Mit Hansjakobli in die Postmoderne Ein Lied aus Kinderzeiten will mir nicht aus dem Sinn. Es handelt von einem Hansjakobli und einem Babettli, die mit ihrem Chuchitaburettli ein wildes Spiel aufführen. Die Verse stammen von Mani Matter, und ich fand sie ungemein lustig trotz einer entscheidenden Verständnislücke: Ich hatte keine Ahnung, was ein Taburettli ist. Beziehungsweise: Ich hatte eine Ahnung, aber diese zielte an den Realitäten vorbei. Ich hielt das Taburettli für eine berndeutsche Variante des Tabletts, und wenn ich mir vorstellte, wie die beiden Hauptfiguren auf einem Tablett herumturnten, sie oben und er unten und umgekehrt, konnte ich mich kaum halten vor Lachen. Beim Volkslied «Frère Jacques» wiederum, das wir im Primarschulzimmer ohne Textbuch und ohne Frühfranzösisch anzustimmen pflegten, missverstand ich den Refrain gründlich: «Sonnez les matines» hielt ich selbst
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nach hundertfachem Anhören für ein Frühstücksgetränk, eine fremdsprachige Variante der Ovomaltine. Ungeachtet dieses Irrtums, über den ich erst Jahre später aufgeklärt wurde, sang ich das Lied stets aus voller Kehle, wenn ich alleine in den Keller steigen musste. Und stets verliehen Text und Melodie meiner ängstlichen Kinderseele die «Ovo»-Kraft, allen in der dunklen Unterwelt lauernden Gefahren zu trotzen. Mittlerweile ist mein Allgemeinwissen durch ein paar tausend Schulstunden und einige Dutzend Seminare aufpoliert worden – mit dem Ergebnis, dass sich die Verständnislücken auf eine höhere Ebene verlagert haben. Jahrzehntelang hielt ich ein Faktotum in unglücklicher Anwendung magerer Lateinkenntnisse für die total verstärkte Form eines Faktums. Die Lautfolge «postmodern» klang für mich noch im fünften Studiensemester der Kunstgeschichte nach «post mortem». Gewiss weiss ich inzwischen solche Mängel zu relativieren. So belegt ein mir kürzlich zugesandtes Schreiben eines Zürcher Gemeinderats, der mir vom «Faktotum des Verlierens» berichtete, dass auch für ge standene Parlamentarier Fremdwörter Glückssache sind. Und es werfen zwar die Gäste jeder Kunstvernissage mit Attributen wie «postmodern» um sich, sobald ein Werk ihren Sinn für Ästhetik überfordert. Doch wenn man sie um Definitionen bittet, liefern sie Gemeinplätze oder bleiben stumm. Genau wie Kinder führen Erwachsene Wörter im Mund, von deren Bedeutung sie bei Lichte betrachtet keinen blassen Schimmer haben. Zur Vermeidung von Blössen legen sie sich Inhalte zurecht, um Smalltalk über Themen vom Existenzialismus bis zur Rechtschreibereform führen zu können. Bloss ermangelt es uns im Unterschied zu Kindern meist der nötigen Phantasie, um die Versatzstücke der Halbbildung in einen sinnstiftenden Zusammenhang zu fügen. 74
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Gute Stürme, schlechte Stürme Seit ich denken kann, beschäftigt mich die Frage, wie Namen unsere Wahrnehmung vom Bezeichneten prägen. Ob der Kakerlak wohl populärer wäre, wenn die ihm zugedachte Laut kette unserer Kehle schmeichelte, statt zu kratzen wie Schmirgelpapier? Wäre Roger Federer auch zum Weltstar avanciert, wenn er Hansheiri Hösli-Rüdisüli hiesse? Sind Putzfrauen angesehener, seit sie Raumpflegerinnen heissen? Solche Fragen kreisten mir unlängst mal wieder im Kopf, während es nächtens wild an den Fenstern rüttelte und Ziegel über meiner Dachwohnung wegzupflücken drohte wie lose Milchzähne. Dass ich trotz diesem Aufruhr bald seelenruhig einschlief, verdankte ich dem Vertrauen ins weibliche Prinzip. Es wütete die in der Presse angekündigte Andrea. Und wenngleich diesen Namen auch Männer tragen, war er in dem Fall garantiert feminin, gemäss nomenklatorischen Regeln für Sturmtiefs. Der Umstand wirkte wie Baldrian auf mich. Nicht dass ich dem Weiblichen destruktives Potenzial abspräche. Es gibt böse Mädchen-Gangs, volle Frauengefängnisse. Und doch glaube ich – Alice Schwarzer mag mich nun der Verbreitung von Genderklischees bezichtigen – aus Erfahrung, dass es das andere Geschlecht grundsätzlich gut mit mir meint. Andrea mochte also etwas rabiat zum Tanze bitten. Doch wie fein war ihr Takt im Vergleich zur kruden Brutalität eines Lothar, der einst aus ganzen Landstrichen Kleinholz gemacht hatte! Wie virtuos streute sie Schnee, diesen poetischsten aller Niederschläge! Selbst als ich später erfuhr, dass sie mit ihren Pirouetten quer durch den Kontinent für Verkehrschaos, 85
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Stromausfall und Verletzte gesorgt hatte, vermochte das meinen Glauben an ihr edles Gemüt nicht abzutöten. Das wird mir mit Olivia, Stella, Rebekka und all den anderen ungestümen Stürmerinnen, die heuer noch kommen werden, kaum anders gehen. Jedoch, ach!, nächstes Jahr wird alles wieder anders aussehen. Denn Tiefdruckgebiete sind, alternierend mit Hochdrucklagen, nur zweijährlich weiblich. Das entschied die Freie Universität Berlin, die Europas Stürme benennt, um die Jahrtausendwende – auf Intervention von Frauenverbänden hin: Sie hatten das von ihnen vertretene Geschlecht durch ständige Assoziation mit tendenziell üblerem Tiefdruckwetter diskriminiert gesehen. So schickt man uns also jedes zweite Jahr maskuline Or kane auf den Hals, von Gulliver über Xerxes bis zu Zoran. Die klingen ungemein gefährlich. Bloss: Können sie schlimmer sein als der eiskalte Killer namens Cooper, der als Hoch aus Sibirien kam, aber hundertmal miesere Laune verbreitet als seine Cousine Andrea?
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