Silvio Borner
Ungesunder Menschenverstand Einsichten eines liberalen Ökonomen
VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
Silvio Borner
Ungesunder Menschenverstand Einsichten eines liberalen Ă–konomen
Verlag Neue ZĂźrcher Zeitung
Inhalt Ökonomisch falsch, aber politisch richtig? 7 Einleitung von Silvio Borner
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Banken- und Finanzkrise 15 Kommentar von Beatrice Weder di Mauro
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2. Konjunktur und Wachstum 51 Kommentar von Reto Föllmi 81
© 2011 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
Umschlag: Beate Becker Gestaltung & Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-681-8
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3. Landwirtschaft, Umwelt und Energie 85 Kommentar von Urs Meister 127 4. Umverteilung und Sozialpolitik 131 Kommentar von Monika Bütler 157 5. Markt, Moral und Staat 161 Kommentar von Hans Rentsch 196 6. Über den Tellerrand hinaus 199 Kommentar von Charles B. Blankart 228 Und die Moral von der Geschicht: Was ökonomisch falsch ist, kann nicht politisch richtig sein! 231 Nachwort von Thomas Straubhaar Die Autorinnen und Autoren 238
Ökonomisch falsch, aber politisch richtig? Einleitung von Silvio Borner
Nach mehr als drei Jahrzehnten Lehre, Forschung und Publikation in Politischer Ökonomie beschäftigt mich dieser Gegensatz zwischen Ökonomik und Politik immer mehr. Oder eher – er fasziniert und irritiert mich immer mehr. Wer wie ich über Jahrzehnte hinweg öffentliche Vorträge gehalten, engagierte Zeitungsartikel geschrieben oder meinungsbildende Kolumnen verfasst hat, bekommt immer wieder Folgendes zu hören oder zu lesen: «Rein ökonomisch betrachtet mögen Sie ja recht haben, aber politisch liegen Sie trotzdem falsch.» Kann das sein? In gewisser Weise natürlich schon. Denn «ökonomisch richtig» meint in erster Linie «effizient» im Sinne des optimalen Einsatzes knapper Ressourcen. Dass in der Politik im Rahmen von kollektiven Entscheidungen noch andere Ziele wie Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder gesellschaftliche Partizipation demokratisch übergeordnet sind, leuchtet vielleicht einem Ökonomisten nicht ein, einem liberalen Ökonomen aber schon und einem Politischen Ökonomen erst recht. Denn kollektive Entscheidungen sind ein integraler Bestandteil einer liberalen Demokratie. Trotzdem muss man leider immer wieder konstatieren, dass die wirtschaftliche Dimension entweder gar nicht ausgeleuchtet oder als nebensächlich ausgeblendet wird. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass im Gegensatz zu ökonomischer Effizienz Begriffe wie Gerechtigkeit, Fairness, Nachhaltigkeit oder Partizipation sehr verschieden interpretiert werden können. Für einen Liberalen ist Fairness dann gege7
ben, wenn jeder Einzelne in Freiheit arbeitet oder investiert und die Früchte seiner Anstrengungen im Wesentlichen behalten darf. Für einen Sozialisten ist Gerechtigkeit erst dann erreicht, wenn Gleichheit herrscht, das heisst, wenn alle gleich viel beziehungsweise wenig haben. Die Adjektive wie «sozial» bei Gerechtigkeit, «ökologisch» bei Nachhaltigkeit oder «politisch» bei der Partizipation potenzieren die Vieldeutigkeit nochmals. Trotzdem: Selbst wenn man sozial umverteilen, das Klima schützen, die Demokratie ausbauen will, dann sollte man dies effizient an die Hand nehmen, das heisst so wenig Ressourcen wie möglich verschwenden. Hier liegt der Hund begraben. Das Ziel rechtfertigt nie alle Mittel. Ethisch verwerfliche Mittel schon gar nicht, aber ineffiziente Massnahmen sind eben auch unethisch und so gesehen verwerflich, weil sie knappe Ressourcen in falsche Bahnen lenken und so besseren Verwendungen entziehen. Verschwendung von zwangsweise eingetriebenen öffentlichen Mitteln ist so gesehen unmoralisch. Im Extremfall können offensichtlich ineffiziente Lösungsansätze sogar die anvisierten und allgemein akzeptierten Ziele diskreditieren, was sich zum Beispiel in der Klimapolitik bereits abzuzeichnen beginnt. Werden nämlich selbst die ineffizientesten Ansätze zur Reduktion von CO2 als positiver Beitrag zum Klimaschutz gewertet, steht zu befürchten, dass die Ernüchterung über die Unwirksamkeit der eingesetzten Instrumente mit der Zeit das anvisierte Ziel selbst infrage stellt. Wir leisten uns momentan den Luxus, CO2 mit Methoden zu vermeiden, die volkswirtschaftliche Kosten von Hunderten, ja Tausenden von Franken pro Tonne verursachen. Das noch tiefer liegende Problem bei demokratischen Kollektiventscheidungen wurzelt im sogenannten Arrow-Paradox, das vereinfacht besagt, dass es keinen demokratischen Abstimmungsmechanismus gibt, der die Bedingungen sowohl der Konsistenz wie auch der Fairness in jedem Fall erfüllt. Jedes Abstimmungsverfahren bleibt so grundsätzlich willkürlich. Hart formuliert, könnte man auch sagen: Einen eindeutigen und demokratisch bestimmten «Volkswillen» gibt es nicht. Damit müssen wir – und können es auch – leben, wenn 8
wir uns der Begrenztheit jedes kollektiven Entscheidungsverfahrens bewusst bleiben und die unverzichtbaren individuellen Freiheiten auch vor der Mehrheit schützen. Die härtesten Brocken sind für den liberalen Politischen Ökonomen einerseits die Dogmatiker oder Ideologen und anderseits die Lobbyisten oder Interessenvertreter. Beide Gruppen propagieren Massnahmen, die entweder ihrem vorgefassten Glauben entsprechen oder ihren spezifischen Klientelen nützen, obwohl sie volkswirtschaftlich schädlich sind. Besonders gefährlich wird es für uns Bürger und Steuerzahler immer dann, wenn Ideologien und Interessen zusammenspannen wie zum Beispiel im Klimaschutz, der Energiepolitik oder der Finanzmarktregulierung. Gemeinsam ist beiden Gruppen, dass sie im Prinzip wissen (müssten), wie Märkte funktionieren und wie Politikversagen entsteht. Aber das schert sie wenig bis gar nicht, denn sie wissen genau, was sie (für sich selber Gutes) tun. Die Bauernvertreter haben längst gelernt, dass staatlich garantierte Mindestpreise ineffizient sind und zu Milchseen oder Butterbergen führen. Aber wenn es einfacher ist, auf politischem Wege zu Geld zu kommen als über wirtschaftliche Leistungen im Wettbewerb, dann ist ihnen die volkswirtschaftliche Verschwendung egal. «Faire» Preise heissen deshalb so, weil die Kassen der Produzenten gefüllt werden. Die Überschussverwertung ist dann Sache des Bundes. Analoges gilt für auf Jahrzehnte hinaus gesicherte hohe Einspeisevergütungen bei alternativer Stromproduktion oder für überdimensionierte Regulierungen – von obligatorischen Hundekursen bis zum Glühlampenverbot. Es profitiert immer jemand, egal wie ineffizient und auch Freiheit beschränkend eine Massnahme ist. Diesen Kreisen muss oder kann man nicht viel erklären. Vielmehr muss man die Opfer – Steuerzahler und Konsumenten – aufklären, damit sie den Lobbyisten und Ideologen nicht mehr so leicht auf den Leim kriechen. Ideologen sind wie alle religiösen Fanatiker immun gegen Tatsachen und Theorien, die den Rahmen des Glaubenssystems sprengen. Gegen irrationale Tendenzen kämpfen nicht nur Ökonomen,
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sondern auch Naturwissenschaftler vielfach vergebens. Fast die Hälfte der modernen Menschheit glaubt an die «Schöpfung», Homöopathie oder Astrologie. Besonders gefährlich für die Politik sind Moralisten und Ethiker, die sofort alles verurteilen und verdammen, dann verbieten oder bestrafen und schliesslich formal verrechtlichen wollen, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste in Form von Freiheitsbeschränkungen und Wohlfahrtsverlusten. Gestern traf es die Raucher, heute die Manager, morgen die Dicken und fast immer die Autofahrer. Aber kommen wir zum Ausgangspunkt zurück: Die Euro-Finanzkrise ist ein gutes (bzw. schlechtes) Beispiel für den Primat des Politischen über das Ökonomische. In der ökonomischen Theorie gibt es viele Bereiche, über die relativ grosse Einigkeit herrscht. Dazu zählt sicher das Freihandelstheorem oder die Theorie optimaler Währungsräume. Aber genau diese beiden werden politisch immer wieder im grossen Stil verletzt – mit schwerwiegenden Konsequenzen. Im Falle des Euro wurde bewusst der Karren vor das Pferd gespannt. Die EU hatte wohl einen freien Wirtschaftsraum im Sinne eines Binnenmarktes geschaffen, aber in zentralen Politikbereichen wie Verteidigung, Aussenpolitik oder Fiskalpolitik das Ende der Fahnenstange erreicht. Also dachte man sich einen Zaubertrick aus: nämlich via eine gemeinsame Währung die Vereinigten Staaten von Europa anzusteuern. Der sonst von mir so geschätzte Altbundeskanzler Schmidt sagte damals sinngemäss, es gehe nicht um kleinkrämerische Ökonomik, sondern um die grosse Politik. Historisch und theoretisch ist dies falsch. Denn eine Einheitswährung setzt einen Wirtschaftsraum voraus, der durch hohe Faktormobilität in den Märkten und einen hoheitlichen Finanzausgleich im Staat charakterisiert wird. Beides war in der EU klar nicht gegeben und auf absehbare Zeiten nicht zu erwarten. Zehn Jahre später haben die bösen Ökonomen Recht bekommen, aber die angeblich idealistischen oder wohl eher opportunistischen Politiker machen auf dem falschen Weg erst recht weiter. Anders war wohl der Vorgang beim Fall der DDR . Auch hier war klar, dass die 10
Umwandlung von einer Ostmark in eine D-Mark ökonomisch nicht richtig sein konnte. Doch der politische Druck und vor allem die historischen Opfer der Ostdeutschen wogen schwerer. Und zudem entstand ein neuer Staat, der Ost und West politisch zusammenführte. Mochte auch die Faktormobilität nur langsam zunehmen, so wirkte der staatliche Finanzausgleich vom ersten Tag an massiv. Also war es hier ökonomisch, sagen wir mal, höchstens «halb falsch», aber politisch mehr als «halb richtig». Statt eines privaten Investitionsflusses von West nach Ost erleben wir leider einen Migrationsstrom von Ost nach West, was wiederum den staatlichen Finanztransfer in die andere Richtung ankurbelt. Einer der grössten Unterschiede zwischen Ökonomen und (selbst gebildeten) Nichtökonomen ergibt sich aus unterschiedlichen Annahmen über das menschliche Verhalten zum einen und die Funktionsweise von Märkten zum anderen. Der Ökonom hat eine ganz spezifische Perspektive, an die er sich durch sein Studium erst gewöhnen muss. Man darf sich deshalb nicht wundern, wenn Nichtökonomen einen anderen Blickwinkel haben. Eine Kathedrale zum Beispiel sieht ein Architekt anders als ein Politologe, ein Ingenieur anders als ein Theologe oder ein Historiker anders als ein Ökonom. Diesen interessiert vor allem die Frage, was man mit all den dafür eingesetzten Ressourcen anderes, das heisst Besseres hätte machen können. Diese Perspektivenwahl widerspiegelt sich auch im Titel dieses Bandes: Gesunder Menschenverstand meint «intuitiv richtig», während polit-ökonomische Einsichten nicht selten «gegenintuitiv» sind, das heisst dem angeblich «ungesunden Menschenverstand» entsprechen. Dazu gibt es viele Beispiele, etwa dass bei Interessengruppen nicht die grossen, sondern die kleinen mächtig sind, dass Hunger mit zu tiefen und nicht zu hohen Nahrungsmittelpreisen zusammenhängt, dass Preise die Kosten bestimmen und nicht umgekehrt oder dass staatlich verordnete Mindestpreise zu Überschüssen und regulierte Höchstpreise zu Diskriminierung und Korruption führen. Liberale Einsichten sind leider nur mit einiger intellektueller Anstrengung zu gewinnen. 11
Ein weiterer zentraler Fehlschluss des Laien basiert auf dem sogenannten Nullsummen-Bias. Statt eine Volkswirtschaft als in dynamischer Wachstumsentwicklung zu begreifen, liegt der Fokus auf der Verteilung eines fest vorgegebenen volkswirtschaftlichen «Kuchens». Eng damit verbunden ist der Fairness-Bias, das heisst die Zuspitzung der Frage auf die gerechte Verteilung der Kuchenstücke. Dies erklärt die hohe Popularität von administrativen Eingriffen wie Preiskontrollen, Arbeitszeitverkürzungen und Frühpensionierungen, Minimal- und Maximallöhnen usw. Demgegenüber betont der Ökonom bei Fragen der Fairness oder Gerechtigkeit nicht den Inhalt, sondern das Prozedere. Wenn zwei einen Kuchen teilen sollen, legt man am besten fest, dass der eine die Stücke schneidet und der andere zuerst auswählen kann. Das wird in diesem einfachen Fall meist zu einer «fairen» Gleichheit der Hälften führen. Aber was machen wir bei zehn oder 100 Aspiranten auf einen Tortenanteil? Ungleichheit im Ergebnis ist eine notwendige Begleiterscheinung, ja geradezu eine Voraussetzung einer politisch offenen und wirtschaftlich dynamischen Gesellschaft. Erfolgreiche Innovatoren und Investoren kommen schneller voran als das Gros der Wettbewerber. Einige bleiben zurück und gehen mit der Zeit unter, weil ihre Technologien veralten, ihre Kunden davonlaufen oder weil sie zu viele Fehler machen. Das mag im Einzelfall für die Direktbetroffenen ein schmerzhafter Lern- und Anpassungsprozess sein. Aber ohne diese «schöpferische Zerstörung» (Schumpeter) gibt es keinen nachhaltigen Fortschritt. Und solange die «upward and forward mobility» bestehen bleibt, haben viele Menschen gute Chancen, ihre jetzt noch kleinen Kuchenstücke selber zu vergrössern und so indirekt auch andere positiv zu beeinflussen. Wirtschaftliches Wachstum ist ohne Verteilungs-Ungleichheiten nicht zu haben. Und wie viel von der primären Marktverteilung anschliessend durch Steuern und Transfers korrigiert werden soll, ist eine politische Grundfrage. Gerade die Abstimmung über die sogenannte «SteuergerechtigkeitsInitiative» vom November 2010 hat wieder einmal bewiesen, dass die Ungleichheit von einer Mehrheit der Stimmbürger richtig verstan12
den wird, obwohl bei rein statischer Betrachtungsweise die Mehrheit kurzfristig hätte profitieren können. Ein drittes Vorurteil betrifft den internationalen Handel: Importe sind schlecht, Exporte sind gut. Heimische Produktion ist besser als weit entfernte («natürlii us der Schwiz»). Für diese protektionistische TV-Kampagne gibt die Agrarlobby Millionen aus, findet es dann aber ebenso «natürlich», dass die ganze Welt unsere Schweizer Käse kaufen soll. Vergleiche mit dem Sport sind für den wirtschaftlichen Wettbewerb ebenso fehl am Platz. Das bejubelte Tor der einen Mannschaft ist das bedauerliche für die andere. Was der eine Pokerspieler einsackt, kommt Franken für Franken aus der Tasche eines anderen. Aber wenn zwei Akteure freiwillig Güter und Dienste gegen Geld tauschen, stellen sie sich dadurch beide besser, sonst würde ja dieser Austausch gar nicht stattfinden. Knappe Güter wechseln ihren Eigentümer. Sie wandern von denen, für die sie weniger wert sind, zu anderen, die sie höher bewerten. Tausch oder besser Handel ist produktiv. «Nachher» ist mehr Nutzen vorhanden als «vorher». Wenn wir knappe Ressourcen über den Marktmechanismus optimal zuteilen, geht es allen besser und niemandem schlechter. Wenn wir Wettbewerbsbedingungen haben, widerspiegeln die Preise sowohl die Zahlungsbereitschaften wie die Kosten. Der freie Wettbewerb lenkt die Produktion in die von der Bevölkerung gewünschten Bahnen, erhöht die Kaufkraft der Konsumenten und den Innovations- und Kostendruck für die Produzenten. In den letzten Jahren habe ich regelmässig in der Weltwoche Kolumnen publiziert, die sich an ein breites Publikum richten und durchaus eine starke pädagogische oder – sprechen wir es ruhig aus – eine politische Wirkung entfalten (sollten). Politisch oder sozial wünschbar oder attraktiv ist vieles – zumindest auf den ersten Blick. Aber nach der kritischen Analyse durch die «dismal science» genannt Ökonomie sieht vieles anders aus. So will ich die Leserschaft einbeziehen. Dabei ist es nie mein Ziel, die Leute emotional umzustimmen oder politisch hinter meine Positionen zu scharen. Mein Anliegen ist und bleibt viel bescheidener. Das grösste Kompliment 13
ist für mich, wenn jemand sagt: «Das habe ich mir noch nie so überlegt.» Damit hat man vielleicht ein für einmal positives Virus auf den Leser übertragen, das von selber weiterwirkt, wenn die Leute sich die Sachen «anders zu überlegen» beginnen. Meine über 10 000 Studierenden haben sicher von anderen Kollegen mehr gelernt als von mir. Aber das kritische ökonomische Denken und das intuitive Gespür für politische Interessen standen für mich im Vordergrund, weil diese auch dann noch nachwirken, wenn alle Theorie längst vergessen ist. Mit dieser Intention schreibe ich auch meine Kolumnen, die inhaltlich sehr vielfältig sind, aber eben doch ein einheitliches Grundmuster aufweisen. Dieser Umstand war es denn auch, der mich dazu veranlasste, die über drei Jahre verstreuten Texte zu unterschiedlichen Themen und Tagesaktualitäten in Buchform zu vereinen. Vor knapp zehn Jahren hatte ich schon einmal meine Zeitungsbeiträge in Buchform publiziert. Im Buch Ökonomisches Gelächter ging es um Beiträge aus den frühen 1970er-Jahren bis nach der Jahrtausendwende. Der vorliegende Band ist kompakter und aktueller. Dazu trägt schon der kurze Zeitraum von nicht 30, sondern von drei Jahren bei. Auch das vorgegebene Längenformat der Weltwoche trägt zur Homogenität bei. Und schliesslich ist es die Stilform der Kolumne, die pro Beitrag eine «Message» nahelegt und ein Profil erzwingt, das auch beim Leser Kontinuität erzeugen soll.
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Banken- und Finanzkrise
Schutzschild der Verschwendung Staaten, Banken oder Währungen können mit unterschiedlichen Folgen in existenzbedrohende Krisen geraten. Im jüngsten Fall ist die Politik das Problem, nicht die Lösung.
Finanzkrisen kommen und gehen, haben aber ganz verschiedene Ursachen und Folgen. Der klassische Fall sind die Staatsfinanzkrisen als Konsequenz einer übermässigen Verschuldung der öffentlichen Hand. In den alten Zeiten der Hartwährung waren einfach plötzlich die Gold- und Silberkoffer leer, was einen Staatsbankrott heraufbeschwor, der durch Inflation und Entwertung der Währung besiegelt wurde. Staatsfinanz- und Währungskrisen sind somit häufig «Zwillingsschwestern». Währungskrisen können aber auch ohne übermässige Staatsschulden entstehen, beispielsweise im Falle von strukturellen Handelsdefiziten sowie Devisen- und Kapitalkontrollen bei fixen Wechselkursen. Alle drei Krisen führen einen starken konjunkturellen Einbruch herbei mit 5- bis 10-prozentigem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und zwischen einem und drei Jahren Rekonvaleszenz. Zwillingskrisen haben dabei besonders schwerwiegende reale Folgen für Produktion und Beschäftigung. Bankenkrisen erschütterten vor allem die USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und erreichten mit der Krise von 1907 ihren traurigen Höhepunkt. Nach dem Vorbild der Bank of England errichteten auch die USA eine Zentralbank als «lender of last resort». Trotzdem war die Zwischenkriegszeit stark durch immer neue Banken- und Währungskrisen geprägt, ganz im Gegensatz zu der relativ ruhigen Phase zwischen 1945 und 1971, bevor Bretton Woods 44
kollabierte. In den letzten 20 Jahren nahm die Krisenanfälligkeit jedoch wieder markant zu. Die zentrale Ursache ist die Globalisierung der Finanzmärkte in einem dem Goldstandard vergleichbaren Ausmass, aber eben ohne den automatischen Disziplinierungsmechanismus dieses Währungssystems. Kleinere und regional isolierte Bankenkrisen brachen Anfang der 1990er-Jahre in Japan und Skandinavien aus. Ende der 1990er-Jahre krachte es bei den asiatischen Währungen. Kurz nach 2000 erwischte es wieder einmal Argentinien. Das BIP fiel um 10 Prozent, und die Inflation erreichte schnell zweistellige Zahlen. Argentinien erklärte sich bankrott, handelte mit den Gläubigern markante Schuldenerlasse aus und wertete massiv ab. Danach ging es ziemlich schnell wieder aufwärts, zumindest bis das Land in den alten Schlendrian zurückfiel. Die grosse Bankenkrise von 2007 hatte ihren Ausgangspunkt wie 100 Jahre zuvor an der Wall Street, mit entsprechenden Konsequenzen. Für viele ideologische und moralische Feinde der Marktwirtschaft war diese grosse Krise der privaten Finanzmärkte der lang ersehnte letzte Beweis des marktwirtschaftlichen Versagens und damit die lang ersehnte Auferstehung der Politik. Diese konnte nun den Spekulanten den Garaus machen und das Ruder wieder selbst in die Hand nehmen. Die hohe Politik und die bessere Moral wollten nun die niedrigeren Marktinstinkte und die nackte Gier überwinden. Doch dieser Sieg der Politik über die Märkte war von kurzer Dauer, weil die Krise der griechischen Staatsfinanzen das gesamte EuroLand in den Abgrund zu ziehen droht. Für diese Krise sind nun Politiker ganz klar und exklusiv verantwortlich.
Inflation oder Staatsbankrott Die griechische Wirtschaft wurde seit Jahrzehnten durch eine korrupte Clique beider Parteien geplündert. Unter diesem Schutzschild der Verschwendung von oben hatten die Gewerkschaften im unteren Segment freies und leichtes Spiel, ungehemmt Löhne und Sozialleistungen zu erhöhen, den Staatsapparat aufzublähen und die Lebensarbeitszeit abzubauen. Die Krisen in Skandinavien, Asien oder Ar45
gentinien konnten ausgelebt und damit zeitlich und lokal stark begrenzt werden. Das wäre auch bei Griechenland möglich gewesen, wenn die EU nicht vor zehn Jahren den unseligen Beschluss gefasst hätte, eine gemeinsame Währung einzuführen, bevor die wirtschaftlichen Vorbedingungen dafür auch nur ansatzweise erfüllt gewesen wären. Es sind diesmal nicht die bösen globalisierten Finanzmärkte, die das griechische Virus verbreiten, sondern die politische Vernetzung in einer gemeinsamen Währung ohne verfassungsmässige Grundlage und ohne Sanktionsmechanismen gegen Länder, die gegen die Regeln verstossen. Mittlerweile hat selbst die bisher keusche Europäische Zentralbank ihre Unschuld verloren, indem sie griechische Schrotttitel als Sicherheit annimmt und im Sekundärmarkt Staatsschuldtitel aufkauft. Kein Wunder, dass die Märkte selbst das 750-Milliarden-Rettungspaket nicht ernst nehmen: Hier werden nur neue Schulden der noch besser dastehenden Länder auf diejenigen der bereits faktisch bankrotten Staaten aufgetürmt. Ein einigermassen gesunder Staat und eine Nationalbank mit solider Bilanz können – wie der Fall der Schweiz zeigt – den Bankensektor retten und einer schnellen Genesung zuführen. Aber an wen kann sich der in Not geratene «lender of last resort» wenden? Es bleiben zwei Kandidaten: die Inflation und der Staatsbankrott. Bei dieser Krise ist klar die Politik das Problem. Finanzkrisen unter allen Umständen aufhalten zu wollen, kann viel mehr Schaden anrichten, als einer Krise ihren Lauf zu lassen. 3. Juni 2010
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Die Finanzkrise und die Diagnose eines Staatsversagens Kommentar von Beatrice Weder di Mauro
In der Auseinandersetzung mit der Finanzkrise stellt Silvio Borner immer wieder eine Frage: Wurde die Krise in erster Linie durch Markt- oder Staatsversagen verursacht? Zwar zeigt er Übertreibungen auf Finanzmärkten auf, aber insgesamt scheint seine Antwort doch zu sein, dass der Staat deutlich mehr versagt hat als der Markt. Vom staatlich geförderten Wohneigentum in den Vereinigten Staaten über verfehlte Deregulierungen bis hin zu einer möglichen Regulierungsflut – immer wieder weist er auf Regulierungsversagen hin und warnt davor, zu viel vom Staat zu erwarten. Damit setzt er ein Thema, dem sowohl in der Krisenerklärung wie auch in der Reformdebatte eine viel zu geringe Beachtung geschenkt wurde. Wenn der Staat nämlich massiv und systematisch in der Finanzmarktregulierung versagt, dann wäre die Prognose, dass sich Finanz- und Bankenkrisen unvermeidlich und periodisch wiederholen werden. Anderseits wäre dann auch zu fragen, weshalb die Regulierung und die Aufsicht systematisch danebenliegen sollten. Hat der Staat ungenügende Informationen, zu wenig ausgebildete Leute, oder gibt es tiefer liegende Probleme? Die richtige Diagnose des Staatsversagens ist entscheidend, um die passende Therapie in der Form institutionellen Reformen einzuleiten. In der Krise sind tatsächlich zwei Formen des Staatsversagens deutlich hervorgetreten: erstens ein Anreizproblem und zweitens ein Koordinationsproblem.
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Das Anreizproblem Das fundamentale Anreizproblem des Staates lässt sich kurz wie folgt beschreiben: Aufgrund der zentralen Bedeutung von Finanzinstituten für die Gesamtwirtschaft ist es für die Vertreter des öffentlichen Interesses nur schwer möglich, sich glaubwürdig an eine Politik zu binden, die eng vernetzte Finanzinstitute mit hohem Verschuldungsgrad den «Sanktionsmechanismen» des Marktes oder der Regulierungsinstanzen aussetzt. Um Finanzinstitute mit Anreizen zu versehen, die Aufnahme von Risiken zu kontrollieren, müsste der Staat glaubwürdig versichern, dass Probleme infolge überhöhter Risikoaufnahme mit einer Schliessung oder zumindest einer Umstrukturierung des verursachenden Instituts einhergehen würden. Sobald jedoch Probleme auftauchen, kann er sein ursprüngliches Versprechen nicht einlösen, denn ex post erscheint es immer optimal, systemische Effekte zu vermeiden, eine Rettung durchzuführen und zumindest die Fremdkapitalgeber ungeschoren davonkommen zu lassen. Selbstverständlich werden die Fremdkapitalgeber dies vorhersehen und folglich die implizite staatliche Garantie nutzen und zu hohe Risiken eingehen. Man beachte, dass dieses Anreizproblem nichts mit politisch motivierter Intervention oder mit ungenügender Information des Staates zu tun hat. Vielmehr ist es ein klassisches Problem der unterschiedlichen Handlungswünsche vor einem Ereignis und danach. Homer liefert denn auch die klassische Lösung: Um den Gesang der Sirenen zu überleben, bindet Odysseus seine Hände, er schränkt bewusst seine späteren Handlungsmöglichkeiten ein. Für die Reformagenda bedeutet dies, dass zur effektiven Prävention von Bankenkrisen auch die institutionelle Reform der Aufsicht gehört mit dem Ziel einer glaubwürdigen «Bindung der Hände», einer Verpflichtung des Staates auf Restrukturierung und Abwicklungen bei Schieflagen von Finanzinstituten. Das Koordinationsproblem Lehman Brothers war ein Paradebeispiel des internationalen Koordinationsversagens bei einer grenzüberschreitenden Insolvenz: Noch bis zuletzt hatte das US-amerikanische Finanzminis48
terium damit gerechnet, dass die britische Bank Barclays die US-amerikanische Bank Lehman Brothers übernehmen und so die Insolvenz verhindert würde. Allerdings hatten die Amerikaner aus ihrer nationalen Perspektive nicht ausreichend mit dem britischen Finanzministerium kommuniziert, das letztlich seine Zustimmung für die Übernahme mit der Begründung verweigerte, man wolle den «Giftmüll» der Amerikaner nicht nach England importieren. Beide Regierungen handelten danach, was sie jeweils als ihr nationales Interesse betrachteten, und ignorierten die negativen externen Effekte auf andere Länder. Gerade darin liegt die Grundproblematik jeder Art von negativen Externalitäten: Kosten, die in anderen Ländern anfallen, gehen immer ungenügend in das Kalkül von nationalen Aufsehern ein. Damit sind globale und für alle Beteiligten teure Finanzkrisen geradezu vorprogrammiert. Auch hier liegt die Lösung in der zumindest teilweisen «Bindung der Hände», indem international Koordinationsmechanismen geschaffen und damit Kompetenzen von der nationalen auf eine supranationale Ebene verlagert werden. Allerdings sehen viele Staaten hier einen Zielkonflikt, denn sie wollen gleichzeitig global agierende Finanzinstitute fördern und die Kompetenz für die Aufsicht auf nationaler Ebene bewahren. Dies geht auf Kosten der globalen Systemstabilität, wie die Krise gezeigt hat. Wenn also diese Probleme so deutlich zutage getreten sind, wäre eigentlich zu erwarten, dass sie nun auch angegangen werden. Leider aber scheint die Bereitschaft der Staaten, sich im Bereich der Finanzaufsicht die Hände zu binden, wenig ausgeprägt. Vielmehr scheinen nationale Befindlichkeiten und Perspektiven sogar nach der Krise noch verstärkt. Weder international noch europäisch sind Institutionen mit nennenswerten Aufsichts- und Regulierungsfunktionen geschaffen worden. Die Koordination der nationalen Insolvenzregime steht zwar auf der Reformagenda, aber niemand scheint wirklich daran zu glauben. Insgesamt also keine sehr schönen Aussichten. Und damit dürfte sich die Diagnose von Silvio Borner – ein massives Staatsversagen in der Regulierung des Finanzsystems – auch in der Zukunft wieder bestätigen. 49
Mitherausgeberin des Blogs batz.ch – das Forum für Schweizerische Wirtschaftspolitik.
Reto Föllmi
Die Autorinnen und Autoren Silvio Borner (* 1941) Prof. em. Dr. oec., war von 1978 bis 2009 Professor an der Universität Basel. Er studierte in St. Gallen und Yale (USA) und war von 1974 bis 1978 Professor für Nationalökonomie an der Universität St. Gallen. Gastprofessuren in Stanford, Vancouver, Buenos Aires und Sydney trugen zur Horizonterweiterung bei. Er ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Aufsätze und Monografien und der breiten Öffentlichkeit vor allem bekannt als wirtschaftspolitischer Publizist. Seit 2009 ist Prof. Borner Direktor der WWZ Summer School for Law, Economics & Public Policy.
Charles B. Blankart (* 1942) Prof. em. Dr., ist Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Gastprofessor an der Universität Luzern. Er studierte an der Universität Basel, habilitierte 1976 an der Universität Konstanz und lehrte dann an verschiedenen deutschen Universitäten. Er ist Autor des Lehrbuchs Öffentliche Finanzen in der Demokratie und publizierte zu Fragen der öffentlichen Finanzen und des Public Choice in internationalen Zeitschriften.
Monika Bütler (* 1961) Prof. Dr., ist Professorin für Volkswirtschaft an der Universität St. Gallen, geschäftsführende Direktorin des Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung und Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozialversicherungen, Arbeitsmarkt, politische Ökonomie und Informationsökonomik. 238
(* 1975) Prof. Dr., ist Professor für Internationale Ökonomie an der Universität St. Gallen, SIAW-HSG. Bis Januar 2011 war er Professor für Makroökonomie an der Universität Bern. Er hatte mehrere Lehraufträge an in- und ausländischen Universitäten inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in Fragen des Wirtschaftswachstums, der Aussenwirtschaft und der Einkommensverteilung. Er hat dazu mehrere Artikel und Bücher veröffentlicht, so unter anderem Income Distribution in Macroeconomic Models.
Urs Meister (* 1974) Dr. oec. publ, studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich. Seit 2007 ist er Projektleiter beim Thinktank Avenir Suisse und verantwortlich für die Bereiche Energie, Infrastruktur und Gesundheit. Daneben ist er an der Universität Zürich Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Unternehmensführung und -politik, wo er sich mit Strategien in liberalisierten Märkten auseinandersetzt.
Hans Rentsch (* 1943) Dr. rer. pol., ist seit 1978 selbstständiger Ökonom und leitete unterschiedlichste Projekte für private und öffentliche Auftraggeber. Bis 2008 war er Miteigentümer und VR-Präsident der IFiT AG (Zürich), einem Anbieter von Trading-Software. Ab 2001 arbeitete er als Projektleiter und Autor für den Thinktank Avenir Suisse im Bereich Institutionen, Umwelt-, Steuer- und Agrarpolitik.
Thomas Straubhaar (* 1957) Prof. Dr., ist Professor an der Universität Hamburg und Leiter des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Er hat in Bern und Berkeley studiert und in Bern, Basel, Konstanz, Freiburg i. Br. und an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg gelehrt. Er ist Mitglied des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration. 2010 war er Helmut-Schmidt-Fellow an der Transatlantic Academy in Washington D.C. 2006 erhielt er den Publikumspreis des Wirtschaftsmagazins Made in Germany der Deutschen Welle (TV), 2005 den Auslandsschweizerpreis 239
der FDP Schweiz International und 2004 den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik, Berlin.
Beatrice Weder di Mauro (* 1965) Prof. Dr., ist seit 2001 Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und seit 2004 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Zuvor war sie beim Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Washington D.C. tätig und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Konjunkturfragen, Bern. Gastprofessuren in Boston und Tokio.
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