem Boden, aus denen Blumen quollen, markierten die Eingangstür aus weiss lackierten Holzlatten. Sie war oben mit einer kleinen Fensteröffnung versehen, davor ein schmiedeeisernes Gitter, wie es damals in der Schweiz üblich war. Da ich aus Paris kam, schien mir alles unendlich reizvoll. Nicht besonders originell, meinen Sie? Das stimmte, aber sehr angenehm und anspruchslos, einladend und beruhigend. Wenn nur zwei oder drei Gäste da waren, empfing Trutti sie im kleinen Salon 77 gleich gegenüber der Eingangstür, wo sie sich meistens aufhielt. Dieser kleine Salon zeigte auf begrenztem Raum eine bemerkenswerte Auswahl bedeutender Gemälde. Van Goghs berühmtes Porträt des Irrenwärters von Saint-Rémy 24 zog durch die finstere und konzentrierte Miene sogleich die Aufmerksamkeit auf sich. Es hing dem Sessel gegenüber, in dem meine Tante sass und las, telefonierte oder stickte. Das ausgesprochen strenge, ungewöhnlich eindringliche Bild entfaltete seine ganze Wirkung und überraschte in diesem intimen, warmherzigen Rahmen. An derselben Wand hing Cézannes Stillleben Drei Totenköpfe auf einem Orientteppich, das ich bei jedem Besuch bewunderte. 21 Es ist sicher das schönste dieser Serie von Stillleben, das der Maler geschaffen hat. Dieses Gemälde hat nichts Morbides an sich, sondern strahlt kraftvolle Ruhe und Gleichgewicht aus. Gertrud hatte es 1912 bei Ambroise Vollard gekauft. Es folgten ein kleines Werk von Picasso, 51 ein kubistisch angehauchter Braque und schliesslich ein ziemlich grosser, etwas zu konventioneller Fliederstrauss von Edouard Vuillard (1868 –1940), der nicht die gleiche Kraft wie die anderen Bilder hatte. Wohl aus diesem Grund hat meine Tante es nicht mit den anderen Werken dem Museum vererbt. Ich wusste nicht, warum sie es erworben hatte, es wunderte mich zwar, interessierte mich aber nicht genug, um danach zu fragen. Aus kürzlich entdeckten Dokumenten habe ich erfahren, dass der Kauf erst 1945 bei der Galerie Rosengart in Luzern erfolgte: Das Ehepaar Dübi-Müller tauschte eine mittelgrosse Alpenlandschaft von Hodler gegen das Bild von Vuillard und zahlte noch einiges dazu. Eine erstaunliche Entscheidung. Von ihrem bequemen Louis-XV-Sessel neben einem kleinen Kanapee hatte Trutti den Hauseingang im Blick und konnte zugleich fast alle Bilder im Salon sehen. Vom kleinen Salon meiner Tante trat man in das nicht besonders grosse rechteckige Esszimmer. 107 Über dem Büffet links vom Eingang hing ein Ausschnitt aus einem Fresko von Hans Berger für das Genfer Kantonsspital. Daneben ein sehr grosses Gemälde der Badenden, ebenfalls von Berger.

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106 Zimmer im Obergeschoss der Villa D端bi-M端ller in Solothurn. Doris Quarella.

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107 Das Esszimmer der Villa Dübi-Müller. Doris Quarella.

108 Der grosse Salon der Villa Dübi-Müller. Doris Quarella.

Rechts wurden zwei wunderbare Stillleben von Félix Vallotton 56 von einem stilvollen Spiegel verdoppelt, der zwischen ihnen hing, danach kam eine grosse Fensterfront, die den Blick in den Garten freigab. Man hatte das Gefühl, im Freien zu sitzen. Bunte Blumenrabatten säumten den Rasen. An der grossen Wand gegenüber dem Garten, hinter dem grossen Tisch, rahmten Landschaften von Berger ein riesiges Bild von ihm ein, das einen pflügenden Bauern 18 darstellt. Es hängt heute im Kunstmuseum Solothurn. Das Ensemble war sehr beeindruckend. Kehren wir zur Eingangstür zurück und wenden uns auf der anderen Seite dem grossen Salon zu, der genug Platz für viele Gästen bot. 108 In dem riesigen quadratischen Raum, dessen linke Wand fast vollständig verglast war, entdeckte man zunächst eine grosse Version von Hodlers Gemälde Heilige Stunde, 28 das Harmonie und Klarheit ausstrahlte. Die Haltung, die der Maler seinen Modellen vorgab, überrascht zunächst. Sie sitzen in einer etwas künstlichen, starren Position. Ihre eigenartig gebeugten Arme und Beine, die langen Hälse und die geschmeidig geneigten Körper beschwören einen Tanz, die Harmonie des Ensembles lässt uns seinen Rhythmus ahnen. Mit den Jahren ist mir die Absicht des Malers zugänglicher geworden. Da, wo ich nur eine gekünstelte Stellung wahrzunehmen meinte, spüre ich jetzt Vertrautheit, ein tiefes Verständnis. Das ist der Ausdruck einer Epoche auf der Suche nach einer moderneren, erneuerten Sprache, der Jugendstil, der uns bis heute immer wieder überrascht. Ging man an diesem Gemälde vorbei, schaute man durch grosse Fenster in den Garten, an den sich grosse Landwirtschaftsflächen anschlossen. Das Licht strömte wunderbar in den Raum und fiel auf die letzten beiden Wände. An einer stand ein Kamin, ihm gegenüber lud ein Kanapee zwischen zwei Sesseln die Besucher ein, sich niederzulassen, um in Ruhe eine hinreissende Parade Hodler’scher Seen- und Alpenlandschaften zu betrachten. Die Ausstellung endete an der letzten Wand mit dem grossen Ganzfigurporträt meiner wunderschönen Tante in ihrem rosa Kleid. 33 Die Nachbarschaft verschiedener Bilder vom Genfersee forderte zum Vergleich ihrer Vorzüge heraus. Die Geschwister konnten der Versuchung oft nicht widerstehen und breiteten vor diesen Bildern Erinnerungen aus, über die sie lebhaft diskutierten, indem sie ein Bild, das vor ihnen hing, analysierten, um sich ein anderes, nicht an der Wand,

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Bildnachweis

Viola Radlach (Hrsg.), Giovanni Giacometti. Briefwechsel mit seinen Eltern, Freunden und Sammlern, Zürich 2003. Katharina Schmidt (Hrsg.), Ferdinand Hodler: eine symbolistische Vision, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern, Szépmüvészeti Múzeum Budapest 2008, Ostfildern 2008. Toni Stooss, Therese Bhattacharya-Stettler (Hrsg.), Cuno Amiet, Von Pont-Aven zur «Brücke», Ausst-Kat. Kunstmuseum Bern 1999, Mailand 1999. Peter Vignau-Wilberg, Museum der Stadt Solothurn. Gemälde und Skulpturen, Solothurn 1973. Christoph Vitali, Hubertus Gassner (Hrsg.), Kunst über Grenzen. Die Klassische Moderne von Cézanne bis Tinguely und die Weltkunst – aus der Schweiz gesehen, Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München 1999, München/London/ New York 1999. Christoph Vögele et al., Kunstmuseum Solothurn (= Museen der Schweiz, hrsg. von der Banque Paribas [Suisse] S. A. Genève in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft), Zürich 2004. Christoph Vögele, Ortrud Westheider (Hrsg.), Ferdinand Hodler und Cuno Amiet: eine Künstlerfreundschaft zwischen Jugendstil und Moderne, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Solothurn 2011/12, Bucerius-Kunst-Forum, Hamburg 2012, München 2011. André Wiese (Hrsg.), Ägypten, Orient und die Schweizer Moderne: die Sammlung Rudolf Schmidt (1900 – 1970), Ausst.-Kat. Antikenmuseum Basel, Basel 2011.

Archiv Monique Barbier-Mueller: Abb. 59, 74, 77, 84, 85, 86, 88, 92, 96, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112 Archiv Edwin Peters: Abb. 101, 102 Archiv Margrit Powell-Kottmann: Abb. 90, 103 Fotostiftung Schweiz, Winterthur: Abb. 57, 58, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 75, 76, 78, 82, 83, 87, 91, 94, 97, 98, 99, 100, 113, 114 Kunstmuseum Solothurn: Abb. 1, 5, 6, 7, 9, 17, 19, 21, 24, 25, 29, 33, 35, 42, 45, 46, 54, 81 (Foto: Erwin Aktasli), 95, 104 Neue Galerie New York: Abb. 115 Privatsammlung: Abb. 64, 73, 80, 93, 116, 117 SIK-ISEA, Zürich: Abb. 2, 3, 14, 15, 16, 18, 20, 22, 23, 26, 27, 28, 30, 31, 32, 34, 36, 37, 39, 40, 41, 44, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 55, 56, 79, 118 SIK-ISEA, Zürich (Philipp Hitz): 4, 8, 10, 11, 12, 13, 38, 43, 89 Die Autoren und der Verlag haben sich bemüht, die Urheberrechte der Abbildungen ausfindig zu machen. In Fällen, in denen ein exakter Nachweis nicht möglich war, bittet der Verlag die Inhaber der Copyrights um Nachricht.

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«Der alte Maler hatte seinen Tod kommen sehen und seine Freundin Gertrud angerufen, um ihr zu sagen, sie solle nicht warten, bald wäre er nicht mehr da.»

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Cäsar Menz Dr. phil., studierte Kunstgeschichte in Basel und arbeitete am Kunstmuseum Bern und im Bundesamt für Kultur. 1994 – 2009 wirkte er als Direktor der Musées d’art et d’histoire in Genf, deren Honorardirektor er heute ist. Seit 2011 ist er im Steuerungskomitee der Fondation Pierre Arnaud in Lens/ Crans-Montana.

Monique Barbier-Mueller · Cäsar Menz

Monique Barbier-Mueller Tochter des Solothurner Sammlers Josef Müller, ist diplomierte Übersetzerin und selbst eine international bekannte Sammlerin. Mit ihrem Mann Jean Paul Barbier-Mueller gründete sie in Genf das Musée BarbierMueller, das international beachtete Ausstellungen organisiert.

Gertrud Dübi-Müller – Sammlerin, Fotografin, Mäzenin

Ein faszinierender Einblick in das sorgsam gehütete Reich von Gertrud Dübi-Müller (1888 – 1980), Fotografin, Sammlerin, Freundin und Förderin von Künstlern der Moderne, wie Ferdinand Hodler, Cuno Amiet, Hans Berger oder Giovanni Giacometti.

ISBN 978-3-03810-139-0

9 783038 101390

www.nzz-libro.ch

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Monique Barbier-Mueller · Cäsar Menz

Gertrud Dübi-Müller

Sammlerin, Fotografin, Mäzenin

VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Gertrud Dübi-Müller (1888 – 1980) gehörte zu den wichtigsten Kunstsammlerinnen der Schweiz im 20. Jahrhundert. Verwaist und auf sich selbst gestellt, entwickelte die Solothurnerin zusammen mit ihrem Bruder Josef (1887 –1977) eine originelle Sammeltätigkeit. Kaum volljährig, leistete sie sich den Kauf eines Gemäldes von Vincent van Gogh. Zu ihren Freunden gehörten Cuno Amiet und Giovanni Giacometti. Besonders eng fühlte sie sich Ferdinand Hodler verbunden, der ihre jugendliche Schönheit in 17 Bildnissen festhielt. Früh erkannte sie das Talent der Schweizer Künstler Hans Berger, Albert Trachsel und Ernst Morgenthaler. Ihre Sammlung enthält aber u. a. auch Werke von Matisse, Degas, Cézanne, Braque, Picasso, Liebermann. Die von ihrer Nichte Monique Barbier-Mueller und dem Kunsthistoriker Cäsar Menz verfasste Publikation erlaubt einen Einblick in das sorgsam gehütete Reich einer faszinierenden Persönlichkeit, die als Sammlerin, Fotografin und Mäzenin in die Kunstgeschichte eingegangen ist.


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