Gentinetta, Scholten: Haben Unternehmen eine Heimat?

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© 2016 Gebert Rüf Stiftung, die Autorinnen und der Verlag ­ Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlag, Gestaltung, Satz: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des ­Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-104-8 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


13 Vorwort von Peter Forstmoser 19 Einleitung

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Heimat und Unternehmen zwischen Bindung und Kalkül 30 30 32 33 35

Heimat: zwischen Ursprung und Utopie Ursprung und Sicherheit Identität und Ideal Anker im Meer der Globalisierung Heimat, die zu schaffen ist

36 Heimat verlassen? Migration zwischen Not und Chancen 36 Migration von Menschen: ökonomische und andere Gründe 39 Abwanderung oder Widerspruch: die Optionen 40 Migration von Unternehmen: von der Volkswirtschaft zum ­Standortwettbewerb 45 45 48 50 58

Heimat und Standort Schweiz: Idylle mit Rissen Stolz und bedroht: das Verhältnis zur Schweiz als Heimat Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland Von der offenen Volkswirtschaft zur Globalisierungsgewinnerin Das Ende der alten Miliz-Schweiz

69 Vom schöpferischen Zerstörer zum Spiky Leader: ­Unternehmen und ihre Manager 69 Der Durchsetzer neuer Kombinationen 71 Koordinatoren, Verwalter und Rechner 73 Manager, Patrons und angestellte Unternehmer 75 Klarer Fokus, wenig Bindung: Wirtschaftsführer als Motoren ­sozialen Wandels 78 Heimat von Unternehmen?

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Inhalt

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«Wir haben jeden Tag WM» Führungsspitzen der Schweizer Wirtschaft im Gespräch

82 Movers 83 «Die Kraft muss dahin gehen, wo die Hebel­wirkung am grössten ist» 86 «Wir haben das G ­ eschäft und die ­Organisation ­globalisiert» 90 «Wir würden dort h ­ ingehen, wo unsere grössten Kunden sind» 94 «Unsere Nachbar­länder würden uns mit ­Handkuss empfangen» 98 «Wir haben die Schweiz idealisiert» 102 «Ihr habt die Insel g ­ ewollt. Jetzt könnt ihr sie haben» 106 «Wir sind gekommen, um zu bleiben» 110 Die Veröffentlichung der Privatwirtschaft: ­ Transparenz und ihre Folgen 110 Keine Partizipation ohne Information 111 Privatwirtschaft und Transparenz 113 Die «Abzocker» im Visier 117 Ein Trend mit Tücken 120 Rationalisten 121 «Wir sind gut placiert. Auch geografisch» 125 «Der Standort darf mir nicht am Herzen liegen» 129 «Die Schweiz ist dazu verdammt, globaler zu denken» 133 «Eine Verlagerung des Konzernsitzes wäre eine fürchterliche Transplantation» 137 «Durch die globale Brille relativieren sich die ­Bilder im Kopf» 141 «Der Föderalismus macht es einem Unternehmer nicht leicht» 145 «Das Managen des I­ stzustands nervt» 148 «Die Exzesse haben die Tugenden des schwei­­ze­rischen Unternehmertums beschädigt» 152 «Die Wertepfeiler b ­ eginnen zu rosten» 155 «Das Pendel schlägt seit zwei, drei Jahren z­ urück»


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159 «Die wirkliche Gefahr kommt von rechts» 163 «Die Rolle der Wirtschaft ist es, Klarheit über ihre Bedürfnisse zu schaffen» 167 «Wir müssen erklären, was wir brauchen und welchen Nutzen das für alle hat» 171 «Wer etwas ändern will, muss ­partizipieren» 175 «Das Engagement für die Region ist wichtig» 179 «Es braucht Unter­nehmer in der Politik» 183 Unternehmen und die Gesellschaft: über Verantwortung und ­Gewinn 184 Gewinn als einzige Verantwortung 186 «Soziale Verantwortung» als Gegenkonzept? 188 Verzicht auf Steueroptimierung aus sozialer Verantwortung? 190 Teilen und vermehren 192 Moral, Recht und Geschäft 196 Idealisten 197 «Wir bleiben, weil es uns hier gefällt» 200 «Unsere Ideen, die als weltfremd galten, sind salonfähig ­geworden» 204 Das Labor Schweiz: Ambitionen eines Musterschülers 205 Das «Labor der Kantone» 207 Forscher, Tüftler, Pioniere 209 Klassenprimus und Musterknabe? 210 Der Vorreiter als Gegenpart zum Schlaumeier?


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Inhalt

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«Die Zahlen müssen stimmen» Die Heimat der Unternehmen ist der Markt 216 « Am Schluss lebe ich für diese Organisation»: ­Unter­nehmer und ­Manager zwischen Druck und ­Leidenschaft 218 «Ich habe das Paradies gefunden»: Wirtschaftsführer und die Heimat Schweiz 220 «Noch ist die Welt in Ordnung»: die Beurteilung des Standorts Schweiz 221 «Die direkte Demokratie ist die grösste Gefahr» 223 «Wir müssen zu diesem verdammten Europa s­ tehen» 225 «Ein ganz wichtiger Faktor ist das ­Arbeitsrecht» 229 «Steuern, die muss man zahlen» 230 «Wenn die Untergrenze fällt, wäre das ein Killer» 231 «Das Operieren funktioniert gut in der Schweiz» 234 Warum Standort (nicht) gleich Heimat ist: die Nuancen zwischen Mover, Rationalist und Idealist 235 Movers: «Ich gehe d ­ orthin, wo das Wachstum ist» 237 Rationalisten: «Man muss einfach mit Gegensätzen umgehen können» 239 Idealisten: «Die Strategie wird auf den Standort ­aus­gerichtet»


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Seid Citoyens! Zur Rolle der Wirtschaft in der Politik 244 Citoyens 247 Der Citoyen: politisches Engagement als Haltung 250 Die neue Herausforderung: Globalisierung und Demokratie 254 Wirtschaft erklären, Globalisierung vermitteln 256 In den Diskurs eingreifen – mit Leadership und Mut

261 Anhang 263 Literatur 271 Dank



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Einleitung Was ist bloss mit der Wirtschaft los? Wer in den letzten Jahren über den Verkauf wertloser Hypotheken, die Manipulationen des Libor-Zinssatzes und exorbitante Boni gelesen hat, dürfte sich diese Frage mehrmals gestellt haben. Dass die Finanzbranche Auslöser und Hauptakteur dieser Verwerfungen war, spielt im Rückblick eine untergeordnete Rolle. Die Wirtschaft wird in den Augen vieler mit Selbstsucht, rücksichtslosem Gewinnstreben und rechtlicher Unverfrorenheit assoziiert. – Was ist bloss mit der Schweiz los? Dass in diesem für politische Klugheit und wirtschaftlichen Liberalismus bekannten Land Volksinitiativen «Gegen die Abzockerei» und «Gegen Masseneinwanderung» angenommen wurden, obwohl mehrfach betont worden war, dass sie den Standort Schweiz gefährden würden, hat viele überrascht. Zweifelsohne markiert das Jahr 2008 mit dem Fall der Lehmann Brothers in den USA und der Rettung der UBS durch den Bund in der Schweiz das Ende einer wirtschaftsliberalen Ära, die es so nicht mehr geben wird. Wirtschaftspolitische Konzepte wie Thatcherism und Reagonomics, die ausgehend von der Chicagoer Schule auf Deregulierung setzten und auf die Selbstregulierung der Märkte vertrauten, waren auf einen Schlag unglaubwürdig. Damit soll nicht gesagt werden, dass die damals geltenden Rahmenbedingungen gänzlich falsch waren. Vielmehr werden sie, selbst wo sie richtig sind, nie mehr einfach so und unhinterfragt Geltung besitzen. Zu gross ist die Skepsis einer irritierten Öffentlichkeit und einer aufgerüttelten Politik, als dass Regulierungen, die der Wirtschaft und damit dem Land nützen sollen, einfach durchgewinkt werden. Die Wirtschaft ist erklärungsbedürftig(er) geworden. Damit ist auch die Schweiz mit ihrer liberalen Wirtschaftsordnung, in der Wirtschaft und Politik gleichermassen auf die Prosperität dieses Landes gerichtet sind, aus den Fugen geraten. Die Wirtschaft hat sich weitgehend aus der Politik verabschiedet; man hat sich kaum mehr etwas zu sagen und jeder pflegt seine eigenen Rezepte, wie auf die derzeitigen Herausforderungen zu reagieren wäre. Und deren gibt es nicht wenige. Ob Zuwanderung und die Zukunft der Bilateralen, Fachkräftemangel und starker Franken, die Zukunft des Finanzplatzes Schweiz, die Reform


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Einleitung

der Altersvorsorge oder die Energiepolitik: Keines dieser Probleme wird die Politik allein lösen können, und keine dieser Aufgaben wird die Wirtschaft vollständig an die Politik delegieren wollen. In den meisten dieser Fragen wird die Politik auf die Wirtschaft angewiesen sein, ob es um die Formulierung möglicher Lösungen geht, deren konkrete Umsetzung oder ­deren Legitimation durch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, sollte es zu Referenden oder Volksinitiativen kommen. Denn die Schweiz ist eine direkte Demokratie, was nichts anderes bedeutet, als dass auch standort­relevante Fragen nicht ohne das Volk entschieden werden können. Es gibt in der Schweiz keine Rechnung ohne den Wirt. Ungeachtet dessen haben sich Wirtschaft und Politik in der jüngeren Zeit auf ihr jeweiliges Feld zurückgezogen, von wo aus sie in ihrer Logik und mit ihren Kompetenzen agieren und ihre Aufgabe erfüllen. Die Sphäre des anderen wird höchstens beobachtet. Die Stimmbevölkerung ihrerseits verleiht, sofern sie nicht (mehrheitlich) absent bleibt, ihren Globalisierungsängsten und ihrer Wachstumsskepsis an der Urne Ausdruck. So beunruhi­ gend dieser Befund auch erscheinen mag, im Ländervergleich präsentiert sich die Schweiz immer noch von ihrer besten Seite: Gemessen etwa an BIP, Arbeitslosigkeit oder Staatsverschuldung steht sie sehr gut da. Die Rankings zu Wettbewerbsfähigkeit und Innovation führt sie weiter an. Ist also doch alles in Ordnung mit der Schweiz? Kein Grund zur Panik? Nein, finden all jene, die sich Sorgen um dieses Land machen – in seinen liberalen Grundpfeilern und in seiner Position zu Europa, weil Strukturen, die den Konsens zwischen Wirtschaft und Politik in der Schweiz möglich machten, schwinden. Es wird um Ideen gerungen, ob und wie dieses spezifische Verhältnis wiederhergestellt werden kann. Appelle an die Wirtschaft, sich stärker in der Politik zu engagieren, gibt es viele. Allen ist bewusst, dass es den Verantwortlichen in der Wirtschaft an der Zeit für die Politik fehlt, weil die Funktion im Unternehmen Priorität hat. Immer wieder hört man von neu initiierten Netzwerken, in denen sich Wirtschaft und Politik wieder austauschen sollen – zumindest das. Selbst in Inseraten wird die Wiederauferstehung des Milizsystems beworben. Ob all das Früchte trägt? Ob es gelingen wird, das alte, für viele typisch schweizerische Verständnis zwischen Wirtschaft und Politik wiederherzustellen, das einst die Schweiz so erfolgreich machte? Wir wissen es nicht.


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Was wir aber wissen wollten, ist, wie die Wirtschaft selbst darüber denkt. Und zwar nicht in offiziellen Verlautbarungen, sondern im persönlichen Gespräch mit ihren Entscheidungsträgern und «off the record». Wir wollten wissen, wie jene, die Unternehmen führen und damit der täglichen Markt-, Börsen- und Medienlogik unterworfen sind, über diese Themen denken. Soll sich die Wirtschaft in der Politik engagieren? Hat sie eine gesellschaftliche Aufgabe? Und wenn ja, warum und wozu? Diese und ähnliche Fragen verdichteten sich zur Titelfrage des vorliegenden Buches: Haben Unternehmen eine Heimat? Oder anders gefragt: Gibt es etwas, das Unternehmen an ihren Standort bindet, etwas, das über das reine Kalkül hinausgeht? Etwas, das politisches Engagement im Land des Standorts jenseits der spezifischen Interessenvertretung – zumal in der direkten Demokratie der Schweiz – begründet und rechtfertigt? Wer die globalisierte Wirtschaft nüchtern betrachtet, kann eine solche Frage eigentlich nur mit Nein beantworten. Unternehmensentscheide über Restrukturierungen und Verlagerungen, das konstante Durchrechnen komparativer Vorteile, der in der Politik oft dominante Standortwettbewerb und nicht zuletzt die Ak­ tienkurse als Referenzpunkte für Unternehmensentscheide dokumentieren dies tagtäglich. Warum also doch eine solche Frage stellen? Versteht man Heimat und Standort als Gegensätze, ist dies die Logik, die in der Schweiz hinter der gegenwärtigen Kluft zwischen Politik und Wirtschaft steht. Heimat ist ein Konstrukt und eine Zuschreibung. Das Wort, das nur im deutschen Wortschatz existiert, steht für Herkunft, Verwurzelung und Verbundenheit. Es orientiert sich an Werten und an der Geschichte. Der Begriff Heimat umfasst deshalb auch die Sorge um und den Einsatz für sie. Ein Standort hingegen wird nach rationalen, ökonomischen Kriterien beurteilt und gewählt, aufgrund harter und weicher Faktoren, die man mehr oder minder objektiv evaluieren und analysieren kann. Im Fokus stehen nicht die Errungenschaften der Vergangenheit, sondern die Indikatoren der Gegenwart und die Potenziale für die Zukunft. Verbunden ist man mit einem Standort kaum, vielleicht wegen der Unternehmensgeschichte. Eine Bindung ist höchstens relativ – gemessen an den Kosten, die ein Standortwechsel mit sich brächte.


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Einleitung

Dennoch gibt es eine Verbindung zwischen Heimat und Standort. Standortfaktoren sind, abgesehen von den geografischen, nicht einfach gegeben. Sie sind ein Produkt historischer Entwicklungen und politischer Entscheide. Sie können gestützt oder gefährdet, in jedem Fall aber gestaltet werden. Zuständig für die Ausgestaltung der Standortfaktoren ist die Politik. Weil aber Unternehmen an guten Standortfaktoren ein genuines Interesse haben, stellt sich zumindest die Frage, inwiefern sie zu deren Ausgestaltung einen Beitrag leisten wollen und wie dieser aussehen könnte. Unternehmen, die eine Heimat haben – so unsere Überlegung –, sind Unternehmen, die sich auch verantwortlich fühlen für die Rahmenbedingungen und Qualitäten an ihrem Standort. Bei der Frage, ob Unternehmen eine Heimat haben, geht es damit sowohl um das Verhältnis zwischen ökonomischem Kalkül und gesellschaftspolitischer Verbundenheit als auch um die Frage der Verantwortung von Unter­ nehmen für den Standort Schweiz – Konzepte, die in diesem Buch auch ­reflektiert werden. Die gestellte Frage und die mit ihr verbundene These rühren, dessen sind wir uns durchaus bewusst, an die Grundfreiheit der Wirtschaft und damit an die zentrale Auseinandersetzung zwischen Wirtschaft und Politik. Wir stellen damit zumindest in den Raum, dass es für Unternehmen noch einen anderen Bezugspunkt geben kann als den Markt und seine ökonomischen Gesetzmässigkeiten. Diese Auseinandersetzung, die gemeinhin unter der Überschrift der Abgrenzung von Wirtschaft und Staat geführt wird, hat eine lange theoretische und ideologische Tradition und ist gut dokumentiert. Sie um eine weitere grundsätzliche Reflexion anzureichern, war nicht in unserem Sinn. Wir wollten stattdessen Antworten hören von jenen Personen, die in diesem Bereich eine Rolle spielen, weil sie konkrete Entscheide fällen. Weil es in ihren Händen liegt, welchen Standort sie wählen, ob sie sich dort einbringen und unter welchen Umständen sie diesen verlassen würden oder nicht. Entsprechend suchten wir das Gespräch mit jenen Personen, die mit Standortfragen direkt konfrontiert sind: Führungspersonen in der Wirtschaft, die über die Frage «Bleiben, auslagern oder gehen?» und «Engagieren oder nicht?» nicht nur reflektieren, sondern entscheiden müssen.


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Anmerkungen zur Methode Inspiriert zu diesem Vorgehen hat uns ein lesenswerter Band mit dem Titel Strukturierte Verantwortungslosigkeit: Berichte aus der Bankenwelt von Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnin ­(Honegger 2010). Unter dem Eindruck der für Aussenstehende nur schwer nachvollziehbaren Vorgänge im Vorfeld der Finanzkrise führten wir ausführliche Gespräche mit Managern und Bankangestellten in unterschiedlichen Positionen und Geschäftsbereichen, mehrheitlich in Frankfurt, Zürich und Wien. Die Gespräche wurden in anonymisierte, sogenannte soziologische Porträts überführt. Die darin zutage geförderten Verhaltensweisen, Einschätzungen und Anekdoten lassen äus­ serst interessante Rückschlüsse über das Verantwortungsverständnis dieser Menschen zu. Sie bilden einen Schlüssel zum Verständnis der Innenwelt von Banken. Gespräche als Forschungsmethode gibt es auch in der Ökonomie. Ein bekanntes Beispiel ist die Studie Why wages don’t fall during a recession von Truman F. Bewley (Bewley 1999). Der renommierte US-Ökonom wollte die Frage, warum in Zeiten von Rezessionen keine Lohnkürzungen vorgenommen werden, anhand von über 300 Interviews mit Führungsverantwortlichen aus Unternehmen und Arbeitsmarkt beantworten, weil die ökonomische Theorie dazu aus seiner Sicht keine ausreichenden Erkenntnisse lieferte. Sein Vorgehen und die daraus gezogenen Schlüsse bestärkten den Autor darin, dass die ökonomische Rationalität zwar ein gutes Prinzip für die Entwicklung von Modellen darstellt. In der Realität aber stösst sie an Grenzen, weil es jeweils spezifische Bedingungen sind, die Führungspersonen in ihren Entscheidungen beeinflussen. Um Entscheide in der Wirtschaftswelt zu verstehen, müsse man deshalb, so Bewley, mit entsprechenden Entscheidungsträgern sprechen (ebd.: 7, 15). Beide genannten Studien sind im Feld der qualitativen Forschung anzusiedeln, einer Methode, die auch wir für die Klärung unserer Fragestellung gewählt haben (vgl. hierzu und im Folgenden Flick 2000). Die qualitative Forschung will soziale Zusammenhänge verstehen. Sie arbeitet vor allem mit verbalen Daten und Texten und sieht von Statistiken ab. Im Rahmen der qualitativen Forschung wird ein Untersuchungs­


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Einleitung

gegenstand in seinem alltäglichen Kontext betrachtet. Um der Komplexi­ tät und Ganzheit desselben gerecht zu werden, wird die Methode an ihm ausgerichtet und nicht umgekehrt. Aufgrund der Arbeit mit verbalen Daten wird die Kommunikation der Forschenden mit dem jeweiligen Forschungsfeld und den Beteiligten zum expliziten Bestandteil der Erkenntnis. Eine häufige und auch von uns angewandte Methode ist das halb standardisierte Interview, bei dem die Frageformulierung vorab überlegt und in einem Leitfaden festgehalten wird. Die Fragen sind offen, die Antworten somit nicht kategorisiert. Die Chronologie der Fragen kann dem Gesprächsverlauf angepasst werden, weshalb die gewählte Methode eine überzeugende Einführung, eine geübte Gesprächsführung und die Fähigkeit des Zuhörens erfordert. Die Subjektivität der Untersuchten – in diesem Fall unserer Gesprächspartner aus der Wirtschaft – und der Forschenden – in diesem Fall von uns, den beiden Autorinnen – wird damit zum Bestandteil des Forschungsprozesses. Leitfadengestützte Interviews müssen so offen wie möglich sein, um die notwendige Tiefe zu erreichen, und so standardisiert wie nötig, um vergleichbar zu sein. Kennzeichnend für die Methode ist das selektive Sampling. Konkret mussten wir, ausgehend von unserer Fragestellung, festlegen, welche und wie viele Fälle notwendig sein würden, um die Untersuchungsfrage zu beantworten. Darauf basierend wurde das Sample angelegt und im Zuge der Forschungsarbeit sukzessive verfeinert. Das Sampling ist dann beendet, wenn die theoretische Sättigung erreicht ist, d. h., wenn sich nichts mehr Neues ergibt – ein Effekt, der sich klar einstellte. Gegen ein solches Sample spricht, dass es unausgewogen sein kann, weil nur mitmacht, wer will; wer nicht will, sagt ab. Die Aussagen können von besonderem Wohlwollen gegenüber der Fragestellung (oder den Autorinnen) gekennzeichnet sein. Ein «reality check», d. h. eine Überprüfung der Aussagen entlang der Unternehmensentscheide, wäre zu aufwendig und auch nicht möglich, weil sich Aussagen, die in den Gesprächen reflektiert wurden, erst Jahre später manifestieren können und auch dann nur schwer darauf zurückzuführen sind. Die Aussagen unserer Gesprächspartner für irrelevant zu erklären, wäre dennoch überheblich und anmassend. Das Ziel der qualitativen Methode, nämlich komplexe Zusammen-


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hänge und Vorgehensweisen anhand konkreter Erfahrungen und Überlegungen zu verstehen, ist nur durch den Kontakt mit dem Untersuchungsgegenstand, sprich den Entscheidungsträgern aus der Wirtschaft, zu erreichen. Das gilt auch für ökonomische Entscheide (Bewley 1999). Unser Ziel war es, insgesamt 30 grosse, mittlere und kleine Unternehmen (auch Start-ups) aus Branchen, die im In- und Ausland tätig sind und prinzipiell auslagern oder wegziehen können, für das Projekt zu gewinnen. Die Gesprächspartner sollten Verwaltungsratspräsidenten oder CEOs des Unternehmens und schweizerischer oder ausländischer Herkunft und beiderlei Geschlechts sein. Die Selektion der Unternehmen schränkten wir ein auf traditionelle oder junge Schweizer Unternehmen sowie internationale Unternehmen mit Hauptsitz Schweiz; es konnten Eigentümer-Unternehmen oder Publikumsgesellschaften sein. Ausgangspunkt für das Sample war die Liste der «Top 500: Die grössten Unternehmen der Schweiz 2014» (Handelszeitung 2014). Von den insgesamt 38 angefragten Verwaltungsratspräsidenten und CEOs sagten sieben ab – mit der Begründung, dass sie grundsätzlich an keinen Studien teilnehmen. Von nur zweien haben wir, auch nach nochmaliger Nachfrage, keine Antwort erhalten. Insgesamt führten wir 29 rund einstündige Gespräche. Drei weitere Gespräche führten wir mit Personen, die in der Standortentwicklung und -vermarktung tätig sind. Sie dienten einer Verifizierung der Aussagen in den Gesprächen mit den Unternehmenschefs. Die 29 Gespräche mit den Verwaltungsratspräsidenten und CEOs wurden zu Porträts verdichtet. Die Studie enthält nun 25 Porträts; vier wurden von den entsprechenden Personen nicht für die Publikation freigegeben. Die 25 porträtierten Personen repräsentieren 13 Industrieunternehmen, sechs Unternehmen aus der Finanzbranche, drei aus dem Bau- und Wohnungswesen, ein Dienstleistungsunternehmen und je ein Unternehmen aus der Energie- und Verkehrsbranche. Davon sind 13 Gross­ unternehmen, zehn kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und zwei Start-ups. Von den Porträtierten sind 22 Männer, drei Frauen, 19 schweize­ rischer Herkunft, fünf kommen aus anderen europäischen Ländern sowie eine Person aus Übersee. Elf von ihnen sind CEOs, neun Eigen­tümer und fünf Verwaltungsratspräsidenten.


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Einleitung

Für die Gespräche hatten wir jeweils eine Stunde vereinbart. Keines dauerte weniger lang, viele waren länger und manche deutlich länger. Die Gesprächspartner erhielten vor dem Gespräch schriftlich einen groben Überblick über die Themen und Fragen und sie wurden darauf hingewiesen, dass wir die Gespräche aufzeichnen und vollständig transkribieren würden, um sie dann in verdichteter Form anonymisiert wiederzugeben. Die Gespräche haben wir im Oktober und November 2014 geführt – unter dem Eindruck der Annahme der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» am 9. Februar 2014 und der damit einhergehenden Unsicherheit bezüglich der bilateralen Verträge mit der EU, und vor der Aufhebung der Euro-Wechselkursuntergrenze durch die Schweizerische Nationalbank am 15. Januar 2015. Die Einschätzung des Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU dürfte sich nicht verändert haben; die Aussagen zum starken Franken würden noch dezidierter ausfallen. Uns interessierte: Mögen Sie die Schweiz? Nehmen Sie Veränderungen wahr in diesem Land? Wie beurteilen Sie den Wirtschaftsstandort Schweiz? Welche Standortfaktoren sind für das Unternehmen von grösster, welche von einer geringeren Bedeutung und warum? Ziehen Sie einen Standortwechsel in Betracht? Wenn nicht, was könnte den Anstoss dazu geben? Engagieren Sie sich, engagiert sich das Unternehmen in der Gesellschaft? In der Politik? Pflegen Sie persönlich, pflegt das Unternehmen entsprechende Netzwerke? Welche und wozu? Wie sehen Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Warum tun Sie, das, was Sie tun – und könnten Sie sich vorstellen, etwas ganz anderes zu tun? Schliesslich: Welches Anliegen formulieren Sie an die Schweiz? Alle Gespräche wurden vollständig transkribiert und für die Publikation zu Porträts verdichtet. Bei den Porträts geht es uns um keine vollständige Wiedergabe des Gesprächs, sondern darum, Schwerpunkte aufzunehmen, die von unseren Gesprächspartnern besonders betont wurden. Wir publizieren die Gespräche bewusst ohne Nennung des Namens der Gesprächspartner und der Organisation. Andernfalls wären in den sehr persönlichen und offenen Gesprächen wohl kaum profilierte politische und standortrelevante Aussagen geäussert worden.


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Auf Basis der Fragestellung «Haben Unternehmen eine Heimat?» haben wir für die Analyse die transkribierten Gespräche verglichen, die Geschichten rekonstruiert und die Antworten kontrastiert. Daraus haben wir drei Heimattypen formuliert, die sich durch den Grad ihrer Bindung an den Standort Schweiz unterscheiden: Wir nennen sie «Movers», «Rationalisten» und «Idealisten». Auf eine Gruppe «Stayers» haben wir bewusst verzichtet, im Wissen um die Tatsache, dass sich Unternehmen die Option eines Standortwechsels immer offenhalten müssen. Unsere Gesprächspartner haben wir diesen Typen zugeordnet. Die Formulierung der Typisierung ist zugespitzt; Schattierungen sind möglich und vorhanden, doch nur die Kontrastierung ermöglicht eine Antwort auf unsere Fragestellung. Den Typisierungen und Porträts vorangestellt ist ein Grundlagenteil, der das Spannungsfeld zwischen Heimat und Standort reflektiert und das Berufsbild unserer Gesprächspartner umreisst. Was ist Heimat und unter welchen Bedingungen verlässt man sie? Warum gibt es Standorte und durch welchen Wettbewerb zeichnen sie sich aus? Wer sind Unternehmer und Manager, was zeichnet sie aus? Schliesslich: Wie präsentieren sich Heimat und Standort Schweiz heute? Dieser Grundlagenteil schliesst mit der Überlegung, was es heissen würde, wenn Unternehmen eine Heimat hätten. Themen, die in den Gesprächen immer wieder angesprochen wurden, haben wir in drei separaten Kapiteln vertieft und eingeordnet. Sie beschäftigen unsere Gesprächspartner ebenso, wie sie auch immer wieder im öffentlichen Diskurs über die Wirtschaft auftauchen: Wie transparent sollen Unternehmen sein? Wie weit reicht die Verantwortung von Unternehmen? Welche Ambitionen machen Sinn für die Schweiz? Nach den Porträts folgt ein Teil, der die Aussagen unserer Gesprächspartner zu Heimat und Standort Schweiz zusammenführt und die drei Idealtypen auf der Basis ihrer Antworten summarisch charakterisiert. Am Schluss reflektieren wir im Rückblick auf das Gesagte und Erfahrene das Verhältnis zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Wir formulieren eine Antwort auf die Frage, ob Unternehmen eine Heimat haben. So viel darf an dieser Stelle gesagt werden: Es gibt viele Unternehmer und Manager, die eine starke Bindung an den Standort haben


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und diesen auch als Heimat betrachten. Mit Blick auf ihre zentrale Rolle in der Gesellschaft und für die Politik postulieren wir deshalb einen vierten Idealtypus, den «Citoyen», und damit eine Haltung, die dieser Bedeutung Rechnung trägt. In allen Texten sprechen wir wahlweise von Unternehmern, Managern, Wirtschaftschefs oder auch einfach von unseren Gesprächspartnern. Trotz der Nuancen, deren wir uns bewusst sind und die wir im Kapitel über Unternehmen und ihre Manager beschrieben haben, verwenden wir diese Begriffe synonym. Ebenso gebrauchen wir trotz weiblicher Gesprächspartnerinnen meist die männliche Form. Das vorliegende Buch versteht sich als Diskussionsbeitrag zum Wirtschaftsstandort Schweiz. Wie kein anderer ist er wegen des politischen Systems der Schweiz auf die Stimme der Wirtschaft angewiesen. Das Buch versucht auch eine Antwort auf die Frage, wie sich die global orientierte Wirtschaft wieder stärker in die nationale Politik einbringen kann – ohne jedoch die Zuständigkeiten von Wirtschaft und Politik zu verwischen und falsche Erwartungen zu wecken. Selbst wenn sämtliche internationalen Rankings den Spitzenplatz der Schweiz untermauern – die Gespräche dokumentieren eindringlich, vor welchen Herausforderungen dieses Land steht. Die Lektüre kann daher durchaus auch als Aufforderung verstanden werden, sich diesen Herausforderungen offen und mutig zu stellen – und zwar seitens einer klugen Politik und einer ebenso beherzten Wirtschaft. Editorische Notiz Wie von Peter Forstmoser im Vorwort bereits erwähnt, initialisiert die Gebert Rüf Stiftung, die als Herausgeberin fungiert, mit dem vorliegenden Band eine neue Buchreihe unter dem Titel Gesellschaft.Wirtschaft. Schweiz. Entsprechend des Stiftungszwecks der «Stärkung der Schweiz als Wirtschaftsstandort und Lebensraum» schafft die Gebert Rüf Stiftung damit einen Ort, an dem die Bedingungen für Gesellschaft und Wirtschaftsstandort sowie deren Herausforderungen ausgeleuchtet und diskutiert werden können.


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«Wir haben jeden Tag WM» Führungsspitzen der Schweizer Wirtschaft im Gespräch


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2. «Wir haben jeden Tag WM»  Führungsspitzen der Schweizer Wirtschaft im Gespräch

Movers mover: a person or thing that moves to move: change one’s position, posture, or place, or cause to do this mover and shaker: a ­powerful person who ­initiates events and influences people

oxforddictionaries.com The Oxford American Desk Dictionary and ­Thesaurus, 2001.

Movers sind Personen, die Dinge und Menschen bewegen. Sie tun das gerne, ja mit Leidenschaft, weil Bewegung zum Leben gehört oder das Leben ohne Bewegung langweilig und zwecklos wäre. Migrationstheoretisch ist für die ­Movers die Place utility das alleinige Argument. Sie gehen dorthin, wo die Standortfaktoren für das Unternehmen die besten sind. Entsprechend ist Exit ihre präferierte ­Strategie, Voice wäre zu kostspielig. ­Loyalität gehört weniger zu ihrem Repertoire, ­vielleicht dem Unternehmen gegenüber, aber auch nur auf Zeit.


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«Die Kraft muss dahin gehen, wo die Hebel­ wirkung am grössten ist» In ihren Dreissigern hatte sie mit einer politischen Karriere «geliebäu­ gelt». Dann hat sie die Politik verworfen. Doch Karriere sollte es sein. Etwas in ihr wollte das einfach. Ehrgeizig ist sie ihren Weg gegangen, immer mit dem festen Willen, keinen hohen Preis im Privatleben dafür zu bezahlen. Beides ist ihr gelungen. Sie habe Glück gehabt. «Es hätte auch x-mal schiefgehen können, beides unter einen Hut zu bringen.» Ihre Kin­ der sind mittlerweile erwachsen, und heute ist sie Chefin von mehr als 3000 Angestellten. «Wäre ich ein Mann, wäre ich sicher zehn Jahre früher CEO gewor­ den.» Die Langsamkeit ihrer Karriere habe aber auch Vorteile gehabt. Zunehmend mache sie ihren Beruf «einfach aus Freude». Allmählich komme sie in die Phase, wo sie beruhigt zu sich sagen könne: «Wenn das jetzt der Höhepunkt meiner Karriere ist: o.k.» Das Feuer, etwas bewegen zu wollen, brennt allerdings noch stark in ihr. Der Gedanke, dass sie mit ihrem Wirken einen Mikrobeitrag zu einer besseren Entwicklung der Gesellschaft leisten könnte, spornt sie an. Die Schweiz betrachtet sie als ihre «operation base». Die Frage, ob sie das Land mag, hat sie sich so direkt noch nie gestellt. Es biete Menschen wie ihr einfach aussergewöhnliche Entfaltungsmöglichkeiten. Vielleicht deshalb hat es sie, die als junge Kosmopolitin in der Welt herumkam, nach ihren Reisen wieder hierhergezogen. Je älter sie wird, umso klarer wird ihr, wie «verschweizert» sie eigentlich sei. Sie lebt und schätzt die Quali­ täten des Landes. «Nicht alle», schränkt sie ein. Aber die Grundtendenzen. Das hohe Mass an Chancengleichheit und die gegenseitige Rücksicht­ nahme, das schätzt sie schon sehr. Das Bildungswesen fördere beispiels­


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«Ihr habt die Insel ­gewollt. Jetzt könnt ihr sie haben» «Ich bin ein angestellter Unternehmer», sagt er. Seit fast 20 Jahren er­ füllt er diese Rolle für einen exportorientierten Schweizer Marken­ artikelhersteller mit grosser Leidenschaft. Seine rund 600 Mitarbei­ tenden, die an verschiedenen Standorten in der Schweiz und im Aus­ land arbeiten, der hohe Grad an unternehmerischer Freiheit und der anhaltende Erfolg des Unternehmens geben ihm immer wieder Auf­ trieb. Noch keinen Tag habe es gegeben, an dem er am Morgen aufge­ standen sei mit dem Gedanken «Oh nein, jetzt muss ich dorthin.» Er ist überzeugt: «Ein angestellter Unternehmer ist das Beste für ein Unter­ nehmen. Der will bleiben.» Vor ein paar Jahren ist das Unternehmen an die Börse gegangen. Das habe die unternehmerische Tätigkeit besonders im Hinblick auf die Langfristigkeit der Entscheidungen verändert. «Jetzt geht alles schnell.» Für den Verwaltungsrat stehe vor allem der Aktienwert im Vorder­ grund. «Der VR denkt und handelt viel kurzfristiger.» Deshalb fragt er sich dann doch, ob ein angestellter Unternehmer noch die richtige Be­ setzung an der Unternehmensspitze ist oder ob der Zeitgeist nicht eher für einen angestellten Manager spricht. Wie auch immer: Seine Bindung ans Unternehmen und die Identifikation mit diesem sind gross. «Ich will hier pensioniert werden.» Bis dahin werde er alles machen, was die Ent­ wicklung des Unternehmens vorantreibt. Wenn es hart auf hart komme, gehörten dazu auch Entscheide gegen den Standort Schweiz. Einen harten Entscheid habe er vor ein paar Jahren gefällt. Es ging um den Bau eines Warenlagers. Am Anfang war klar: Das Lager müsse in der Schweiz stehen. Dann aber kam der Gedanke auf, dass es auch


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im nah gelegenen europäischen Ausland entstehen könne. Gefühls­ mässig sträubte sich die Unternehmensleitung aber gegen diese Idee. «Also mussten wir rechnen», sagt er, und jede Rechnung, die sie anstell­ ten, sprach gegen die Schweiz. Die Boden- und Baupreise waren im nahen EU-Raum tiefer, und ausserdem war klar, dass die ausländischen Behörden das Unternehmen aus der Schweiz mit offenen Armen und ohne viele bürokratische Auflagen empfangen würden. Matchentschei­ dend für den Bau des Warenlagers im europäischen Ausland sei für ihn aber etwas ganz anderes gewesen: Die grosse Angst davor, dass die Schweiz ihre Wände gegenüber der EU weiter ausbauen würde, sodass die EU eines Tages finden könnte: «Ihr habt eure Insel gewollt, jetzt wollen wir keine Waren mehr von euch.» Es sei das kleinere Übel, die Waren aus dem Ausland in die Schweiz zu bringen als umgekehrt. Die Schweiz sei zwar «ein super Markt», aber das Wachstum finde in der EU, in Asien und in den USA statt. Das Unternehmen macht im EU-Raum zweieinhalbmal so viel Umsatz wie in der Schweiz. Insgesamt beträgt der Exportanteil rund 80 Prozent. Einen kompletten Standortwechsel mag er sich dennoch nicht vorstellen. «Ich hoffe, ich erlebe das nicht», antwortet er auf unsere Frage, wie er einen solchen Prozess angehen würde. Dann schweigt er eine Weile und fügt an: «Ein solcher Entscheid müsste unbedingt in einer sehr langfristigen Perspektive gefällt werden.» Er deutet an, dass eine Verlagerung des Standorts in die EU keine langfristige Perspektive wäre, und ein Standortwechsel, wenn denn ein solcher in Betracht zu ziehen sei, gleich Richtung Asien gehe müsste. Allerdings biete Asien heute weder die Qualität bei den Mitarbeitenden noch das nötige Mar­ kengespür. Ausserdem fehle es dort an einer Diskussions- und Streit­ kultur, die zumindest in seinem Team und für die Entwicklung seines Unternehmens zentral sei. «Wir wären da nicht glücklich», resümiert er. Aber es werde Verlagerungen nach Asien geben. Während Entwick­ lungsbereiche wie die Kreation und das Design in der Schweiz blieben, werde die Fleissarbeit tendenziell nach Asien gehen. «Das ist einfach machbar und ohne dass die Swissness verloren geht.» Dass die Produkte das Attribut Swissness tragen, ist wichtig in der Markenstrategie des Unternehmens. Rund um den Globus würden da­


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«Wir sind gekommen, um zu bleiben» «Ich werde Ihnen eine hübsche Geschichte erzählen.» Der elegant ge­ kleidete Mittvierziger mit spitzbübischem Lächeln habe schon in der Schule gewusst, welcher Beruf ihn reizen würde. Vergewissern wollte er sich trotzdem. Er ging zu einem Grafologen. «Schreib etwas über dein Leben» hiess es. Er schrieb, was er werden wollte, und wurde durchs Leben bestätigt. Wie ein Fisch im Wasser fühle er sich heute. In seinem Beruf und in der Schweiz. Er habe immer davon geträumt, in der Schweiz zu leben. «Es ist alles so perfekt organisiert, alles funk­ tioniert. Und die Menschen geben ihr Bestes, um die Lebensqualität hoch zu halten.» Die Schweiz sei praktisch frei von Kriminalität, die Infrastruktur «unglaublich» gut. Man dürfe zwar nicht verallgemei­ nern, aber er sehe einen himmelweiten Unterschied zu Südamerika, wo er einen Teil seines Lebens verbracht hat. Seit rund fünfzehn Jahren lebt er mit seiner Familie in der Schweiz. Zuerst in Genf, dann in Zürich. Sein Fazit: «In der deutsch­ sprachigen Schweiz ist es schweizerischer.» Ihm gefallen die Ordnung, die Strukturiertheit und das Arbeitsethos. Hier fühlt er sich zu Hause. Die «Attitüden» entsprächen seiner Persönlichkeit. Dass sich die Gesellschaft in der Schweiz verändere, nehme er nicht wahr. Er könne das aber auch nur schwer beurteilen, denn eine gewis­ sermassen «alte Schweiz» kenne er ja nicht. In seinem beruflichen Um­ feld habe sich allerdings einiges getan. Bürokratischer und regulierter sei es geworden. «Alles muss dokumentiert werden. Die Geschäftsab­ läufe sind komplizierter geworden.» Bis zu einem gewissen Masse sei das nötig gewesen. «Es gab sehr viel Missbrauch», und mit den neuen Regulierungen würden bestimmte Geschäftspraktiken immerhin «li­ mitiert». Um wettbewerbsfähig zu bleiben, muss die Branche jetzt in Know-how, Fähigkeiten sowie bessere Produkte und Dienstleistungen


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investieren, findet er. Die Voraussetzungen dafür seien gut. Der Wis­ sensstand der Fachkräfte auf dem Schweizer Markt hebt sich deutlich von anderen Ländern ab. Diesen Vorteil müsse die Schweiz behalten. «Sonst verlieren wir zu viel.» Mit den «guten Voraussetzungen» meint er auch die Standortfak­ toren. Nicht nur die Sicherheit für die einzelne Person sei hervorra­ gend in der Schweiz, sondern auch die Rechtssicherheit für die Unter­ nehmen. Das Bildungssystem biete die besten Voraussetzungen, ex­ zellente Fachkräfte, die das Land brauche, auszubilden, und die Bü­ rokratie sei vergleichsweise gut und im Ausmass nach wie vor akzeptabel. «Es ist einer der besten Orte der Welt, weil man nicht viel Zeit mit unnötigen Dingen verbringen muss.» Dass sich ausländische Unternehmen nur aufgrund des Steuersystems für den Standort Schweiz entscheiden würden, bezweifelt er. Zwar gibt es steuergüns­ tige Gemeinden, aber «wenn das einzige Kriterium die Steuern sind, ist die Schweiz nicht die erste Adresse. Da gibt es bessere Länder auf der Welt. Nur hat man dort viele der anderen Vorzüge nicht, die die Schweiz bietet.» Standortfaktoren verändern sich. In vielen Unternehmen werden sie regelmässig beobachtet und analysiert. Er macht das nicht. «Wir sind gekommen, um zu bleiben», sagt er keck. Das Unternehmen glaube an den Standort Schweiz und an das Potenzial des Landes. Allerdings, gibt er zu, müsste man sich damit auseinandersetzen, wenn sich die Situation aus irgendwelchen Gründen komplett verändern würde: wenn etwa die Relevanz der Branche im internationalen Umfeld schrumpfe, das Rechtssystem unsicher werde oder die Rekrutierung von Fachkräften schwieriger würde. «Ich glaube aber stark an die Ent­ wicklung und an den Fortschritt im Leben.» Fortschritt erfordere ein­ fach Anpassung, und diese Anpassung sei letztlich gut für das gesamte System. Das Risiko einer drastischen Veränderung, die Unternehmen zum abrupten Wegzug veranlassen würde, sieht er nicht. Schliesslich stehe man als Unternehmer sowohl auf der Makro- wie auf der Mikro­ ebene auch ein Stück weit in der Verantwortung dafür, dass sich der Standort in die richtige Richtung entwickle und die Veränderungen nicht zum Desaster führten.


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Die Veröffentlichung der Privatwirtschaft: Transparenz und ihre Folgen Sie sind dem globalen Wettbewerb ausgesetzt, müssen rechnen und entscheiden. Und sie wollen ihre Sache gut machen. Sprechen Manager heute über «gute Unternehmensführung», benutzen sie den Terminus Corporate Governance, ein Set von Regeln, das, ursprünglich für börsenkotierte Unternehmen erstellt, inzwischen von vielen Unternehmen angewendet wird, gerade auch solchen, die am Konsumentenmarkt tätig sind. Die Regeln für Aktien- bzw. Publikumsgesellschaften reichen von organisatorischen Aspekten der Unternehmensführung über Regelungen für die Beziehungen des Unternehmens zu seinen Share- und Stakeholdern bis hin zu Vorschriften bezüglich Kommunikation und Transparenz, die in jüngerer Zeit vor allem die obersten Saläre betreffen. Wie kam es dazu? Sind diese Regeln sinnvoll? Und wem dienen sie? Keine Partizipation ohne Information Der Ursprung der Forderung nach Transparenz dürfte in der Politik zu finden sein. In seiner beeindruckenden Darstellung der Entstehung dessen, was wir heute «Öffentlichkeit» nennen, zeichnet Jürgen Haber­ mas akribisch nach, wie sich die parlamentarische Opposition im England des 18. Jahrhunderts Gehör verschaffte, indem sie über die Presse, die bis anhin der Regierung vorbehalten war, so etwas wie eine «öffentliche Meinung» generierte (Habermas 1990: 122 ff.). Erst die Veröffentlichung der Haltung und Argumente der Opposition zwang die regierende Partei zum Umdenken. Der daraus entstehende Konflikt zwischen dem «geheimen Staat» und der öffentlichen Gesellschaft kulminierte in der Frage, ob und in welchem Mass die öffentliche Presse über die politische Meinungs- und Willensbildung berichten darf oder nicht – mit dem Resultat, dass den Journalisten in London 1803 offiziell ein Platz auf der Parlamentsgalerie eingeräumt wurde (ebd.: 127). Seither sind Politik und Medien nicht mehr auseinanderzudenken. Auf dem Kontinent wurde diese Entwicklung durch die Französische Revolution angetrieben, wobei die Veröffentlichung des königlichen Staatshaushalts durch den französischen Schatzmeister Jacques


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­ ecker (er war ein Schweizer) im Jahr 1781 einen wichtigen Ausschlag N gab (ebd.: 136). Die Empörung über das Finanzgebaren des Königs war nicht mehr zu stoppen. Heute betrachten liberale Demokratien Informationen über politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse als Selbstverständlichkeit. Im Zuge des gestiegenen Transparenzbedürfnisses sind einige Staaten, so auch die Schweiz und ein Teil ihrer Kantone, zum sogenannten Öffentlichkeitsprinzip übergegangen. Waren bisher nicht publizierte amtliche Dokumente geheim, gelten Papiere staatlicher Behörden nun als öffentlich, sofern kein oder nur ein untergeordnetes privates oder öffentliches Interesse an deren Geheimhaltung besteht. Dass das Prinzip einfacher ist als seine Umsetzung, zeigt ein Evalua­ tionsbericht für die schweizerische Bundesverwaltung. Offenbar gehen «die Bedürfnisse und Realitäten der untersuchten Behörden und/oder der Gesuchstellenden (...) hinsichtlich verschiedener Themen diametral auseinander» (Huegli 2014: 132). Selbst wenn bei der Mehrheit der Behörden ein Kulturwandel stattgefunden hat, kann nicht von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden. Interessant ist nämlich die Feststellung, dass sich Behörden oft deshalb gegen die Umsetzung des Öffentlichkeitsprinzips sträuben, weil sie gerne selbst beurteilen wollen, wann ein öffentliches Interesse vorliegt und wann nicht. Dennoch: Der Trend zu mehr Transparenz, der gleichermassen faktisch wie auch durch das Bedürfnis und den Anspruch gesellschaftlicher Akteure getrieben wird, ist offensichtlich. Privatwirtschaft und Transparenz Geht es in der Politik um die Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem «geheimen» Staat und der öffentlichen Gesellschaft, steht bei der Forderung nach Transparenz von Unternehmen der Gegensatz zwischen Öffentlichem und Privatem zur Debatte. Die Frage, welche «privaten» Angelegenheiten öffentlich zu sein haben und welche nicht, ist dort wesentlich schwieriger zu beantworten. Bei von Eigentümern selbst, beispielsweise von einer Familie, geführten Unternehmen können Transparenzforderungen letztlich einen Eingriff in die Privatsphäre bedeuten. Anders ist es bei Unternehmen, an denen nicht nur private Aktionäre,


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sondern auch institutionelle Anleger beteiligt sind. Sie vertreten Sparvermögen, teilweise gar obligatorische, von Privatpersonen, die selbst keinen direkten Einfluss auf die Unternehmenspolitik haben, davon jedoch direkt betroffen sein können. Die Forderung nach mehr Transparenz von Unternehmen hat sich denn auch nicht zufällig an börsenkotierten Unternehmen entzündet. Ein Katalysator in der Entwicklung, die seit den 1990er-Jahren zu beobachten ist, war der Bilanzskandal und folgende Bankrott des US-amerikanischen Energiekonzerns Enron im Jahr 2001, der zahlreiche Angestellte die Pension kostete. Die Debatte über dieses Ereignis beschleunigte die Diskussion über Regeln der Unternehmensführung, die sich im Begriff der Corporate Governance niederschlug und in den wirtschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen Sprachgebrauch Einzug hielt. Die Unternehmen bzw. ihre Verbände selbst sahen sich gezwungen, Regeln zu setzen, um der gefürchteten «Überregulierung» durch den Staat entgegenzuwirken. Mittlerweile unterstehen börsenkotierte Unternehmen einer ganzen Reihe von Anweisungen bezüglich der Unternehmensführung, zu denen auch Transparenzvorschriften gehören. Ein Teil dieser Regeln ist gesetzlich verankert, andere sind in sogenannten Codes festgehalten, die auf dem Prinzip der Selbstregulierung beruhen, zu deren Einhaltung sich die Unternehmen also selbst verpflichten. Vertraut wird dabei letztlich auf die Kapitalmärkte, deren Teilnehmer das Fehlverhalten von Unternehmen mit dem Verkauf von Aktien sanktionieren. Die Verwerfungen, die zur Finanzkrise von 2008 führten, haben die Diskussionen über Regulierung und Transparenzvorschriften noch einmal verschärft – mit dem Resultat, dass die reine Selbstverpflichtung vielerorts durch den Grundsatz der Erklärungspflicht abgelöst wurde. Nach diesem neuen «Comply or explain»-Prinzip, das auch in den revidierten Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance vom August 2014 aufgenommen wurde, sind Regeln entweder einzuhalten, oder es ist die Abweichung davon offenzulegen und zu begründen. Transparenz nach aussen verlangt aber auch eine entsprechende Informationspolitik nach innen. In der Schweiz sind es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer Rolle als Bürgerinnen und Bürger gewohnt, nicht nur informiert zu werden, sondern en détail auch mitbestimmen zu kön-


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nen; in Deutschland sorgen Betriebsräte dafür, dass die Arbeitnehmenden in die Unternehmensentwicklung involviert sind. Die Ansprüche an die unternehmensinterne Kommunikation sind damit generell gestiegen. Nicht informiert werden wird denn auch rasch gleichgesetzt mit nicht ernst genommen werden. Während man zu Beginn der Etablierung von Corporate-Governance-Regeln aufwendige unternehmensinterne Prozesse und damit letztlich auch Kosten befürchte, die sich nicht auszahlen würden (Dörner 2005: 12), hat sich Transparenz inzwischen zum Erfolgsfaktor entwickelt, wie eine Studie von Accenture Schweiz und dem IMD World Competitiveness Center zeigt. Erfolg habe, lautet die zentrale Erkenntnis, wer Governance und Verantwortlichkeit auf allen Ebenen des Unternehmens festlegen und diese über eine konsequente Leistungsmessung und Evaluation fördern könne. Dies bedinge eine hohe strategische Kompetenz des Verwaltungsrats und dessen enge Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung, wofür wiederum eine «­ offene Informationspolitik» (Meyer 2014: 5) notwendig sei. Nur so könnten sich die Mitarbeitenden bestmöglich an den Zielen des Unternehmens orientieren. Die «Abzocker» im Visier Das vorläufig jüngste Kapitel in Sachen Corporate Governance schrieb die Schweiz mit der Volksinitiative «gegen die Abzockerei», der sogenannten «Minder-Initiative», die im März 2013 mit fast 70 Prozent der Stimmen an der Urne deutlich angenommen wurde. Auch ihr gingen Skandale beziehungsweise als skandalös empfundene Löhne und Boni voraus. Percy Barnevik, ein früherer ABB-Chef, von der Aargauer Zeitung im Vorfeld der Abstimmung als «Vater aller Abzocker» (Fahrländer 2013) bezeichnet, löste die Debatte in der Schweiz aus, als er sich 2001 für seine Frühpensionierung 148 Millionen Franken auszahlen liess. Unter dem Druck der Öffentlichkeit (und vermutlich auch von interner Seite) bezahlte er 90 Millionen Franken wieder zurück. Als die Finanzkrise 2008 Milliardenverluste und Millionensaläre gleichzeitig zutage förderte, wurde das sowohl von einer irritierten Öffentlichkeit als auch von vielen Wirtschaftsvertretern, denen gleichsam «Sippenhaftung» drohte, nicht mehr verstanden. Die Empörung hob zu neuen Höhen an und mündete in die erwähnte Volksinitiative.


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Rationalisten ratio, lat., die Vernunft, der Grund; Sammelbezeichnung für das Denken des Verstandes, im Unterschied zur intuitiven Erfassung von Gegenständen Rationalität, Vernunftmässigkeit, Vernünftigkeit, Vernunft, auch: Klugheit bei der Wahl von M ­ itteln für optimale Zwecke

Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1998, Hamburg: Felix Meiner Verlag.

Rationalisten sind Kinder der Vernunft. Sie betrachten Dinge und Menschen nüchtern. Ohne oder mit wenig Emotionen beurteilen sie die Situation. Sie treffen Entscheide, die sie für vernünftig halten. Sie­­lassen sich nicht aus der Ruhe bringen und sind überzeugt von ihrem Wirken. Migrationstheoretisch können Rationalisten ebenso Movers wie Stayers sein – je nachdem, was die Place utility zu bieten hat. Sie suchen den Standort, der die besten Faktoren erfüllt. Entwickelt sich dessen Qualität negativ, wägen sie genau und in Ruhe ab, denn sowohl Exit als auch Voice können als Strategie zielführend sein.


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«Es braucht Unter­ nehmer in der Politik» Seit seiner Jugend ist er technologiebegeistert. Ein wenig merkt man, dass er früher einer von diesen «Nerds» war – ein Computerfreak viel­ leicht. Heute ist er Chef von knapp 7000 Mitarbeitenden in der Schweiz. Die Hälfte von ihnen sind «Nicht-Schweizer»; er spricht bewusst nicht von «Ausländern». Der Endfünfziger-Topmanager wirkt bodenständig, fast ein bisschen schüchtern. Er verrät uns, dass er auch hätte Mediziner werden können, und sagt, dass er das, was er macht, für die Schweiz mache. Er mag sie sehr, die Schweiz. In der Zeit des Kalten Krieges war er im Militär engagiert. «Dort habe ich viele Diensttage geleistet.» In seiner Haltung ist er durch und durch Milizler geblieben. Er glaubt daran, dass jeder Bürger auch politisch Verantwortung überneh­ men muss, und bedauert, dass die Unternehmen sich nicht stärker in politische Fragen einmischen, «mehr ‹ownership›» in den sie betreffen­ den Themen zeigen. Zu stark habe sich die Wirtschaft in den letzten 10 bis 20 Jahren bloss auf die betriebswirtschaftlichen Bedürfnisse und die Globalisierung konzentriert. «Mit dem Rückzug der Wirtschaftsführer aus der Politik geht eine ungute Entkopplung einher.» Gerade für die Schweiz mit ihrer Basisdemokratie, in der Bauchgefühle an der Urne plötzlich Entscheide herbeiführen können, sei das mit Risiken verbun­ den. Im Kern sorgt er sich um den liberalen Geist schweizerischer Prä­ gung: Er plädiert für «so viel Staat wie nötig in einer guten Symbiose mit dem Bürger und der Wirtschaft». Das sei sein treibendes Motiv. Er ist überzeugt: Solange es in diesem Dreieck funktioniert – «also solange keine Position zu stark wird» –, bleibe die Situation gut. Damit meint er in erster Linie den ausserordentlichen Wohlstand in der Schweiz. «Der ist nicht selbstverständlich. Dem müssen wir Sorge tragen.» Er selbst pflegt Kontakte zur Politik und ist persönlich auch bei Abstimmungen aktiv. Im Austausch mit Amtsträgern oder der Bevöl­


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kerung geht es dem Liberalen nicht um die harte Verteidigung von Positionen. Rechts oder links spielt für ihn in den Diskussionen über eine gute Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft eigentlich keine Rolle. Er ist ein Versachlicher, legt Wert darauf, das Bewusstsein für die globale Wirtschaft in der Schweiz zu stärken. Oft stösst er damit auf fruchtbaren Boden, und es freut ihn, wenn es ihm gelingt, «den Leuten die Augen zu öffnen». Sein Engagement sei aber bloss ein Trop­ fen auf den heissen Stein. Das ist ihm am 9. Februar 2014 klar geworden. In diesem Volksentscheid sei «ein Unbehagen in gewissen Bevölke­ rungskreisen» zum Ausdruck gekommen, das auch mit der diagnosti­ zierten «Entkopplung» der Wirtschaft unmittelbar zu tun haben könnte. Er plädiert deswegen wieder für ein systematischeres Engage­ ment der Wirtschaft in der Politik. Die Unternehmen sollten das frei­ willige politische Engagement von Mitarbeitenden auf Gemeinde- und Kantonsebene unterstützen und die Präsenz von Leuten mit unterneh­ merischem Know-how in Bern gezielt stärken. «Es müssten Kaderleute sein, die dafür freigestellt werden. Sie müssen erfahren sein, um die Positionen der Wirtschaft glaubwürdig zu vertreten.» Ausgeschlossen ist, dass der CEO eines weltweit führenden Tech­ nologiekonzerns diese Aufgabe selbst übernimmt. Nicht aus Furcht vor Verfilzungsvorwürfen. Sondern schlicht, weil es heute den Rahmen des Möglichen sprengen würde. Die Anforderungen in der Wirtschaft haben sich gewaltig gesteigert. Früher sei es gemütlicher gewesen. Heute sei der internationale Wettbewerb «relativ brutal», ein tägliches Kopf-an-Kopf-Rennen um Leistungsfähigkeit, Innovation und Preis. «Wir haben jeden Tag WM», resümiert er. «Da ist es leider nicht möglich, eine führende Position in einem global operierenden Unternehmen einzunehmen und gleichzeitig unter den heutigen Anforderungen Po­ litik zu machen.» Um dieser täglichen Weltmeisterschaft – mit den Konkurrenten, aber auch innerhalb der weltweiten Geschäftseinheiten des Konzerns – die Stirn bieten zu können, würden die Rahmenbedingungen in der Schweiz noch gute Grundlagen bieten. Der Zugang zu Ressourcen, die arbeitsmarktrechtlichen Bedingungen und die Zusammenarbeit mit den Behörden sind wesentliche Bausteine für den Konzern, um sich dyna­


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Unternehmen und die Gesellschaft: über Verantwortung und G ­ ewinn Neben einer klaren Strategie und der genauen Kenntnis der eigenen Aufwendungen und Gewinne gehört ein detaillierter Überblick über die unternehmenseigenen Aktivitäten – von Zulieferern über Produktionsstätten und Absatzkanäle bis hin zu den internen Dienstleistungen – zum zwingenden Pflichtenheft eines Managers. Und zwar nicht nur um ihrer Kernaufgabe willen – der Sicherung des Unternehmenserfolgs –, sondern auch mit Blick auf eine zunehmend mit Argusaugen interessierte Öffentlichkeit. Seit den 1960er- und 1970er-Jahren nehmen NGOs vor allem international tätige Grosskonzerne kritisch unter die Lupe und thematisieren deren Umwelt- und Technologierisiken – eine Rolle, welche die Medien seit den 1990er-Jahren mit dem Aufdecken von Skandalen ebenfalls übernommen haben (Imhof 2006: 6). Das Interesse an Informationen über unternehmerische Aktivitäten ist inzwischen so stark, dass auch politische Behörden aktiv werden. So finanziert die Europäische Kommission das Portal Wikirate mit, auf dem die interessierten Stakeholder – Investoren ebenso wie Konsumenten und Mitarbeitende – Informationen über die soziale und ökologische Performance von Unternehmen placieren und finden können. Kriterien für die Bewertung unternehmerischen Handelns sind dabei in der Regel Menschenrechte und Umweltvorschriften. Im Zuge dieser Entwicklung werden Unternehmen auch zu moralischen Akteuren, die ihr Handeln über die unternehmensbezogenen rechtlichen Vorschriften hinaus rechtfertigen müssen. Was aber ist die Aufgabe von Unternehmen? Welche Ziele verfolgen sie? Und welche Verantwortlichkeiten sind damit verbunden? Fragen, die ins Herz des Diskurses über die Freiheit der Wirtschaft führen. Verantwortung – so viel sei hier in Kürze gesagt – geht auf das Verb «antworten» zurück und bedeutet ursprünglich, auf eine Anklage antworten und für sein Handeln Rechenschaft ablegen zu können. Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, heisst, das hielt bereits Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik fest, sich seiner Handlungen bewusst zu sein und für diese einstehen zu können; man muss also wissen, inwiefern man wem gegenüber auf welche Weise und mit welchen


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Mitteln verantwortlich ist. Dieses Verständnis von Verantwortung hat insofern eine moralische Dimension, als es vor allem um die Frage geht, ob man richtig oder falsch handelt, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung strafrechtlich relevant ist oder nicht. Verantwortliches Handeln orientiert sich vielmehr an ethischen Normen, die auch in ungeschriebener Form Geltung besitzen. Verantwortliches Handeln bedingt nach Aristoteles auch die Beschaffung des nötigen Wissens und die Auseinandersetzung mit den möglichen Folgen des eigenen Handelns. Bemüht man sich um dieses Wissen nicht, ist dies keine Entschuldigung für unmoralisches Handeln. Das Sprichwort «Unwissenheit schützt vor Strafe nicht» bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt. Mittlerweile ist die Fachliteratur zur Frage, ob Unternehmen eine gesellschaftliche Verantwortung haben und was dies, wenn dem so wäre, konkret für sie bedeuten würde, umfangreich. Da die Antwort auf diese Frage nur eine Einschätzung sein kann, wird der Diskurs mitunter aus ideologischer Perspektive geführt. Gewinn als einzige Verantwortung Ein Klassiker, der die Position vertritt, das Erwirtschaften von Gewinn sei die einzige Verantwortung eines Unternehmens, ist der 1976 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete amerikanische Ökonom Milton Friedman. In einem legendären Aufsatz im New York Times Magazine hielt er bereits im Titel fest: «The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits» (Friedman 1970). Friedman ärgerte sich damals schon hörbar über die Konjunktur des Schlagworts der «Corporate Social Responsibility» – vor allem, wenn es aus dem Munde von Unternehmern selbst kam, um damit zu suggerieren, Geschäfte machen habe wenig mit Profit, aber viel mit wünschbaren gesellschaftliche Zielen zu tun. Gleich zu Beginn hält Friedman fest, dass Verantwortung keine Eigen­schaft von Organisationen oder Unternehmen, sondern von Personen ist. Manager müssten sich daher fragen, wem gegenüber sie verantwortlich sind und wem nicht. Die Antwort darauf sei klar: den Eigentümern des Unternehmens, sprich den Aktionären. Freilich habe ein Manager als Mensch auch noch andere Rollen mit entsprechend anderen Verantwortlichkeiten: als Familienvater trage er beispielsweise Ver-


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antwortung für seine Kinder oder als Mitglied einer Kirchgemeinde oder eines Vereins für das Gedeihen der Institution. Diesbezügliche Entscheidungen können ganz persönlich gefällt werden. Manager hingegen stünden in der Pflicht, ihre Aufgabe im Auftrag der Eigentümer zu erfüllen. Fange ein Manager an, mit dem Geld der Eigentümer Dinge «für die Gesellschaft» zu tun, arbeite er mit fremdem Geld, das ihm nicht zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wurde. Letztlich greife ein Unternehmen damit in die Arbeitsteilung zwischen Wirtschaft und Politik ein, was falsch sei. Denn was gut für die Gesellschaft ist und getan werden sollte, müsse die Politik entscheiden. Die Wirtschaft habe nicht nur andere Aufgaben, sondern sei dazu auch schlicht nicht legitimiert. Kurzum: ein Manager sei kein Staatsangestellter und habe sich aus entsprechenden Aufgaben herauszuhalten. Immerhin, räumt Friedman ein, sei die Situation eines Eigentümer-Unternehmers eine andere: Dieser könne mit seinem Geld machen, was nach seiner Überzeugung das Richtige sei. Am Ende aber bleibt Friedman dabei, dass die Aufgabe von Unternehmen darin bestehe, ihren Wert zu steigern und also Gewinne zu erwirtschaften, jedoch mit einer wichtigen Bedingung: in Einklang mit den geltenden rechtlichen und moralischen Grundsätzen, im Interesse eines freien und fairen Wettbewerbs und unter Vermeidung von Täuschung und Betrug: «There is one and only one social responsibility of business: to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game, which is to say, engages in open and free competition without deception or fraud.» (Friedman 1970) So weit die Argumentation von Milton Friedman. Seine klare Position begründet die Skepsis gegenüber jeglichen gesellschaftlich orientierten Aktivitäten von Unternehmen bis heute. Und sie ist der Grundstein des über Jahrzehnte dominierenden Konzepts des «Shareholder Value»: der alleinigen Ausrichtung des Unternehmens auf die Steigerung des Ak­ tien­werts. Diese kompromisslose Zielsetzung wird damit begründet, dass es die Eigentümer sind, die das Kapital einbringen und damit auch das Risiko des Scheiterns auf sich nehmen. Darüber hinaus ist das Konzept aber auch geleitet vom «Glauben an einen wundersamen Einklang der Aktionärsinteressen mit denen aller übrigen Betroffenen: Geht es den Aktionären gut, dann profitieren davon – so das Credo – auch die Arbeit-


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nehmer, die Kunden und schliesslich die Allgemeinheit» (Forstmoser 2006: 58). Mit anderen Worten: Konzentriert sich ein Unternehmen auf den Gewinn als einziges Ziel, führt dies «automatisch» (ebd.: 59) zu einem höheren Nutzen für alle Beteiligten und Betroffenen. Friedmans Position hat zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen – bis heute. Positiv hervorgehoben wird immerhin, dass er das Geschäftsgebaren in gesetzliche Schranken weist und auch Täuschung und Betrug verurteilt. Genau hier setzt aber auch die Kritik an. Sowohl aus gesellschaftlicher als auch aus ökonomischer Perspektive kann argumentiert werden, dass die geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen keineswegs vollständig sind und als Richtschnur für unternehmerisches Handeln nicht ausreichen. Die rein rechtliche Dimension muss deshalb, so die Forderung vieler, nicht nur ausgeweitet, sondern auch durch die moralische Dimension ergänzt werden. Argumente für diese Sichtweise lieferten wiederum Praktiken einzelner Unternehmen, deren Arbeitsbedingungen oder Umweltemissionen zwar dem Shareholder Value dienten, im Übrigen aber als inakzeptabel gewertet und entsprechend skandalisiert wurden. Ein frühes Beispiel hierfür ist der Turnschuhhersteller Nike, der in den 1990er-Jahren einen Sturm der Entrüstung über sich ergehen lassen musste, als die New York Times dessen Produktionsbedingungen in Indonesien offenlegte. «Soziale Verantwortung» als Gegenkonzept? Der Forderung nach einer weitergehenden Verantwortung von Unternehmen hat sich das Konzept des «Stakeholder Value» angenommen. Diesem Ansatz gemäss darf sich ein Unternehmen nicht allein am Ak­tienwert und dessen Steigerung zugunsten der Aktionäre orientieren. Vielmehr «verlangt ein verantwortungsbewusstes unternehmerisches Verhalten die Berücksichtigung und den Ausgleich der Interessen aller sogenannten Stakeholder, neben denen der Aktionäre also derjenigen der Mitarbeiter und – bei Grossunternehmen – der Allgemeinheit» (Forstmoser 2006: 58). Im Gegensatz zum Shareholder Value, dessen eindimensionale Ausrichtung auf den Gewinn allen zugutekommen soll, wird hier davon ausgegangen, dass erst die «Abstimmung verschiedener Interessenlagen» (ebd.: 59) allen und damit letztlich auch dem Aktionär am meisten nützt.


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Ein Blick auf die aktuelle Kommunikation von Unternehmen macht deutlich, dass das Stakeholder-Value-Konzept den Sieg davongetragen hat. Kein Unternehmen würde sich die alleinige Ausrichtung auf den Shareholder Value auf die Fahne schreiben. Das Reputationsrisiko wäre zu gross. Die Gründe dafür dürften jedoch nicht einfach in einer erhöhten moralischen Achtsamkeit seitens der Unternehmen und ihrer Chefs zu finden sein. Vielmehr stimmt es einen Kenner der Szene nachdenklich, «dass diese Besinnung auf die ‹inneren Werte› von Unternehmen just in einem Zeitraum erfolgt sind, in welchem der Charme von alljährlich um zweistellige Prozentzahlen steigenden Gewinnen und Börsenkursen verblichen war» (ebd.: 60). Die Vermutung geht sogar dahin, dass derlei Konzepte eine schlechte Performance zu vertuschen versuchen. Unabhängig von den eigentlichen Motiven hat sich das Konzept der «Corporate Social Responsibility», der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, als integraler Bestandteil der Unternehmenspolitik weitgehend durchgesetzt. Auch dieses Konzept verschreibt sich einer ganzheitlichen Sicht und fordert Unternehmen dazu auf, über ihre eigentliche Kerntätigkeit hinaus nicht nur rechtlich korrekt, sondern auch verantwortungsvoll, sprich moralisch vertretbar, zu handeln. Ein Leitfaden hierfür ist wiederum die Nachhaltigkeit, wonach Handlungen – von Personen, Unternehmen oder Staaten – sich an der gleichwertigen bzw. ausgeglichenen Entwicklung von Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft zu orientieren haben. Sicht- und messbar sollten diese in der sogenannten «Triple bottom line» werden, in der Unternehmen nicht nur ihre finanziellen Ergebnisse, sondern ebenso die Wirkungen ihres Handelns auf Umwelt und Gesellschaft ausweisen. Mit diesen verschiedenen Konzepten ist ein Spektrum von unternehmerischen Grundsätzen und Aktivitäten angesprochen, die von menschenwürdigen Arbeitsbedingungen über die Schonung der Umwelt bis hin zum Engagement für das Gemeinwesen reichen. Dabei wird jedoch durchaus ökonomisch mit der Kategorie der externen Effekte argumentiert, wonach die Kosten schlechten Verhaltens bei der Allgemeinheit anfallen, weil der Verursacher dafür nicht belangt werden kann. Ein einleuchtendes Beispiel sind Umweltschäden, die, sofern sie nicht gesetzlich verboten sind, aus streng juristischer Perspektive von Unternehmen


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Idealisten Ideal, ein erst in der frühen Neuzeit geborener Begriff, meint das in der Realität nie rein anzutreffende Vorbildliche Idealismus, im praktisch-ethischen Sinne das Streben nach ­Verwirklichung von Idealen, das Ausgerichtetsein auf Idea­le, Beherrschtsein von Idealen, auch die Neigung, die Wirklichkeit nicht zu ­betrachten, wie sie nach Meinung der Realisten ist, sondern wie sie sein sollte, daher der Idealist: der auf das Seinsollende blickende Mensch

Wörterbuch der philosophischen ­Begriffe, 1998, Hamburg: Felix Meiner Verlag.

Idealisten orientieren sich, wie ihre Bezeichnung sagt, am Ideal. Sie sehen Realität zwar so, wie sie ist, aber sie genügt ihnen nicht. Sie haben ihre Werte und streben nach der Verwirklichung ihres Ideals – für sich und für andere. Migrationstheoretisch sind die Idealisten Stayers. Ihre Heimat hat für die Idealisten einen starken Wert; sie ist im Sinne Ernst Blochs eine Utopie, an der sie ­arbeiten und auf die sie ihre unternehmerische Strategie zuschneiden. ­Entsprechend existiert Exit als Option für sie eigentlich nicht, ihre Loyalität ist ungebrochen. Voice erheben sie allenfalls dort, wo es zur Verwirklichung ihres Ideals notwendig ist.


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«Wir bleiben, weil es uns hier gefällt» Den klassischen Empfangsraum gibt es nicht, wir stehen direkt in der Fabrik. Nach ein paar Minuten entdeckt uns eine der rund 30 Mitar­ beitenden und bringt uns in eine kleine improvisierte Ecke bei der Kaffeemaschine. Dort warten wir auf «die Chefin». Nach ein paar Mi­ nuten Wartezeit braust sie auf uns zu, begrüsst uns mit sympathischer tiefer Stimme, lässt drei Kaffees heraus und führt uns in ihr Büro, das so gar keine Chef-Location sein will. Die Tür bleibt offen. Die Chefin mag keine verschlossenen Türen. Lieber hört sie den Klang ihrer Ma­ schinen ins Büro rattern. Wir fragen sie nach ihrem Verhältnis zur Schweiz. An dem Land, in dem sie, die Individualistin, nun tätig ist, mag sie den unkomplizierten Stil – «Ich lass die anderen ein bisschen, wie sie sind» – und die Berge natürlich. «Ich bin ein Bergkind. Ich bin in den Bergen aufgewachsen. Es ist a bisserl wie Heimat. Bevor ich hierher­ kam, war ich zwei Jahre in Hamburg – geniale Stadt, aber einfach zu flach. Da habe ich Heimweh gekriegt.» Seit Mitte der 1990er-Jahre ist die Schweiz ihr Lebensmittelpunkt. Hier hat sie die Herausforderung gesucht, Unternehmerin zu werden. Neugier, Prinzipien und ihr missionarisches Wesen treiben sie an. Unan­ genehm, wahnsinnig interessant und hochgefährlich sei das Leben nach diesem Entscheid über mehrere Jahre gewesen. «Das muss man aushalten können.» Auch dass Entscheidungen gefällt werden mussten, die rein rechnerisch überhaupt nicht aufgehen konnten. Zu solchen Entschei­ dungen müssen sich dann alle im Betrieb äussern. Das will sie so. Klar trägt sie, die Chefin, die volle Verantwortung. Weil aber in letzter Konse­ quenz Arbeitsplätze betroffen sein können, braucht es die Zustimmung der Mitarbeitenden. «Deswegen muss die Vollversammlung Ja sagen.» Es sind auf dem Markt selten gewordene Fachkräfte, die sie be­ schäftigt. Offiziell ausgebildet wird in ihrem Bereich schon länger nicht


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«Unsere Ideen, die als weltfremd galten, sind salonfähig geworden» Wir irren ein wenig in der Industriezone umher, bevor wir den Eingang zu den gesuchten Fabrikationshallen finden. Etwas mehr Branding hatten wir schon erwartet, Firmentafeln, Werbesprüche, Pfeile, Hin­ weise. Aus dem offenen Spalt der Eingangstür strömt uns dann aber der typische Geruch entgegen, den man aus den Shops kennt und der das ganze Gebäude durchdringt, auch den Raum, in dem wir warten. Das Ambiente erinnert an ein Kunstlager. Leise betritt der Firmengrün­ der den Raum, begrüsst uns mit feinem Händedruck und legt gleich los mit seiner Firmengeschichte. Er erzählt, wie er in den Anfängen auf einen seiner Rohstofflieferanten traf, der schnell checkte, dass die bei­ den das Heu politisch nicht auf demselben Boden hatten. «Der suchte geradezu ein Streitgespräch mit mir.» Doch statt sich auf eine aussichts­ lose Diskussion einzulassen, setzte der heute Mittvierziger lieber dar­ auf, sein Gegenüber von den Vorteilen ihrer Zusammenarbeit zu über­ zeugen. «Heute ist er wahrscheinlich stolz, dass er auch etwas beiträgt», lächelt er. «Politik ist gar nichts für mich», dessen ist er sich sicher. Dafür fehle ihm die Geduld. Er mag die Trägheit und das Gerede nicht, das er als Aussenstehender von der Politik wahrnimmt. Lieber hat er es mit Leuten zu tun, die anzupacken wissen und etwas verändern wollen. Inzwischen sind es rund 150 Mitarbeitende, die im Familienbetrieb arbeiten. Die meisten sind jünger als er, hoch motiviert, und sie kom­ men aus ganz verschiedenen Ländern. Nicht ohne Grund: «Wir wollen an vielen Orten auf der Welt erfolgreich sein. Deswegen brauchen wir Leute, die die Kultur des Landes kennen, in dem wir unsere Produkte


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verkaufen.» Mit Blick auf die aktuelle Migrationsdiskussion ergänzt er: «Wir alle und besonders unsere ausländischen Mitarbeiter wären dankbar, wenn sie auch in Zukunft bleiben dürften.» Der Erfolg ist längst da. Mit «einfachen, reduzierten und nachvoll­ ziehbaren» Produkten ging es unternehmerisch fast immer aufwärts, das Produkt ist zum «brand» geworden. «Wir erzählen eben eine wahre Geschichte», sagt er ein wenig stolz. Dazu gehöre, dass der Kunde den Preis in erster Linie für die Produktion der solide gefertigten Produkte und nicht für eine teure Marketingkampagne zahlt, wie es in seinem Branchensegment häufig der Fall ist. «Da bleiben wir uns auch treu.» In vielen kleinen Schritten ist es dem Unternehmer mit Berufslehre und abgebrochenem Hochschulstudium gelungen, einen für die Schweiz aussergewöhnlichen Produktionsbetrieb aufzubauen. Ausser­ gewöhnlich, weil die Hochlohninsel alles andere als prädestiniert dafür sei, einfachste Produkte marktgerecht herzustellen. Natürlich gehörten zur bisherigen unternehmerischen Tätigkeit auch Rückschläge. «Wir erlitten Niederlagen, weil der Markt einfach noch nicht reif für unsere Ideen war», sagt er ein wenig kokett. Aber er weiss genau, dass gerade am Anfang viel Unsicherheit und Unerfah­ renheit mit im Spiel waren. «Da haben wir uns stark dreinreden lassen. Es war fast ein Master of Business Administration in der Praxis.» Das würde er heute natürlich so nicht mehr zulassen. Heute ist Selbstbestimmtheit ein zentraler Wert in seiner Unter­ nehmensphilosophie, und es stimmt den Unternehmer glücklich, dass sein Betrieb ganz ohne Investoren und Teilhaber Schritt für Schritt vorangekommen ist. Das soll auch in Zukunft so bleiben. «Es ist viel wert, nicht von Aktionären gesteuert zu werden, die sagen: Ich habe euch damals das Geld gegeben, damit ihr jetzt endlich vorwärts macht und ich mein Geld zurückerhalte.» Dafür nimmt er auch gerne in Kauf, dass der Betrieb permanent am Limit arbeitet. Die grösste Herausforderung ist es, die Produktion stetig effizien­ ter zu gestalten. «Das ist erstaunlicherweise umso schwieriger, je grös­ ser es wird.» So ist vor allem Kreativität gefragt. Als es beispielsweise darum ging, eine neue Produktionsstätte zu bauen, stellte sich die Frage, wie günstig und zugleich nachhaltig man ein Gewerbehaus


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Das Labor Schweiz: Ambitionen eines Musterschülers Nicht, dass die Schweiz in ein Reagenzglas passen würde – dazu ist sie nun doch wieder zu gross, selbst wenn manch ein Politiker immer noch gerne mit dem «Kleinstaat» kokettiert – vor allem dann, wenn es darum geht, die Schweiz gegen ausländische Angriffe zu schützen. Dieses Land, das nicht klein, aber auch nicht gross ist, ist sich aufgrund seiner Geschichte und seiner wirtschaftlichen Exponiertheit seiner besonderen Rolle bewusst. Unternehmer und Politiker nehmen dies gerne zum Anlass, ihre eigenen Ambitionen mit diesem Sonderstatus zu verknüpfen. Ob Produkte, Produktionsweisen oder Politiken: Sie sollen in diesem Land erprobt und bei Gelingen in die Welt hinausgetragen werden. – Was bedeutet es, wenn ein kleines Land immer wieder danach strebt, eine Vorreiterrolle oder gar eine Führungsrolle einzunehmen, und zwar international? Was traut es sich zu? Was erhofft es sich davon? Und welche Grundhaltungen stecken dahinter? Beinahe schwindlig wird einem bei der Vielfalt und Häufung von Äusserungen, in denen Politiker und Politikerinnen, Interessenvertreter, aber auch einfach Bürgerinnen und Bürger sich eine Führungsrolle der Schweiz wünschen oder eine solche gar fordern. Ob internationale Klimakonferenz, 2000-Watt-Gesellschaft, Energieeffizienz, Berg-Agenda, biologischer Pflanzenschutz oder die Verordnung zur Deklaration von Pelzen: der Ehrgeiz der Schweiz, in der Umwelt-, Klima- und Energiepolitik international führend zu sein, scheint gross. Die Ambition, in Sachen Nachhaltigkeit hervorzustechen, geht aber über diese traditionellen Gebiete hinaus. Sie reicht bis zum Finanzplatz, der sich auf diesem Gebiet ebenfalls als führend positionieren sollte, wie ein Forum von Finanz- und Nachhaltigkeitsspezialisten jüngst forderte (de Wolff 2013). Auch in Rechtsfragen will die Schweiz eine Vorreiterrolle einnehmen, konkret bei der Bekämpfung von Sportwetten oder auch bei der Verpflichtung von Unternehmen zur Einhaltung von Menschenrechten. Gleiches strebt sie im Bereich der Bekämpfung der globalen Armut und bei der Entwicklungshilfe an. In der Technologie will die Schweiz ebenfalls die Nase vorn haben. Sie soll sich als Plattform für internationale Internet Governance


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positionieren. Schliesslich sei die Schweiz auch dazu prädestiniert, bei der Ausbildung von Berufschauffeuren eine Vorreiterrolle einzunehmen, wie das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) findet, indem es auf die Führungsrolle in Sachen Fahrsimulatoren verweist (UVEK 2003). Tatsächlich führend ist die Schweiz in Sachen flexibler Arbeitszeiten: ob Gleitzeiten, Homeoffice oder Sabbaticals – Arbeitgeber in der Schweiz sind hier offenbar besonders offen. Die Liste ist lang und von geradezu erheiternder Buntheit. Nur: Kann die Schweiz das auch stemmen? Und zwar nicht nur im eigenen Land, sondern im besten Fall gleich für die ganze Welt? «Klar!», heisst es selbstbewusst, und die Begründungen lauten, die Schweiz sei reich, habe eine lange Erfahrung oder sei immer schon positiv aufgefallen. Wozu aber soll die Schweiz eigentlich eine Vorreiterrolle einnehmen? Auch hierzu gibt es unterschiedliche Meinungen. Sie lassen sich klar zwei Lagern zuordnen. Jene, die ökonomisch argumentieren, finden, die Ambition des Vorreiters mache die Schweiz wettbewerbsfähig, wodurch sich Wachstumschancen eröffnen. Jene, die diesen Anspruch moralisch begründen, finden, es stehe der Schweiz gut an, sich hier oder dort besonders zu bemühen. Das «Labor der Kantone» Am Ursprung dieses Ehrgeizes – und vor allem der Überzeugung –, dass Experimente wertvoll sind, dürfte der schweizerische Föderalismus stehen. Die heute 26 Kantone haben nicht nur ihre eigene Geschichte und spezifische Kultur, sondern auch ihre jeweilige Verfassung, die zwar der Bundesverfassung nicht widersprechen darf, aber dennoch Platz für Eigenheiten lässt. Ausserdem gibt es eine Reihe von Aufgaben, die der Bund zwar gesamtschweizerisch regelt, deren Vollzug jedoch den Kantonen obliegt, wobei ihnen durchaus Spielräume in der Umsetzung gegeben sind. Auch gibt es gewichtige Politikfelder, die bis heute hauptsächlich in den Händen der Kantone liegen: Bildung, Gesundheit, Polizei und Justiz. Aus­serdem entscheiden Kantone und Gemeinden zusammen über rund zwei Drittel aller öffentlichen Ausgaben in der Schweiz (Vatter 2014: 266). Und sie verfügen über eine weitgehende


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Steuerhoheit, die sich wiederum in einem lebhaften, mitunter kritisierten Steuerwettbewerb niederschlägt. Die Kantone haben in der Schweiz eine grosse Bedeutung und Legitimation, und zwar nicht nur historisch. Ihnen wird auch heute noch eine «Laborfunktion» (Notter 2012) zugeschrieben. Der Föderalismus und die weitgehende Autonomie erlaubten es, Politikumsetzungen auszutesten, damit andere Kantone später erfolgreiche Modelle übernehmen könnten. Ein prominentes Beispiel, das es bis in die EU schaffte, ist die Schuldenbremse. Bereits 1929 hatte der Kanton St. Gallen einen Mechanismus zur Begrenzung der Schulden eingeführt. Unter dem Druck steigender Staatsschulden in den 1990er-Jahren folgten zahlreiche andere Kantone seinem Beispiel. 2001 stimmten die Schweizerinnen und Schweizer der Einführung der Schuldenbremse auf Bundesebene zu; der Mechanismus, der 2003 in Kraft trat, hat sich im Nachgang zur Finanzkrise als erfolgreich erwiesen (Allen 2014). Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise entdeckte auch die EU die schweizerische Schuldenbremse: Der von den EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2012 unterzeichnete Fiskalpakt beinhaltet die Verpflichtung, binnen einem Jahr eine Schuldenbremse im eigenen Land verfassungs- oder gesetzesmässig zu verankern. Allerdings ist diesem Instrument bisher weniger Erfolg beschieden als in der Schweiz, wie die Staatshaushalte verschiedener EU-Länder zeigen. Trotz dieses Erfolgs des Labors der Kantone ist der Föderalismus gleich zweifach in Bedrängnis. Zum einen ist ein Trend zur Zentralisierung feststellbar: Im Zuge zahlreicher Teilrevisionen von Verfassung und Gesetzen werden immer mehr bisherige kantonale Kompetenzen dem Bund zugewiesen. Zum anderen neigen die Kantone selbst zu einer immer engeren Kooperation. So sorgt die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) mit ihren Fachkonferenzen dafür, dass sich Kantone in ihrer Aufgabenerfüllung absprechen und auch gegenüber dem Bund einheitlicher und stärker auftreten. Regionalkonferenzen haben eine ähnliche Funktion. Damit nehmen die Verflechtungen der kantonalen Aktivitäten zu und die Unterschiede zwischen den Kantonen ab. Zurückgeführt wird diese Entwicklung nicht nur auf das Zusammenwachsen funktionaler Räume, sondern auch auf die abnehmende Bereitschaft der Bevölkerung, unterschiedliche Arten der Aufgabenerfüllung durch die Kantone


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zu akzeptieren (Bussmann 2015). Paradebeispiel ist der Schulbeginn, der erst 1985 nach einer Volksabstimmung in der ganzen Schweiz auf den Herbst festgelegt wurde. – Gleichwohl ist man sich einig, dass diese Laborfunktion wichtig ist, weil sie rasche Anpassung, gewisse Experimente und den Vergleich unterschiedlicher Lösungen erlaubt (Notter 2012). Auch bietet die direkte Demokratie die Möglichkeit, laufend neue Artikel in die Verfassung aufzunehmen, wie es in keinem anderen Land möglich ist. Vielleicht rührt daher der starke Wunsch, die Schweiz möge der Welt dasselbe bieten, was Volk und Kantone in der Schweiz können. In diese Kategorie fällt jedenfalls die immer wieder geäusserte Überzeugung, dass Europa von der Schweiz viel lernen könne – unabhängig davon, ob die Schweiz es für sinnvoll erachtet, der Union durch Mitgliedschaft anzugehören und sich als vollwertiges Mitglied auch aktiv einzubringen. Forscher, Tüftler, Pioniere Diese möglichen institutionellen Gründe für die Schweiz als Labor, in dem experimentiert und innovative Lösungen für anstehende Probleme erprobt und im Falle des Gelingens in die ganze Welt exportiert werden, leuchten ein. Aber welche Haltung steckt dahinter? Und wie reagieren andere darauf? Ein Erklärungsversuch. Im Labor arbeitet der Wissenschaftler, der Forscher, der etwas entdecken will. Konsequent und unbeirrt von äusseren Einflüssen und r­ ealen Entwicklungen geht er seiner Sache nach. Er unternimmt ein Experiment nach dem anderen, Rückschläge nimmt er in Kauf. Vom Ziel und seiner Neugier abbringen lässt er sich nicht. Meist ist es ihm vorerst egal, ob sein Schaffen Ergebnisse zutage fördert, die sich nutzen lassen. Denn er ist überzeugt, dass Neugier an sich Neues bringt – auch Unerwartetes, das zuweilen eine grössere Wirkung auf die Menschheit haben kann als zunächst erhofft. Kurzum: Der Forscher ist sich selbst am nächsten. Dass seine Erfindungen und Erkenntnisse sich nur schwer durchsetzen, setzt ihm je nach Charakter unterschiedlich zu. Die Erkenntnis des amerikanischen Wissenschaftsphilosophen und Soziologen Thomas S. Kuhn, wonach es Paradigmenwechsel deshalb so schwer haben, weil sich etablierte Kreise so lange gegen Neuerungen wehren, bis sie nicht mehr


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anders können als aufzugeben (Kuhn 1969), mag dem Forscher ein kleiner Trost sein. Der Tüftler ist dem Forscher ähnlich. Allerdings hantiert er weniger mit Reagenzgläsern denn mit mechanischen Dingen. Seine Arbeitsstätte ist die Werkstatt. Er dürfte jedoch, mehr als der Forscher, an der Nutzbarkeit seines in Entwicklung begriffenen Objekts interessiert sein, gehören zu seiner Arbeitsweise doch immer wieder Versuche und Tests, ob das soeben Konstruierte funktioniert. Ein gewisser missionarischer Eifer zeichnet ihn aus, ist er doch überzeugt, an etwas ganz Grossem zu arbeiten. Einschlägige Erfinderkarrieren, die vor allem vom finanziellen Scheitern erzählen (Bührke 2013), zeigen die beträchtliche Frustra­ tionsgefahr, der sich ein Tüftler aussetzt. Besonders eindrücklich ist das Bild desjenigen, der zu Unrecht um seinen Lohn geprellt wird, weil ihm die Erfindung für wenig Geld abgeluchst wird und ihm das Knowhow und vor allem die rechtliche Handhabe fehlen, der Patentdiebe Herr zu werden. Bleibt der Pionier. Er hat sowohl dem Forscher als auch dem Tüftler Entscheidendes voraus. Statt sich im Labor oder in der Werkstatt zurückzuziehen, zieht es ihn in die Welt hinaus. Erst der Pionier schafft das, was den Nutzen für alle bringt. Er stellt ein Produkt nicht nur einmal her, sondern entwickelt die serienmässige Herstellung für den Markt. Der Pionier ist der Unternehmer im schumpeterschen Sinne: Er setzt neue Kombinationen durch. Und zwar so weit, dass es das neue Produkt, die neue Produktionsweise oder den neuen Markt nicht einfach nur gibt, sondern dass es alles Dagewesene in den Schatten stellt. Welcher von diesen drei Typen möchte die Schweiz sein? Vermutlich am ehesten ein erfolgreicher Pionier. Denn was nützt eine Erfindung, wenn sie niemandem etwas bringt, schon gar nicht dem, der sie erfunden hat? Der wirtschaftliche Nutzen steht im Vordergrund. Und mit ihm tritt gleich die Frage auf den Plan, wie ein solcher Nutzen zu generieren ist beziehungsweise wessen Verantwortung es ist, dass er überhaupt generiert werden kann. Es gibt zwei Antworten darauf, und sie liegen weit auseinander: Subventionen wollen die einen, die anderen aber wollen gerade davon gar nichts wissen. Beide Seiten haben ihre Argumente. So behaupten die einen, dass ohne massive staatliche Forschungsförde-


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rung grosse technologische Entwicklungen gar nicht möglich gewesen wären; sie verweisen auf die Raumfahrt und das Internet. Die anderen hingegen argumentieren, dass staatliche Förderung Industriepolitik sei und falsche Anreize setze; als jüngstes und negativ leuchtendes Beispiel führen sie die Subventionierung der Solarenergie in Deutschland an. Die Konfliktlinie zwischen diesen beiden Argumentationssträngen verläuft klar entlang der Links-rechts-Achse, zwischen einer liberalen und einer paternalistisch-planwirtschaftlichen Auffassung von Wirtschaftspolitik. Deshalb wird sich die Schweiz darüber, ob die Politik dazu verpflichtet ist oder es dem freien Unternehmertum überlassen wird, das Land ein Stück weit zum Labor zu machen, wohl nie ganz einig werden. Klassenprimus und Musterknabe? Eine ähnliche Auseinandersetzung wird sichtbar, wenn man den Blick auf eine letzte Figur lenkt, die im Ehrgeiz um die Führungsrolle der Schweiz ebenfalls mitspielt: den Musterschüler. Anders als der Forscher, Tüftler oder Pionier operiert dieser in einem klaren, vorgegebenen Rahmen. Er erfindet nicht, sondern arbeitet klug, gut, gründlich und ambi­ tioniert. Er weiss, was gefordert wird, und ist gewillt, seine Aufgabe nicht nur zu erfüllen, sondern besser noch das Ziel zu übertreffen. Dass er dafür von den anderen nicht bewundert und geliebt, sondern bestenfalls beneidet wird, muss er zuweilen schmerzlich aushalten. Dabei möchte er bloss anerkannt werden, für seinen Fleiss und seine Kompetenz. Er mag den anderen zwar Vorbild sein, vergisst aber, dass er sie immer auch an ihre eigenen Unzulänglichkeiten, an ihre Fehler und ihre Unvollkommenheit erinnert. Musterschüler sind selten beliebt, was ihren Ehrgeiz jedoch nicht bremst. Allerdings folgt auf die Frustration nicht selten Überheblichkeit. Als Beispiel hierfür kann die Haltung der Schweiz gegenüber der EU angeführt werden: Die Wohlstandsinsel Schweiz, die gut durch die Krise der letzten Jahre gekommen ist und einen soliden Staatshaushalt aufweist, verführt manch einen dazu, skeptisch bis arrogant auf die umliegenden Länder und nach Brüssel zu blicken. «Würden die sich ein Beispiel an uns nehmen, wäre vieles besser», heisst es allenthalben selbstgerecht. Dass auch die Schweiz einst – 1848 – nicht ohne Konflikte aus


Katja Gentinetta (* 1968) Dr. phil., Philosophin und Historikerin, seit 2011 selbstständige Po­li­­­tikphilosophin und -beraterin. Lehr­beauftragte für Public Affairs an der Universität St. Gallen, Dozentin an den Uni­versitäten Zürich und Luzern. Heike Scholten (* 1971) M.A., Sozialwissenschaftlerin, seit 2010 selbstständige Politik- und Kommunikationsberaterin. Zuvor u. a. wissenschaftlich tätig am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich.

Dieser Band eröffnet die Reihe «Gesellschaft.Wirtschaft.Schweiz», ­herausgegeben von der Gebert Rüf Stiftung.

Die beiden Autorinnen verfügen über langjährige Erfahrung in leitenden ­Positionen wirtschaftsnaher Institu­tionen mit politischem Auftrag: Katja Gentinetta als stv. Direktorin des Think-Tanks Avenir Suisse, Heike Scholten als stv. Leiterin Kommunikation und Kampagnen bei Economie­suisse. Zusammen gründeten sie 2013 GENTINETTA*SCHOLTEN Wirtschaft Politik Gesellschaft GmbH mit dem Ziel, zwischen diesen Bereichen wirksam zu vermitteln. Sie beraten und be­gleiten Unternehmen, ­Verbände, Behörden und Personen in wirtschafts- und gesellschafts­politischen Fragen und politischer Kommunikation.

Katja Gentinetta, Heike Scholten

Haben Unternehmen eine Heimat? Gentinetta, Scholten  Haben Unternehmen eine Heimat?

Katja Gentinetta (r.) und Heike Scholten, Foto: Benjamin Hofer

Verlagerung von Produktionsstätten und Back Offices, Effizienz­ steigerung durch globale Wertschöpfungsketten und Steuer­ optimierung machen die Frage nach einer Heimat von Unterneh­ men eigentlich überflüssig: Unternehmen haben keine Bindung an ihren Standort, die über das reine Kalkül hinausgeht. Dass diese Sicht zu kurz greift, zeigen Gespräche mit Wirtschaftsführern in diesem Land. Sie sorgen sich um ihren Standort, selbst wenn sie daraus unterschiedliche Schlüsse für ihr Unternehmen ziehen. Wie beurteilen sie den Standort Schweiz, wie stünden sie zu ­einem Standortwechsel und was wünschen sie sich für die Schweiz? Neben diesen Fragen, auf die 25 Unternehmer und Mana­ger ge­ antwortet haben, reflektieren die Autorinnen das Spannungsfeld zwischen Wettbewerbsdruck und gesellschaftlicher Verantwor­ tung, in dem diese Unternehmen stehen, und die Rolle der Wirt­ schaft in der Politik.

Eine Studie. Ein Porträt. Ein Lesebuch zum Wirtschaftsstandort Schweiz

ISBN 978-3-03810-104-8 ISBN 978-3-03810-104-8

9 783038 101048

www.nzz-libro.ch

Gebert Rüf Stiftung

Verlag Neue Zürcher Zeitung

Dieses Buch geht der Frage nach, ob Unternehmen eine Heimat haben: In welchem Masse gehen unternehmerische Standortentscheide über reine Nutzen­erwägungen hinaus? Inwiefern spielen politische Verantwortung und gesellschaftliche Verbundenheit eine Rolle? Kernelement des Buchs sind persönliche Gespräche mit 25 Führungspersönlichkeiten aus der Schweizer Wirtschaft: Verwaltungsratspräsidenten und CEOs von Schweizer Unter­nehmen oder internationalen Konzernen mit Hauptsitz Schweiz. Es sind dies Männer und Frauen aus verschiedenen Ländern, aus Unternehmen unterschiedlicher Grössen, Branchen und Regionen. Sie wurden nach ihrer ­unternehmerischen und persönlichen Beziehung zur Schweiz befragt. Diesen Gesprächen voran­gestellt sind einführende Reflexionen über den Heimatbegriff und ein Überblick über den Standort Schweiz. Die Essays reflek­tieren das Spannungsfeld zwischen Wettbewerbsdruck und gesellschaftlicher Verantwortung, in dem diese Unternehmen stehen. Die Autorinnen schlies­sen mit Überlegungen zur Rolle der Wirtschaft in der Politik.


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