«Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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Porträts von Philipp Dreyer Fotografien von Mara Truog

«Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden» Herausgegeben von Stadt Zürich/Altersheime

Verlag Neue Zürcher Zeitung Leseprobe aus «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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Inhalt

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«Ich muss das akzeptieren. Aber vieles ist gut.» Vorwort von Ueli Schwarzmann

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Ernst Stauffer: «Jeder möchte doch gerne abheben.»

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Lina Schnidrig: «Eigentlich habe ich hier immer gute Tage.»

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Erika Rellstab: «Ich konnte immer tun, was ich wollte.»

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Peter Meier: «Im Alter wird man verletzlicher.»

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Andreas und Anneliese Egger: «Ich trauere der Vergangenheit nicht nach.»

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Klara Milt-Becker: «Ich freue mich auf den nächsten Frühling.»

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Bruno Schuler: «Ich stehe zum Blödsinn, den ich gemacht habe.»

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Lina Rusterholz: «Jesses Gott, jetzt bin ich schon so alt.»

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Ernst Stegmann: «Meine Maschinen werden mich überleben.»

95

Helene Loder: «Je länger ich hier bin, desto besser geht es mir.»

105 Adolf Dürst: «Mir ist jeder Tag lieb und recht.» 113

Rosa Keller: «Jetzt kann ich in diesem Buch von meinem Leben erzählen.»

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Alfred Ilk: «Altersheime stehen im Widerspruch zur Natur.»

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Anna Städeli: «Ich habe immer das Beste aus der Situation gemacht.»

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Konrad Akert: «Es ist wunderschön, im Alter jemanden an seiner Seite zu haben.»

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Heidi Leuppi: «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden.»

165 Elisa Stauffer: «Ich freue mich, dass ich noch da bin.»

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Das kleinere Übel? Nachwort von Judith Giovannelli-Blocher

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Vorwort

«Ich muss das akzeptieren. Aber vieles ist gut.»

Das Alter löst bei Betroffenen und in der Gesellschaft häufig ambivalente Gefühle aus, obwohl wir im Vergleich zu unseren Vorfahren ein Leben mit vielen gewonnenen Jahren leben. Ein solches Leben bietet zahlreiche Möglichkeiten und Überraschungen. Marketingfachleute wittern Konsumpotenzial und sprechen vom Golden Age. Ältere Menschen werden gar Silver Surfers genannt. Trotzdem gibt es Grenzen, die den Menschen zu schaffen machen: das hohe Alter. Dieses birgt zwar noch immer Potenziale, unsere Gesellschaft sieht darin aber vor allem Defizite und betont sie im öffentlichen Diskurs: Demenz, Depressionen und Pflegekosten heissen nur einige der Schlagwörter. Diese Themen sind leider Realität. Alte Menschen sind mit einer zunehmenden Fragilität konfrontiert, bisweilen auch mit Pflegebedürftigkeit. Diese fordern sie heraus und machen häufig eine zunehmende Unterstützung durch die Gesellschaft nötig. Kürzlich gratulierte ich einer Dame zu ihrem 102. Geburtstag. Sie lebt in einem der 27 Stadtzürcher Altersheime. Ihr Leben als Lingère war hart. Nicht alle «Herrschaften», für die sie arbeitete, waren freundlich. Trotz Widrigkeiten in ihrem Leben strahlt sie Zufriedenheit aus. Leseprobe aus «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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Seit Kurzem macht ihr eine Sehbehinderung stark zu schaffen. «Ich muss das akzeptieren», sagt sie, «aber so vieles ist gut.» Nicht alle Menschen sind derart positiv eingestellt. Bei vielen macht sich Frustration breit. Enttäuschungen und Bitterkeit tauchen aber nicht erst im Alter auf. In unserer Gesellschaft existieren die unterschiedlichsten Bilder vom Alter. Viele sind nicht sehr schmeichelhaft. Im Gegenteil. Der gesellschaftliche Status alter Menschen ist bei uns, im Vergleich zu anderen Kulturen, gering. Doch diese Menschen haben in ihrem langen Leben viel erlebt und mussten etliche Entbehrungen in Kauf nehmen. Sie sind Experten im Umgang mit unterschiedlichsten Herausforderungen und wurden immer wieder vor die Frage gestellt: «Wie bewältige ich diese Situation?» Dass sie auch Zeugen historischer Zeitereignisse sind, von denen jüngere Menschen einzig noch in Büchern lesen können, interessiert die Öffentlichkeit wenig. Mit diesem Buch soll die Neugierde geweckt werden. 17 Frauen und Männer unterschiedlichen Alters sind darin porträtiert. Sie alle leben in einem Stadtzürcher Altersheim und geben uns die einmalige Chance, einen spannenden Einblick in ihr Leben zu erhalten. Sie stammen aus den verschiedensten Schichten und haben ihre eigenen Wertvorstellungen. Ihr bewegtes Leben hat viele Überraschungen für sie bereitgehalten, mit denen sie ganz unterschiedlich umgegangen sind. Alter ist ein soziologischer Begriff, aber diese Lebensphase ist nicht uniform. Die 17 Menschen stehen stellvertretend für viele. Sie zeigen die Vielfalt des Alters. Denn es ist bunt und schillernd. Eigentlich schwer verständlich, dass unsere Gesellschaft den alten Menschen oft so wenig Respekt entgegenbringt. Man begegnet ihnen auf der Strasse, in Tram und Bus. Dennoch nimmt man sie kaum wahr. Sie fallen höchstens dann auf, wenn sie für alltägliche Dinge mehr Zeit brauchen, als wir, die im Berufsleben stehen. Wir aber eilen hastig an ihnen vorüber. Mit zunehmendem Alter brauchen Menschen in der Regel vermehrt Unterstützung. Selbstbestimmung ist ein wichtiger Wert in unserer hoch entwickelten Gesellschaft. Sie bedeutet aber für jeden Menschen etwas anderes. Gemeinsam ist, dass wir alle aus verschiedenen Möglichkeiten auswählen möchten. Wahlmöglichkeiten sind gefragt. Wählen möchten wir alle können, unabhängig vom Alter. Aber besonders im Alter. In der breiten Palette des Wohnens im Alter findet sich auch die Wohnform Heim. Gesellschaftliche Bilder bestehen auch hier. Der Begriff Altersheim ist häufig die Metapher für Autonomieverlust und Abhängigkeit. «Trete ich über die Schwelle des Heimes, gebe ich meine Leseprobe aus «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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Vorwort

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Freiheit auf!» Früher drohte man aufmüpfigen Kindern mit dem Heim. Das Heim als Disziplinierungsmassnahme geistert noch immer in unseren Köpfen herum. Diese Institutionen haben sich glücklicherweise gewandelt und sich der Zeit angepasst. Es sind heute Wohnformen für ein selbstbestimmtes Leben in einem geborgenen und sicheren Umfeld. Das Modell der Stadtzürcher Altersheime bietet den unterschiedlichsten Menschen und ihren Bedürfnissen Begleitung und Betreuung an. Ob selbstständig oder schwer pflegebedürftig: Menschen wählen aus unterschiedlichen Gründen diese Wohnform. Einige von ihnen berichten in diesem Buch darüber. Vor allem aber erzählen sie uns aus ihrem vollen Leben, von interessanten und häufig auch schwierigen Ereignissen. Lebensläufe, die immer wieder von Neuem beeindrucken. Der Autor Philipp Dreyer zeichnet diese spannenden Lebensläufe von Persönlichkeiten auf anschauliche und einfühlsame Art auf. Die Fotografin Mara Truog hat die 17 Frauen und Männer in einer ausdrucksstarken und respektvollen Weise in ihrem Zuhause, dem Altersheim, fotografiert. Das Buch will informieren. Aber auch Mut machen und darauf einstimmen, dass das Alter für jeden eine wichtige und herausfordernde Lebensphase darstellt. Demografisch gesehen ist diese Phase ein expandierender Abschnitt. Einiges gilt es dabei zu akzeptieren, vieles ist auch gut. Und Neues ist sogar möglich. Das ist tröstlich.

Ueli Schwarzmann

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«Zitat»

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Lina Schnidrig, Jahrgang 1930, arbeitete viele Jahre im Gastgewerbe und als Telefonmonteurin bei der damaligen PTT. Als geschiedene Frau zog sie ihre drei Kinder allein gross. Seit dem Jahr 2000 wohnt die gebürtige Walliserin im Altersheim Wolfswinkel. Sie hat das Internet entdeckt und ist von dieser Technik begeistert.

«Eigentlich habe ich hier immer gute Tage.»

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22 «Eigentlich habe ich hier immer gute Tage.»

Lina Schnidrig, 80: «Heute habe ich von einem meiner beiden Urgrosskinder eine Mail erhalten. Ich hab sie gleich ausgedruckt.» Leseprobe aus «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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Lina Schnidrig

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Der Laptop ist mit einer beigebraunen, fein gestickten Häkeldecke zugedeckt. «Heute habe ich von einem meiner beiden Urgrosskinder eine Mail erhalten», strahlt Lina Schnidrig. «Ich hab sie gleich ausgedruckt.» In ihrer elektronischen Adresskartei sind 40 Mailadressen gespeichert. Vor sechs Jahren hatten Geschäftsleute aus dem Quartier und der Pfarrer dem Altersheim zwei Computer geschenkt. Lina Schnidrig war skeptisch und lehnte das Angebot, im Altersheim einen Computerkurs zu besuchen, zuerst strikte ab. Dann änderte sie ihre Meinung und wollte die neue Technik doch ausprobieren. Als sie die Computermaus zum ersten Mal benutzte, war das, als hätte sie einen verlängerten Finger. «Ich war völlig überrascht.» In der zweiten Lektion fragte sie bereits nach einer eigenen E-Mail-Adresse und wollte wissen, wie man Mails verschickt und empfängt. «Kolossal interessant, diese Technik», meint die rüstige, 80-jährige Rentnerin und sagt dann ganz selbstverständlich, als nenne sie ihre Wohnadresse: «Ich heisse übrigens lini3717@gmx.ch.» Seit Lina Schnidrig mit dem Internet vertraut ist, jasst sie abends online mit ihren virtuellen Partnern. «Das macht riesig Spass, denn jetzt weiss ich endlich, wie man den Schieber richtig spielt.» Als Hintergrundmusik erklingen jeweils Heimat- und Volkslieder ab CD, gesungen von den Fischer Chören. Das Internetjassen ersetze natürlich nicht das «richtige» Jassen, findet die aktive Seniorin. Deshalb trifft sie sich jeden Mittwochnachmittag mit Bekannten zum Jassen. Bei den Melodien der Fischer Chöre träumt sie von einer heilen Welt, die ihr verwehrt geblieben ist. Ihr Vater starb, als sie ein Jahr alt war. Krank sei er nie gewesen. Man habe ihr erzählt, er sei eines Morgens aufgestanden und tot umgefallen. Er hatte mit 42 einen Schlaganfall erlitten. Jede Hilfe kam zu spät, denn die Familie lebte in dem abgelegenen Walliser Dorf Grächen. Einen Arzt im Dorf gab es Anfang der 1930er-Jahre nicht, und bis einer von St. Niklausen her das Walliser Dorf Grächen erreicht hätte, wäre eine Stunde vergangen. Ihr Vater hinterliess eine Frau und 15 Kinder. Lina wuchs mit der vier Jahre älteren Schwester und dem fünf Jahre älteren Bruder zusammen auf. Die anderen Geschwister mussten nach der Schule in die Fremde, um Geld zu verdienen. Sie selbst verliess das Elternhaus mit knapp 14 Jahren: «Das war früher einfach so.» Ihre Mutter sei eine tüchtige Frau gewesen, die immer nur gearbeitet und keine Zeit für die Kinder gehabt habe. Sie musste das «Heimetli» in Schuss halten, dem Kleinvieh schauen, auf dem Feld arbeiten und die Wiesen mähen. Lina litt auch darunter, dass ihre beiden älteren Geschwister sie ständig plagten und sie ihnen immer gehorchen musste. «Sie behanLeseprobe aus «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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«Eigentlich habe ich hier immer gute Tage.»

delten mich wie einen Hund und schlugen mich mit ihren Schuhen.» Mit trauriger Stimme erzählt sie von ihren Erlebnissen damals. Eines Tages auf dem Weg zur Schule rannten die Geschwister ihr nach und riefen: «Du musst umkehren. Die Lehrerin hat befohlen, dass du als Strafe zu Hause bleiben musst.» Das Kind verstand die Welt nicht mehr und trottete brav zurück. Der Lehrerin erzählte sie am anderen Tag, sie habe zu Hause helfen müssen. Ihre Mutter wusste nichts von alledem. Lina wagte es nicht, sich jemandem anzuvertrauen. Zu gross war ihre Angst, die Geschwister könnten es erfahren und sie dafür bestrafen. Auch hänselte ihre Schwester sie häufig, wie dumm sie sei. «Dabei waren meine Schulzeugnisse viel besser als ihre», sagt Lina Schnidrig lächelnd. Während sie über diese Zeit spricht, liegen ihre beiden Arme entspannt auf der Armlehne ihres Sessels. Wie stark ihre Kindheitserlebnisse sie noch heute beschäftigen, merkt man nur daran, wie ausführlich sie davon erzählt. Dann berichtet sie von den Geldsorgen zu Hause. Die einzige Kuh im Stall lieferte die Milch. Das Kalb, das sie jedes Jahr bekam, wurde verkauft, um die angehäuften Schulden im Dorfladen zu begleichen. Tief im Innern habe sie gewusst, dass ihre Mutter sie lieb hatte. «Aber sie konnte ihre Zuneigung nicht zeigen.» Die Lehrerin habe es gut mit ihr gemeint. Nach Abschluss der siebten Klasse schlug sie der Mutter vor, ihre Tochter in die Haushaltungsschule nach Brig zu schicken. Dafür habe sie kein Geld, erklärte die Mutter. Daraufhin sagte die Lehrerin, sie würde das Schulgeld gerne übernehmen, wenn sie nichts dagegen habe. «Die grosszügige Geste war der eigentliche Start in mein Leben.» Nach dem Abschluss des Haushaltlehrjahres war Lina Schnidrig sich bewusst, sie hatte etwas gelernt und konnte etwas. «Ich war schon immer eine wahnsinnig praktische Frau.» Fürs Altersheim hat sie schon mehr als 40 Deckchen gehäkelt, die alle Abnehmer fanden. «Und übrigens habe ich diese Lampe hier», sie zeigt in Richtung Decke, «selber montiert, als ich hier einzog. Heute könnte ich das nicht mehr», gesteht sie. «Ich hatte schon immer gerne ein schönes Zuhause.» Das hat sich auch im Altersheim nicht geändert. Für sie gehören ein Fernseher und ein Videogerät dazu. Sie schaut sich gerne Krimis an. «Aber nicht am Abend», präzisiert sie, «sonst träume ich davon.» Früher liebte sie Wildwestfilme, «es musste einfach etwas laufen». Und natürlich schaue sie regelmässig Tennis, wenn Roger Federer spiele. Die Videokassetten, die sich in ihrem Regal stapeln, enthalten eine Mischung aus Heimatfilmen, Volksmusikaufzeichnungen und Krimis. Leseprobe aus «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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Lina Schnidrig

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Am meisten aber bedeutet ihr der kleine Schreibtisch am Fenster. «Den habe ich selber zusammengebaut, Stück für Stück.» Als sie das Möbelstück von Ikea per Internet bestellte, glaubte sie, es werde fixfertig montiert geliefert. Dann stand sie vor drei Paketen mit Brettern, unzähligen Schrauben und einer ausführlichen Montageanleitung. «Aber nach vier Tagen stand mein Möbelchen bereit», sagt sie, «und darauf bin ich wahnsinnig stolz.» Die handwerkliche Fähigkeit habe sie wohl von ihrem Vater geerbt, der jeweils die Schuhe für seine Kinder anfertigte. Nach der Haushaltungsschule arbeitete Lina Schnidrig als Zimmermädchen im Hotel Walliserhof in Zermatt und bei einer Cousine, die in Genf ein Restaurant führte. Das ewige Putzen mochte sie gar nicht. Mehr nach ihrem Gusto war die Arbeit als Köchin bei einer Familie in der Rhonestadt. Hier blieb sie fünf Jahre. Regelmässig sass am Mittagstisch ein Herr Löw. Er war der Besitzer des Modegeschäftes an der Zürcher Bahnhofstrasse. «Wissen Sie was, Lina, kommen Sie zu uns nach England», schlug er ihr vor und bot ihr einen Lohn an, der doppelt so hoch war wie der bisherige. In London habe sie eine schöne Zeit verbracht. Aber nach eineinhalb Jahren wollte sie wieder zurück nach Zürich. Dort, im Restaurant Urania nahm ihr Leben eine neue Wende. Sie arbeitete als Serviertochter, und ein charmanter italienischer Gast machte ihr den Hof. Sie kamen sich näher. «Er war meine grosse Liebe», davon ist sie noch heute überzeugt. Als sie ein Kind von ihm erwartete, heiratete sie ihn. Dass ihr geliebter Mann mit Kindern nichts anfangen konnte und gewalttätig war, davon ahnte Lina Schnidrig damals nichts. Eine ihrer Schwestern hatte ihr von dieser Heirat abgeraten. «Lini, das kann nicht gut gehen», sagte sie in leiser Vorahnung und schlug ihr vor, das Kind gemeinsam aufzuziehen. Davon wollte Lina nichts wissen und erwiderte ihrer Schwester: «Wir sind ohne Vater aufgewachsen, und ich möchte, dass mein Sohn einen Vater hat. Ich werde alles tun, damit es gut herauskommt.» Rückblickend findet sie, sie hätte auf ihre Schwester hören sollen. «Doch dann hätte ich die beiden Mädchen nicht bekommen», sagt sie. «Alles im Leben hat Vor- und Nachteile.» Wäre sie noch einmal jung, würde sie vermutlich heute nicht mehr heiraten. «Aber was soll man tun, wenn man verliebt ist ...?», fragt sie und gibt die Antwort gleich selber: «Es ist halt einfach so gekommen.» Als Lina Schnidrig im siebten Monat schwanger war, erzählte sie ihrem Mann voller Freude, dass sich das Kind im Bauch bewegt habe. Er gab ihr eine Ohrfeige und fragte, ob der «Goof» bereits mehr wert sei als er. Was sie bei dieser Demütigung empfand, dafür fehlen ihr die Worte. Auch darauf, dass er die Leseprobe aus «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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«Eigentlich habe ich hier immer gute Tage.»

Kinder oft schlug und sie sich schützend vor sie stellte, möchte sie nicht näher eingehen. «Hätten wir keine Kinder gehabt, wären wir heute noch zusammen», glaubt sie. «Ich war sicher, er hatte mich aus Liebe geheiratet.» Nach zwölf Ehejahren war die Scheidung die grosse Erlösung. «Ich war so froh, endlich frei zu sein.» Ihr Ex-Mann durfte die Kinder nicht mehr sehen. Das Scheitern ihrer Ehe war für Lina Schnidrig die grösste Enttäuschung in ihrem Leben. Noch heute kann sie kaum begreifen, dass sie sich in diesem Menschen derart getäuscht hat. «Unglaublich», sagt sie, «einfach unglaublich.» Da stand sie nun, als 32-jährige Mutter mit drei Kindern im Alter zwischen fünf und acht Jahren. Man schrieb das Jahr 1964. Ihr Chef im Restaurant Urania vermittelte ihr eine günstige Vierzimmerwohnung. Auch eine ihrer Schwestern zog mit ein. «Sie half mir während acht Jahren, die drei Kinder grosszuziehen. Ohne ihre Unterstützung wäre das nicht möglich gewesen.» Wenigstens hatte sie keine finanziellen Sorgen. Als fröhliche und flinke Serviertochter hatte sie einen anständigen Lohn, und ihr Chef freute sich über die tollen Umsätze. «Ich konnte es gut mit den Gästen», sagt sie und lächelt verschmitzt. «Ich war fleissig, eben eine echte Walliserin.» Wie ihre Mutter hatte auch sie kaum Zeit für ihre Kinder. Sie arbeitete manchmal sieben Tage die Woche. Als die Kinder älter waren, bekam sie zu hören, sie hätten zu wenig Liebe bekommen. «Doch ich selbst hatte es ja auch nie gekannt, in den Arm genommen zu werden», verteidigt sich Lina Schnidrig fast 50 Jahre später. Aber als Grossmutter sei sie «hundertprozentig», hätten ihr die Kinder bestätigt. Fünf Jahre nach der Scheidung lernte sie einen Mann kennen, mit dem sie über 20 Jahre, bis zu seinem Tod, zusammenblieb. Diese Zeit bezeichnet sie als ihre schönsten Jahre. Beide arbeiteten («ich verdiente zwar mehr als er») und konnten sich deshalb ein Auto und Ferien im Ausland leisten. «Wir hatten einen Audi Quattro», schwärmt sie, «das war ein toller Wagen.» Ihre Kinder respektierten den neuen Mann. Besonders der Bub sei sehr gut mit ihm ausgekommen, die Mädchen weniger, weil sie eifersüchtig gewesen seien. Sie musste ihren Kindern versprechen, nie mehr zu heiraten. Sie wollten unter keinen Umständen nochmals einen Vater. Sie hielt ihr Versprechen, nicht nur wegen der Kinder. «Ich hätte nie mehr einem Mann gehorcht», sagt sie, «wie mir das als junges Mädchen eingetrichtert wurde.» Nach zwölf Jahren im Gastgewerbe wurden ihr die unregelmässigen Arbeitszeiten zu anstrengend. «Ich suchte eine Arbeit, bei der es möglich war, am Abend zu Hause bei meinen Kindern zu sein.» Eine Bekannte arbeitete bei der Post und reinigte die Telefonapparate. «Die Leseprobe aus «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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Lina Schnidrig

Lina Schnidrig häkelt gerne schöne Kleidchen für ihre Barbie-Puppen. Leseprobe aus «Mein Leben ist mit vielen Geschichten verbunden»

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«Eigentlich habe ich hier immer gute Tage.»

Arbeit war mir egal. Hauptsache, ich hatte früh Feierabend.» Weil sie sehr gute Arbeitszeugnisse hatte, konnte sie direkt in der Zentrale des Störungsdienstes beginnen. In ihrer Karriere bei der Post schaffte sie es bis zur Telefonmonteurin. Mit 70 Jahren zog Lina Schnidrig ins Altersheim Wolfswinkel, weil sie im Quartier Affoltern bleiben wollte. Der Umzug geschah nicht ganz freiwillig. Ihre Dreizimmerwohnung im selben Quartier, wo sie 25 Jahre lang gelebt hatte, bezeichnet sie als «ganz besonders schön». Kurz vor der Pensionierung stellte sie ihre Wohnung um, kaufte sich eine neue Wohnwand und einen Esstisch aus Kirschenholz. «In meinen vier Wänden», sagt sie, «wollte ich sterben.» Eine Lungenentzündung, von der sie sich nicht mehr richtig erholte, machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Dann bekam sie Asthma. Plötzlich hatte sie in ihrer geliebten Wohnung Platzangst und stellte sich vor, wie sie tot im Sessel sitzt und Tage verstreichen, bis jemand sie findet. «Mein Gott, was für eine Vorstellung», sagt die sonst unerschrockene Frau. «Ich hatte einfach Angst.» Im Altersheim musste sie zu Beginn bei Asthmaattacken den Pfleger rufen. Er riet ihr, in solchen Momenten auf den Balkon zu gehen und tief durchzuatmen. Das habe genützt. Besuch bekommt sie selten im Altersheim. Ihre Familie trifft sie jeweils an Weihnachten bei ihrem Sohn. Von ihren 13 Geschwistern ist sie die Einzige, die noch lebt. Ihre zwei Geschwister, mit denen sie aufwuchs, amüsierten sich noch als Erwachsene über ihre Gemeinheiten. «Lini, weisst du noch, wie Josi über die Brombeeren gepinkelt hat und du die Beeren essen musstest?» Wenn sie an diese Demütigungen denke, sei ihr nach Weinen zumute, sagt Lina Schnidrig. «Mir fehlte einfach der Mut, mich zu wehren. Ich hatte doch keine Chance.» Das Erlebte in ihrer Kindheit hat sie innerlich fragil gemacht. Als der Heimleiter sie vor einigen Jahren fragte, ob sie nicht in den Heimrat wolle, habe sie abgewehrt. «Um Gottes willen», meinte sie, die sonst um einen flotten Spruch nicht verlegen ist. «Es gibt immer noch Momente, in denen ich mich unsicher und gehemmt fühle.» Dann sei die Angst wieder da, etwas Falsches zu sagen. Sie half lieber dem Personal und schob jeden Tag die Wägelchen mit dem Essen für die Mitpensionäre an die Tische. Oder sie holte für sie Medikamente in der Apotheke, begleitete sie zum Arzt. Und das während neun Jahren. «Das war zu der Zeit, als ich noch besser zu Fuss war.» Als sie vergangenen Dezember nicht mehr gehen konnte, half ihr eine Kortisonspritze wieder auf die Beine. Das alles komme vom Rücken, diagnostizierten die Ärzte. Seither spürt sie ein ständiges Zwicken im rechten Bein. «Ich habe dem Herrgott noch nie so von Herzen

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Lina Schnidrig

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gedankt, dass ich wieder laufen konnte.» Die Wirkung einer solchen Spritze halte drei Monate an, und sie bitte jeweils auch dann den Herrgott, dass er sie weiterhin gehen lasse. «Das ist der grösste Wunsch in meinem Leben.» Sich nicht mehr zu Fuss bewegen zu können, wäre für sie nicht auszuhalten. Sie, die so gerne am Katzensee spazieren geht. Man glaubt Lina Schnidrig, wenn sie sagt, sie habe keine Angst vor dem Tod und vor dem Sterben. Hingegen beschleicht sie eine diffuse Angst, wenn sie an die bald 100-jährigen Bewohnerinnen im Heim denkt, die Tag und Nacht Schmerzen haben oder an Demenz leiden. «Ich sehe hier so viel Trauriges», sagt sie leise und erzählt von ihrem Zimmernachbarn, der an Alzheimer erkrankt ist. Das sei doch kein Leben mehr, findet sie und erzählt von einer Bekannten im dritten Stock, die geistig sehr präsent sei, aber nicht mehr gehen könne. «Wenn ich so weit bin, will ich den Herrgott bitten, er solle mich holen kommen.» Auf die Frage, wann ein Tag für sie perfekt sei, antwortet sie: «Eigentlich habe ich hier immer gute Tage.» Sie gehe spazieren, und das Zimmer werde für sie gereinigt. «Ich muss mich um nichts mehr kümmern. Ist doch wunderbar! Und ich kann jeweils aus drei verschiedenen Mittagsmenüs auswählen.» Das Abendessen lasse sie aber immer aus. «Das ist mir zu viel, ich bin dick genug», meint sie mit Schalk in den Augen. «Hier bin ich gut aufgehoben und fühle mich zu Hause», und sie fügt hinzu, sie habe einen sehr guten Kontakt zu den Leuten, ganz besonders zum Pflegepersonal. Vielleicht habe sie durch ihre Art, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind, einige Neider, vermutet sie. «Seit ich hier bin, musste ich jedenfalls noch nie reklamieren.» Sie wisse von drei oder vier Frauen, die ständig über das Essen meckerten. «Vielleicht sind sie vom Leben enttäuscht worden. Eine Tischnachbarin ... Aber das gehört nicht hierher.»

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