Matthias Finger: SBB - Was nun?

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Matthias Finger SBB – was nun?

Die Entwicklung der modernen Schweiz ist untrennbar mit der Entwicklung der SBB verbunden: Bis heute ist die Bahn ein Grundpfeiler des Landes. Um die Geschichte des Erfolgsmodells Schweiz fortschreiben zu können, ist ein leistungsfähiges Mobilitätssystem eine zentrale Voraussetzung. Der Autor argumentiert, dass eine Zehn-Millionen-Schweiz ohne Schweizerische Bundesbahnen nicht funktionieren kann. Er geht auf die Kritik an der SBB ein – Stichworte Service Public, Preissteigerungen, mangelnder Wettbewerb – und zeigt, was die wirklichen Herausforderungen einer Metropolitanregion sind. Wie kann die SBB als identitätsstiftende Institution ihre «Systemführerrolle» im Dienst einer mobilen und wettbewerbsfähigen Schweiz auch in Zukunft wahrnehmen?

Matthias Finger

SBB – was nun? Szenarien für die Organisation der Mobilität in der Schweiz

ISBN 978-3-03810-405-6 ISBN 978-3-03810-405-6

9 783038 104056 www.nzz-libro.ch

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© 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG Lektorat: Simon Wernly, Langenthal Gestaltung, Satz: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-405-6 ISBN e-Book 978-3-03810-426-1 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.


«Systeme müssen nicht unbedingt bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.» «Die Antwort auf die Bahn ist wiederum die Bahn; die Frage ist allerdings, in welcher Form, in welchem Zustand und zu welchem Preis.» Die beiden Zitate sind angepasst und ich entschuldige mich bei deren Autoren. Das erste stammt aus dem Roman von Robert ­Menasse (2018). Die Hauptstadt. Berlin: Suhrkamp. Das zweite vom ehemaligen Generaldirektor der SBB Hans Peter ­Fagagnini.



Inhalt 1  Einleitung.................................................... 9 2  Die Schweiz und die SBB.. ................................ 17 2.1  Erste Etappe: 1848–1901 – die Frage des Eigentums, oder: Wem gehört die SBB ?.............. 17 2.2  Zweite Etappe: 1902–1982 – die Frage der gemeinwirtschaftlichen Leistungen, oder: Wofür bezahlt man denn die SBB ?.................. 20 2.3  Dritte Etappe: 1983–1999 – die Frage der Governance, oder: Wie viel Autonomie für die SBB ?.... 25 2.4  Vierte Etappe: ab 2000 – die Frage der Unternehmensautonomie, oder: Was nun mit der SBB ?............ 30 2.5 Fazit ..................................................... 34 3  Nörgeleien ................................................. 39 3.1 «Die SBB ist zu teuer».................................. 39 3.2 «Die SBB investiert am falschen Ort».. ............... 43 3.3  «Es gibt nicht genug Wettbewerb im Bahnsektor»......45 3.4 «Der SBB geht es nur ums Geld»...................... 49 3.5 «Die SBB reformiert sich auf dem Buckel des Personals»....................................... 52 3.6 «Die SBB baut den Service public ab»................ 53 3.7 «Die SBB handelt über unsere Köpfe hinweg»..........56 4  Die wirklichen Herausforderungen.. ................... 59 4.1  10-Millionen-Schweiz, Verstädterung............... 59 4.2 Multimodalität......................................... 63 4.3  Von der Digitalisierung zu Mobility as a Service......... 69 4.4  Ökologie................................................. 75 4.5  Was bedeutet das alles für die SBB ?................... 77 5  Policy-Szenarien........................................... 79 5.1  «Market is king»........................................ 82 5.2  Tod durch Mikromanagement........................ 89 5.3 Bilanz.................................................... 97


6  Systemführer-Szenario. . ................................. 99 6.1  Von welchen Systemführer-Funktionen sprechen wir?................................................. 99 6.2 Die SBB als Systemführerin?......................... 107 6.3  Institutionelle Ausgestaltung der Systemführerrolle der SBB ............................ 112 6.4  New Public Management oder die saubere Beziehung der SBB zum Staat als Eigner........ 116 6.5  Welcher strategische Freiraum für die SBB ?........ 119 7  SBB – was nun?. . .......................................... 121 7.1  Wettbewerb? Ja, bitte!................................. 122 7.2  Vision und Empfehlungen............................ 124 Anhang.. ...................................................... 133 Bibliografie.................................................... 134 Abkürzungsverzeichnis...................................... 136 Der Autor..................................................... 139


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1 Einleitung Die Politik soll auf Bundesbetriebe wie Post, SBB oder Swisscom wieder mehr Einfluss nehmen, findet der Zürcher SP-Nationalrat ­Thomas Hardegger. Das Parlament soll künftig deren Verwaltungsräte bestimmen, fordert er. Die Ausgestaltung der Grundversorgung sei Sache der Politik und nicht von Managern, sagt Hardegger. Die Bevölkerung sei zunehmend frustriert über verwaiste Bahnhöfe und Poststellen, moniert er. Bei bürgerlichen Parlamentariern stösst die Idee auf Ablehnung. Damit drehe man das Rad um 20 Jahre zurück. (Ostschweiz am Sonntag, 30. 9. 2018) In diesem parlamentarischen Vorstoss kommt Unmut über die aktuelle Entwicklung bei den grossen Schweizer Staatsunternehmen zum Ausdruck. Es ist nur eine von vielen parlamentarischen Unmutsäusserungen, die die SBB , die Post und die Swisscom zum Gegenstand haben. Weitere werden zweifelsohne folgen. Und die Kritik, dass die Manager zu viel Freiraum hätten, ist nur eine von vielen Kritiken – oder, wie ich meine, Nörgeleien –, die in den letzten Jahren an den Staatsbetrieben geübt wurden. Wir wollen uns in diesem Buch mit der SBB auseinandersetzen. Nicht alle kritischen Äusserungen, die das Schweizer Bahnunternehmen betreffen, gehen in die gleiche Richtung, oft sind sie widersprüchlich: Die Privatisierung der SBB wagt zwar heute niemand mehr zu fordern. Vor 20 Jahren war diese Forderung aber durchaus salonfähig. Heute spricht man eher davon, die SBB dem Wettbewerb auszusetzen. Sie soll effizient, pünktlich, billig und innovativ sein und dem neuesten Stand der digitalen Technologie entsprechen. Gleichzeitig soll sie aber auch den Service public (was immer das ist) erbringen oder sogar verkörpern, unrentable Linien und Bahnhöfe bedienen, Züge in Randzeiten halbleer fahren lassen, in Stosszeiten wiederum mehr Züge anbieten und Bahnhöfe und Bahnlinien so ausbauen, dass sie kein Land verbrauchen und den normalen Verkehr nicht beeinträchtigen. Zudem soll die SBB dem Privatsektor keine Konkurrenz machen, zum Beispiel bei den Ladenöffnungszeiten an den Bahn-


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höfen. Die Ladenlokale soll sie gefälligst günstig vermieten, wie der Gewerbeverband für seine Mitglieder fordert. Aber sie soll auch Konkurrenten zulassen auf ihren eigenen Infrastrukturen, Freude haben, wenn Flix- und andere Busse ihr die Kunden wegnehmen, und sich bitte nicht benehmen wie ein fetter Monopolist, dem ein bisschen Wettbewerb nur gut tut. Das Problem ist, dass nicht alles gleichzeitig zu haben ist, oder vielleicht doch? Die SBB als eierlegende Wollmilchsau? Nirgends in Europa – und wahrscheinlich sogar weltweit – fährt man häufiger mit der Bahn als in der Schweiz. Durch­schnittlich 72-mal pro Jahr fuhr 2016 jede Person in der Schweiz ­damit. Dabei wurden 2463 Kilometer zurückgelegt. Dementsprechend ist auch die SBB gut unterwegs: Im ersten Halbjahr 2018 hat die SBB täglich 1,25 Millionen Passagiere befördert (Vorjah­ resperiode 1,24 Mio.). Die Anzahl Generalabonnemente ist im ­Vergleich zur Vorjahresperiode um 2,5 Prozent, diejenige der ­Halbtaxabonnemente um 4,8 Prozent gestiegen. Mehr als drei ­Millionen Reisende haben ein Halbtax- oder Generalabonnement; das sind rund 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Die Schweizer scheinen die Bahn und damit auch die SBB zu brauchen … und zu mögen; und gerade deshalb nörgeln sie vielleicht an ihr herum. Und dies sowohl als Kunden wie auch als Bürger und Steuerzahler. Nur so ist es zu erklären, dass Bahn- und ­ÖV-Vorlagen seit über 30 Jahren konsistent vom Volk unterstützt werden. Zur Erinnerung: 1987 stimmten 57 Prozent der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger der Vorlage «Bahn und Bus 2000» zu, die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT ) bejahten im Jahr 1992 satte 62 Prozent, zur Leistungsabhängigen ­Schwerverkehrsabgabe LSVA sagten im gleichen Jahr 67,1 Prozent Ja, den Fonds zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs FinöV nahm das Stimmvolk im Jahr 1998 mit 63,5 Prozent an und die ­richtungsweisende FABI -Vorlage fand 2014 den Zuspruch von 62,0 Prozent der Schweizer Bevölkerung; einzig im Kanton Schwyz wurde FABI verworfen. Aber für gewisse Bundes-, Kantons- und Lokalpolitiker, aber auch für Vertreter der Verwaltung, insbesondere des BAV , genügt das nicht: Sie hören, sagen sie, dass die Bevölkerung mit


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gewissen Entscheidungen – oder Nicht-Entscheidungen – der SBB unglücklich sei, und wollen die SBB deshalb zwingen, auf deren Anliegen einzugehen. Schliesslich sei die SBB ein Staatsunternehmen und als solches gehöre es eben der Bevölkerung, deren selbsternanntes Sprachrohr wiederum die Politiker, von national bis lokal, die Verwaltung, die Gewerkschaften usw. sind. In diesem Wunschkonzert geht meiner Meinung nach die wichtigste Frage vergessen: Wozu braucht es in der Schweiz eine SBB ? Und falls man sich einig ist, dass die SBB für die Bahn und die Schweiz eine systemrelevante Funktion verkörpert: Wie müssen dann deren institutionelle Rahmenbedingungen ausgestaltet sein, dass die SBB diese Funktion auch effizient erfüllen kann? Darum geht es in diesem Buch. Die ganze Debatte rund um die SBB ist leider in letzter Zeit zu einer grossen Kakofonie verkommen. Es herrscht Kon­ fusion gerade bei den Politikern und, so fürchte ich, immer mehr auch bei der Bevölkerung. Man verliert das Mass der Dinge und weiss nicht mehr, was wichtig und was eigentlich nur Nebengeräusch (oder Nörgelei) ist. Ich habe dieses Buch geschrieben, um die einzelnen Aspekte der Debatte in die richtige Relation zu setzen und den Blick wieder auf die wichtigen Dinge zu lenken: Die SBB ist nicht irgendein Unternehmen, an dem man politisch beliebig herumexperimentieren kann, als ob es nur ein Luxus wäre für die Schweiz, die ja ohne SBB ebsenso gut, wenn nicht besser und vor allem billiger leben würde. Vielmehr hat die SBB zumindest bis zum Autoboom der 1960er-Jahre eine zentrale Rolle bei der Erschliessung und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes gespielt. Auch wenn sich der Anteil der Bahn am gesamten Transportaufkommen seit den 1990er-Jahren bei etwa 40 Prozent für den Güterverkehr und rund 20 Prozent für den Personenverkehr eingependelt hat, sind Bahn und SBB ein Grundpfeiler einer mobilen Schweiz … und werden immer wichtiger, denn die Schweiz wird immer mobiler. Ich bin der festen Überzeugung, und werde in diesem Buch entsprechend argumentieren, dass eine 10-Mil­lio­ nen-Schweiz ohne SBB als Rückgrat des «Bahnsystems Schweiz» – und, wie ich zeigen werde, als «Systemführerin» – nicht funk­ tionieren kann. All die seit einiger Zeit ins Feld geführten «Nör­-


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geleien» an der SBB verfehlen deshalb nicht nur das Ziel, sie vernebeln auch die Debatte, die man eigentlich führen sollte, denn es geht im Grunde genommen um die Frage, wie die SBB insti­ tutionell aufgestellt sein müsste, damit sie auf die Herausforde­ rungen einer mobilen 10-Millionen-Schweiz so antworten kann, dass das Land auch in Zukunft für dessen Bewohnerinnen und Be­wohner attraktiv und als Wirtschaftsstandort ­wettbewerbs­fähig bleibt. Wie ich zeigen werde, wurden die Herausforderungen für die SBB schon früh erkannt und es wurde seit den 1980er-Jahren daraufhin gearbeitet, die SBB entsprechend fit zu machen. Zu Beginn ging es ja auch flott vorwärts, dann aber ist der Reformeifer erlahmt. Erlahmt ist insbesondere das Interesse der Politik und der Verwaltung an einer konsequenten und vollständigen Um­ setzung der Ziele, die mit der Bahnreform I in den Blick genommen worden sind. Zur Erinnerung: Mit der Bahnreform I wurde die SBB 1999 als spezialrechtliche AG aus der Bundesverwaltung ausgegliedert, das Besteller-Ersteller-Prinzip im Regionalverkehr eingeführt und der grenzüberschreitende Güterverkehr in den freien Wettbewerb gestellt. Seither geht es aber nur noch harzig vorwärts, wenn überhaupt. Ich meine, dass es heute darum geht, die 1999 begonnene Bahnreform konsequent zu Ende zu führen, sodass die SBB ihre «Systemführerrolle» im Dienst einer mobilen, attraktiven und wettbewersbfähigen Schweiz auch in Zukunft wahrnehmen kann. 2016 hat mein französischer Kollege Pierre Messulam ein Buch mit dem provokativen Titel Que faire de la SNCF ? publiziert. Der Titel hat mich inspiriert und sein Buch hat mich angeregt, ­etwas Vergleichbares über die SBB zu schreiben. Aber hier muss man gleich anmerken, dass man eigentlich die SNCF und die SBB sowie Frankreich und die Schweiz nicht vergleichen kann: In Frankreich geht es nun wirklich um das Überleben der SNCF . Das Unternehmen hat heute 55 Milliarden Euro Schulden und der Staat hat sich endlich durchgerungen, 20 Milliarden davon zu übernehmen, denn mehr kann er sich nicht leisten. Die französische Eisenbahninfrastruktur ist in einem desolaten Zustand, insbesondere in den Regionen, und das Geld für deren Reparatur fehlt. Es bleiben eigentlich nur Schliessungen von Linien. Der


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Staat will, dass der Regionalverkehr von den Regionen selbst finanziert wird, aber die Regionen sind wegen der schlechten Leistungen nicht gut auf die SNCF zu sprechen und werden bei der erstbesten Ausschreibungsgelegenheit die SNCF abstrafen. Beim einzigen lukrativen Geschäft der SNCF , nämlich bei gewissen (nicht allen) Hochgeschwindigkeitslinien, will der Staat – teilweise auf Druck der EU – Wettbewerb einführen, was dazu führen wird, dass gerade die lukrativsten Linien der SNCF verloren gehen. Was nun mit der SNCF ? Aber noch wichtiger: Welche Zukunft hat die Mobilität auf der Schiene in Frankreich? Die Lage der SBB in der Schweiz ist nicht mit der SNCF vergleichbar. Aber ich habe trotzdem einen ähnlichen Titel gewählt, denn ich möchte nicht, dass es dereinst so herauskommt wie mit der SNCF in Frankreich. Auch will ich zeigen, was wir haben – und erreicht haben – im schweizerischen Bahnsystem, zu einem grossen Teil dank der SBB und der Unterstützung der SBB durch Staat und Bevölkerung. Und genau dies geht in letzter Zeit in der allgemeinen Kakofonie dieser Nörgeleien vergessen. Ich versuche in diesem Buch, die aus meiner Sicht wichtigen Fragen aufzuwerfen. Es sind dies Fragen zur Governance, und nicht nur zur Corporate Governance der SBB : In welchem institutionellen Rahmen soll sich die SBB als Staatsunternehmen in Zukunft bewegen? Welche Rahmenbedingungen wirken lähmend? Politik und Verwaltung legen den Rahmen fest. Meine Lösungsansätze sind als Vorschläge gedacht, als Vorschläge für eine politische und gesellschaftliche ­Debatte rund um die SBB und deren Rolle für die Schweiz. Dementsprechend ist das Buch strukturiert: In einem ersten Kapitel werde ich die untrennbare Geschichte zwischen der Schweiz und der SBB in Erinnerung rufen. Ich habe diese gemeinsame Geschichte in vier Etappen aufgeteilt: Die erste Etappe deckt die Zeit von den Anfängen der Schweizer Eisenbahn bis zur Gründung der SBB ab. Die zweite Etappe umfasst die Zeit zwischen 1902 und 1982, dem Jahr, in dem ein Leistungsauftrag an die SBB definiert wurde. Dieser Leistungsauftrag reflektiert die Erkenntnis, dass man das Verhältnis zwischen Staat und SBB klären muss und die SBB -Führung einen (gewissen, noch nicht sehr grossen)


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1 Einleitung

Spielraum braucht, damit das Unternehmen im Dienst der Schweiz o ­ perieren kann. Die dritte Etappe beginnt 1982 und dauert bis 1999, bis zur sogenannten Bahnreform I. Während dieser Zeit wurden die wichtigsten institutionellen Rahmenbedingungen dieses Freiraums definiert und teilweise implementiert. In der vierten Etappe, der Zeit nach 1999, gerät die Entwicklung der SBB ins Stocken, obwohl die Herausforderungen immer grösser und dringender werden. In einem zweiten Kapitel diskutiere ich dann all die Nörgeleien, die seit 1999 an der SBB abgearbeitet werden und zeige, dass es sich dabei eigentlich um Nebenkriegsschauplätze handelt. Kapitel 3 präsentiert die aus meiner Sicht wichtigsten Herausforderungen, vor denen die Schweiz steht, nämlich die Mobilität in einer 10-Millionen-Schweiz, die Multimodalität, die Digitalisierung der Mobilität und die ökologischen Herausforderungen des Verkehrs. In diesem Kapitel argumentiere ich zudem, dass die SBB bei diesen Herausforderungen eine wichtige, wenn nicht sogar eine zentrale Rolle zu spielen hat. Kapitel 4 zeigt deshalb drei heute mögliche Szenarien der institutionellen Rahmenbedingungen für die SBB auf, nämlich den freien Markt («Market is king»), die zu enge Führung der SBB durch Verwaltung und Politik («Tod durch Mikromanagement») und das dritte, aus meiner Sicht wünschbare Szenario mit der «SBB als Systemführerin». Dieses dritte Szenario wird in Kapitel 6 im Detail beschrieben. Kapitel 7 zeigt schliesslich auf, wie man dieses Systemführer-Szenario konkret umsetzen könnte … und eigentlich müsste. In diesem Schlusskapitel finden sich denn auch die Vorschläge, von denen ich mir erhoffe, dass sie aufgenommen und diskutiert werden. Dieses Buch ist ein «end-of-career book». Darum ist es auch in der Ich-Form geschrieben, ohne akademischen Schnickschnack und ohne Referenzen. Es geht um meine persönlichen Ideen, Überlegungen und Argumente, die ich über die Zeit entwickelt und präzisiert habe. Argumente brauchen keine Referenzen, aber sie sollten überzeugen … hoffentlich. Ich bin seit 2002 Professor für Management von Infrastrukturen an der EPFL . Vorher war ich während acht Jahren Professor für Management öffentlicher Unternehmen. In dieser Zeit habe ich mich in erster Linie


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mit der Governance, der Deregulierung, der Reregulierung, der Privatisierung und dem Service public in den verschiedenen In­ frastrukturen – Post und Telekom, Transport und Energie – befasst. Seit 2010 habe ich die Transportabteilung der Florence School of Regulation aufgebaut. Dort geht es in erster Linie um die Diskussion mit der EU-Kommission zum Thema Liberalisierung und Regulierung im Transport (Eisenbahn, Luftfahrt, lokaler öffentlicher Verkehr). Zwischen 2004 und 2015 war ich Mitglied der Schiedskommission im Eisenbahnverkehr (SKE ), die nun endlich in RailCom umbenannt wurde. Ich war auch Mitglied der Exper­ tenkommission Organisation Bahninfrastruktur (EOBI ) (2010– 2013). In meiner Zeit an der EPFL habe ich viele Doktoranden betreut, die an verschiedenen Verkehrsthemen geforscht haben und ihrerseits mehrheitlich in Unternehmen (aber nicht der SBB ) und in der Bundesverwaltung gearbeitet haben. Von ihnen und während meiner regulatorischen Tätigkeiten habe ich viel gelernt, und ich versuche nun, das, was mir zum Thema SBB relevant scheint, auf den Punkt zu bringen. Für dieses Buch habe ich mit ausgewählten Experten, inklusive Management der SBB , informative Gespräche geführt. Speziell danken möchte ich Max Friedli, Mathias Gsponer, Ueli Stückelberger und Hans Werder. Aber für das hier Geschriebene bin natürlich nur ich allein verantwortlich.



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4  Die wirklichen Herausforderungen In Kapitel 3 haben wir gesehen, wo und wie an der SBB herumgenörgelt wird. Wir haben ebenfalls gesehen, dass die meisten dieser Nörgeleien ins Leere zielen, das heisst entweder das Problem verkennen oder den falschen Adressaten haben oder einem veralteten Ideal nachtrauern. In diesem Kapitel wird es darum gehen, die SBB – und deren Entscheidungen – in den meiner Meinung nach richtigen Kontext zu rücken. Man darf und soll die SBB durchaus kritisieren, aber man soll dies vor dem Hintergrund der Herausforderungen tun, vor denen die Schweiz schon heute steht und die in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen werden. Die SBB soll Teil – und als grösste Eisenbahn in der Schweiz ein zentraler Teil – der Antworten auf die Herausforderungen im Bereich der Mobilität sein. In diesem Sinn ist die SBB nicht einfach ein Privatunternehmen, das für seine Shareholders Gewinne erwirtschaften soll, sondern sie ist eben ein öffentliches Unternehmen, das der Schweiz helfen soll, sich ihren Mobilitätsherausforderungen zu stellen. Und das soll sie so effizient und so unternehmerisch tun, wie es auch ein privates Unternehmen tun würde. In diesem Kapitel werde ich also die meiner Meinung nach vier wichtigsten Herausforderungen, die die Schweiz mittelfristig zu bewältigen hat, präsentieren. Es sind dies (1) die Verdichtung, konkret die 10-Millionen-Schweiz, (2) die Multimodalität, (3) die Digitalisierung und (4) die ökologischen Herausforderungen. Ich werde insbesondere jedesmal zeigen, welche Rolle die SBB meiner Meinung nach bei den Antworten auf diese Herausforderungen zu spielen hat. 4.1  10-Millionen-Schweiz, Verstädterung Die Schweiz hatte 2016 8,4 Millionen Einwohner; 1960 waren es noch 5,3 Millionen, 1900 knapp über 3 Millionen. Das Bevölkerungswachstum ist ungebrochen und ist grösser als in vergleichbaren Ländern wie Österreich und Schweden. Schon bald wird die 10-Millionen-Marke erreicht sein, denn diese Ent-


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4  Die wirklichen Herausforderungen

wicklung von 1 Prozent Bevölkerungswachstum pro Jahr wird weitergehen. Das Land wird aber nicht grösser und die für Infrastrukturen und insbesondere für Mobilitätsinfrastrukturen zur Verfügung stehenden Flächen sind nur beschränkt verfügbar. Diese 10-Millionen-Schweiz wird das Land vor grosse Herausforderungen stellen, nicht nur im Bereich Mobilität, sondern auch in Sachen Ökologie, wie wir weiter unten sehen werden. Metropolitanregion Schweiz Die erste Konsequenz dieser Entwicklung ist die Verdichtung: Nicht nur wohnen immer mehr Leute auf dem gleichen Raum, es braucht auch immer mehr Infrastrukturen, um diesen Raum zu bedienen und die in ihm lebende Bevölkerung zu versorgen. Und es geht hier nicht nur um Verkehrsinfrastrukturen, sondern auch um Elektrizitäts-, Gas-, Wasser- und Telekominfra­ strukturen, ganz zu schweigen von Wohnbauten und Büroräumen (die meisten Schweizerinnen sind im Tertiärsektor tätig). Aber man könnte hier auch noch sogenannte sekundäre Infra­ strukturen erwähnen, wie zum Beispiel Spitäler, Schulhäuser, ­Museen, Shopping Malls und vieles andere mehr. Und all das auf dem gleichen Raum wie 1848, als die Schweiz als Bundesstaat geschaffen wurde. Bestehende Infrastrukturen werden also verdichtet: Wo früher ein einzelnes Wohnhaus stand, kommt jetzt ein Wohnblock hin. Die Strasse kann, wegen der Gebäude auf beiden Seiten, nicht mehr ausgeweitet werden, und so muss sich nun das Auto die Fahrbahn mit dem Bus und dem Velo teilen … oder eher umgekehrt. Die Städte wachsen in die Agglomerationen hinaus, und die Agglomerationen wachsen ihrerseits zusammen. Mietwohnungen werden immer teurer, wenn man sie überhaupt noch finden kann. Diejenigen, die eine Wohnung oder sogar ein Haus haben, behalten es, auch wenn sie den Job wechseln; also pendeln sie und nehmen lange Verkehrswege in Kauf. Diejenigen, die Wohnungen oder Häuser suchen, müssen in die Peripherie ausweichen und ebenfalls lange Arbeitswege in Kauf nehmen … wenn man überhaupt noch von «Peripherie» sprechen kann. Denn in Tat und Wahrheit wächst die Schweiz zu einer einzigen grossen


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4.1  10-Millionen-Schweiz, Verstädterung

Metropolitanregion zusammen, mit einem «Central Park» in der Mitte: den Alpen. Zwei «Metrolinien» – Gottthard und Lötsch­berg – führen bereits unter dem Park durch. Der Begriff Metro­ politanregion wird heute in der Schweiz immer noch für Agglomerationen wie Zürich, Basel, Bern-Mittelland oder Arc Lémanique verwendet. Aber auch diese Agglomerationen sind bereits von der Realität überholt. Es ist meiner Meinung nach korrekter, davon auszugehen, dass die Schweiz heute zu einer einzigen ­Metropole zusammengewachsen ist. Sie ist eine einzige, noch ­relativ grüne Stadt, bevölkerungsmässig vergleichbar mit Metropolitanregionen wie der Lombardei, der Region München oder Süddeutschland. Die Schweiz als Metropolitanregion ist natürlich eine Herausforderung für das Vorstellungsvermögen. Aber noch vielmehr ist sie eine Herausforderung für unser institutionelles System. Als hochföderalistisches Land besteht die Schweiz aus Kantonen, die eventuell sogar bereit sind, gewisse Koordinationsaufgaben an den Bund abzutreten … wenn es nicht mehr anders geht. Aber das ist jedes Mal eine mühsame Übung, insbesondere bei der Raumplanung, denn weder Gemeinden noch Kantone wollen die Kontrolle über die Entwicklung ihres Territoriums abgeben, obwohl sie vielleicht schon lange ein Teil, sagen wir lieber ein Quartier, einer viel grösseren Agglomeration geworden sind. Bei den Infrastrukturen ist es kaum besser: Ein schweizweites Nationalstrassennetz gab es nur, weil der Bund zahlte, und auch das ist immer noch nicht fertig (die A9 im Oberwallis ist immer noch im Bau). Auch die Zangengeburt von Swissgrid – dem Betreiber des schweizerischen Hochspannungsnetzes – wäre zu erwähnen, denn obwohl Swissgrid für die Stabilität des Elektrizitätssystems der gesamten Schweiz zuständig ist, haben die Kantone Mühe loszulassen. Bei der Bahn hingegen ist das anders, und das wäre eine riesige Chance für die Metropolitanregion Schweiz: Die SBB gehört dem Bund und nicht, wie Swissgrid, den Kantonen. Ich denke, sie hat diese System- oder Netzperspektive schon lange. Leider muss sie aber diese Systemperspektive immer wieder den föderalistischen Gegebenheiten anpassen, so zum Beispiel beim anstehenden Ausbauschritt 2030–2035.


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4  Die wirklichen Herausforderungen

Mobilität als die grösste Herausforderung In einem verdichteten und verstädterten Metropolitansystem wird in der Tat die Mobilität zur grössten Herausforderung: Die Leute müssen immer längere Arbeitswege in Kauf nehmen und haben somit ein immer grösseres Mobilitätsbedürfnis. Mobilitätsangebote sind aber, wegen des begrenzten Raums und der raumplanerischen und finanziellen Einschränkungen, nur ­beschränkt ausbaubar. Strassen und Schienen sind zunehmend ­verstopft. Aber umgekehrt: Je mehr eine Region (oder ein Land) verstädtert, umso wichtiger werden die Infrastrukturen und umso zentraler wird es auch, dass diese reibungslos funktionieren. Das kleinste Sandkörnchen im Getriebe der Mobilität kann gravierende und systemweite Auswirkungen haben. Die SBB können ein Liedchen davon singen: Ein Personenunfall an einem neural­ gischen Ort des Schienennetzes kann den Verkehr zeitweise stark einschränken. Die Mobilität von Frau und Herrn Schweizer ist zwischen 2000 und 2017 um 30 Prozent gewachsen, genau so wie der Mo­ torfahrzeugbestand (32 %); beide wachsen doppelt so rasch wie die Bevölkerung. 2017 hatten wir 6,1 Millionen Strassenmotor­ fahrzeuge, davon 4,5 Millionen Autos. In der gleichen Zeit ist aber die Nationalstrasseninfrastruktur nur um 12 Prozent gewachsen. Das heisst, was alle Schweizerinnen und Schweizer am eigenen Leib erfahren, die Strassen sind immer mehr verstopft. Es ist kaum erstaunlich, dass sich in der gleichen Zeitspanne die Staubelastung auf dem schweizerischen Nationalstrassennetz verfünffacht hat, grösstenteils einfach bedingt durch Verkehrsüberlastung. Während 24 066 Stunden hat sich der Verkehr 2016 auf den Schweizer Strassen gestaut. Und das hat unmittelbare volkswirtschaftliche Kosten, denn wie wir alle wissen, sind die im Stau verbrachten Stunden nicht die produktivsten (zur Umweltbelastung komme ich später). Und es ist kein Ende in Sicht. Nun ist es aber so, dass die Lebensqualität und vor allem die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes direkt von der Qualität seiner Infrastrukturen und insbesondere von der Qualität der Mobilität – das heisst von der Leichtigkeit, sich fortzubewegen – abhängt. Mit anderen Worten: Verstädterung ohne Anpassung


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4.2 Multimodalität

der Mobilitätsinfrastrukturen führt unausweichlich zu einem Wettbewerbsnachteil, ganz abgesehen davon, dass es auch eine Einbusse von Lebensqualität bedeutet. In der Schweiz ist der Modalsplit seit Ende des letzten Jahrhunderts bei den Personen (20 %) und bei den Gütern (40 %) konstant. Das heisst, das Mobilitätswachstum findet oder fand zumindest bis heute grösstenteils auf der Strasse statt, mit den oben aufgezeigten Konsequenzen. Wie lange noch? Denn Stau, Frust, verminderte Lebensqualität und Wettbewerbsfähigkeit werden zunehmen, da Strassen kaum mehr ausbaufähig sind. Die Bahn und SBB als Antwort? Bereits heute (und in Zukunft noch mehr) gibt es keine Alternative zur Bahn als (Massen-)Transportmittel, weder in der Schweiz noch anderswo. Damit die effiziente Mobilität der Schweiz erhalten werden kann und weiterhin zur Wettbewerbsfähigkeit und zur Lebensqualität des Landes beiträgt, braucht es eine integrierte Bahnkapazitäts- und Ausbauplanung auf Bundesebene. Mehr noch, es braucht ein integriertes Mobilitätsangebot, und wie ich in Kapitel 6 argumentieren werde, braucht es einen Systemführer, der dieses Mobilitätssystem Schweiz, zumindest im Eisenbahnbereich, koordiniert. Diese Planung muss die Stärken und Entwicklungspotenziale der jeweiligen Ver­ kehrsträger in Betracht ziehen und auch das Potenzial der Digitalisierung berücksichtigen. Und dies sowohl beim Güter- wie auch beim Personentransport. Weder die Kantone noch ihre ­Bahnen noch der (vom kantonalen Lobbyismus geprägte) Bund können im Bahnsystem eine Führerrolle übernehmen. Systemführerin sein im Bahnsystem und allenfalls sogar im gesamten Mobilitätssystem der Schweiz kann nur die SBB – wenn man sie liesse. Aber mehr ­davon später. 4.2  Multimodalität In einem verdichteten und verstädterten System ist es zentral, so effizient wie möglich von A nach B zu gelangen, ohne im Stau zu stehen und/oder verzweifelt einen Parkplatz suchen zu müssen. Mobil zu sein wird wichtiger. Dabei ist sowohl aus


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4  Die wirklichen Herausforderungen

Benutzersicht wie auch aus volkswirtschaftlicher Sicht die Konfrontation zwischen Strasse und Schiene überholt. In der Metropolitanregion Schweiz wird es darum gehen, den optimalen Mix an Verkehrsträgern zu organisieren. Für Frau und Herrn Schweizer ist dies einfach eine Notwendigkeit. Liebe zum Auto hin oder her. Für die Schweizer Volkswirtschaft ist das ganz einfach ein Standortvorteil. Ein multimodales System, in dem alle Verkehrsträger aufeinander abgestimmt sind, ist letztlich ein effizienteres und kundenfreundlicheres System. Und dies betrifft sowohl den Personen- wie auch den Gütertransport. Um ein solches multimodales System zum Funktionieren zu bringen, braucht es aber eine Abstimmung der verschiedenen Verkehrsträger untereinander und zwar in den folgenden vier Dimensionen: Interkonnektion, Interoperabilität, Pricing und Raumentwicklung. Kurzum, die Komplementarität der Verkehrsträger muss organisiert werden; sie entsteht nicht von selbst. Interkonnektion, Interoperabilität, Pricing und Raumentwicklung In einem gut funktionierenden multimodalen System kommt jeweils der Verkehrsträger zur Anwendung, der am effizientesten ist. Meistens entsteht eine Kette von Verkehrsträgern, die eine Person oder eine Ware am schnellsten, am preisgünstigsten und am ökologischsten von A nach B befördern. Oft ist es eine Kombination von verschiedenen Typen von Verkehrsträgern. Sobald für einen Weg von A nach B mehrere Verkehrsmittel zum Einsatz kommen, gibt es eine oder mehrere Phasen des «Umsteigens», der Interkonnektion. Das Auto ist oft das bequemste Verkehrsmittel, weil es keine Interkonnektion bedingt. Aber es ist oft nicht das billigste, wenn man die internen (Versicherung, Parkplatz, Unterhalt usw.) und die externen Kosten (Strassenbau, Verschmutzung, Lärm, Raumverschleiss usw.) einrechnet. Es ist oft auch nicht das schnellste und schon gar nicht das ökologischste. Das Fahrzeug Auto ist denn auch in erster Linie ein «Stehzeug». Es wird im Durchschnitt eine Stunde pro Tag gebraucht und ist auch dann nicht mehr als mit 1,2 Personen besetzt. Den Rest der Zeit steht es rum und braucht Park-


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4.2 Multimodalität

plätze, die man besser für Büros, Wohnräume, Bus- oder Fahrradstreifen oder Grünflächen gebrauchen könnte. Eine Kombination von mehreren Verkehrsmitteln ist oft effizienter als die alleinige Verwendung des Autos. Sinnvoll ist es meistens, wenn das Velo, das Auto oder der Lieferwagen für die letzten Kilometer zum Einsatz kommen und die Bahn die grossen Distanzen und den Massentransit bewältigt. Das bedingt aber, dass zwischen Auto und Bahn – oder zwischen Velo und Bahn oder zwischen Velo, lokalem ÖV und Bahn – eine gute physische Interkonnektion besteht. Zum Beispiel ein Parking für das Auto am Bahnhof, ein Abstellplatz für das Velo an der Bushaltestelle oder auch am Bahnhof usw. Das muss geplant werden und auch die Kosten müssen von irgendjemandem getragen werden. Kosten Parking oder Veloabstellplatz noch zusätzlich, dann ist das der Multimodalität nicht zuträglich. Idealerweise sind die Kosten der Interkonnektion schon in die Preise der Verkehrsträger integriert. Interkonnektion bedingt auch, dass das Umsteigen von einem auf den anderen Verkehrsträger koordiniert ist, also dass der Zug nicht bereits abgefahren ist, wenn der Bus in den Bahnhof einfährt. Aber auch ein sogenannter integrierter Fahrplan genügt nicht: Multimodalität muss auch im Ausnahmefall und in Echtzeit funktionieren, zum Beispiel, wenn der Zug verspätet ist und der Bus trotzdem wartet. Das funktioniert in der Schweiz innerhalb des klassischen ÖV schon relativ gut, muss aber weiter ausgebaut und auf alle Verkehrsträger ausgedehnt werden. Auch Interoperabilität ist eine notwendige Bedingung für die Multimodalität. Wir können zwischen einer physischen und einer virtuellen Interoperabilität unterscheiden. Von physischer Interoperabilität kann man zum Beispiel sprechen, wenn das Velo auch vom Bus oder vom Zug mitgenommen werden kann oder wenn die Container beim Cargotransport so dimensioniert sind, dass sie sowohl von einem Lastwagen oder Lieferwagen als auch von der Bahn transportiert werden können. Das ist heute der Fall: Mit dem sogenannten Vier-Meter-Korridor wird der Transport der Normcontainer durch die Schweiz von Grenze zu Grenze (auf Lötschberg- und Gotthardachse) ab Ende 2020 durchgehend möglich sein. Aber auch virtuelle Interoperabili-


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4  Die wirklichen Herausforderungen

tät ist wichtig: Beim Personenverkehr ist ein integriertes Ticket das beste Beispiel dafür. Mit dem gleichen Ticket kann man sowohl den Bus wie auch die Bahn benutzen. Mit dem gleichen Formular kann eine Wagenladung vom Lastwagen abgeholt, vom Zug weitertransportiert und schliesslich wieder per Lieferwagen zugestellt werden. Zumindest das integrierte Ticketing für den Personentransport ist, mit dem Swisspass, in der Schweiz beispielhaft im internationalen Vergleich. Aber man könnte natürlich noch viel weiter gehen, indem zum Beispiel auch das Parking oder der Veloverleih integriert würden. Mehr dazu, wenn wir von Mobility as a Service sprechen werden. Auch das Pricing ist zentral für den multimodalen Verkehr, und zwar sowohl beim Personen- wie auch beim Gütertransport. Ist ein Verkehrsträger viel billiger als der andere, bevorzugen die Kunden logischerweise den billigeren. Deshalb müssen Preise für die verschiedenen Verkehrsträger so gesetzt werden, dass Anreize bestehen, denjenigen Verkehrsträger zu benutzen, der für den jeweiligen Transportabschnitt aus Systemsicht – das heisst aus volkswirtschaftlicher Sicht – am effizientesten ist. Heute ist das natürlich überhaupt nicht der Fall: Die Preise der verschiedenen Verkehrsträger sind nicht nur nicht aufeinander abgestimmt, sie sind sogar sehr verzerrt. Es ist unbestritten, dass das Auto oder der Lastwagen die Kosten («Externalitäten»), die sie verursachen, nicht selbst bezahlen, insbesondere die Umweltbelastung, den Lärm, die Unfälle usw. Um hier eine Systemsicht und ein gewisses Gleichgewicht unter den verschiedenen Verkehrsträgern herzustellen, braucht es ein sogenanntes Mobility Pricing, und zwar nicht nur im Personen-, sondern auch im Gütertransport. Generell ist die Strasse im Vergleich zur Bahn viel zu billig, was wiederum von den viel zu billigen Preisen der fossilen Brennstoffe und von allen anderen nicht internalisierten Kosten des Autos herrührt. Ein integriertes und kohärentes Pricing der verschiedenen Verkehrsträger mit dem Ziel einer effizienten Multimodalität ist aber im heutigen globalen und von den fossilen Energieträgern dominierten System nicht via Markt zu erreichen, sondern nur via politische Intervention. Das heisst nicht automatisch, dass die Mobilität teurer werden muss. Man


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4.2 Multimodalität

kann durchaus den Strassenverkehr verteuern und mit den damit abgeschöpften Einnahmen die Bahn sowie alle anderen Formen der sanften Mobilität verbilligen und somit für die Benutzer attraktiver machen, wie dies im Güterverkehr schon mit der LSVA getan wird. Dies wird aber einen starken politischen Willen ­brauchen. Im weiteren Sinn hängt Multimodalität auch mit der Raumentwicklung zusammen: Die Leute sollten in der Nähe ihres Arbeitsplatzes oder ihrer Schule wohnen, damit sie weniger Zeit und Geld mit ihrer Mobilität verlieren. Aber das lässt sich natürlich nicht optimal planen und, wenn einmal geplant und um­ge­ setzt, schwer rückgängig machen. Trotzdem gibt es hier interessante Ansätze, insbesondere im Bereich der sogenannten Arealent­ wicklung um die Eisenbahninfrastruktur herum: Warenumschlagplätze (wie z. B. Sortierzentren der Post) werden direkt an der Bahn gebaut oder an die Bahn angeschlossen. Wohnungen, Büros, Hotels und Shoppingcenter werden um die Bahnhöfe herum geplant und gebaut, oft sogar in den Bahnhöfen selbst, die dadurch zu eigentlichen «Mobilitätshubs» werden. All dies reduziert die physischen Schnittstellen unter den verschiedenen Verkehrs­ trägern und sollte unterstützt werden. Aber von wem? Wer plant das? Wer zahlt dafür? Wer organisiert Multimodalität? Der Multimodalität liegt ein Systemgedanke zugrunde: Ein vernetztes, interoperables, richtig bepreistes und raumplanerisch koordiniertes Mobilitätssytem ist effizienter als ein fragmentiertes und inkohärentes. Schon systemisch zu denken ist nicht einfach, und systemisch zu handeln noch viel weniger. Kaum ein Mobilitätsakteur hat ein Interesse, systemisch zu denken: Die Autoproduzenten und die Strassenlobby möchten möglichst alles auf der Strasse, die SBB und die Bahnlobby hingegen möglichst alles auf der Schiene, nicht zu sprechen von der Immobilienlobby, die nicht unbedingt dort bauen will, wo es für das Metropolitansystem Schweiz am sinnvollsten ist. Bei der öffentlichen Hand ist es kaum besser: Die Städte wollen wachsen und ziehen damit Unternehmen und Personen an, die zuerst noch ans Mobilitäts-


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4  Die wirklichen Herausforderungen

system angeschlossen werden müssen. Die Kantone optimieren nicht alle nach den gleichen Standpunkten, und auch der Bund ist fragmentiert: Das Bundesamt für Verkehr (BAV ) denkt in erster Linie an den ÖV und nicht an die Multimodalität, das Bundesamt für Strassen (ASTRA ) befasst sich vor allem mit Autos und Lastwagen, und das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE ) versucht, ein bisschen Kohärenz in die schweizerische Raumplanung zu bringen. Mobilitätsplanerisch gesehen, gibt es keinen richtigen Systemführer. Idealerweise sollte das Parlament das Gesamtsystem Schweiz planen und entsprechende Richtlinien setzen, aber auch dort wird eher im Raster kantonaler Kompromisse als in einer Gesamtsystemsicht gedacht: Die Verteilkämpfe (zugunsten von Kantonen, Sektoren, Teilpublika) überwiegen, die Systemsicht (oder die Netzsicht) hat wenig Anwälte. Positiv erwähnt werden kann der neuliche Vorschlag des Bundesrats, das ARE zu stärken und zudem ein einziges Unternehmen zur Be­ wirtschaftung der Nationalstrasseninfrastruktur zu schaffen. Aber wenn die Schweiz mittelfristig international wettbewerbs­fähig bleiben will, dann täte sie gut daran, die Mobilität – und zwar sowohl diejenige der Personen wie auch diejenige der Güter – aus systemischer Sicht zu betrachten, denn letztlich muss es um ein effizientes multimodales System gehen, das der Metropolitanregion Schweiz dient. Weiter unten werde ich mit dem Konzept des «Systemführers» operieren: Es braucht in der Tat eine Organisation – nicht eine Person –, die das Mobilitätssystem Schweiz von einem volkswirtschaftlichen und vom Kundeninteresse her durchdenkt, plant und auch umsetzt. Idealerweise ist der Systemführer nicht einfach nur ein Reissbretttäter, sondern eine Organisation, die operativ tätig ist, das heisst eine Organisation, die selbst für Kunden tätig ist und auch Erfahrung beim Betreiben eines Mobilitätssystems hat. Wahrscheinlich müsste man hier zwischen Personenmobilität einerseits und Warenmobilität andererseits unterscheiden. Die SBB scheint mir zweifelsohne die geeignetste Systemführerin für die Personenmobilität; für die Warenmobilität ist es wahrscheinlich eher die Post. Aber die Schweiz hat eine korporatistische und eine kooperative Tradition und sie baut auf Branchenlösungen. Die


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4.3  Von der Digitalisierung zu Mobility as a Service

ÖV-Branche ist seit 1889 im Verein öffentlicher Verkehr (VöV) organisiert und hat dank dieses Vereins schon entscheidende Schritte in Richtung Interkonnektion, Interoperabilität und Multimodalität des schweizerischen öffentlichen Verkehrs gemacht. Man müsste natürlich hier noch weiter gehen und ebenfalls die Strassen- und die Velobranche in ein solches kooperatives Modell einbeziehen, aber der VöV ist dazu sicher ein sehr guter Anfang. Die Logistikbranche ist da noch viel weniger weit, aber auch sie sollte anfangen, sich verkehrsträgerübergreifend zu organisieren, um ein effizientes Mobilitätssystem für den Gütertransport aufzubauen. Letztlich ist es die Branche, die ein Mobilitätssystem Schweiz – sei es für den Personen- oder den Gütertransport – trägt. Eine Branchenorganisation, so gut sie auch sein mag, ist noch kein Systemführer; sie kann hingegen den Systemführer unterstützen … oder auch sabotieren. Es ist deshalb im Interesse des Systemführers, die Branche hinter sich zu haben: Ohne sie kann er seine Systemführerrolle nicht wahr­nehmen. 4.3  Von der Digitalisierung zu Mobility as a Service Zur Herausforderung der Verstädterung und der Multimodalität gesellt sich nun noch die Herausforderung der Digitalisierung, wobei die Digitalisierung selbst auch eine Antwort sein kann, auf die Herausforderungen der Multimodalität, aber auch auf die Veränderungen des Mobilitätsverhaltens, insbesondere im Rahmen des sogenannten Mobility as a Service (MaaS). Aber der Reihe nach: Zuerst gilt es die Digitalisierung und deren Möglichkeiten zu verstehen. Danach werde ich zeigen, wie die Digitalisierung eine Antwort auf das Mobilitätsverhalten sein kann. Daraufhin werden wir sehen, wie das alles mit der Automatisierung zusammenhängt. Und schliesslich werde ich auf die Herausforderungen der Digitalisierung für das Mobilitätssystem Schweiz eingehen. Was ist/tut Digitalisierung? Digitalisierung ist eine Kombination von verschiedenen technologischen Entwicklungen in den Bereichen Datengenerierung, Datenübertragung und Datenanalyse. Vereinfacht kann



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Der Autor

Matthias Finger (*1955) hat an der Universit채t Genf in Politologie doktoriert und war Professor an den New Yorker Universit채ten Syracuse und Columbia, am Institut f체r Verwaltungswissenschaften (IDHEAP ) in Lausanne. Seit 2002 ist er Professor f체r Management von Netzwerkindustrien an der ETH Lausanne, seit 2010 lehrt er zudem an der Florence School of Regulation.


In derselben Reihe erschienen:

Paul Schneeberger

Ein Plan für die Bahn Wie die Milliardeninvestitionen in die Schiene mehr bewirken können

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Paul Schneeberger Ein Plan für die Bahn Wie die Milliardeninvestitionen in die Schiene mehr bewirken können 144 Seiten, Broschur. Auch als E-Book erhältlich. ISBN 978-3-03810-336-3 ISBN 978-3-03810-383-7 (E-Book) Die Schweiz investiert Milliarden in den Ausbau der Eisenbahn. Doch die Investitionen bewirken weniger, als sie könnten. Während die Bautätigkeit und die Technik das Land rasant verändern, will man die Bahn nach der Devise «Mehr vom Gleichen» ausbauen. Dabei könnte sie als spurgeführtes Massenverkehrsmittel die Siedlungsentwicklung steuern und aus der Digitalisierung Nutzen ziehen. Paul Schneeberger wirft wesentliche Fragen auf: Wie kann die Bahn zum Rückgrat der Agglomeration werden? Welche neuen Infrastrukturen lassen sich daraus ableiten? Und welche Spielräume können diese für eine Integration von Massenverkehrsmitteln und baulicher Verdichtung eröffnen?


Hanspeter Gschwend Aufbruch Die Officina, das Tessin und die Gotthardbahn 264 Seiten, gebunden ISBN 978-3-03810-105-5 Die Officina, das Industriewerk der SBB in Bellinzona, ist mehr als eine Eisenbahnreparaturwerkstätte. So wie die Bahn gesamthaft das Tessin aus Isolation und Zurückgebliebenheit befreite, wurde die Officina zum Motor der Stadtentwicklung von Bellinzona. Hanspeter Gschwend skizziert anhand der Geschichte der Officina die Bedeutung der Eisenbahn für die Entwicklung der Südschweiz und für das Verhältnis zwischen den Bevölkerungen beidseits der Alpen. In elf Kapiteln erzählt er typische Episoden und Anekdoten und liefert die dazugehörigen Fakten. Dabei stützt er sich auf einen reichhaltigen Fundus unveröffentlichter Dokumente.


Matthias Finger SBB – was nun?

Die Entwicklung der modernen Schweiz ist untrennbar mit der Entwicklung der SBB verbunden: Bis heute ist die Bahn ein Grundpfeiler des Landes. Um die Geschichte des Erfolgsmodells Schweiz fortschreiben zu können, ist ein leistungsfähiges Mobilitätssystem eine zentrale Voraussetzung. Der Autor argumentiert, dass eine Zehn-Millionen-Schweiz ohne Schweizerische Bundesbahnen nicht funktionieren kann. Er geht auf die Kritik an der SBB ein – Stichworte Service Public, Preissteigerungen, mangelnder Wettbewerb – und zeigt, was die wirklichen Herausforderungen einer Metropolitanregion sind. Wie kann die SBB als identitätsstiftende Institution ihre «Systemführerrolle» im Dienst einer mobilen und wettbewerbsfähigen Schweiz auch in Zukunft wahrnehmen?

Matthias Finger

SBB – was nun? Szenarien für die Organisation der Mobilität in der Schweiz

ISBN 978-3-03810-405-6 ISBN 978-3-03810-405-6

9 783038 104056 www.nzz-libro.ch

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