Freitag: Das soziale Kapital der Schweiz.

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© 2014 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlaggestaltung: Atelier Mühlberg, Basel Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg i. Br. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-882-9 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


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Inhalt Vorwort I.

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Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen (Markus Freitag)

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II. Netzwerke als soziales Kapital der Schweiz

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«Mir hei e Verein, ghörsch du da derzue?» Vereinsengagement als soziales Kapital der Schweiz (Markus Freitag und Kathrin Ackermann)

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«Das Gute liegt so nah.» Familie, Freunde, Kollegen und die Nachbarschaft als soziales Kapital der Schweiz (Markus Freitag und Birte Gundelach)

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Unbezahlt, aber unbezahlbar: Freiwilliges Engagement als soziales Kapital der Schweiz (Markus Freitag und Anita Manatschal)

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III. Vertrauen, Reziprozität und Toleranz als Formen sozialen Kapitals der Schweiz Was uns zusammenhält: Zwischenmenschliches Vertrauen als soziales Kapital der Schweiz (Markus Freitag und Paul C. Bauer)

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Inhalt

ÂŤAuge um Auge, Zahn um ZahnÂť? Die Norm der Gegenseitigkeit als soziales Kapital der Schweiz (Markus Freitag und Anita Manatschal) 181 Die Duldung des Falschen: Toleranz als soziales Kapital der Schweiz (Markus Freitag und Carolin Rapp)

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IV. Zusammenfassung und Schlussbetrachtungen zum sozialen Kapital der Schweiz (Markus Freitag)

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Anhang

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Vorwort Vor nahezu 20 Jahren schreckte der Politikwissenschaftler Robert Putnam mit seiner Diagnose einer schrumpfenden amerikanischen Zivilgesellschaft und der damit verbundenen verheerenden Folgen die Welt auf. Als Folge widmeten sich seither weltweit unzählige Analysten, Chronisten und Feuilletonisten den Entwicklungen des sozialen Miteinanders und diskutieren den Wert sozialer Beziehungen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Etikettiert als Sozialkapital äussert sich der Wert sozialer Beziehungen für die Wirtschaft in der Senkung marktwirtschaftlicher und unternehmerischer Transaktionskosten. Die Politik verbindet soziales Kapital mit der Funktions- und Leistungsfähigkeit von Demokratien, und für die Gesellschaft werden die sozialintegrativen Leistungen des Sozialkapitals einem grassierenden Individualismus und Personenkult entgegengestellt. Der vorliegende Band beschäftigt sich vor diesem Hintergrund mit den Facetten des sozialen Zusammenlebens in der Schweiz und fasst meine Forschungsarbeiten zum sozialen Kapital der Eidgenossenschaft der letzten Jahre zusammen. Er möchte sowohl Fragen zur Entwicklung und zum Bestand als auch zur Genese und zur Wirkung des Sozialkapitals erörtern und analysiert mit dem Vereinsengagement, der unbezahlten Arbeit, der Einbindung in das engere soziale Umfeld, dem zwischenmenschlichen Vertrauen, den Normen der Gegenseitigkeit und der Toleranz grundlegende Elemente des sozialen Miteinanders. Leidet die Schweiz unter einem Rückgang der Zivilgesellschaft? Gehen den Vereinen die Mitglieder, Freiwilligen und Ehrenamtlichen aus? Wollen alle nur noch für sich sein? Wie tolerant ist die Schweiz? Wer vertraut wem? Wo wird die Norm der gegenseitigen Hilfe am ehesten befolgt? Welcher Wert kommt all diesen Aspekten des sozialen Zusammenlebens in unserem Alltag zu?


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Vorwort

Unsere Analysen treffen auf ein Land, das neuerdings in Stellwerkstörungen (Wort des Jahres 2013) Katalysatoren des Gemeinschaftsgefühls sieht und in dem seit Längerem an unzähligen Stammtischen Beispiele ähnlich demjenigen Subergs beklagt werden, wenn eben alle nur noch für sich sein wollen. Die verschiedenen Beiträge des Bandes können indes zeigen, dass Stellwerkstörungen nicht bei jedem gleichermassen eine Empfindung für das Gegenüber auslösen und dass Suberg nicht überall in der Schweiz zu Hause ist. Diesbezüglich gelten die Studien all denjenigen, die dem Gegenüber mit Aufmerksamkeit begegnen und die dem «Gspänli», oder dem Nachbarn, dem Gemeinwohl und der Gemeinschaft allgemein ein Interesse entgegenbringen. Wer hier bislang wenig zu bewegen wusste, dem werden am Ende des Bandes 150 Ideen angetragen, wie dies gelingen kann. Die Texte und Überlegungen in diesem Band entstanden zwischen Bern, Flims und Zürich-Wipkingen und wurden durch Beobachtungen des sozialen Miteinanders in der Schweiz angespornt. Danken möchte ich allen, die mich auf diesem Weg in den letzten Jahren begleitet und mich gewollt oder ungewollt zum analytischen Nachdenken über die Schweizer Zivilgesellschaft animiert haben. Mein Dank gilt insbesondere meiner Familie, welche die Folgen dieses Ansporns ertragen musste. Meine Mitarbeiter und Mitautoren Kathrin Ackermann, Paul C. Bauer, Birte Gundelach, Anita Manatschal und Carolin Rapp vom Lehrstuhl für Politische Soziologie am Institut für Politikwissenschaft in Bern haben mich in der Umsetzung meiner Gedanken tatkräftig und geduldig unterstützt und haben geholfen, die alten Weisheiten in eine bisweilen neue Form zu giessen, ohne dabei die vor längerer Zeit gelegten Fundamente zu verleugnen. Maya Ackermann, Giada Gianola, Silja Kohler, Aaron Venetz und Birgit Jacob waren mir in vielfältiger Weise bei der Fertigstellung der Manuskripte eine mehr als wertvolle Hilfe. Mein Dank gilt auch dem Verlag der Neuen Zürcher Zeitung, der die dargebotene Hand gerne angenommen hat und eine Reihe des Instituts für Politikwissenschaft in Bern zu politischen und gesellschaftlichen Analysen der Schweiz placiert hat. Die ersten Einsichten dazu werden in diesem Band geliefert, weitere werden in den nächsten Jahren folgen.

Bern, im April 2014

Markus Freitag


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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen Markus Freitag


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1. Sozialkapital als Alltagsphänomen Dieses Buch handelt vom Zusammenleben in der Schweiz und von der Kraft, die aus den vielfältigen Beziehungen zwischen den Menschen in diesem Land erwächst. Die Sozial- und Geisteswissenschaften haben dieser Ressource vor beinahe 100 Jahren einen Namen gegeben und bezeichnen den Wert sozialer Beziehungen seither als Sozialkapital (Hanifan, 1916).1 Soziales Kapital ist damit eine weitere Vermögensart neben den in der Ökonomie bekannten Grössen des physischen Kapitals (Geld, Wertpapiere und Sachwerte) sowie des Humankapitals (Fachwissen und -können). Während Letzteres in den Köpfen und Erstgenanntes auf den Konten der Menschen zu finden ist, widerspiegelt sich im Sozialkapital einer Person der Wert ihrer eingegangenen sozialen Kooperationen. Diese Vermögensart wird freilich nicht als sozial etikettiert, weil Kapital an mindestens zwei Personen gerecht verteilt wird, sondern weil es aus der Interaktion zwischen mindestens zwei Menschen entsteht. Wir möchten illustrieren, welche Entwicklung verschiedene Facetten des sozialen Zusammenhalts in der Schweiz in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten genommen haben, welche Bedingungen das Aufkeimen von Sozialkapital in der Eidgenossenschaft begünstigen und mit welchen Wirkungen diese Vermögensart verbunden ist. Sozialkapital kommt unter Umständen sowohl Grippegeplagten, dem Schwingsport nahestehenden Arbeitsuchenden, Umzugswilligen als auch Politikberatern gleichermassen zugute. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie hätten eine starke Grippe, die Sie zu Bettlägerigkeit zwingt

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Unter Sozialkapital versteht der US-amerikanische Schulaufseher Lyda J. Hanifan «[…] tangible substances […] namely, goodwill, fellowship, mutual sympathy and social intercourse among a group of individuals and families who make up a social unit […]» (Hanifan, 1916: 130).


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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

und notwendige Besorgungen verunmöglicht. Dazu haben all Ihre Liebsten und Freunde Sie verlassen oder sind nicht abkömmlich. Sollten Sie trotz des grippalen Infekts Hunger verspüren, helfen Ihnen aber die gängigen Detailhändler aus: Diese erfüllen Ihnen auf eine Online-Bestellung hin all Ihre Wünsche. Diese Leistung erfolgt allerdings nicht frei Haus, sondern verlangt von Ihnen einen Betrag, der sich zumeist am Wert der Einkäufe bemisst. Hätten Sie statt des Lieferanten einen Freund, einen netten Nachbarn oder eine liebenswerte Kollegin zur Hand, könnten Sie vom Wert dieser sozialen Beziehung profitieren: Ihr Sozialkapital würde die gewünschte Verpflegung auf Bitte frei Haus liefern, tröstende und aufmunternde Worte obendrauf. Oder stellen Sie sich vor, Sie würden sich beruflich neu orientieren und bewerben sich bei Ihrem potenziellen Traumarbeitgeber. Beim Hinausgehen treffen Sie auf einen alten Schulfreund, der immer die gleichen Bildungsabschlüsse wie Sie erzielt hat, ebenso sympathisch ist wie Sie und sich ebenfalls um die ausgeschriebene Stelle bemüht. Nach ein paar Tagen vernehmen Sie, dass Ihr Freund den Job erhalten hat und Sie trotz identischer Qualifikationen leer ausgehen. Sie erfahren auch, dass Ihr Freund nach wie vor Schwinger ist, in dieser Sportart zwar nie besondere Kränze errungen hat, aber mittlerweile unbezahlt als erfolgreicher Jugendtrainer fungiert. Zu seinem Glück (und Ihrem Schaden) sind die beiden Söhne seines künftigen Chefs aktive Mitglieder der Jugendsektion seines Schwingvereins. Das Sozialkapital des schwingenden Schulfreundes entschied das Rennen um den Arbeitsplatz. Nehmen Sie ferner an, Sie ziehen um. In Ihrer Planung erinnern Sie sich an einen guten Kollegen, dem Sie vor Jahresfrist bei dessen Umzug zur Hand gegangen sind und der Ihnen im Gegenzug seine Unterstützung versprochen hat, sollten Sie einmal die Koffer packen und an einen neuen Ort gehen. Dieses Versprechen der gegenseitigen Hilfe ist Ihr Sozialkapital und erspart Ihnen zumindest teilweise das mithin ausufernde Schleppen von Bananenschachteln und damit einhergehende Rückenleiden. Schliesslich ist es für manche von Ihnen durchaus vorstellbar, ein grösseres Büro für Politikberatung zu gründen. Experten werden immer gesucht. Das Vorhaben stellt dennoch ein gewisses finanzielles Risiko dar, sodass Sie Ihren besten Freund zur Teilhabe überzeugen. Weil es Ihr bester Freund (und Trauzeuge sowie früherer Pfadi- und heutiger Rotarykollege) ist, pfeifen Sie beide auf vertragliche Regelungen. Sie haben


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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

vollstes Vertrauen in Ihren Kompagnon. Dieses Vertrauen ist Ihr Sozialkapital und senkt ansonsten fällige Transaktionskosten. Würden Sie nämlich Ihrem Teilhaber misstrauen, würden Sie Kontrollen benötigen und beispielsweise (teure) Rechtsanwälte zur Ausformulierung vertraglicher Bestimmungen beauftragen müssen. Diese Beispiele machen deutlich, wie bedeutend soziale Beziehungen für unsere alltäglichen Lebenswelten sind. Es wird zudem aber auch offensichtlich, dass Sozialkapital verschiedene Formen annehmen kann und sich sowohl in sozialen Netzwerken als auch in Normen der Gegenseitigkeit oder im zwischenmenschlichen Vertrauen manifestiert. Über den Wert des Sozialkapitals wird viel gemutmasst und wenig berechnet. Dies ist angesichts der Vielfältigkeit des Konzepts und der fehlenden passgenauen Messung des Konstrukts wenig verwunderlich. Volks- und betriebswirtschaftliche Studien, die dem zwischenmenschlichen Vertrauen zur Senkung von Transaktionskosten eine grosse Bedeutung beimessen, beziffern diese Auslagen zur Betreibung eines Wirtschaftssystems auf rund 80 Prozent des Nettosozialprodukts und liefern damit indirekt einen Fingerzeig zum Wert der sozialen Vermögensart (Kunz, 2000). Eigene Berechnungen zur Freiwilligenarbeit in der Schweiz lassen für das Jahr 2009 erkennen, dass sich die jährlich rund 625 Millionen Stunden unbezahlt geleisteter Tätigkeiten auf einen Wert von über 31 Milliarden Schweizer Franken belaufen, wenn man pro geleistete Stunde 50 Franken berechnet. Das sind immerhin rund 5,6 Prozent des gesamten BIP.

2. Sozialkapital als analytisches Konzept Obwohl die Vorteile sozialer Beziehungen schon früh in den Sozialwissenschaften erkannt wurden, verliess das Konzept des Sozialkapitals den akademischen Elfenbeinturm erst durch die Arbeiten von Pierre Bourdieu (1983), James Coleman (1988, 1994) und Robert D. Putnam (1993, 2000) und erreichte sowohl in den Alltagsdiskursen wie auch in der wissenschaftlichen Debatte eine weltweite Popularität (Franzen und Freitag, 2007a; siehe Abbildungen 1 und 2). Warum sich die Aufmerksamkeit gerade Mitte der 1990er-Jahre dem Konzept zuwandte, ist Gegenstand verschiedener Spekulationen (Schuller et al., 2000: 12–14). Während für die einen das plötzliche Interesse am Sozialkapital und am Wert sozialer Beziehungen auf die Vorgänge in Osteuropa und die dor-

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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

tigen Schwierigkeiten beim Aufbau von Zivilgesellschaften sowie auf die weltweit vorherrschende Doktrin des Individualismus und dessen Exzesse zurückzuführen ist, schreiben andere einflussreichen politischen und intellektuellen Debattierklubs in Washington und Boston katalysatorische Wirkung zu. Aufgeschreckt durch den Befund eines schwindenden Sozialkapitals in der amerikanischen Gesellschaft reflektierten die dortigen Eliten ihre eigenen Unzulänglichkeiten im familiären und sozialen Miteinander. Wieder andere verorten den Startschuss des öffentlichen Interesses am Sozialkapital in der Sehnsucht nach mitfühlenden und menschlichen Komponenten in der zumeist technischen Erklärung lebensweltlicher Komplexitäten. Weniger romantisch Veranlagte sehen die Rückbesinnung auf den Wert sozialer Beziehungen als Folge wissenschaftlicher oder öffentlichkeitswirksamer Zyklen oder als Nebenprodukt stärkerer Interaktions- und Kooperationserfordernisse

Abbildung 1: Verbreitung der Forschungen zu Sozialkapital, 1975–2012 (Zitationen)

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1979

0 1975

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Anmerkung: Anzahl jährlicher Zitationen von Beiträgen, die im Social Science Citation Index (SSCI) enthalten sind und «social capital» im Titel, in der Zusammenfassung oder als Stichwort aufweisen.


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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

zwischen politischen und wirtschaftlichen Akteuren in den Zeiten der aufkommenden Globalisierung und der uneingeschränkten Märkte. Für Bourdieu (1983: 190 f.) steht der Begriff des sozialen Kapitals für «die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.» Das soziale Kapital im Sinn Bourdieus kommt damit individuellen Handlungsressourcen gleich, die man aus der (strategischen) Teilhabe an Beziehungsnetzen zieht. Der analytische Rückgriff auf Sozialkapital ist für Bourdieu unumgänglich, um die immerwährende Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten zu erklären, die durch die alleinige Sicht auf kulturelles und ökonomisches Kapital nur unzureichend erfasst wird. Jede dieser Kapitalarten kann nach Bourdieu in eine andere Kapitalform umgewandelt werden. SozialAbbildung 2: Verbreitung der Forschungen zu Sozialkapital, 1986–2012 (Publikationen) 800

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2012

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1988

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Anmerkung: Anzahl jährlicher Publikationen weltweit seit 1986, die «social capital» im Titel, in der Zusammenfassung oder als Stichwort in einer Publikation der Social Science Edition des ISI Web of Knowledge enthalten.

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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

kapital kann beispielsweise ökonomisches Kapital hervorbringen, wenn Vitamin B zu materiellen Vorteilen führt. Der Umfang des Sozialkapitals hängt einerseits von der Grösse des Beziehungsnetzes und andererseits von der Ressourcenausstattung und dem Renommee der Bekanntschaften ab: «Wer bekannt ist, den lohnt es zu kennen» (ebd., 1983: 193). Beziehungsnetzwerke sind ferner keine natürlichen Gegebenheiten, die einmal gegründet für immer fortbestehen, sondern «Produkt einer fortlaufenden Institutionalisierungsarbeit» (ebd., 1983: 192). Eine Arbeit, die bei Anlässen oder Gesellschaftsspielen, in Vereinen oder anderen Orten des Zusammenkommens geleistet werden muss. Denn werden die sozialen Beziehungen nicht gehegt und gepflegt, droht das «Schwundrisiko» des einmal erarbeiteten Sozialkapitals. Insbesondere Pendler und Weggezogene verstehen Bourdieu hier sehr genau. Während Bourdieu (1983) die Bildung von Sozialkapital als bewusste Investitionsstrategie anerkennt, entsteht dieses Vermögen bei Coleman (1994: 312) zumeist als nicht intendiertes Nebenprodukt: «major use of the concept of social capital depends on its being a by-product of activities engaged in for other purposes […] there is often little or no direct investment in social capital».2 Die Idee vom Wert gewisser Sozialstrukturen entwickelt Coleman (1988) in der Ergründung von Bildungserfolgen im Vergleich unterschiedlicher Schultypen. Dabei sieht Coleman (1988) die Vorteile bei Bildungsinstitutionen, die in einem Umfeld dichter familiärer und ausserfamiliärer Netzwerke eingebettet sind. Vor diesem Hintergrund definiert Coleman Sozialkapital (1994: 300) als «set of resources that inhere in family relations and in community social organization and that are useful for the cognitive or social development of a child or young person». Für Coleman (1994) besteht Sozialkapital aus irgendeinem Aspekt einer Sozialstruktur und begünstigt bestimmte Handlungen von Individuen, die sich innerhalb dieser Struktur befinden. Sozialkapital ist damit als Merkmal sozialer Beziehungen zu verstehen und hat einen pro-

2

Trotz einer gemeinsamen Konferenz und eines daraus entstehenden Sammelbands (Bourdieu und Coleman, 1991) bezieht sich Coleman in seinen Analysen und Fortschreibungen zum Sozialkapital überraschenderweise nur wenig auf die Ausführungen von Bourdieu (Schuller et al., 2000: 5).


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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

duktiven Charakter, da es dem Erreichen von Zielen dient. Ohne Sozialkapital können die persönlich gesteckten Ziele nicht oder nur zu höheren Kosten erreicht werden. Die Verankerung in der Sozialstruktur eröffnet dem Einzelnen den Zugriff auf Ressourcen wie beispielsweise kostenlose Informationen oder auch Normen, die als Richtlinien des Verhaltens Erwartungssicherheit schaffen. Sozialkapital stiftet aber nicht nur individuellen, sondern auch gesellschaftlichen Nutzen und erwirbt dadurch den Status des öffentlichen Gutes. Dies etwa dann, wenn sich beispielsweise die Mitglieder einer Organisation für den Erhalt einer für sie bedeutenden Begegnungsstätte oder eines Kinderspielplatzes einsetzen, die auch der Öffentlichkeit zugänglich sind. Der Erhalt des Sozialkapitals hängt nach Coleman (1994) wesentlich von der Geschlossenheit, der Stabilität und der Ideologie der Sozialstruktur ab. Unterstützungsquellen wie etwa wohlfahrtsstaatliche Leistungen gefährden indes die Entwicklung des zwischenmenschlichen Sozialkapitals. Putnam (1993, 1995a, 1995b, 2000) konkretisiert die Überlegungen von Coleman (1994) und sieht Sozialkapital ähnlich als Aspekte sozialer Organisation wie Vertrauen, Normen und Netzwerke, welche die Effizienz von Gesellschaften erhöhen, indem sie Kooperation fördern. In seinem späteren Werk Bowling Alone verleiht er seiner Definition noch eine kausale Konnotation, indem er eine positive Wirkung von Netzwerken auf die Entwicklung von Normen der Gegenseitigkeit und des Vertrauens annimmt: «Social capital refers to connections among individuals – social networks and the norms of reciprocity and trustworthiness that arise from them» (Putnam, 2000: 19). Im Gegensatz zu Coleman (1994) verschiebt Putnam (1993) allerdings die Analyseperspektive und fokussiert nicht länger auf das Individuum, sondern auf die Gemeinschaft als Ganzes (Städte, Regionen oder ganze Länder). Zudem konzentriert er sich nur noch auf eine ganz bestimmte Art von sozialen Beziehungsstrukturen, nämlich auf «Netzwerke staatsbürgerlichen Engagements», sprich Vereine (vgl. Freitag, 2003a, 2003b; Seubert, 2009). Vereinsbasierte Beziehungsstrukturen fördern die Kooperation unter ihren Mitgliedern und erhöhen den Gemeinsinn, indem sie Reziprozitätsnormen verstärken und zwischenmenschliches Vertrauen generieren. Die Mitglieder solcher Beziehungsnetze treffen sich regelmässig und klären sich gegenseitig über ihre jeweiligen Erwartungshaltungen bezüglich des Verhaltens der anderen auf. Sie steigern zudem die Kosten für Opportunisten, die sich nicht kooperativ zeigen, und erleichtern die Kommunikation und den Informa-

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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

tionsfluss über die Vertrauenswürdigkeit einzelner Individuen. Schliesslich schaffen sie Exempel für erfolgreiche Kooperationen, die als Vorbild für die zukünftige Zusammenarbeit dienen können (Putnam, 1993: 173 f.). Das Leben in Vereinen legt damit den Grundstein für generalisiertes Vertrauen, das seinerseits die Basis für die soziale Kooperation und die Lösung kollektiver Handlungsprobleme (der Demokratie) darstellt (Kriesi, 2007). Ist Putnam generell an der Stabilität demokratischer Herrschaftsformen interessiert, schimmert hier die Idee seines geistigen Ziehvaters Tocqueville durch, wonach die Funktionsfähigkeit der Demokratie in entscheidendem Mass von der Vitalität des Vereinslebens und der so definierten Zivilgesellschaft abhängig ist (Tocqueville, 1994 [1835]). Geprägt durch die jeweilige Forschungstradition betonen diese drei Klassiker der Sozialkapitalliteratur verschiedene Aspekte des Konzepts (Field, 2008; Fine, 2011; Schuller et al., 2000). Diese ungleichen Akzentuierungen finden sich beispielhaft in den vielen Definitionen zum Thema (siehe Tabelle 1). Zudem lösten die ungleichen Schwerpunkte in den letzten 20 Jahren eine intensive Diskussion über die Dimensionen, die Analyseebenen und den Charakter des Sozialkapitals aus. Um die verschiedenen Zugänge analytisch zu fassen, kann zunächst grob zwischen einer strukturellen und einer kulturellen Komponente des Sozialkapitals unterschieden werden (Bjørnskov und Sønderskov, 2013; Castiglione et al., 2008; Hooghe und Stolle, 2003; Oorschot et al., 2006; van Deth, 2003, 2008). Während die kulturelle Komponente Werte und Normen sowie das zwischenmenschliche Vertrauen umfasst, zählen verschiedene Formen sozialer Netzwerke zur strukturellen Komponente. Im vorliegenden Band werden das Engagement in Vereinen, die Ressourcen im sozialen Umfeld von Familie, Freunden, Nachbarn und Bekannten, die unbezahlten Tätigkeiten, die Arten des zwischenmenschlichen Vertrauens, die Normen der Reziprozität und die Toleranz als Formen des Sozialkapitals näher betrachtet (siehe Abbildung 3). Soziale Netzwerke bilden die strukturelle Komponente des sozialen Kapitals ab. Sie beschreiben Bindungen zwischen Individuen, die eine Basis für vertrauensvolle Kooperation und sozialen Zusammenhalt schaffen. Empirisch können verschiedene Formen sozialer Netzwerke unterschieden werden (Freitag 2001, 2004; Putnam und Goss, 2001). Mit die wichtigste Unterscheidung betrifft den Formalisierungsgrad von Netzwerken. Während Vereine oder Freiwilligenorganisationen formelle


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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen Tabelle 1: Definitionen von Sozialkapital •

«Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen» (Bourdieu, 1983: 190–191). «Social capital inheres in the structure of relations between persons and among persons» (Coleman, 1988: 98). «[Social capital refers to] friends, colleagues, and more general contacts through whom you receive opportunities to use your financial and human capital» (Burt, 1992: 9). [Beim sozialen Kapital handelt es sich] «um ein Netzwerk von Relationen zwischen Individuen, um gegenseitige Verpflichtungen und Investitionen» (Diekmann, 1993: 23). «Social capital stands for the ability of actors to secure benefits by virtue of membership in social networks or other social structures» (Portes, 1998: 6). «Social capital refers to the norms and networks that enable collective action» (http://www.worldbank.org/ (11.11.2013). «By social capital I mean features of social life, networks, norms, and trust, that enable participants to act together more effectively to pursue shared objectives» (Putnam, 1995b: 664 f.). [Social capital is defined] «as a culture of trust and tolerance, in which extensive networks of voluntary associations emerge» (Inglehart, 1997: 188). «Social capital refers to connections among individuals, social networks and the norms of reciprocity and trustworthiness that arise from them» (Putnam, 2000: 19). «Social capital can be defined simply as a set of informal values or norms shared among members of a group that permits cooperation among them» (Fukuyama, 2000: 16). [Social capital is defined] «as the willingness of citizens to trust others including members of their own family, fellow citizens, and people in general» (Whiteley, 2000: 450). [Social capital is defined] «as the density of trust existing within a group. The group might be extended to the whole of the society» (Paldam und Svendsen, 2000: 342). •

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• • •

Quelle: Entnommen und leicht modifiziert aus Franzen und Freitag (2007b: 10) und Freitag (2001: 93).

Netzwerke darstellen, werden Bekanntschaften zu Nachbarn oder Freunden ausserhalb dieser organisatorischen Kontexte als informelle Netzwerke bezeichnet. Die Mitgliedschaft in formellen Vereinigungen garantiert als eine auf Dauer angelegte soziale Verbindung die Entwicklung von Normen reziproken Verhaltens und damit die Fähigkeit zur Kooperation (Putnam, 1993). Im Gegensatz zu mehr informellen sozialen Netz-

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Abbildung 3: Formen des sozialen Kapitals Vereinsengagement Netzwerke

unbezahlte Tätigkeiten Familie Freunde Nachbarn Arbeitskollegen

strukturelle Dimension

Sozialkapital

Vertrauen

Normen und Werte

Nahbereichsvertrauen Fremdvertrauen

kulturelle Dimension

Reziprozität Toleranz

werken ist der Fortbestand sozialer Beziehungen in Vereinigungen eher garantiert, da ein organisatorisch-institutioneller Kontext das regelmässige Wiedersehen der Akteure gewährleistet und opportunistisches Verhalten Einzelner wirkungsvoller sanktioniert werden kann (Gabriel et al., 2002: 39). Mit anderen Worten: Als regelmässige und auf Dauer angelegte Beziehungen bilden Vereine ein Umfeld, in dem die Akteure eine gemeinschaftsbezogene Kommunikations-, Kooperations- und Hilfsbereitschaft erlernen und diese zur Lösung kollektiver oder individueller Probleme einsetzen können (Putnam, 1993: 90). Darüber hinaus schafft die Mitgliedschaft in formellen Assoziationen in besonderem Mass gegenseitige Verpflichtungen, Erwartungen und Informationskanäle (Maloney et al., 2000). Derart betrachtet lohnen sich Investitionen in das vereinsmässig eingebettete Sozialkapital mehr als in informelle Beziehungen, deren Dauerhaftigkeit und die damit verbundenen Renditen weniger garantiert sind. Dennoch sind die informellen Formen des sozialen Zusammenlebens in ihrem Einfluss auf die individuellen Grund- und Werthaltungen in Form des Vertrauens, der Reziprozität und der Kooperationsfähigkeit


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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

nicht zu unterschätzen (Newton, 1999). Die beinahe täglichen Austauschprozesse im Familien- und Freundeskreis, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft gestalten sich weitaus (zeit-)intensiver als die Mitgliedschaft und Ehrenamtlichkeit in den jeweiligen Vereinen. Entsprechend verweist beispielsweise Putnam (1995a: 73) auf die Bedeutung der Familie als fundamentalste aller Sozialkapitalformen. Ferner müssen wir soziale Beziehungen nach ihrer Qualität oder nach dem Verpflichtungsgrad unterscheiden. Dies immer dann, wenn das soziale Miteinander innerund ausserhalb von Vereinen über das rein selbstbezogene Wirken hinaus einen unbezahlten Dienst an anderen mit einschliesst, der sich als Leistung gegen Entgelt einkaufen liesse. Es macht nämlich einen Unterschied, ob Davide und Joey selbst Fussball spielen oder die F-Junioren des FC Unterstrass ein- bis zweimal wöchentlich über das Wesen des Doppelpasses aufklären. Damit eng verknüpft kann eine Beziehung als stark oder schwach bezeichnet werden. Starke, eng verwobene Bindungen zeichnen sich etwa durch einen häufigen und regelmässigen Kontakt innerhalb eines Freundeskreises aus. Fehlt hingegen diese Regelmässigkeit der Kontaktmöglichkeiten, wird eine Beziehung als schwach bezeichnet. Beide Formen sozialer Beziehungen sind mit unterschiedlichen Wirkungen verbunden. Innerhalb starker Beziehungen werden die persönlichen Freuden und Sorgen des Alltags unmittelbar geteilt. Schwache Beziehungen können indes bei der Arbeitsuche von grösserem Nutzen sein als enge Bindungen, da der beste Freund ohnehin in den gleichen Kreisen verkehrt, die flüchtig gemachte Bekanntschaft aber imstande ist, neue Türen zu öffnen (Granovetter, 1973). Chwe (1999) weist ferner darauf hin, dass lose Beziehungen in erster Linie der Informationsbeschaffung dienlich sind, während dicht geflochtene Netzwerke soziale Dilemmata zu lösen imstande sind. Überdies kann zwischen abgrenzenden und brückenbildenden Netzwerken unterschieden werden. Diese Unterscheidung spielt vor allem im Kontext der Vereinsforschung eine wichtige Rolle. Die Mitglieder abgrenzender Netzwerke sind hinsichtlich ausgewählter Merkmale (wie etwa Alter, Geschlecht oder Ethnie) homogen. Brückenbildende Netzwerke weisen hingegen eine heterogene Sozialstruktur auf. Ein typisches Beispiel für ein brückenbildendes Netzwerk ist ein Sportverein. Im Gegensatz zu abgrenzenden Vereinigungen gelten vor allem brückenbildende Netzwerke als Horte des Sozialkapitals (Uslaner und Conley, 2003; Zmerli, 2003). Zudem weisen auch die Untersuchungen von Freitag (2003a, 2003b), Freitag et al. (2009), Stolle (1998)

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sowie Stolle und Rochon (1998) auf die Unterschiedlichkeit von sozialen Organisationen hin. Beispielsweise fördern kulturelle Vereinigungen und Nachbarschaftsvereine mehr soziales Vertrauen bei ihren Mitgliedern, als dies etwa Vertriebenen- und Immigrantenverbände oder politische Vereine zu leisten imstande sind. Schliesslich lässt sich ein Netzwerk noch bezüglich seines Zwecks unterscheiden. Innenorientierte Netzwerke verfolgen Ziele, die vornehmlich die Interessen ihrer Mitglieder bedienen. Dazu zählen beispielsweise Berufsverbände. Aussenorientierte Netzwerke zeichnen sich stattdessen durch eine stärkere Gemeinwohlorientierung aus. Je nach Formalisierung, Verpflichtungsgrad, Dichte, Struktur und Zweck können soziale Netzwerke unterschiedliche Effekte haben. Nicht zuletzt deshalb sind die genannten Unterscheidungen für empirische Studien von besonderer Bedeutung. Zwischenmenschliches Vertrauen als Grundlage dauerhafter Kooperation und gegenseitiger Hilfe in einer Gesellschaft ist wohl die prominenteste kulturelle Komponente von Sozialkapital (Coleman, 1994; Uslaner, 2002). Dem zwischenmenschlichen Vertrauen wird in der Sozialkapitalforschung eine besondere Bedeutung beigemessen, da es als unerlässliche Vorbedingung gemeinschaftsorientierten und kooperativen Verhaltens zu werten ist. Vertrauen in andere Menschen überwindet das für soziale Beziehungen charakteristische Problem der Unsicherheit über die sequenzielle Abfolge vereinbarter Austauschhandlungen. Mit anderen Worten: Vertrauen lässt sich als Mechanismus begreifen, mit dem eine dauerhafte und wechselseitig ertragreiche Kooperationsbeziehung in Gang gesetzt werden kann. Mit Blick auf den Vertrauensradius können generell zwei Arten des Vertrauens unterschieden werden, nämlich das Nahbereichsvertrauen einerseits und generalisiertes Vertrauen in Fremde andererseits. Das Nahbereichsvertrauen basiert auf der persönlichen Kenntnis der zu vertrauenden Personen und erstreckt sich so auf eine zu überblickende soziale Einheit (Familie, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen). Diese Vertrauensbeziehungen beruhen auf geteilten Lebens- und Erfahrungswelten und auf zukünftig zu erwartenden sozialen Austauschprozessen zwischen den Vertrauenden. Grundlage des Vertrauens ist all das, was wir über andere wahrnehmbar in Erfahrung bringen. Vertrauen wird damit zum dicht gestreuten kognitiven Phänomen. «Fremde» werden – wenn überhaupt – nur dann in diesen Vertrauenskreis aufgenommen, sofern sie bestimmten vorab definierten Filterkriterien wie etwa Alter, Geschlecht, Religions-


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und Vereinszugehörigkeit oder Ethnizität genügen.3 Vertrauen in Fremde hingegen erstreckt sich auf einen Bereich, der jenseits enger partikularistischer Lebenswelten liegt. Es unterscheidet sich vom Nahbereichsvertrauen durch seine Ausdehnung auf unbekannte Adressatenkreise und seine situationsunabhängige Geltung. Im Gegensatz zum personalisierten Nahbereichsvertrauen bedarf es bei gegebenen Handlungssituationen keinerlei Überlegungen oder Wahrscheinlichkeitsberechnungen, ob dem Gegenüber vertraut werden kann oder nicht. Fremdvertrauen gilt als «Herzstück des Sozialkapitals» und als Schlüsselressource hinsichtlich der Entwicklung moderner Gesellschaften (Stolle und Rothstein, 2007). Im Gegensatz zu sozialem Kapital, das auf Nahbereichsvertrauen aufbaut, verspricht dieses Vertrauen eine inklusive und offene Gesellschaft, macht Investitionen in die Zukunft wahrscheinlicher, fördert die ökonomische Entwicklung und führt zu glücklicheren und zufriedeneren Individuen innerhalb einer Gemeinschaft (Uslaner, 2002). Schliesslich verweist die Forschung auf gemeinschaftsbezogene Werte und Normen, um ein feingliedrigeres Bild des abrufbaren Sozialkapitals zu erhalten (Gabriel et al., 2002: 68 ff.; Gundelach und Traunmüller, 2013). Neben sozialen Erziehungszielen wie Selbstlosigkeit, Verantwortung, Aufmerksamkeit und Respekt gegenüber anderen Menschen rücken auch prosoziale Orientierungen ins Zentrum des analytischen Interesses, die auf die Ablehnung opportunistischen Verhaltens beziehungsweise auf die Bereitschaft zu moralischen und sozialen Verpflichtungen hindeuten. Hierbei wird vor allem auf die Normen der Reziprozität und die Toleranz rekurriert. Als eng verwandte und oftmals im selben Atemzug mit Vertrauen genannte kulturelle Komponente sozialen Kapitals besagt die Norm der Reziprozität, dass man denjenigen helfen soll, die einem selbst einmal geholfen haben und dass man denjenigen, die einem geholfen haben, keinen Schaden zufügen soll (vgl. Gouldner, 1960: 171). Sie stellt somit eine bedeutende kulturelle Voraussetzung von Kooperation dar, denn in Gemeinschaften, in denen die Menschen darauf vertrauen können, dass andere die Norm der Reziprozität verinnerlicht haben und 3

Jüngere Forschungen sprechen in diesem Zusammenhang gerne auch vom identitätsbasierten Vertrauen als einer zusätzlichen Vertrauensart. Gemeint ist damit das Vertrauen in Menschen, zu denen man keine persönliche Beziehung hat, mit denen man aber ein identitätsstiftendes Merkmal teilt, wie beispielsweise Herkunft, Religion oder auch Ethnie (Freitag und Bauer, 2013).

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daher geleistete Hilfe- und Unterstützungsleistungen in der Regel nicht ausgenutzt, sondern erwidert werden, kommt wechselseitiger Austausch leichter in Gang (Diekmann, 2004; Fukuyama, 2000; Freitag und Traunmüller, 2008; Putnam, 1993: 172). Durch die Schaffung künftiger Verpflichtungen überführt die Norm der generalisierten Reziprozität punktuelle Interaktionen in länger andauernde Beziehungen. Die offenstehende Verpflichtung, eine erhaltene Hilfeleistung in der Zukunft zu erwidern, kann dabei als eine Art «Gutschein» aufgefasst werden, der dem helfenden Akteur zur Verfügung steht und den dieser bei Bedarf einlösen kann. Menschen, die sich in Gemeinschaften befinden, in denen die Einlösung vieler dieser Verpflichtungen noch aussteht, haben daher ein hohes Mass an sozialem Kapital zu ihrer Disposition, auf das sie zurückgreifen können (vgl. Coleman, 1988: 103). Die Norm der Reziprozität versöhnt damit auch das Eigeninteresse mit der Solidarität: «Each individual act in a system of reciprocity is usually characterized by a combination of what one might call short-term altruism and long-term self interest: I help you out now in the (possibly vague, uncertain and uncalculating) expectation that you will help me out in the future» (Taylor, 1982: 28). Ähnlich der Reziprozität ist schliesslich auch die Toleranz nur selten Gegenstand empirisch-quantitativer Zugänge der Sozialkapitalforschung. Für Ronald Inglehart (1997: 188) bezieht sich Sozialkapital aber beispielsweise auf «a culture of trust and tolerance, in which extensive networks of voluntary associations emerge». Tolerant ist zunächst, wer bestimmte Personen oder Gruppen und ihre Handlungen, Meinungen oder Einstellungen zwar ablehnt, diesen aber dennoch ausgewählte Rechte zubilligt. Das Wesen der Toleranz liegt somit in der bewussten Duldung des Falschen und ist als Ergebnis aus Ablehnung und Akzeptanz zu verstehen (Forst, 2003). Toleranz zielt dabei auf die Akzeptanz von Andersartigkeit des Gegenübers ab, selbst wenn man dieser Andersartigkeit zunächst ablehnend gegenübersteht. Durch die Überwindung im Raum stehender Konflikte stärkt die Ausübung von Toleranz zwischenmenschliche Beziehungen und fördert allgemein den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Neben der Diskussion um etwaige Dimensionen und Komponenten des Konzepts herrscht eine gewisse Uneinigkeit, was die Anerkennung des Sozialkapitals als Kapitalform betrifft (Fine, 2010, 2011; Franzen und Pointner, 2007). Gemäss mikroökonomischer Produktionstheorie gelten zunächst alle Produktionsfaktoren, die weder dem Boden noch der Arbeit zugeordnet werden und gleichsam als relevante Vorleistung produktiver


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Aktivität dienen, als Kapital. Während das Sachkapital eine produktive Ausrüstung und das Humankapital die produktiven Fähigkeiten einer Person beschreibt, steht Sozialkapital für die produktive Nutzung zwischenmenschlicher Beziehungen. Auch soziales Kapital kann Renditen abwerfen, die individuelle Produktivität fördern und zur Zielerreichung verhelfen, indem Menschen von ihren sozialen Beziehungen profitieren (Franzen und Pointner, 2007). Den Kriterien einer Kapitalform nach Arrow (2000) genügt Sozialkapital insofern, als ein investitionsbedingter freiwilliger Verzicht zugunsten der Aussicht auf künftige Vorteile denkbar ist. Der strategische Aufbau einer sich erst künftig auszahlenden Sozialbeziehung verursacht hier zunächst Kosten in Form von Zeit und (bisweilen) Geld, die für andere Zwecke hätten eingesetzt werden können. Das zusätzliche Kriterium der zeitunabhängigen Verwendung wird jedoch nicht erfüllt: Sozialkapital verliert an Wert, wenn die Sozialkontakte nicht dauerhaft gepflegt werden. Ebenso kann Sozialkapital auch nicht durchgängig ohne Weiteres veräussert werden, obschon die prinzipielle Abrufbarkeit von Netzwerkkontakten durch Aussenstehende in diese Richtung interpretiert werden kann. Über die Debatte um die Kapitalform hinaus stellt sich weiterhin die Frage nach dem Gutscharakter von Sozialkapital. Im Gegensatz zu privaten Gütern kann niemandem die Teilhabe und der Nutzen an einem öffentlichen Gut vorenthalten werden, auch nicht denjenigen, die nichts zu dessen Herstellung beigetragen haben. Sozialkapital ist allerdings kein öffentliches Gut, da das Sozialkapital einer Person nicht automatisch von anderen genutzt werden kann. Sozialkapital ist andererseits kein privates Gut, da dessen Verfügungsmöglichkeit sowohl vom Bittsteller als auch vom Empfänger der Bitte abhängt. Während Bourdieu (1983) eher den privaten Anstrich des sozialen Kapitals herausstellt, kann es den Theorien von Coleman (1994) und Putnam (1993, 2000) zufolge sowohl ein privates als auch ein öffentliches Gut sein, dessen Nutzen nicht vollständig privatisiert werden kann. Engagiert sich eine Gruppe von Personen für die Einrichtung eines Grill- und Spielplatzes in einem Wohnquartier, profitieren auch diejenigen Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht direkt involviert sind. Gleichzeitig können die durch die Zusammenarbeit entstehenden Beziehungen auch einen privaten Nutzen entfalten, wenn sich die Gruppenmitglieder in der Folge zum Zweck der gegenseitigen und abwechselnden Beaufsichtigung der Kinder absprechen. Entsprechend kann Sozialkapital als individuelle Ressource auf der Mikro-

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ebene oder als Systemkapital auf der Makro- oder gesellschaftlichen Ebene wie in den Analysen von Putnam (1993, 2000) konzipiert werden, wenn etwa die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit subnationaler Verwaltungsorgane in Italien auf die Unterschiede im regionalen Bestand an sozialem Kapital zurückgeführt werden.4 Vor diesem Hintergrund wurde das Bild vom «doppelten Doppelcharakter des Sozialkapitals» entworfen, das zum Ausdruck bringen soll, dass sowohl strukturelle als auch kulturelle Komponenten des Sozialkapitals auf der Ebene der individuellen Beziehung wie auf Systemebene auftreten können und entsprechend als Beziehungs- oder Systemkapital figurieren können (Gabriel et al., 2002; Portes, 2000; Westle und Gabriel, 2008). Hinsichtlich der Bedingungen von Sozialkapital lassen sich mehrere Gruppen von Faktoren unterscheiden (Valdivieso und Villena-Roldán, 2014). Erstens kommt mehrheitlich auf der Mikroebene angesiedelten Faktoren der Soziodemografie und -ökonomie eine Bedeutung zu (Freitag, 2003a, 2003b). Hierbei wird neben dem Alter, dem Geschlecht, der Konfession, der Staatsangehörigkeit, dem Einkommen und dem Erwerbsstatus vor allem auch der Bildungsgrad als wichtiger Einflussfaktor thematisiert. Höher gebildete Menschen haben einer Studie von Gesthuizen et al. (2008a) zufolge in allen Bereichen einen höheren Bestand an Sozialkapital vorzuweisen, mit Ausnahme der informellen Netzwerke. Bezüglich der Auswirkungen von ethnischer Diversität weist die Literatur unterschiedliche Befunde auf. Während Putnam (2007) von einem negativen Effekt von ethnischer Diversität auf das Sozialkapital berichtet, zeigen eine Reihe von Folgestudien einen positiven Effekt von Diversität auf das Vertrauen in andere ethnische Gruppen unter bestimmten Bedingungen (z. B. Gesthuizen et al., 2008b; Gundelach, 2013; Stolle et al., 2008). Zweitens können kulturelle Faktoren als Bedingungen von Sozialkapital genannt werden. Dabei wird der Religion – gemessen auf der Mikro- oder Makroebene – ein positiver Effekt auf das Vertrauen und die soziale Integration zugespro4

Exemplarisch findet sich hierzu eine sehr klare Ansicht bei Newton (2001: 212): «… social capital […] refer(s) to the aggregate properties of societies […], not to their individual members. One can estimate the stock of social […] capital by averaging individual scores for a society as a whole, in the same way as GNP refers to whole nations or regions». Nichtsdestotrotz mutmasst Portes (1998: 21): «I believe that the greatest theoretical promise of social capital lies at the individual level.»


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chen, wobei insbesondere die partizipativen Strukturen des Protestantismus die Einbindung in soziale Netzwerke fördern (Putnam, 2000; Traunmüller, 2009, 2012). Drittens beeinflussen schliesslich auf der Makroebene angesiedelte, institutionelle Aspekte den Bestand an Sozialkapital. Hierbei kommen machtteilend-konsensuale Aspekte ebenso zur Sprache wie Gesichtspunkte der Fairness, wenn es um die institutionell garantierte Normenbefolgung geht (Freitag, 2006; Freitag und Bühlmann, 2009; Stolle und Rothstein, 2007). Überdies gibt es in der Sozialkapitalforschung eine lebhafte Debatte über den Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Institutionen bei der Erzeugung oder Eindämmung sozialkapitalrelevanter Dimensionen (Gundelach et al., 2010). Kumlin und Rothstein (2005) zufolge fördert ein universell ausgerichteter Wohlfahrtsstaat die Entwicklung von Sozialkapital.5 Betrachten wir die Konsequenzen des Sozialkapitals, wird nahezu jeder Lebensbereich analysiert (Field, 2008; Halpern, 2005). Das Fazit von Putnam (2000: 290) fasst den Forschungsstand diesbezüglich prägnant zusammen: «Social capital makes us smarter, healthier, safer, richer and better able to govern a just and stable democracy.» Innerhalb der politikwissenschaftlichen Forschung werden insbesondere die Auswirkungen auf die Demokratie und die demokratischen Bürgertugenden beleuchtet. Auf der Makroebene spricht die Mehrheit der Befunde für einen positiven Effekt von Sozialkapital auf die demokratische Entwicklung in einem Land. Paxton (2002) weist in ihrer Studie jedoch darauf hin, dass diesbezüglich ein reziproker Effekt vorliegt: Das Sozialkapital fördert die demokratische Entwicklung in einem Land, der Demokratiegrad hat allerdings auch einen Effekt auf den Sozialkapitalbestand. Weiterhin wird insbesondere formellen Netzwerken ein positiver Effekt auf individuelle politische Partizipa5

Darüber hinaus wirken die einzelnen Komponenten des Sozialkapitalkonzepts, zum Ärgernis der Kritiker, als Bedingungen für das jeweils andere Element. Vor diesem Hintergrund finden sich beispielsweise zahlreiche Analysen zur Beziehung zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und dem zwischenmenschlichen Vertrauen als den beiden Kernkomponenten des Konzepts (Bekkers, 2012; Freitag et al., 2009; Glanville et al., 2013; Paxton, 2007; Sønderskov, 2011). Tatsächlich stellt die Lösung kausaler Verknüpfungen dieser zusammenhängenden Phänomene aber ein besonderes Problem dar: «The causal arrows among civic involvement, reciprocity, honesty, and social trust are as tangled as well-tossed spaghetti» (Putnam, 2000: 137).

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tion zugeschrieben. Im Sinn von Tocqueville (1994 [1835]) sollen Vereine «Schulen der Demokratie» darstellen. Inzwischen geht die Forschung jedoch auch von Selbstselektionseffekten aus: Politisch Aktive engagieren sich aufgrund ihrer Einstellungen und Werte auch eher in Vereinen (van der Meer und van Ingen, 2009). Dem Argument folgend, dass Sozialkapital in Form von Vertrauen und Netzwerken die Transaktionskosten senkt, werden positive Effekte im Bereich der Wirtschaft erwartet. Diese konnten bisher sowohl für die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt als auch für spezifische Bereiche, wie den Arbeitsmarkt, gezeigt werden (Freitag und Kirchner, 2011; Knack und Keefer, 1997; Jedinger, 2013; Stadelmann-Steffen und Freitag, 2007; Westlund und Frane, 2010). Neben den beschriebenen Auswirkungen weist die Literatur darüber hinaus auch auf Effekte von Sozialkapital in den Bereichen Gesundheit und Lebenszufriedenheit (Ferlander, 2007; Helliwell, 2003) oder Kriminalität (Roh und Lee, 2013) hin. Sozialkapital kann jedoch auch Schattenseiten aufwerfen und negative Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft haben (van Deth und Zmerli, 2010). Beispielsweise können Vorteile für Gruppenmitglieder zu Nachteilen von Aussenstehenden führen. Weiterhin sind TrittbrettfahrerProbleme denkbar, wenn Einzelne die Leistungen bestimmter Netzwerke und Gruppen ausnutzen und damit langfristig den Gruppenerfolg verschleppen oder verhindern (vgl. Field, 2008; Newton, 1999; Portes, 1998; Putnam, 2000). Zur Diskussion der negativen Konsequenzen des Sozialkapitals sei insbesondere auf die Beiträge von Portes (1998), Portes und Landolt (1996) und Putnam (2000: 350 ff.) verwiesen.

3. Forschungen zum Sozialkapital in der Schweiz Die Forschung zum Sozialkapital in der Schweiz ist im Vergleich zu anderen Ländern und insbesondere den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen im angloamerikanischen Raum bislang nicht weit gediehen (siehe Abbildung 4). Die bisherigen Studien widmen sich dabei nahezu ausschliesslich der Analyse der Vereinseinbindung wie auch des zwischenmenschlichen Vertrauens als den zentralen Elementen des Sozialkapitals.6 Zumeist gilt die Aufmerksamkeit der Bestandsanalyse und den 6

Angestossen durch ein Forschungsprogramm der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Migros-Kulturprozent und


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Abbildung 4: Forschungen zum Sozialkapital in der Schweiz im Vergleich 1. USA 2. England 3. Kanada 4. Australien 5. Niederlande 6. Deutschland 7. Schweden 8. Spanien 9. China 10. Italien 14. Frankreich 20. Schweiz 32. Österreich 0

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Anmerkung: Anzahl an Publikationen in den aufgeführten Ländern seit 1986, die im Web of Knowledge erfasst sind.

Konsequenzen, etwas weniger den Entstehungsbedingungen des Sozialkapitals. Freitag (2001) stellt beispielsweise in der ersten vergleichenden empirischen Studie zum Sozialkapitalbestand der Schweiz fest, dass im Gegensatz zu den Befunden von Putnam (2000) für die Vereinigten Staaten keine Abnahme des sozialen Kapitals in der Schweiz zu beobachten ist. Die Schweiz reiht sich dabei im internationalen Vergleich im oberen Mittelfeld fortgeschrittener Industrienationen ein. Weiter weisen die empirischen Befunde darauf hin, dass der Bestand an Sozialvermögen in den Deutschschweizer Kantonen signifikant höher ausfällt als in den dem Bundesamt für Statistik finden sich in jüngster Zeit auch eine Reihe von Beiträgen zum freiwilligen Engagement in der Schweiz, die durchweg auch als eigenständige Forschungsbeiträge zum Thema des Sozialkapitals gelten können (Ammann, 2004; Farago, 2007; Lamprecht et al., 2012; StadelmannSteffen et al., 2007, 2010; Traunmüller et al., 2012).

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lateinischen Sprachregionen. Eine weiterführende Analyse zeigt, dass sich das Sozialkapital der Deutschschweizer Bevölkerung eher im Kollegenkreis, in der Nachbarschaft und in den Vereinen manifestiert. Die Menschen aus den französisch- und italienischsprachigen Kantonen hingegen verfügen über mehr Sozialkapital aus freundschaftlichen und familiären Beziehungen (Freitag, 2004). Zu ähnlichen Befunden hinsichtlich der regionalen Verortung kommt auch Baglioni (2004) in seiner Studie zum Vereinswesen und der Einbindung in zivilgesellschaftliche Organisationen. Mit Blick auf die Entstehungsbedingungen erfahren wir, dass insbesondere das Vertrauen in politische und soziale Institutionen die Bildung des zwischenmenschlichen Vertrauens beeinflusst. Dieser Befund wird auf spezifische Eigenheiten des schweizerischen politischen Systems, wie etwa die direkte Demokratie, das Milizsystem oder das Subsidiaritätsprinzip, zurückgeführt (Freitag, 2003a). Weiterführende Untersuchungen kommen ferner zum Schluss, dass die Vertrauensbildung in der Schweiz weniger vom Engagement in einem spezifischen Verein abhängt, sondern vielmehr vom Ausmass der persönlichen Integrationsbereitschaft, sprich von der Quantität und nicht von der Qualität der persönlichen Vereinseinbindung (Freitag et al., 2009). Engagieren sich Ursula und Hanspeter in mehr als einer Organisation, entwickeln sie ein deutlich höheres Vertrauen in die Mitmenschen (Freitag et al., 2009: 517). Wird die strukturelle Form des Sozialkapitals betrachtet, üben vor allem politische Institutionen einen Einfluss aus (Freitag, 2006). Insbesondere direktdemokratische Institutionen, die Konsensdemokratie und dezentralisierte politische Strukturen fördern die Vereinseinbindung in der Schweiz. Weitere Weichenstellungen finden sich im katholischen Umfeld oder auf individueller Ebene im Bildungsgrad und der Kirchenbindung (Bühlmann und Freitag, 2004). In Bezug auf den Einfluss neuer Medien auf das Sozialvermögen einer Gesellschaft hält schliesslich Franzen (2003) fest, dass der zunehmende Internetgebrauch in der Schweiz entgegen verbreiteter Thesen nicht zu einem Abbau sozialer Netzwerke und Beziehungen führt. Hinsichtlich der Wirkungen und Konsequenzen finden sich Hinweise, dass neben politischen und ökonomischen Bedingungen insbesondere auch die Verteilung des Sozialkapitals die unterschiedlich hohen Arbeitslosenquoten in den Schweizer Kantonen erklären kann (Freitag, 2000). Soziale Netzwerke verhelfen zu Informationen auf dem Arbeitsmarkt und


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reduzieren die Such- und Transaktionskosten. Zudem wird die Qualität von Stellenbewerbern gesichert und die Insider-Outsider-Problematik gemindert, da diese beiden Arbeitsmarktsegmente einander weniger konfrontativ gegenüberstehen. Einem ähnlichen Argumentationsmuster folgt Jann (2003), der in seiner Studie den Einfluss des schweizerischen Militärdienstes und des darin verankerten Beziehungsnetzes auf den zivilen Berufserfolg von Milizoffizieren nachzeichnet. Der Wert ihrer sozialen Beziehungen verhilft auch Hochschulabsolventen zu beruflichem Erfolg in der Schweiz (Franzen und Hangartner, 2005). Der wirtschaftliche Erfolg einer Berner Gemeinde steht nach Franzen und Botzen (2014) in Zusammenhang mit der Anzahl aktiver Vereinsmitglieder vor Ort, wobei gemeinwohlorientierte Vereine bedeutender sind als Vereine, die Partikularinteressen verfolgen. In die gleiche Richtung weisen die Befunde von Schulz und Baumgartner (2013), wonach eine höhere Zahl von Freiwilligenorganisationen die Zahl der Unternehmensgründungen in der ländlichen Schweiz positiv beeinflusst. Dazu prägen soziale Netzwerkressourcen die nachhaltige Entwicklung in ländlichen Gebieten (Hirschi, 2010). Schliesslich schreiben Spilker et al. (2012) dem generalisierten Vertrauen einen Einfluss auf die Ausbildung einer positiven Haltung gegenüber der wirtschaftlichen Öffnung und Globalisierung der Schweiz zu.

4. Das Konzept des Sozialkapitals im vorliegenden Band Wir verstehen im vorliegenden Band unter Sozialkapital die Vorteile, die sich aus der jeweils vorhandenen Sozialstruktur ergeben und deren Wert sich in der erfolgreichen Umsetzung selbst vorgegebener Ziele des Individuums oder ganzer Gruppen und Gemeinschaften zeigt. Ohne mögliche negative Folgen von Sozialstrukturen zu verneinen, gehen wir davon aus, dass sowohl ein Engagement in Vereinen, die unbezahlte Arbeit für die Gemeinschaft, die Hilfeleistungen im sozialen Umfeld von Familie, Freunden, Kollegen und Nachbarn als auch ein Zutrauen in das Gegenüber, die Unterstützung von Normen reziproker Handlungen und tolerante Einstellungen nicht nur für die Gemeinschaft, sondern auch für das Individuum selbst nützlich sind. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass dem Konzept des Sozialkapitals durchaus eine gewisse Skepsis in der sozialwissenschaftlichen Gemeinschaft entgegenschlägt (Fine, 2010). Ein erster Vorbehalt betrifft den Inno-

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vationsgehalt des Konzepts. Die Vorstellung, dass unser Handeln auf den sozialen Kontext und auf sozialisierte Normen und Werte bezogen werden kann, ist eine der wesentlichen Grundeinsichten seit den Anfängen soziologischer Betrachtungen (Coleman, 1994). Zudem wissen wir spätestens seit den Analysen von Tocqueville (1994 [1835]) um die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Vereinigungen für die Entwicklung und Qualität der Demokratie. Die Neuartigkeit des Sozialkapitalkonzepts besteht damit wohl weniger in einer kompletten Neuorientierung politisch-soziologischer Betrachtungsweisen, sondern vielmehr in der kompromisslosen und systematischen Erinnerung an die Verknüpfung sozialer Beziehungsmuster mit ihrem materiellen wie emotionalen Wert für nahezu jeden Lebensbereich. Nicht von ungefähr erfuhr das Konzept des Sozialkapitals gerade in den ökonomischen Hochtagen des Neoliberalismus und in den gesellschaftlich konstatierten Entwicklungen eines zunehmenden und beinahe unbeschränkten Individualismus Ende der 1980er-Jahre eine weltweite Aufmerksamkeit, die bis zum heutigen Tage anhält und nicht nur in Suberg für Diskussionen sorgt. Ein zweiter Vorbehalt nimmt die Frage nach der Kausalität ins Visier. Dies betrifft sowohl die Beziehungen zwischen den konstituierenden Merkmalen des Sozialkapitals als auch die Zusammenhänge zwischen Sozialkapital und Drittvariablen. Es ist beispielsweise vorstellbar, dass soziale Beziehungen ein wirksames Mittel gegen die Arbeitslosigkeit darstellen können. Wir können aber auch mit guten Gründen annehmen, dass Erwerbslosigkeit aus Scham zu sozialer Isolation führt. Ferner wird in der Literatur argumentiert, dass ein Engagement in zivilgesellschaftlichen Vereinigungen die Entwicklung von zwischenmenschlichem Vertrauen fördert. In der Tat lassen sich auch theoretische Gründe für ein umgekehrtes Kausalverhältnis anführen. So könnten etwa besonders vertrauensvoll eingestellte Personen eher die Bereitschaft aufweisen, sich überhaupt in zivilgesellschaftlichen Gruppen zu engagieren und dort mit Menschen aus unterschiedlichen Kontexten zu kooperieren. Mit anderen Worten: Fördert die soziale Einbindung das Erlernen gemeinschaftsbezogener Werte und Normen, die als Grundlage von interpersonalem Vertrauen und Kooperation wirken, oder begünstigt eine Kultur des Vertrauens den Bestand und die Entwicklung sozialer Netzwerke? Während beispielsweise Putnam (1995b: 666) davon ausgeht, dass «the causation flows mainly from joining to trusting» und dass «people who join are


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people who trust», argumentiert Newton, dass «sociable people join clubs; misanthropes do not […] in short, the argument is that people join voluntary organisations because they trust others, rather than the other way round» (Newton, 1999: 16 f.).7 Diese interdependenten Verflechtungen sind neben theoretischen Überlegungen methodisch entweder durch Längsschnittbetrachtungen der immer gleichen Personen oder durch weiterführende statistische Verfahren zur Lösung des Selbstselektionsproblems anzugehen. In den vorliegenden Beiträgen werden nicht zuletzt in Ermangelung verfügbarer Daten diese sophistizierten Analysetechniken zugunsten der Kraft des Argumentes und der sprachlichen Zurückhaltung hinsichtlich kausaler Schlüsse geopfert. Schliesslich liegt für das Sozialkapital von Beginn an bis zum heutigen Tag keine eindeutige operationale Fassung vor (Diekmann, 1993). In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung operieren die bisherigen Abhandlungen sowohl mit der getrennten Betrachtung unterschiedlicher Elemente dieser Sozialstruktur als auch mit zusammenfassenden Masszahlen und Indizes. Für Letzteres spricht das Argument der grösseren Messungenauigkeit bei Einzelbetrachtungen, die durch das Zusammenlegen analytisch ohnehin verwandter Facetten überwunden werden könnte (van Deth, 2003). Zum Vorteil einer getrennten Untersuchung gereicht das Argument, dass die einzelnen Komponenten mit ungleichen Bedingungen und Konsequenzen in Verbindung gebracht wurden und eine Zusammenlegung der Elemente diese wichtige Erkenntnis verschleiern würde (Bjørnskov und Sønderskov, 2013; Jedinger, 2013). Zudem werden in der Literatur auch Überlegungen zu einer inhaltlichen Divergenz der einzelnen Komponenten angestellt. Obwohl beispielsweise die beiden Dimensionen des Vertrauens und der sozialen Integration eng miteinander verknüpft sind, sollten sie aus zwei Gründen konzeptuell auseinandergehalten werden (Newton, 1997: 577; Paxton, 1999: 93). Während die Formen der sozialen Einbindung objektiv messbar und beobachtbar sind, bedienen die Aspekte des Vertrauens wie auch andere Normen und Werthaltungen den subjektiv emotionalen Charakter der sozialen Beziehun7

Namhafte Unterstützung erhält die erste Sichtweise von Ostrom (1990: 206), die erklärt, dass «networks of civic engagement foster robust norms of reciprocity». Zudem gedeiht Vertrauen nach Luhmann (1989: 39) am ehesten in einem sozialen Umfeld, in dem «das Gesetz des Wiedersehens» gilt.

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gen. Ebenso schwierig erweist sich eine Unterscheidung zwischen Reziprozität und Vertrauen, die in der bestehenden Forschung nicht immer genügend klar voneinander abgegrenzt werden (León, 2012: 203; van Deth, 2003: 83). Allerdings setzt das Moment des sozialen Vertrauens einen starken Wertekonsens und eine gewisse Vertrautheit mit Verhaltensmustern voraus, während ein Bekenntnis zu Reziprozitätsnormen in erster Linie einer Übereinstimmung bezüglich gewisser prozeduraler Normen in spezifischen sozialen Austauschsituationen bedarf, jedoch keinen Wertekonsens in grundsätzlicheren Fragen benötigt (Gundelach und Traunmüller, 2013; Hooghe, 2007; Putnam, 2007). Die Gefahr möglicher Überschneidungen von Toleranz und zwischenmenschlichem Vertrauen meint wiederum Uslaner (2002) zu erkennen, für den Vertrauen nur eine Form von Toleranz darstellt. Allerdings wird von anderer Seite entgegengehalten, dass die Ausübung von Toleranz eines Konflikts bedarf, während Vertrauen gerade durch Zerwürfnisse irreparabel zerstört wird, und dass aus diesem Grund von zwar verwandten, aber zu trennenden Konzepten auszugehen ist (Delhey und Newton, 2005; Widmalm, 2005). Die Bedenken gegenüber zusammenfassenden Masszahlen führen im vorliegenden Band zur Betrachtung einzelner Formen des Sozialkapitals. Eingedenk der heuristischen Unterscheidung zwischen strukturellen und kulturellen Dimensionen wird der Wert sozialer Beziehungen in den Abhandlungen zu konkreten und populären Manifestationen, das heisst zum Vereinsengagement, zur unbezahlten Arbeit, zur sozialen Einbindung ausserhalb von Vereinsstrukturen, zum zwischenmenschlichen Vertrauen, zu Reziprozitätsnormen und zur Toleranz jeweils einzeln präsentiert. Jede dieser Facetten widerspiegelt in spezifischer Weise den Wert sozialer Beziehungen, und es gibt gute Gründe, diese als eigenständige Form sozialen Kapitals zu beanspruchen. Wir werden hierzu in jedem Kapitel ausführlich Stellung nehmen. Neben einer inhaltlichen Einordnung wird aber insbesondere der empirisch-analytischen Ausleuchtung der jeweiligen Sozialkapitalform eine grosse Beachtung geschenkt. Jede der aufgeführten strukturellen und kulturellen Komponenten soll wenn möglich sowohl in einer synchron als auch diachron angelegten Perspektive (quantitativ) analytisch erfasst werden und den Bestand beziehungsweise die Entwicklung des sozialen Kapitals in der Schweiz und ihren Regionen illustrieren. Ferner ist es das Bestreben des Bandes, die Gründe der Genese der jeweiligen Sozialkapitalform zu eruieren und sich deren politischen, gesellschaftlichen


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und wirtschaftlichen Konsequenzen zu widmen. Während Ersteres auf der Ebene von Individuen vollzogen wird (Welche Gründe gibt es für Kuno oder Bettina, unbezahlte Arbeiten zur Förderung des Gemeinwohls aufzunehmen?), beschäftigen sich die Wirkungsanalysen mit den Entwicklungen in den Schweizer Kantonen (Stehen ein dichtes zivilgesellschaftliches Netz von Vereinsangehörigen oder ein hoher Bestand an zwischenmenschlichem Vertrauen mit dem wirtschaftlichen Erfolg eines Kantons in Zusammenhang?). Während sich die Analysen zu den Entstehungsbedingungen an den in der Literatur prominent diskutierten Faktoren orientieren, stehen ausgewählte kantonale politische, ökonomische und gesellschaftliche Aspekte bei den Untersuchungen zu den Konsequenzen des Sozialkapitals im Mittelpunkt des analytischen Interesses. Unser Verlangen nach Erkenntnis betrifft hier in erster Linie die politische Beteiligung, die Zufriedenheit mit der Demokratie, Kennziffern wirtschaftlicher Entwicklung, wie das Volkseinkommen oder die Arbeitslosenrate, Aspekte des Sozialstaates, deviantes Verhalten wie Kriminalität, Lebenszufriedenheit und Gesichtspunkte des allgemeinen Wohlbefindens. Unsere Analysen zum Sozialkapital basieren in erster Linie auf nationalen und internationalen Bevölkerungsumfragen (siehe Tabelle 2), die zuweilen mit Daten aus amtlichen Statistiken in Beziehung gesetzt werden. Die Verfügbarkeit dieser Informationen bestimmt die Nähe zu aktuellen Entwicklungen. Die methodische Umsetzung der gesteckten Ziele wird durch den Rückgriff auf variantenreiche statistisch-quantitative Auswertungstech-

Tabelle 2: Ausgewertete Bevölkerungsumfragen Datensatz:

Quelle:

European Social Survey, 2006, 2012

ESS: http://www.europeansocialsurvey.org/

European Values Study, 2008

GESIS: http://www.gesis.org/

Freiwilligen-Monitor, 2006–2009

FORS: www.unil.ch/fors

Political Action Study, 1973–1976

GESIS: http://www.gesis.org/

Politik und Gesellschaft in der Schweiz, 2012

Institut für Politikwissenschaft, Bern

Schweizer Haushalt-Panel, 1999–2010

FORS: www.swisspanel.ch

Schweizerische Arbeitskräfteerhebung Bundesamt für Statistik: www.sake.bfs.admin.ch SAKE, 1997–2010 World Values Survey, 2005–2008

WVS: http://www.worldvaluessurvey.org/

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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

niken und grafische Illustrationen neueren Zuschnitts angestrebt. Die Analyse der Entstehungsbedingungen geschieht durch hierarchisch angelegte Mehrebenenmodelle. Diese Forschungsmethode gilt in der empirischen Sozialforschung als probates Mittel zur Überwindung des MikroMakro-Dualismus, da individuelle Verhaltens- und Einstellungsmuster sowohl durch persönliche Merkmale und Eigenschaften als auch durch den sozialen Handlungskontext strukturiert werden (Bühlmann und Freitag, 2004). Der kantonale Kontext stellt dabei den Bezugsrahmen für Handlungen und Einstellungen von Individuen in spezifischen Situationen her und kann als Opportunitätsstruktur (z. B. politische, sozioökonomische, soziodemografische oder geografische Infrastruktur), als kultureller Referenzrahmen (z. B. Werte, Gebräuche und Sitten, Weltanschauungen) oder als sozialer Bezugsrahmen (z. B. Normen) gedeutet werden. Mit anderen Worten: Kontextuelle Bedingungen strukturieren individuelle Einstellungen und beeinflussen persönliche Verhaltensweisen.8 Die Erörterung der Konsequenzen des Sozialkapitals im Vergleich der Schweizer Kantone stützt sich dagegen vornehmlich auf die Abfolge bivariater und multivariater Querschnittsanalysen, basierend auf der Mittelwertbildung der einzelnen Grössen. Wir verfolgen dabei die Methode des subnationalen Vergleichs, da wir annehmen, dass das soziale Kapital seine Wirkungskraft umso eher erzielt, je kleinräumiger die Untersuchungseinheiten konzipiert sind. Die angewandte Analysestrategie mehrstufiger statistischer Schritte schliesst sich der Vorgehensweise ähnlicher Forschungsanlagen an (Freitag, 2000, 2006). Dabei sollen Vermutungen auf der Basis des ersten Arbeitsschritts durch die Befunde weiterer quantitativer Analysetechniken abgesichert werden, um statistisch ernst zu nehmende Beziehungen von möglichen Scheinzusammenhängen zu unter-

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Alle empirischen Erörterungen zu den Entstehungsbedingungen tragen den besonderen strukturellen Eigenheiten der Schweizer Kantone Rechnung und berücksichtigen stets deren sprachregional distinkte kulturelle Zugehörigkeit, deren Grad der Urbanisierung und deren Veränderung der Immigration zwischen 2000 und 2010. Diesen kontextuellen Bedingungen werden in unterschiedlicher Weise kulturelle und sozioökonomische Prägungen individueller Einstellungen und Handlungsweisen unterstellt, die es im Schweizer Kontext besonders zu beachten gilt (Büchi, 2000; Bolliger et al., 2008).


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I. Zum Wesen des sozialen Kapitals. Einleitende Bemerkungen

scheiden.9 Darüber hinaus spricht das Prinzip der Einfachheit und Überschaubarkeit für die anfängliche Verwendung elementarer Auswertungsstrategien.10 Die Beiträge dieses Sammelbands setzen sich zum Ziel, mit einer allgemein verständlichen Sprache die wesentlichen Erkenntnisse der angewandten statistischen Verfahren mitzuteilen. Dies geschieht zunächst mit den Überlegungen zu den strukturellen Komponenten des Sozialkapitals und Analysen zum Vereinsengagement, zum unmittelbaren Umfeld des Freundes-, Kollegen- und Nachbarkreises und zur unbezahlten Arbeit in der Schweiz. In einem zweiten Schritt wenden wir uns den kulturellen Dimensionen des Sozialkapitals zu und erörtern das zwischenmenschliche Vertrauen, die Einstellungen zu den Normen der Gegenseitigkeit und das Wesen der Toleranz als mögliche Manifestationen vorteilhafter Sozialstrukturen. Eine Schlussbetrachtung führt die Befunde der einzelnen Betrachtungen zusammen und konzipiert darüber hinaus 150 praktische Hinweise zur Förderung des Sozialkapitals in der alltäglichen Lebenswelt. Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.

9 Signifikanztests können als Entscheidungskriterium streng genommen nur bei Wahrscheinlichkeits-Auswahlverfahren ihre Berechtigung erfahren. Wie aber in den meisten quantitativen Studien der vergleichenden Politikwissenschaft gehandhabt, soll auch hier dieses Kriterium als hilfreiches heuristisches Mittel – gegen die Norm – über die Aussagekraft einer Variablen in statistischen Modellen entscheiden. Statistische Signifikanz ist insofern weder als hinreichendes noch als notwendiges Kriterium für empirische Evidenz zu werten, sondern eher als Selektionshilfe zur Unterscheidung zwischen ernst zu nehmenden und zu ignorierenden Kovarianzen zu verstehen. Gemäss Diekmann (1998: 600) können Signifikanztests freilich auch Entscheidungshilfen bei Nicht-Zufallsstichproben und sogar bei Totalerhebungen bieten. So könne man beispielsweise Beobachtungen aus Totalerhebungen wegen Messfehlern als Realisationen von Zufallsvariablen betrachten. 10 Ein weiterer Vorteil für die Verwendung elementarer, das heisst bivariater Analysetechniken kann zudem in der leicht zugänglichen Identifikation von nicht linearen Zusammenhängen, von Verletzungen der Homoskedastizitätsannahme und von einflussreichen Datenpunkten gesehen werden.

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