Hilfe schenken Die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919–1939
Thomas Brückner Hilfe schenken Die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919 – 1939
Thomas Brückner
Die Beziehung zwischen dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und der Schweiz ist viel beschrieben und wenig untersucht. Dieses Buch widmet sich den verschiede nen Dimensionen der Beziehung. Der Autor konzentriert sich nicht auf Kriege, sondern fragt nach der Beziehungsent wicklung in Zeiten des Friedens. Er identifiziert den Zeitraum von 1919 bis 1939 als einen Schlüsselzeitraum für die einzig artige Nähe des IKRK zur Schweiz, der den Handlungsspielraum der Verwandtschaft in Weiss und Rot im Zweiten Weltkrieg mit erklärt. Konstant war das Geben, Nehmen und Erwidern zwischen dem IKRK und der Schweiz. Die Bedeutung des IKRK für die Schweiz wuchs ab dem Ersten Weltkrieg bis in die Zeit der geistigen Landesverteidigung, die beide Institutionen fest aneinanderband.
Verlag Neue Zürcher Zeitung ISBN 978-3-03810-194-9 ISBN 978-3-03810-194-9
9 783038 101949 www.nzz-libro.ch
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2015 auf Antrag von Prof. Dr. Jakob Tanner und von Prof. Dr. Daniel Speich Chassé als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Lektorat: Rainer Vollath, München Umschlag, Gestaltung, Satz: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen sowie der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-194-9
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Inhaltverzeichnis Vorwort und Dank .................................................................
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1 Einleitung....................................................................... 1.1 Der Gepäckträger und der schönste Schweizer Berg ...... 1.2 Welche Beziehung? Untersuchungsgegenstand,
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Theorie, Methode ............................................................ 15 1.3 Hagiografien und neue Fragen: zum Forschungsstand .... 27 2 Humanitäre Hilfe zwischen den Weltkriegen ............. 37 2.1 Kriege und Katastrophen nah und fern ........................... 37 2.2 Russland, Äthiopien, Spanien ......................................... 44 3 Über das Recht reden .................................................... 65 3.1 Rechtsentwicklung und Abkommenszweck ................... 65 3.2 Schutz von Kriegsgefangenen ......................................... 67 3.3 Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten .................. 79 3.4 Schutz der Zivilbevölkerung in Friedenszeiten .............. 84 3.5 Expertise und Rechtsverbreitung ................................... 87 3.6 Fortschritt und Rechtssicherheit ..................................... 99 3.7 Rechtsräume und Grenzen .............................................. 107
4 Institutionen im Wandel ............................................... 109 4.1 Neue Regimes nur in Genf? ............................................. 109 4.2 Streit im Frieden ............................................................. 111 4.3 Die Finanzierung des IKRK ............................................ 129 4.4 Vereinheitlichen, Vernetzen ............................................ 135 4.5 Regierung der Menschlichkeit, menschliches Regieren .................................................... 146 5 Selbst- und Fremdbeschreibungen .............................. 151 5.1 Nächstenliebe und ehrwürdige Helfer ............................ 151 5.2 Die Praxis des Ehrens ...................................................... 154 5.3 Friedensnobelpreis und Florence-Nightingale-Medaille ......................................... 162 5.4 Jubiläen ........................................................................... 168 5.5 Eigene und fremde Geschichten ..................................... 177 5.6 Vergesellschaftung .......................................................... 195
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Schlussbemerkungen: Auf zu neuen Geschichten! ..... 205
7 Anhänge ......................................................................... 209 7.1 Ausgewählte Daten ......................................................... 209 7.2 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis ............................ 209 7.3 Bildnachweis ................................................................... 209 7.4 Abkürzungsverzeichnis .................................................. 210 8 Bibliografie .................................................................... 211 8.1 Unpublizierte Quellen ..................................................... 211 8.2 Publizierte Quellen ......................................................... 213 8.3 Literatur .......................................................................... 216 9 Anmerkungen................................................................ 233 10 Der Autor........................................................................ 272
Vorwort und Dank «Mach keine Doktorarbeit draus», warnt der Volksmund, wenn etwas zielgenau und ohne übermässigen Aufwand zu Ende geführt werden soll. Der Volksmund hat natürlich recht. Diese Arbeit hier musste allerdings eine Doktorarbeit werden. Entsprechend verschlungen und steinig war der Weg vom Beginn bis zum Ziel. Das Interesse am Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erwuchs während meines Masterstudiums in Geschichte und Theorie der internationalen Beziehungen an der London School of Economics (LSE) in den Jahren 2006/07. Die Masterarbeit behandelte die Gefangenenbesuche des IKRK in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Das heute so grosse Forschungsinteresse am Humanitarismus stand an seinem Anfang. Nach meinem Studium und meinen ersten Erfahrungen in der Arbeitswelt war es Daniel Palmieri, Forschungsbeauftragter des IKRK, der Ende 2008 meine Aufmerksamkeit auf das weitgehend unbeackerte Forschungsfeld der Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz lenkte. Ihm möchte ich hierfür danken. Schon bald wurde ein Teil der Schweiz, der gerne etwas unscharf als die «offizielle Schweiz» bezeichnet wird, zu meinem Arbeitgeber. Über weite Strecken der Entstehung dieser Arbeit stand ich als Mediensprecher in den Diensten der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV). Damit war zu diesem Thema eine interessante und wissenschaftlich fruchtbare Mischung aus Nähe und Distanz geschaffen. In Pausengesprächen inspirierten mich Kolleginnen und Kollegen immer wieder zu Fragen. Auch waren sie geduldige Zuhörerinnen und Zuhörer. Ich möchte ihnen für ihr Interesse danken. Meine Doktorarbeit fand ihre Heimat und wissenschaftliche Betreuung an der Universität Zürich. Prof. Dr. Jakob Tanner hat als Doktorvater mit seinem Kenntnis- und Ideenreichtum sowie mit seiner Umsicht und Geduld der Arbeit sehr gutgetan. Auch möchte ich Prof. Dr. Daniel Speich Chassé für die Übernahme des Korreferats und die vielen inspirierenden Überlegungen danken. Gedenken möchte ich Prof. Dr. Kurt Imhofs, der die Arbeit zu Beginn mitbetreute, ihre Fertigstellung aber leider nicht mehr erlebte. Zwei Menschen haben die Entstehung dieser Arbeit indirekt besonders begleitet. Mit Benedikt Pfister, Historiker und ehemaliger Öffentlichkeitsbeauftragter des SRK Basel, erarbeitete ich in den Jahren 2011 bis 2013 ein 7
Vorwort und Dank
Jubiläumsbuch des SRK Basel, zu dem elf Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Politik Artikel mit sehr unterschiedlichen Fragestellungen beisteuerten. In unzähligen Gesprächen und Arbeitsstunden ergründeten wir die 125-jährige Geschichte einer lokalen Ausprägung des Rotkreuzgedankens in der Schweiz. Durch die Beschäftigung mit dem Lokalen kam ich einigen Unterschieden und Gemeinsamkeiten des Internationalen auf die Spur. Aus dem Projekt ergab sich mit Dr. Daniela Zetti (ETH Zürich) eine Zusammenarbeit und ein Austausch über technikhistorische Aspekte der IKRK-Geschichte im Ersten Weltkrieg. Beiden sei für die fruchtbare Zusammenarbeit gedankt. Danken möchte ich ebenfalls einer Reihe von Archivarinnen und Archivaren, die mir nicht nur den Zugang zu Archivgut verschafften, sondern auch mit Rat und Tat zur Seite standen, insbesondere Roland Böhlen (SRK Schweiz), Gabriele Wohlgemuth (Zentralbibliothek Zürich), Roland Zwygart und vielen weiteren Mitarbeitenden des Bundesarchivs (BAR); des Weiteren Fabrizio Bensi (IKRK-Archiv), Sabine Häberlein Kreis (IKRK-Bibliothek), Grant Mitchell (Archiv der Liga der Rotkreuzgesellschaften), Renato Morosoli (Staatsarchiv Zug) sowie Lukas Frey (Ringier Bildarchiv im Staatsarchiv Aargau). Ihre Unterstützung hat mir bei der Entstehung dieser Arbeit sehr geholfen. Ohne Ueli Dill, Ulrich Huber, Martin Bosshard und Lukas Bohny wäre ich zudem nicht an die persönlichen Quellenbestände von Carl Jakob Burckhardt, Max Huber sowie von Carl und Gustav A. Bohny gekommen. Ebenso sei der Janggen-Pöhn-Stiftung, die das Doktorstudium zu Beginn finanziell unterstützte, gedankt. Die Paul Grüninger Stiftung und die Dr. Jenö Staehelin Stiftung haben die Drucklegung dieser Arbeit finanziell unterstützt, wofür ihnen gedankt sei. Schliesslich braucht es für ein mehrjähriges Projekt, das in weiten Teilen ausserhalb des Wissenschaftsalltags entstanden ist, nicht nur Durchhaltevermögen, sondern auch besondere Unterstützung. Ohne meine Frau Alexandra Burnell hätte die Arbeit nicht geschrieben werden können. Ihr möchte ich das Buch widmen und für die vielen Gespräche sowie für die kritische und unterstützende Begleitung in jeder Hinsicht danken. Wohlwollend und unterstützend begleitet haben das Vorhaben auch meine Eltern Brunhilde und Christian Brückner, denen ich ebenfalls ganz besonders danken möchte. Basel, im Frühjahr 2016
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1 Einleitung
Bild 1: Luftaufnahme der Dufourspitze (vormals Gornerhorn) und der Dunantspitze (vormals Ostspitze).
1.1 Der Gepäckträger und der schönste Schweizer Berg Als IKRK-Ehrenpräsident Max Huber 75 Jahre alt wurde, organisierte das IKRK eine Feier für ihn. Der Jubilar richtete das Wort an seine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen. Er erinnerte sich, wie er während des Ersten Weltkriegs erstmals mit dem IKRK in Berührung gekommen war. In den Diensten des Militärauditorats stehend habe er mit dem Schweizer Oberbefehlshaber General Ulrich Wille und dem IKRK-Mitglied Oberst Edmond Boissier Ausritte unternommen. Boissier hinterliess auf Max Huber einen tiefen Eindruck. In Boissier habe Huber den idealen Mitarbeiter des IKRK erkannt. Damals, in den Steigbügeln eines Rosses, sei in Huber der Wunsch erwachsen, Mitglied des Komitees zu werden. Doch sei das für ihn als Deutschschweizer zu jenem Zeitpunkt völlig ausgeschlossen gewesen, fuhr Huber in seiner Dankesrede fort. Neun Jahre später wurde Huber dennoch zum Mitglied gewählt. Wie sich der Jubilar erinnerte, hatte er dies vermutlich seiner Eigenschaft als Gepäckträger zu verdanken. Im Februar 1920 begleitete er nämlich Gustave Ador, den damaligen IKRK-Präsidenten, zu den Völkerbundverhandlungen nach London. Er kam mit einiger Verspätung in Paris an, wo ihn der alt Bundesrat bereits am Bahnhof erwartete. Huber traf den Magistraten am Abend im Hôtel Maurice im Bett liegend und das Neue Testament lesend. Die natürliche Würde dieses Mannes wirkte sogar in dieser Situation auf ihn, und Huber 9
Einleitung
empfand Ador unter allen europäischen Landesvertretern als den würdigsten. Als er mit Ador nach Dover in England übersetzte, trug er als der jüngere Delegationsteilnehmer das Gepäck von Ador. Zusammen mit seinem eigenen Gepäck war dies sehr beschwerlich. Es war vermutlich sogar die grösste körperliche Anstrengung, die er je für die Schweizerische Eidgenossenschaft gemacht habe, witzelte Huber. Mit dieser Erinnerung an seinen IKRK-Eintritt wollte er seinem Vorgänger die Ehre erweisen.1 Eine solche Anekdote vermag die Institutionengeschichte des IKRK und die Diplomatiegeschichte der Schweiz gleichermassen zu würzen. Sie erzählt beiläufig von aussenpolitischen Meilensteinen der Zwischenkriegszeit. Hubers Wahl in das Genfer Komitee im Jahr 1923 bedeutete eine Öffnung der bis dahin ausschliesslich aus Genfer Bürgern bestehenden Organisation. Huber übernahm schliesslich nach Adors Tod im Jahr 1928 die IKRK-Präsidentschaft, die bis 1944 und damit weit in die schwere Zeit des Zweiten Weltkriegs währte. Diplomatiegeschichtlich ist die Anekdote interessant, weil die Londoner Deklaration des Völkerbundrats vom Februar 1920 am Ende jener Verhandlungen stand, zu denen Huber Adors Gepäck trug. Die Deklaration beseitigte die Zweifel der Schweiz an ihrem Völkerbundengagement und machte den Weg für die Ära der differenziellen Neutralität (1920–1938) frei. Den Verhandlungserfolg der Schweiz, der auch Huber zugeschrieben wurde, feierte der Bundesrat nach Hubers Rückkehr mit einem Nachtessen. Mindestens ebenso enthusiastisch zeigten sich die Schweizer Medien. Die Anerkennung der Schweizer Neutralität habe die persönliche Überzeugungskraft der beiden Spitzendiplomaten erfordert. Die Londoner Erklärung löse grosse Anerkennung im Land aus, schrieb etwa das Journal de Genève.2 Der Gepäckträger war spätestens nach dieser Reise zu einem diplomatischen Star aufgestiegen. Hubers Erinnerungen stehen aber nicht am Anfang, um ein Beispiel würzig erzählter Diplomatiegeschichte zu geben. Seinen Erinnerungen an die Zwischenkriegszeit gehört aus zwei wichtigeren Gründen ein prominenter Platz. Erstens waren Huber und der von ihm geehrte Ador beide Grenzgänger zwischen der Genfer Institution und der Eidgenossenschaft. Als Staatsdiener in hoher Position und als Diener einer humanitären Idee stehen die beiden IKRK-Präsidenten für die Durchlässigkeit zweier Welten, die in einer diplomatie- oder institutionenhistorisch ausgerichteten Beziehungsgeschichte als statisch getrennt betrachtet werden.3 Die Personen Huber und Ador 10
Der Gepäckträger und der schönste Schweizer Berg
zeigen aber, dass diese strikte Trennung wenig hilfreich ist, um eine Geschichte über die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz zu erzählen. Zweitens lässt die Art und Weise, wie Huber über seinen Beginn beim IKRK nachdachte, aufhorchen. Es mag an Hubers Bescheidenheit liegen, dass er trotz seiner Abstammung aus einer Grossindustriellenfamilie, trotz seines Professorentitels und Lehrstuhls und trotz seiner ausgesprochenen Nähe zum Bundesrat ein Bild von sich als Gepäckträger bezeichnend fand. Man könnte vermuten, dass Huber das Bild des Gepäckträgers als rhetorisches Mittel einsetzte, um sein Publikum für sich zu gewinnen. Doch selbst dann bleibt die Frage, warum Huber seinen IKRK-Eintritt nicht nur in der Rolle als Gepäckträger skizzierte, sondern auch Bilder der Aufopferung, der menschlichen Würde und der Ehre bemühte.4 Warum bediente er sich nicht vielmehr einer nüchternen Sprache des Nutzens, warum fand er keine Worte für den Erfolg oder die Macht, die ebenso zentral seinen Eintritt und seine Karriere im IKRK begleiteten? Letztlich implizierte seine Schilderung doch auch, dass es seine Teilnahme an einer offiziellen Verhandlungsdelegation mit dem Bundesrat sowie dem IKRK-Präsidenten und der politisch-diplomatische Erfolg waren, die ihn in den Umkreis des IKRK brachten. All dies fasste Huber nicht in Worte. Vielmehr war es ihm ein Anliegen, an seinem eigenen Geburtstag gleich zu Beginn seinen Vorgänger, der seit über 20 Jahren gestorben war, als einen so würdigen Staatsmann zu ehren. Warum war ihm das an diesem Januartag des Jahres 1950 überhaupt ein Anliegen? Wer die Beziehung zwischen dem roten und dem weissen Kreuz nicht nur beschreiben, sondern ergründen will, muss Antworten auf solche Fragen finden. Die Fragen stellen sich gleich zu Beginn der Arbeit, denn sie gehören nicht ins Reich einer vergessenen und im Lauf der Untersuchung zu entdeckenden Geschichte. Auch heute erklingen Worte der Ehre, und es werden Geschenke getauscht, wenn es um die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz geht. Genf im Dienste des Humanitären, so sagte Bundesrat Didier Burkhalter im August 2014 bei der Überreichung des Preises der Fondation pour Genève, sei «ein Geschenk für die Schweiz und die Welt».5 Auf die Initiative des Bun desrats hin wurde wenig später anlässlich des 150-Jahr-Jubiläums der Genfer Konventionen die Ostspitze des Monte Rosa in Dunantspitze umbenannt. Seither findet Henry Dunant neben seinem IKRK-Gründungskollegen Guillaume-Henri Dufour, dessen Name den höchsten topografischen Punkt der Schweiz markiert (4634 Meter), in luftiger 11
Einleitung
Höhe (4632 Meter) einen symbolträchtigen Platz. «Die beiden höchsten Gipfel (…) tragen die Namen zwei der grössten Bürger dieses Landes, zwei Bürger, die durch ihr Engagement das Schicksal von Millionen von Soldaten, Kriegsgefangenen, Verwundeten und Zivilpersonen geprägt und verbessert haben und uns heute noch inspirieren. Wir sind stolz auf sie, und wir sind uns bewusst, dass ihr Engagement vor 150 Jahren eine Verantwortung für uns bedeutet»,6 begründete Burkhalter seinen Vorschlag. Dunants Lebenswerk sei der «schönste Berg der Schweiz».7 Solche Beschreibungen mögen vertraut klingen. Historikerinnen begegnen ihnen heute mit einem neuen und durchaus kritischen Interesse.8 Wir stehen heute wie in der Zwischenkriegszeit vor einem Diskurs, bei dem eine Beziehung in hohen Tönen angerufen, aber nicht eigentlich ergründet wird. Die Menschen in diesem Diskurs werden nicht als Machtpolitiker oder ausgefuchste Taktiker beschrieben, sondern als würdevolle Staatsmänner oder dienende Gepäckträger. Ihre Taten werden zu den schönsten Bergen des Landes erklärt. Die Stabilität des Diskurses lässt folgende Vermutung zu: Das Humanitäre bietet auch wegen des IKRK in der Schweiz eine vergleichsweise stabile Projektionsfläche für Identitätsentwürfe und für Konsens nach innen wie nach aussen. Die Versatzstücke, mit denen sich solche Entwürfe anreichern lassen, sind im öffentlichen Bewusstsein präsent. Das IKRK macht Erzählungen darüber möglich, wie Schweizerinnen und Schweizer aus Mitleid und Solidarität mit Hingabe anderen Menschen geholfen haben. Bekannt und dokumentiert sind solche Erzählungen vor allem aus den beiden Weltkriegen und weit weniger aus der Zeit dazwischen.9 Dabei ist das Fundament der Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz im Frieden entstanden. Es fragt sich, wo die Ursprünge dieser Diskussion zu finden sind und welche Wirkungsmacht solch eine Diskussion entfaltete. Um die Dimensionen der Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz auszuleuchten, gilt es, einer Versuchung zu widerstehen. Angesichts der nationalen Aufladung in der Beziehungsrhetorik wäre es eine naheliegende Forschungsfrage, nach Kritikpunkten dieser gelobten Bindung zu suchen. Ein Erkenntnisinteresse wäre etwa, eine kritische Interessenvermengung zwischen der Institution des IKRK und der Schweizerischen Eidgenossenschaft herauszuarbeiten. Dem IKRK könnte im Rahmen einer so angelegten Beziehungsgeschichte mangelnde Unabhängigkeit vorgeworfen werden. Ebenso gut liesse sich die Untersuchung bei der Schweizerischen Eidgenossenschaft 12
Der Gepäckträger und der schönste Schweizer Berg
ansetzen und als Suche nach einer Instrumentalisierung der erklärtermassen unparteilich agierenden Rotkreuzinstitution gestalten. Das Resultat dieser Geschichte wäre dann, das Ausmass der Einflussnahme zu bewerten. Doch wäre mit dieser Untersuchungsrichtung kaum in den Griff zu bekommen, dass das IKRK über die gesamte Beziehungsdauer von 1919 bis 1939 hinweg in mancher Hinsicht eher ein Teil denn ein Gegenteil der Schweiz war und die Bindung keineswegs einzig in offiziellen Beschlüssen und Verlautbarungen zum Ausdruck kommt. Die Mitglieder des IKRK waren als Schweizer Bürger von den ersten Lebensjahren an in der Schweiz sozialisiert worden. Sie durchliefen ihre Ausbildung, ihre Berufs- und ihre politische Karriere in der Schweiz. Sie traten auf dem Höhepunkt ihrer Karriere ins Komitee ein. Dort arbeiteten sie freiwillig und waren daneben weiterhin politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich im Inland wie im Ausland tätig. Angesichts dieser Ausgangslage sind Abhängigkeiten und Interessenvermengungen vorauszusetzen. Vor allem spricht gegen eine Beziehungsgeschichte, die anhand von angenommenen Institutionsrespektive Landesinteressen nach Vermengungen, Konvergenzen oder Divergenzen fragt, dass sie eine Erzählung im Schemenhaften produzieren würde. Die Beziehung geistert als statische Bindung zwischen den abstrahierten Einheiten der Schweiz und des IKRK durch geschichtliche Ereignisse hindurch und wird, wo es passend scheint, für den Gang der Dinge dankbar zur Erklärung herangezogen. Eine Dynamik in der Beziehung, die die Verschiebungen in der Symmetrie erkennt, ein Blick für Räume entwickelt und die Grenzen der Beziehung benennen kann – all dies würde verloren gehen. Demgegenüber wird vorgeschlagen, die Rhetorik über die Beziehung als einen konstitutiven Bestandteil des IKRK und der Schweiz zu begreifen. Diese Beziehung besteht in einem wechselseitigen Geben, Nehmen und Erwidern. Dies ist der Hintergrund, um Worte des Dankes und der Ehre verstehen zu können, wie sie Huber formulierte. Sein Eintritt in das Komitee ist das Geschenk sozialer Reputation und juristischen Wissens an eine damals hilfsbedürftige Institution. Bei einem solchen Geben und Nehmen agieren Menschen, und sie tun dies zuweilen aus Institutionen heraus und zuweilen im Namen einer Landesregierung. Entscheidend ist nicht, ob sie dies innerhalb oder ausserhalb von konstruierten nationalstaatlichen Grenzen tun. Entscheidend ist, dass die Beziehung durch einen Austausch von Gaben entsteht, dass sie dynamisch und in mehrfacher Hinsicht grenzüber13
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schreitend ist. Anders als in der Geschichte internationaler Beziehungen wird stärker betrachtet, was genau in der Beziehung getauscht wurde und welche Folgen dies zeitigte. Es wird davon ausgegangen, dass solcher Tausch Bindung und Abhängigkeit schafft. In einer Beziehung, deren primäres Merkmal der Tausch von Gaben ist, werden andere Grenzen gezogen als dies in der Geschichte internationaler Beziehungen üblich ist. Eine erste solche Grenze ist jene zwischen der Domäne der Innenund der Aussenpolitik. Der Abschied von dieser Grenze mag schwerfallen, zumal das IKRK stets seine internationale Rolle betonte und zu innenpolitischen Fragen weitgehend schwieg. Doch liesse sich der Diskurs über die Beziehung des IKRK zur Schweiz nicht aufspüren, wenn nicht auch die reichen Bezüge des IKRK bis tief ins Innere der Schweiz untersucht würden. Eine weitere Grenze betrifft die Trennung von Krieg und Frieden. Vor allem das IKRK hat diese Grenze, die auch in seinem Wahlspruch «inter arma caritas» zum Ausdruck kommt, in der Zwischenkriegszeit aufgeweicht und sich verstärkt der Friedensarbeit sowie der Stärkung und Positionierung der eigenen Institution gewidmet. Was unter Humanitärem zu verstehen sei, erfuhr in dieser Zeit einen Wandel. Um humanitäre Aktivitäten in späteren Kriegen zu verstehen, muss die Beziehung im Frieden erkannt sein. Letztlich steht die Beziehung des IKRK zu einem Land und nicht zu einem Krieg und seinen Opfern im Vordergrund der vorliegenden Untersuchung. Das Land erlebte in der Zwischenkriegszeit zwar keine kriegerischen Auseinandersetzungen mit anderen Staaten, sehr wohl durchlief es aber Krisen und innenpolitische Spannungen, und es war Teil einer Welt, die reich an Turbulenzen und humanitären Katastrophen war. Im gesamten Untersuchungszeitraum von 1919 bis 1939 war die Beziehung des IKRK zur Schweiz zwar auch, aber keineswegs ausschliesslich ein Erinnern und Erleben von Kriegen. Die spezifische Mischung aus humanitären Friedensaktivitäten und Krisenbewältigung eignet sich, um die Vielschichtigkeit der Beziehung herauszuarbeiten. Ausgangspunkt ist der Erste Weltkrieg, der in der Beziehung einen Aktionsradius neuer Dimension auftat. Dabei erreichte der direkte Austausch von Gaben eine bislang unerreichte Qualität und setzte eine Dynamik in Gang, die bis in den Zweiten Weltkrieg hineinreichte und ein genauso aussergewöhnliches Engagement bei der Hilfe wie eine intensive Kritik der grossen Nähe zwischen der Schweiz und dem IKRK zur Folge hatte. Das IKRK und die Schweiz haben gerade 14
Welche Beziehung? Untersuchungsgegenstand, Theorie, Methode
wegen ihrer engen Beziehung vielen Menschen das Leben gerettet. Die folgende Arbeit setzt sich nicht das Ziel, dies zu hinterfragen oder einzig auf das Ausbleiben von Hilfe hinzuweisen. Vielmehr möchte sie den verschiedenen Dimensionen der Beziehung sowie der Bedeutung der Beziehung für die beiden Partner und für Dritte auf die Spur kommen. Damit ist die Frage angesprochen, wer in dieser Beziehung denn überhaupt Partner war. Das IKRK lässt sich statutarisch leicht als eine Institution definieren, die bis heute in rechtlicher Hinsicht ein Verein nach Schweizer Zivilrecht ist und in der Zwischenkriegszeit maximal 25 Mitglieder umfassen durfte. Eine erweiterte Begriffsdefinition umfasst darüber hinaus die amtlich und ehrenamtlich Angestellten, namentlich die Delegierten und die freiwilligen Mitarbeitenden in der Genfer Zentrale. Doch vermag eine solche institutionenorientierte Definition des IKRK ebenso wenig zu überzeugen wie eine auf den Regierungsapparat beschränkte Landesdefinition der Schweiz. Der Wirkungskreis des IKRK ist ein grösserer, was mit seiner Rolle als Kontrollorgan einer Bewegung zu tun hat. Zudem spielen bei seiner Beziehung zur Schweiz andere Schweizer Institutionen und Ressourcen eine genauso gewichtige Rolle wie der Schweizer Regierungsapparat. Insbesondere dem Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) als Bindeglied zur Bevölkerung kommt in der Beziehung eine nicht zu unterschätzende Rolle zu. Wenn also von der Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz die Rede ist, so sind damit nicht Institutionen und bürokratisch aufgebaute Verwaltungs- und Entscheidungsapparate gemeint, sondern die sprachlichen Äusserungen. Weniger wer etwas sagt, sondern vielmehr wie etwas gesagt wird, steht im Vordergrund. Es geht um den Gepäckträger und den schönsten Berg. 1.2 Welche Beziehung? Untersuchungsgegenstand, Theorie, Methode 1.2.1 Die Beziehung als Gabentausch Der französische Sozialanthropologe Marcel Mauss hat in den 1920er-Jahren den Gabentausch als soziologisches Paradigma interpretiert und auf seine Bedeutung für die Beziehungsbildung hingewiesen.10 Die Rezeption seines Essai sur le don ist im deutschsprachigen Raum schwach geblieben, sodass er «zu den bekanntesten und wohl am wenigsten gelesenen Klassikern der Soziologie»11 gehört. Mauss untersuchte in seinem Essay verschiedene Formen des Tau15
Einleitung
sches von Geschenken und ging der Frage nach, wieso Gaben in der Theorie zwar freiwillig getauscht werden, in der Realität aber oft ein Zwang zum Schenken, Annehmen und Zurückgeben beobachtbar ist.12 Auf der Suche nach Antworten führte Mauss der Weg zu Tauschbeziehungen, die um die Jahrhundertwende an der Nordwestküste Nordamerikas und in Polynesien existierten. Sowohl beim Austausch von kulturellen Schätzen (sogenannten Taongas bei den Maori) als auch beim Abhalten eines Potlatchs13 unter den Tlingit- und Haidaindianern war der Tausch von Gaben mit Abhängigkeiten verbunden.14 Es war mehr als ein materieller Wert, der getauscht wurde. Kulturelle Bedeutung oder sozialer Status bestimmten, was tauschbar war. Beim antagonistischen Potlatch konnte dies dazu führen, dass sich eine Familie ruinierte, um einen hohen sozialen Status zu behalten. Mauss diskutiert auch die Tauschzirkel, bei denen Ketten als Tauschobjekte (sogenannte Kula) unter den Bewohnern auf den Trobriandinseln über weite Meeresstrecken die Runde machten und nach einer Weile zum ursprünglichen Besitzer zurückfanden. Der Tausch dieser Ketten wurde vom Tausch anderer Güter begleitet. Mauss schliesst aus seinen Beobachtungen: «Ainsi une partie de l’humanité, relativement riche, travailleuse, créatrice de surplus importants, a su et sait échanger des choses considérables, sous d’autres formes et pour d’autres raisons que celles que nous connaissons.»15 Damit unterstreicht Mauss sein Interesse an Beziehungsmechanismen, die keiner rein ökonomischen Gesetzlichkeit folgen. In der Schlussfolgerung seines Essays hält Mauss fest, dass sich seine Beobachtungen auch auf westliche Gesellschaften übertragen lassen. «Une partie considérable de notre morale et de notre vie elle-même stationne toujours dans cette même atmosphère du don, de l’obligation et de la liberté mêlés. Heureusement, tout n’est pas encore classé exclusivement en termes d’achat et de vente.»16 Die Betonung des Antiutilitarismus in diesen utilitaristischen Tauschbeziehungen sowie die Konzentration auf beziehungsstiftende Abhängigkeiten durch den Tausch machen das Schenkparadigma für die Untersuchung interessant.17 Beides trifft wesentliche Aspekte der Beziehung zwischen der Schweiz und dem IKRK, die sich ebenfalls nicht auf ein finanzielles oder politisches Ziel reduzieren lässt. Das Paradigma greift die verschiedensten Aspekte dieser Beziehung auf, indem es für Gaben mit symbolischem, materiellem oder sozialem Wert offen ist. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf eine dynamisch verstandene und ergebnisoffene Beziehung von Individuen und der Gesellschaft. Es 16
Welche Beziehung? Untersuchungsgegenstand, Theorie, Methode
bilden sich Abhängigkeiten in der Form von wechselseitigen Asymmetrien.18 Damit trifft das Paradigma einen entscheidenden Punkt. Asymmetrien sind dem Untersuchungsgegenstand inhärent und bestehen seit Einberufung der ersten Genfer Konferenz im Jahr 1864, als Schweizer Offizielle den Wert des Genfer Komitees erkannten und sich dazu entschlossen, ihm diplomatische Unterstützung angedeihen zu lassen. Die Initiative des Genfer Fünferkomitees war eine Gabe, welche die Schweizer Regierung als solche erkannte und erwiderte. Die Beziehung zur Schweizer Gesellschaft begann durch solch einen Mechanismus, und die ihr zugrunde liegende Dynamik des Gebens und Nehmens ist vom ersten Tag des Untersuchungszeitraums an vorhanden. Nachdem der historische Vergleich als Untersuchungsmethode in die Kritik geriet, setzt die jüngere Forschungsliteratur beim Verhältnis zwischen einem Staat und einer Institution mehrheitlich auf einen transnationalen Ansatz. Um die Beziehungen unter diesem Aspekt zu beschreiben, kommt oft der Begriff der Akteursnetzwerke ins Spiel. Durch Netzwerke lassen sich Verbindungen zwischen entfernt liegenden Regionen aufzeigen und so alternative Raumordnungen zum Nationalen bilden.19 Prominente Fachvertreter betonen, dass die transnationale Geschichte weder Paradigma noch Methode noch Theorie darstellt: «Vielmehr ist sie eine Forschungsperspektive, die den unterschiedlichen Graden der Interaktion, Verbindung, Zirkulation, Überschneidung und Verflechtung nachgeht, die über den Nationalstaat hinausreichen.»20 Aus dieser Perspektive heraus hat sich die Forschung rund um die Schweizer Aussenpolitik sowie um die Geschichte internationaler Organisationen entwickelt. Die Forschungsdiskussion um die transnationale Perspektive ist in stetiger Weiterentwicklung. Pierre-Yves Saunier sprach 2008 von einem «transnational turn», der sich sanft und ohne kreischende Bremsen vollzog.21 Sichtbar ist, dass die «Verbindungen des Guten» besser erforscht sind als die «Verbindungen des Bösen»: «At least at first sight, the narrative of global evil is gladly left to political scientists or sociologists, while we historians tell the tale of transnational dogooding.»22 Entsprechend blühend ist die transnationale Forschung über das IKRK. Eine Monografie über das Netzwerk Aussenpolitik der Schweiz in der Zwischenkriegszeit, eine Onlinedatenbank über den Völkerbund und seine Netzwerke sowie ein Sammelband über transnationale Expertencommunities im ausgehenden 19. Jahrhundert bis hin zum Zweiten Weltkrieg bestärken diese Aussage.23 Eine weitere 17
Einleitung
Perspektive auf staatsübergreifendes humanitäres Handeln wäre die Verflechtung, die in Anlehnung an Bénédicte Zimmermanns und Michael Werners Ansatz der «histoire croisée» oder Shalini Randerias und Sebastian Conrads Ansatz der «entangled history» einen globalgeschichtlichen Horizont auftut.24 Das Paradigma des Gabentausches bietet den hier skizzierten Ansätzen und insbesondere dem Paradigma des Netzes gegenüber drei Vorteile. Dem Austausch von Gaben gelingt es besser als der Ausbreitung von Netzen, die Qualität von Verbindungen zu beschreiben. Gleichzeitig hat der Gabentausch durch seine Asymmetriebetonung Machtverhältnisse im Blick und vermag verschiedenen Analyseebenen gleichzeitig Rechnung zu tragen, indem der Tauschvorgang von Gaben zwischen Individuen eine Vergesellschaftung zur Folge hat. Ein letzter Grund, der dem Schenken einen Vorzug vor Netzen gibt, ist die Konzeption der Nächstenliebe als eine Form des Schenkens. Mauss selbst gab in einem berühmt gewordenen Zitat folgenden Hinweis: «La charité est encore blessante pour celui qui l’accepte, et tout l’effort de notre morale tend à supprimer le patronage inconscient et injurieux du riche ‹aumônier›.»25 Wenngleich Mauss den Humanitarismus nicht als Übungsfeld für die Ausführung seines Paradigmas benützte, so hat er mit der Nächstenliebe als Gabenform ein Urmoment des Humanitarismus benannt. Die historische Humanitarismusforschung hat Mauss (noch) nicht für sich entdeckt. Gleichwohl finden sich in der ihm gewidmeten Revue du M.A.U.S.S. immer wieder soziologisch inspirierte Diskussionen über Gaben für und von humanitären Organisationen.26 1.2.2 Chancen und Grenzen der Gabe Die Akzentsetzung in Mauss’ Formulierung, wonach Nächstenliebe auch verletzend sein kann, ist für eine Geschichte humanitärer Organisationen ebenso ungewöhnlich wie spannend. Sie ist eine Chance und schärft und verklärt den Blick zugleich. Sie schärft ihn, indem Mauss unterstreicht, dass Handlung aus Nächstenliebe mehr als die Linderung von Leid bedeutet. Das Begriffsinstrumentarium humanitärer Hilfsakteure wird damit nicht zur Analysekategorie, sondern bestenfalls zum Untersuchungsgegenstand. Dies ist für Geschichten über humanitäres Handeln wichtig, denn die Begriffe und Perspektiven von humanitären Akteuren sind für eine Geschichte des Humanitären analytisch unbrauchbar, wie etwa Maria Framke betont: «Es besteht kein Zweifel daran, dass die 18
Welche Beziehung? Untersuchungsgegenstand, Theorie, Methode
Geschichte des Helfens in einen moralischen Diskurs eingebettet ist. Die viel zitierten Grundsätze des Roten Kreuzes (Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit, Universalität) mögen wichtige Wegweiser für humanitäre Agenturen sein, denn sie sind wichtige Akteurskategorien; sie sind jedoch für die Geschichtsschreibung keine brauchbaren analytischen Kategorien. In den letzten Jahren haben Historiker zunehmend hinter die Fassade der Prinzipien schauen können, aus denen sich humanitäre Ideen entwickelt haben. Hier ist die Historiografie zur Geschichte der Entwicklungshilfe wegweisend.»27 Mit Blick auf die Hagiografie des Humanitären in der Schweiz (vgl. Kapitel 1.3) besteht zur Erfüllung dieser Forderung noch viel Forschungspotenzial. Durch die mausssche Hilfsgabe wirkt sowohl die Gestalt des Helfers als auch die Konzeption der Hilfe hindurch. Wer Hilfe akzeptiert, kann sich dem Geist der Gabe nicht entziehen.28 In maussscher Lesart können die IKRK-Grundsätze der Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entweder als eine Form versuchter Auslöschung dieses Gebergeistes oder als gesellschaftlich sinnbehaftetes Mittel zur Erweiterung des Handlungsspielraums des Gebers gedacht werden.29 Das Paradigma der Gabe provoziert jedenfalls Fragen, die in Quellen von Helferinnen und Helfern wenig Raum haben. Die Quellen humanitärer Akteure sind in der Wahrnehmung selektiv und folgen einer Logik der Karitas, wie sie im biblischen «Gleichnis vom barmherzigen Samariter» im Lukasevangelium formuliert ist.30 In Jesu Worten war der Samariter dem Opfer zum Nächsten geworden. Spontan, direkt und durch Tat half er, voraussetzungslos und ohne Erwartung einer irdischen Gegenleistung. Viele Quellen folgen dieser Logik, indem weder die Perspektive der Opfer eingenommen noch die Frage nach den Folgen der Hilfe beantwortet werden. Mauss’ Gabenparadigma setzt vor die Grundannahmen der Nächstenliebe also produktive Fragezeichen, und sein Gabenparadigma verschiebt die Perspektive in die Richtung des Gabenempfängers, der entstehenden Beziehung und deren Symmetrie. Humanitäres Handeln als eine Form des maussschen Gabentausches zu begreifen, eröffnet die Möglichkeit, etwas Licht in das Dunkel zu werfen, das Daniel Laqua «humanitarian cloud»31 genannt hat, um das Schleierhafte der humanitären Motivation und den fliessenden Übergang zu anderen Formen der Hilfe zu betonen. Das Licht in dieser Wolke besteht darin, dass mögliche Zwänge und Folgen von humanitärer Handlung in den Blick geraten, ohne diese Zwänge und Folgen gleichzeitig vorauszu19
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setzen. Auch Marcel Mauss ging es nicht darum, im Zyklus des Gebens und Nehmens eine geschlossene und einzig utilitaristisch geprägte Handlungsabfolge zu sehen. Der Gabentausch ist keine reine Ökonomie.32 Die Frage nach dem Stellenwert des Utilitarismus beim Schenken von Gaben ist für Rezipienten von Mauss zum wichtigen Gegenstand theoretischer Debatten geworden. Zahlreiche Soziologen, Ethnologen und Philosophen haben sich mit seinem Theorem auseinandergesetzt, ohne dass sich eine einheitliche Interpretation oder theoretische Weiterentwicklung herauskristallisierte.33 Iris Därmann unterstreicht in ihrer Einführung zu den Theorien von Gaben etwa, wie Jacques Derridas Auseinandersetzung mit Mauss von einem Bewusstsein für ein widersprüchliches Erbe getragen sei: «Derrida sieht dieses widersprüchliche Erbe namentlich mit dem abrahamitischen Sohnesopfer, dem Matthäusevangelium und der kantischen Ethik bezeichnet, die zwar ein Jenseits der Ökonomie, ein Opfer ohne Hoffnung, ohne Kalkül, ohne Belohnung und Wiedergabe eröffnen, doch das Anökonomische der rückkehrlosen Gabe erneut in eine ‹Ökonomie des Himmels› einschreiben.»34 Zwischen der Gabe und der Ökonomie herrsche eine «nicht dialektisierbare Antinomie»;35 Gabe und Ökonomie seien widersprüchlich und doch untrennbar miteinander verbunden, resümiert sie. Neben den meist aus dem französischen Sprachraum stammenden Theoretikern, die sich dem maussschen Paradigma widmeten, kommt im Zuge jüngerer Professionalisierungs- und Ökonomisierungsbestrebungen des Spendenwesens auch Literatur auf, die theoretische Annahmen zur Hilfsform der Spende in verschiedenen Ländern diskutiert.36 Die herangezogenen Faktoren zur Erklärung von Spendenverhalten lassen sich nicht einfach in die Dichotomie von utilitaristischer und antiutilitaristischer Handlung einordnen. Die staatliche Organisationsform, Markt- und Regierungsversagen, der vorherrschende Reichtum und nicht zuletzt die steuerliche Abzugsfähigkeit können Einfluss auf Spendenverhalten nehmen. Aber keiner dieser Faktoren kann für sich ausschliessliche Erklärungskraft beanspruchen.37 Solche Modelle zur Gesetzmässigkeit von finanziellen Gaben zeigen, wie schwer es ist, den Grad des Utilitarismus in einer Handlung zu bestimmen. Noch deutlicher wird diese Schwierigkeit mit Blick auf die Knappheit von Hilfsressourcen. Der Philosoph Thomas Kesselring hat darauf hingewiesen, dass utilitaristisches Helfen nach dem Gebot des «grössten Wohls für die grösste Zahl von Menschen» an ethische Grenzen stösst. Der 20
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Entscheid zur Hilfe für eine Not leidende Person im Bekanntenkreis ist auch dann ethisch vertretbar, wenn dieselben Ressourcen noch effizienter für andere Not leidende Personen eingesetzt werden könnten.38 So bleibt die Bestimmung des Nutzens als Motiv des Helfens nicht nur bei Mauss unklar. Es durchzieht sowohl theoretische als auch empirische Arbeiten über die Gründe und Formen von Hilfe. Für die Arbeit des Historikers bedeutet diese Unklarheit keine Gefahr, denn er kann sich im Wissen darum, dass Helfen und Profitieren oft – aber nicht immer – miteinander einhergehen, den Quellen nähern. Gefährlich wäre es, unter dem Eindruck theoriegeleiteter Annahmen gewissen Formen von Hilfe a priori Motive des Eigennutzes oder der Selbstlosigkeit zuzuschreiben. Naheliegender ist die Vermutung, dass meist eine Gemengelage von reflektierten und unreflektierten Gründen zu Hilfsformen führten. Zu solchen Motiven zählen auch emotionale Gründe.39 Doch das Gabentheorem verklärt auch den Blick. So darf der Untersuchungsgegenstand durch das Gabenparadigma nicht ausgeweitet und unüberschaubar werden. Inwieweit humanitäre Handlung des IKRK oder der Schweiz gegenüber Dritten eine mausssche Gabe darstellt und welche Mechanismen bei den Beschenkten einsetzen, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Der Gabentausch wird innerhalb der Beziehung von zwei Institutionen verortet. Die mausssche Gabe ins Zentrum der Beziehung zu rücken, führt bei der Definition des Untersuchungsgegenstands zudem zu zwei weiteren Gefahren: Erstens zu der Gefahr, die Untersuchung zu einer Suche nach Gegengaben zu machen. Eine Gabe muss aber nicht sofort mit einer Gegengabe erwidert werden. Pierre Bourdieu hat in seiner Auseinandersetzung mit dem maussschen Paradigma auf die kritische Rolle der Zeit hingewiesen: «Eine Analyse des Austausches von Gaben, Worten oder Herausforderungen, die wirklich objektiv sein will, muss berücksichtigen, dass die Reihe von Akten, die sich von aussen und nachträglich als Zyklus der Wechselseitigkeit darstellt, durchaus nicht wie eine mechanische Verkettung abläuft, sondern wirklich kontinuierlich geschaffen werden muss und jeden Augenblick unterbrochen werden kann.»40 Der Zeitpunkt, die Gabe zu erwidern, ist für die Gebenden somit nicht vorbestimmt. Allgemeiner gefasst handelt es sich um eine Beziehung unter den Vorzeichen generalisierter Reziprozität. Durch sie wird das mausssche Paradigma für die historische Untersuchung ertragreich: «Bei der generalisierten Reziprozität handelt es sich nicht um die Reziprozität, wie sie im letzten Kapitel beschrieben wurde, 21
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denn hierbei lassen sich die Gaben respektive Handlungen nicht direkt verrechnen oder durch zeitlich nahe beieinanderliegende Tauschakte in Verbindung bringen.»41 Nur wenn die Erwiderung der Gabe zeitlich ergebnisoffen ist und im Extremfall sogar ausbleibt, wird der Rückgriff auf Mauss nicht zu einer Beweisführung von Tauschprozessen.42 Zweitens darf das Gabenparadigma nicht zum Programm haben, den Humanitarismus einer Herrschaftskritik zu unterziehen. Gaben, Bekundungen des Dankes und der Ehre sind nicht automatisch «die sparsamste, weil der Ökonomie des Systems angemessenste Herrschaftsweise».43 So anziehend dieser utilitaristisch gefärbte Gedanke angesichts des moralischen Machtstatus des IKRK und angesichts des humanitären Rufs der Schweiz ist, eine Theorie der symbolischen Herrschaft und strukturellen Gewalt ist nicht der theoretische Referenzpunkt für das Nachfolgende. Der Historiker steht zu oft vor Quellen, die über die Motive und Folgen einer humanitären Handlung keine genauen Aufschlüsse geben. Es wäre falsch, einen Zwang zum Helfen zu vermuten, wo er sich nicht belegen lässt. 1.2.3 Methode, Gliederung, Quellen Mit der maussschen Gabe ist zwar der Untersuchungsgegenstand modelliert, aber noch keine Methode gegeben, diesen zu erforschen. Die Beziehung des Gebens und Nehmens äussert sich in Diskursen, also in «Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benützen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses Mehr macht sie auf das Sprechen und die Sprache irreduzibel».44 Der Diskurs ersetzt dabei nicht Subjekte, die ja gerade auch bei Mauss nicht verschwinden, sondern er ist «eine Praxis, in der Subjekte zugleich ihre Welt gestalten, wie sie dabei von den Regeln des Diskurses geleitet, beschränkt und dezentriert werden».45 Diskursanalytisch erfasst werden Sagbarkeitsregeln, das heisst, Organisationsregeln der Wirklichkeit einer Beziehung, die in drei Feldern vermutet wird. Die Methode bietet sich nicht zuletzt an, weil chronologische Quellenserien in grossem Umfang vorliegen.46 Mit der diskursanalytischen Vorgehensweise ist auch eine spezifische Konzeption von Macht verbunden, die untrennbar mit Wissen verknüpft ist und bei Michel Foucault das Wissen des Erkennenden mit einschliesst: «Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt (…); dass Macht und Wissen einander unmittelbar ein22
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schliessen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machbeziehungen voraussetzt und konstituiert. Diese Macht-Wissens-Beziehungen sind darum nicht von einem Erkenntnissubjekt aus zu analysieren, das gegenüber dem Machtsystem frei oder unfrei ist. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht-Wissen-Komplexe und ihrer historischen Transformation bilden.»47 Damit eröffnet sich ein Feld zur Analyse, bei dem die Expertise von humanitärem Helfen, das Bündeln von Wissensbeständen und die Verbreitung von Standards und Normen als Ausdruck von Machthandlungen gefasst werden können. Zu Beginn zeigt ein deskriptiv angelegtes Kapitel (2), welche humanitären Einsätze vom IKRK oder von der Schweiz zwischen 1919 und 1939 ausgingen. Es ist lohnenswert, diesen Überblick über die humanitären Einsätze des IKRK zwischen den Weltkriegen zu gewinnen, denn die sogenannte Zwischenkriegszeit wird nicht ganz zu Recht als eine Zeit zwischen den Kriegen bezeichnet. Die Konflikte waren zahlreich und die humanitären Probleme mit dem Weltkrieg nicht einfach verschwunden. Im Fokus dieses Kapitels steht das Zusammenspiel zwischen dem IKRK und der Schweiz bei konkreter Hilfsaktivität, die im Wesentlichen Hilfe ausserhalb der Schweiz war. Hilfsgaben aus der Schweiz konnten finanzielle Ressourcen, zeitliche Ressourcen (Freiwilligenhilfe, Expertenhilfe) und damit das Schenken von Expertise sein. Die darauffolgenden drei Kapitel widmen sich drei Beziehungsdimensionen, die in der bisherigen Forschung über die Geschichte des IKRK und der Schweiz einen marginalen Platz eingenommen haben. Den Beginn macht das Zusammenspiel zwischen der Schweiz und dem IKRK bei der Pflege und Entwicklung des Rechts (Kapitel 3). Die Beziehung beschränkt sich dabei keineswegs auf die spezielle Rolle der Schweiz als Gastland der diplomatischen Konferenzen und als Depositarstaat der Genfer Konventionen. Weiter als solche administrativen Aufgaben gehen die Expertisen, die Vertreter der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu den meisten der neuen Projekte abgaben. Im Zentrum der rechtlichen Weiterentwicklung stehen der verbesserte Schutz für die Kriegsgefangenen, der im Jahr 1929 verabschiedet wurde. Ebenso stehen nicht verabschiedete Projekte zum Schutz von Zivilisten im Krieg oder der Versuch, sogenannte 23
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Sanitätszonen speziell zu schützen, im Zentrum. Im Feld der Rechtsetzung und Rechtsanwendung geht es nicht allein um solche Projekte, deren sich das IKRK bemächtigte, sondern um die Frage, wie diese Projekte innerhalb der Schweiz aufgenommen wurden und wie sie sich zu anderen Gesetzesprojekten verhielten. Das Recht war für das IKRK nicht nur ein Leit- und Machtbegriff, die rechtliche Weiterentwicklung auf dem Gebiet des Humanitären muss auch mit anderen Rechtsentwicklungen in der Schweiz abgeglichen werden. Eine Untersuchung von Zusammenhängen bietet sich an, gibt es doch bei den Rechtssetzern personelle Überschneidungen und einen gemeinsamen diskursiven Hintergrund über die Wirkung von Recht. Bruno Cabane hat die Entwicklung von Opferrechten, Arbeitsrechten, Kinderrechten und Flüchtlingsrechten in den frühen 1920er-Jahren untersucht. Solche Rechtsentwicklungen prägten und erweiterten das Verständnis des Humanitären, und Cabane beschrieb die frühen 1920er-Jahre als eine Zeit des Rechts: «[...]that ‹Rights, not charity› was the guiding principle of this movement.»48 An solcher Erkenntnis setzt auch die vorliegende Arbeit an. Indem in dieser Untersuchung auch innerstaatliche Rechtsetzungsprojekte gestreift werden, tun sich neuartige Rechtsräume auf, die sich nicht mit den institutionellen Grenzen oder Anwendungsfeldern einzelner Paragrafen gleichsetzen lassen. Was bedeutete es, Recht zu schenken, und wer gab dabei wem (neues) Recht? Mit humanitären Aktionen und der Weiterentwicklung von Recht sind zwei Felder benannt, die am stärksten mit dem IKRK und seiner Beziehung zur Schweiz in Verbindung gebracht werden. In den darauffolgenden zwei Kapiteln wendet sich die Untersuchung Feldern zu, die bislang weniger als mögliche Achsen einer Beziehung in den Blickpunkt geraten und systematisch untersucht worden sind. Dies betrifft zum Ersten das Feld des institutionellen Wandels (Kapitel 4). Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs bis in das Jahr 1928 stand das IKRK in einer Konkurrenz zur neu gegründeten Liga der Rotkreuzgesellschaften, die nicht nur eigene Ressourcen band, sondern die Institution letztlich auch auf Unterstützung von aussen angewiesen sein liess. In diesem mehr oder weniger offen geführten Kampf führte die institutionelle Weiterentwicklung unter dem Dach des Internationalen Roten Kreuzes zur Lösung. Parallel dazu änderte sich auch der institutionelle Aufbau der Schweiz, namentlich die Verteilung der politischen Kräfteverhältnisse durch die Einführung des Proporzwahlrechts. Die Einführung 24
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des Staatsvertragsreferendums, Diskussionen über die Totalrevision der Verfassung und das Aufkommen zivilgesellschaftlicher Kräfte führten zu einer Pluralisierung und in den 1930er-Jahren mit der Frontenbewegung und der Geistigen Landesverteidigung zu einer Radikalisierung institutioneller Kräfte. In diesem Kapitel über institutionelle Umbrüche und Krisen wird nach einer Beziehung gesucht, die sich gerade anhand der Änderungen ihrer Grundlagen zeigt. Der Tausch von Gaben bei der Weiterentwicklung der Institutionen bringt nicht nur Asymmetrien zum Vorschein, sondern als Resultat auch Veränderungen in der Beziehung des IKRK zur Schweiz während des Untersuchungszeitraums. Das letzte Kapitel fragt nach den gesellschaftlichen Grundlagen und Mechanismen, die der Beziehung zugrunde lagen. Reiche Selbstund Fremdbeschreibungen (Kapitel 5), wie sie zu Mobilisierungszwecken, zu Jubiläen, bei Ausstellungen, offiziellen Besuchen, Gedenken oder in geschichtlich informierten Abhandlungen gemacht wurden, bilden ein eigenständiges Diskursfeld für die Beziehung und verweisen darauf, dass der Gabentausch von Worten, Symbolen und Geschichten in der Beziehung vergesellschaftende Wirkung hatte. Wie in den anderen Feldern geht es darum zu zeigen, was sich über diese Beziehung sagen liess, wann etwas gesagt wurde und warum. Gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt Quellen in grosser Fülle immer leichter zugänglich werden. Im Lauf der Untersuchung für diese Arbeit sind mehrere Quellenbestände, die der Arbeit zugrunde liegen, elektronisiert worden. Dies erleichterte die Untersuchung einerseits, vergrösserte aber den Quellenumfang andererseits und erforderte Disziplin bei der Auswertung. Zur Rekonstruktion der Diskurse stützt sich die Arbeit auf mehrere Quellenserien und punktuell auf Quellenbestände kleineren Umfangs. Hauptquelle ist das seit 1868 publizierte und bis 1939 ausgewertete Bulletin international des Sociétés de la Croix-Rouge, das ab 1919 inhaltlich ausgeweitet das und monatlich auch unter dem Namen Revue internationale de la CroixRouge ausschliesslich in französischer Sprache erschien.49 Das IKRK liess sich durch die Rotkreuzkonferenz in Berlin 1869 den Auftrag zur Publikation des in einer Auflage von 1800 Exemplaren erscheinenden Bulletin geben:50 «La conférence regarde comme indispensable la création d’un journal, qui mette en rapport les Comités centraux des divers pays, et porte à leur connaissance les faits, officiels et autres, qu’il leur importe de connaître. La rédaction de ce journal est confiée au Comité international de Genève, sans qu’aucun frais puisse être 25
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mis, de ce chef, à la charge des membres de ce Comité.»51 Chefredaktor der Zeitschrift war über viele Jahre und während der Zwischenkriegszeit das IKRK-Mitglied Paul Des Gouttes. Diese Quelle ist durch ihre relativ einfache Zugänglichkeit und Lückenlosigkeit ein dankbarer erster Anlaufpunkt für Forschende, und sie wurde entsprechend oft und auch systematisch im Hinblick auf andere Fragestellungen hin ausgewertet.52 Gleichzeitig stellte das Bulletin von Beginn weg ein Strategieinstrument der Bewegung dar. Für die vorliegende Arbeit ist die Quelle interessant, weil sie durch ihren internationalen Fokus und ihre thematische Vielfalt verschiedenste Diskursstränge vereinigt. Ergänzt wird diese Zeitschrift durch das halbmonatlich erscheinende Organ des SRK Das Rote Kreuz. Abgerundet werden diese seriell vorhandenen Quellenbestände durch die unpublizierten Protokolle des SRK-Zentralkomitees sowie die im IKRK-Archiv befindlichen unpublizierten Protokolle der Komiteesitzungen. Mit dem Schweizerischen Bundesblatt, der Neuen Zürcher Zeitung sowie dem Journal de Genève wurden zudem drei Quellenserien konsultiert, welche die Diskursstränge mit grösserer Distanz zum IKRK respektive zur Schweiz spiegeln. Diese Quellenbestände sind gezielt durch gedruckte Schriften, die Anteil an Schweizer Diskursen der Zwischenkriegszeit haben, ergänzt worden. Es ging um den Versuch, auch Grenzen eines Diskurses zu erforschten, was zu der systematischen Auswertung der Schweizer Monatshefte, des American Journal of International Law, der Friedenswarte und der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift führte, die allesamt online verfügbar sind. Unpublizierte Bestände des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD) im Schweizerischen Bundesarchiv sowie die reichhaltigen Bestände des IKRK-Archivs wurden gezielt konsultiert, und sie ermöglichten es, die aus den Serien gewonnenen Erkenntnisse zu ergänzen. Schliesslich wurde auch in Ergänzung zu den Quellenserien auf verschiedene unpublizierte Bestände aus persönlichen Nachlässen zurückgegriffen. Dabei handelt es sich einerseits um die noch weitgehend unerforschten Nachlässe von Philipp Etter (Staatsarchiv Zug) und Carl und Gustav A. Bohny (Bruchstücke, in Privatbesitz) sowie um die vergleichsweise gut erforschten, aber nicht minder ergiebigen Nachlässe von Max Huber (Zentralbibliothek Zürich) und Carl Jacob Burckhardt (Universität Basel). Im Zentrum der Materialverwertung aus diesen Nachlässen standen die Erfassung und Auswertung privater Korrespondenz. 26
10 Der Autor Thomas Brückner (* 1979) ist in Basel aufgewachsen. Magister Artium in Geschichte, Politikwissenschaften und Soziologie an der FU Berlin, Erasmus-Jahr an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Master of Science in «Theory and History of International Relations» an der London School of Economics, gefördert durch die Kurt-Tucholsky-Stiftung. 2009 bis 2015 Doktorstudium an der Universität Zürich, daneben Arbeit als Mediensprecher für die Eidgenössische Steuerverwaltung. Seit 1. Juli 2015 Leiter Kommunikation der Vollzugsstelle für den Zivildienst (ZIVI).
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Hilfe schenken Die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919–1939
Thomas Brückner Hilfe schenken Die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919 – 1939
Thomas Brückner
Die Beziehung zwischen dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und der Schweiz ist viel beschrieben und wenig untersucht. Dieses Buch widmet sich den verschiede nen Dimensionen der Beziehung. Der Autor konzentriert sich nicht auf Kriege, sondern fragt nach der Beziehungsent wicklung in Zeiten des Friedens. Er identifiziert den Zeitraum von 1919 bis 1939 als einen Schlüsselzeitraum für die einzig artige Nähe des IKRK zur Schweiz, der den Handlungsspielraum der Verwandtschaft in Weiss und Rot im Zweiten Weltkrieg mit erklärt. Konstant war das Geben, Nehmen und Erwidern zwischen dem IKRK und der Schweiz. Die Bedeutung des IKRK für die Schweiz wuchs ab dem Ersten Weltkrieg bis in die Zeit der geistigen Landesverteidigung, die beide Institutionen fest aneinanderband.
Verlag Neue Zürcher Zeitung ISBN 978-3-03810-194-9 ISBN 978-3-03810-194-9
9 783038 101949 www.nzz-libro.ch