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Umschlagabbildung: Ariella Kaeslin, November 2014. Foto © Simon Tanner © 2015 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlaggestaltung: GYSIN | Konzept + Gestaltung, Chur Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: CPI books GmbH, Leck Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich v ergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-027-0 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung ®
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Inhalt
Das erste Wort 7 Ihre Geschichte Kapitel eins Kapitel zwei Kapitel drei Kapitel vier
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Ihre Bilder 89 Ihre Gespräche 109 Steff la Cheffe, Rapperin 111 Nadine Strittmatter, Model 125 Dina Burger, ehemalige Boxerin 133 Das letzte Wort 142 Bildnachweis 144
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Ihre Geschichte
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Ariella, die Gold- und Silber- und Bronzemedaillengewinnerin. Die bis dahin erfolgreichste Schweizer Turnerin der Geschichte. Sie beschritt einen Weg, den vor ihr keine beschritten hatte. Machte Erfahrungen, die vor ihr keine gemacht hatte. Sie bereitete einen Pfad für Nachfolgerinnen, während sie im Dunkeln tappte. Musste sich selbst zurechtfinden. Fand sich immer weniger zurecht. Es ging nicht mehr. Alles war Stress, das ganze Leben, jeder klitzekleine Moment. Selbst die Abende daheim. Sie war bei der Gastfamilie ausgezogen und hatte sich in Biel eine 100-Quadratmeter-Wohnung genommen, Dachschräge, doppelstöckig, «uh schön», sie hoffte, das werde ihre Oase. Aber sie kam nach Hause und öffnete in Windeseile die Tür, leerte in Windeseile die Tasche und schmiss die Sportsachen in Windeseile in die Waschmaschine, kochte in Windeseile, ass in Windeseile. Sie rannte – und wurde sich trotzdem nicht gerecht. Sie lernte die ganze Nacht für die Schule – und schrieb trotzdem schlechte Noten. Sie ging im Training an ihre Grenzen und darüber hinaus – und machte trotzdem nie genug. Du tust nicht, du kannst nicht, du machst nicht genug. Dann machte sie noch mehr, und es wurde noch schlimmer. Interviews. VIP-Anlässe, Autogrammstunden, Podiumsdiskussionen. Das Training durfte nicht leiden, also durfte Ariella nicht fehlen oder nur, wenn es nicht anders ging. Nach dem Training oder kurz vor dem Ende des Trainings in die Garderobe, Haare waschen, «ich will ja nicht wie der letzte Clochard daherkommen», ins Auto, Stress, Stress, Stress, selbst fahren, viel zu schnell fahren, meistens zu knapp oder zu spät zum Anlass erscheinen, heimfahren, selbst fahren, viel zu schnell fahren, zu Hause möglichst schnell einschlafen, nicht schlafen können. Immer am Limit, selten geniessen, sie war nie zu früh, immer zu spät, «wisst ihr, was ich meine?» Es war ein Kampf im Scheinwerferlicht. Ein Leiden im Licht. Das war der Preis, den sie für Gold bezahlte, für Gold, Silber und Bronze. Sie fing an, Termine im letzten Moment abzusagen, VIP-Anlässe, Autogrammstunden, Podiumsdiskussionen. Im letzten Moment rief sie das Büro ihres Managers an und sagte: «Ich kann nicht.» Die Angestellten im Büro ihres Managers informierten den Sponsor. Und der Sponsor, der den 64
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lange im Voraus angekündigten Anlass mit Ariella annullieren und Gäste, Fans, Zuhörer vergraulen musste, rief Giusep Fry an, den Manager, und fragte: «Warum kann sie nicht?» Giusep Fry wusste es nicht. Wusste es nicht, weil Ariella es ihm nicht sagte. Wusste nur, dass er sich immer öfter zusammenreissen musste, um sich nicht zu ärgern. Sosehr er Ariella auch mochte. Und sosehr er sie bewunderte. Bei einem Wettkampf schlich er sich einmal ausnahmsweise während des Einturnens in die Halle. Er beobachtete, wie sich Ariella auf dem Schwebebalken auf den Einsatz vorbereitete, und befürchtete schon ein Desaster. Ariella fiel hin, ein ums andere Mal, ihr gelang keine einzige Übung. Aber als das Einturnen zu Ende war und sich die Zuschauerränge mit Menschen füllten und der Wettkampf begann, war Ariella, die Wettkämpferin, wie verwandelt. Ihr Auftritt war fehlerlos, kein Vergleich zu vorher. Und von da an wusste auch ihr Manager, was ihre frühere Trainerin Susi Stettler viele Jahre zuvor in ihr entdeckt hatte: dass Ariella eine Sportlerin mit einer sehr besonderen Begabung war. Giusep Fry sagte also: «Ich bewundere dich.» Und er verkniff es sich, ihr zu sagen, dass sie mit ihrer Unzuverlässigkeit seine Geduld strapazierte, mit ihrer Unzuverlässigkeit, die doch gar nicht gewollt war. Er sagte ihr nicht, dass man sich in seinem Büro schon den Mund über sie zerriss, weil es immer schwieriger wurde, ihr Verhalten den Sponsoren zu erklären. Giusep Fry verschonte Ariella mit diesen Details. Er wusste nicht, was Ariella hatte, sie wusste es ja selbst nicht – aber wenn sie erfahren hätte, wie über sie geredet wurde, wäre es ihr nur noch schlechter gegangen. Wenn sie gewusst hätte, was ihr fehlte, und wenn sie ihm davon erzählt hätte, oder wenn sie ihm wenigstens gesagt hätte, dass es ihr schlecht und immer schlechter ging – vielleicht hätte er ihr helfen können. Giusep Fry hätte sofort alle Termine abgesagt und keine neuen mehr ausgemacht. Aber Ariella wusste nicht, was ihr fehlte. Und sie sagte nichts. Reportage in der Schweizer Illustrierten: «Rüüdig stark. WM-Silber, eigene Wohnung, sexy Aussehen – unsere Luzerner Turnkönigin Ariella Kaeslin, 22, reitet auf der Welle des Glücks. Jetzt zeigt sie, wie alles begann, und verrät ihre Träume.» Seitenweise Bilder, Bilder aus ihrer Kindheit, einige zusammen mit ihrem Bruder, Bilder aus der 100-QuadratmeterWohnung in Biel, Dachschräge, doppelstöckig, «uh schön», ihr Bild auch auf dem Cover, natürlich, eine wie sie gehörte aufs Cover. Eine Woche später, Schweizer Illustrierte, die Seite mit den Leserbrie2007– 2011
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fen, Leserbrief zum Beitrag «Ariella Kaeslin, SI 44/2009»: «Danke für die superschöne Reportage, ich bin stolz auf meine Kinder, wie sie in der Schweizer Illustrierten daherkommen, und freue mich mit Ari, dass sie es auf das Cover geschafft hat. Die Reaktionen sind sehr positiv und häufig.» Unterschrieben mit: «Heidi Kaeslin, Meggen LU». Heidi Kaeslin aus Meggen LU war nicht immer derart begeistert von einem Bericht über ihre Tochter, dass sie gleich einen Leserbrief schrieb. Manchmal sandte sie den Redaktionen nicht erfreute, sondern erzürnte Briefe, zum Beispiel, wenn irgendeine Postille ein Interview mit ihr, der Mutter, druckte, das nie stattgefunden hatte. Meistens wurde Ariella von den Medien aber gut behandelt, was kein Wunder war, schliesslich war sie das Aushängeschild des Turnens, die Sportlerin des Jahres, das Schätzchen der Nation. Und trotzdem legte Ariella ein gewisses Unbehagen den Medien gegenüber nie ab, eine Art Grundangst. Die Angst, den Medien etwas liefern zu müssen, damit die Medien nicht Geschichten über sie zu erfinden begannen. Die Angst, dass die Medien mit ihr Schindluder trieben, wenn sie nicht gab, was die Medien von ihr verlangten. Wieder Tests. Beim Psychologen. Beim Psychiater. Beim Neurologen. Wieder nichts. Du hast nichts, Ariella. Doch! Ich habe was! Das Aushängeschild des Turnens. Die Sportlerin des Jahres. Das Schätzchen der Nation. Was hätte sie auch haben sollen? Es war ja alles gut. Die Bluttests waren gut, die Wettkämpfe waren gut. Montagmorgen in der Turnhalle. Ariella fragte: «Und, was habt ihr übers Wochenende gemacht?» Linda, eine andere Turnerin, sagte: «Nichts. Ein bisschen herumgehängt. Mich erholt. Du?» Und Ariella hörte mit Aufzählen nicht auf. Sie hatte gelernt und ein Interview gegeben, Blick, Schweizer Illustrierte, Neue Zürcher Zeitung, was auch immer, Glanz&Gloria, war joggen gewesen und hatte den Event eines Sponsors besucht, Audi, Longines, Cornèrcard. Nur eines hatte sie nicht gemacht: ein bisschen herumgehängt und sich erholt. Linda, ein Jahr jünger als Ariella, war in Magglingen Ariellas beste Freundin. Linda und Ariella kannten sich schon lange, seit der Zeit mit dem Franzosen, aber erst nach Peking waren sie sich nähergekommen, sie 66
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waren die Ältesten im Team. Sie verbrachten zusammen die wenigen Ferien, einmal in Thailand, und Ariella nahm Linda zu Anlässen mit, als ihre Begleitung, damit sie jemanden bei sich hatte. Linda mochte Ariella, und sie spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie sah es, im Training. Ariella lag am Boden, erschöpft. Ariella verschwand in der Garderobe, geknickt. Ariella weinte, verzweifelt. Ariella konnte nicht umsetzen, was ihr der Trainer aufgetragen hatte. Früher hatte der Kopf nicht mit dem Körper mitgehalten. Jetzt war es umgekehrt. Jetzt machte der Körper nicht, was der Kopf wollte. Aber wollte der Kopf überhaupt? Ariella wollte niemandem zur Last fallen. Nicht dem Trainer, der sich um ein ganzes Team kümmern musste. Nicht den jüngeren Turnerinnen, die selbst zu kämpfen hatten. Nicht Linda, ihrer besten Freundin. Linda war der Captain des Teams. Sie sorgte sich um Ariella, fragte, was los sei. Ging zu ihr, wenn sie am Boden lag. Lief ihr hinterher, wenn sie in der Garderobe verschwand. Und wusste nicht weiter, wenn sie weinte. Einmal schleppte sie Ariella, ein Häufchen Elend, direkt aus der Turnhalle ins Medical Center, wie der Ort hiess, an dem die Magglinger Sportärzte ihre Praxen hatten. Ariella war nah an einem Kreislaufzusammenbruch gewesen. Andere Male suchte sie das Gespräch, viele Male auch nicht. Ariella hatte sich verschlossen, sogar vor ihr. Und immerzu das Gespräch suchen konnte Linda ja nicht, sie hatte ihre eigenen Aufgaben, musste Leistung zeigen, musste nach Motivation streben und Konzentration finden, sich Ziele setzen und in Form kommen, da ging es ihr nicht anders als Ariella. Reiss dich zusammen, Ari! Ariella riss sich zusammen. Frühling 2010, Europameisterschaften in Birmingham: Platz 5 im Sprung, als Einzige der Finalturnerinnen war sie älter als 20-jährig, und Platz 6 im Mehrkampf. In der Neuen Luzerner Zeitung vom 14. September 1999 hatte gestanden: «Weil die Karriere einer Turnerin spätestens mit zwanzig Jahren zu Ende ist, stehen der Nationaltrainer und sein Team in einem Wettlauf mit der Zeit.» 2007– 2011
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Herbst 2010, Weltmeisterschaften in Rotterdam: Platz 4 im Sprung, erstmals der Jurtschenko mit Doppelschraube, und Platz 8 im Mehrkampf. «Es fühlt sich super an», sagte Ariella und meinte es wirklich. Der Tschussowitina. Der Anlauf. Der Einsprung vor dem Sprungbrett, das vor dem Pferdsprung am Boden lag. Der Absprung vom Sprungbrett. Der beidhändige Abstoss vom Pferdsprung. Der Überschlag und schliesslich der Salto, darin integriert die eineinhalb Schrauben. Die Landung. Das war das Perfide. Noch schaffte sie es, nach Motivation zu streben und Konzentration zu finden, sich Ziele zu setzen und in Form zu kommen, sie war die Wettkämpferin. Zum letzten Mal? Frühling 2011, Europameisterschaften in Berlin: Platz 3 im Sprung, Platz 5 im Schwebebalken, Platz 8 im Mehrkampf. Zum letzten Mal. Sie hatte sich von Gerät zu Gerät geschleppt, sich vor dem Sprungfinal nicht einmal mehr eingeturnt. Berlin, ihr letzter Wettkampf, war ein Horror. Sie hatte Grippe, geschwollene Drüsen, lag am Boden und sah Punkte, die vor ihren Augen tanzten, hatte Fieber. Manchmal verliess sie die Trainingshalle auf allen vieren, weil sie hoffte, so Kräfte zu sparen. Welche Kräfte? Sie telefonierte mit dem Arzt, jeden Tag, die ganze Woche lang, der Arzt überlegte, was getan werden könnte, und wusste doch wieder nichts anderes, als ihr Spritzen geben zu lassen, Vitamine. Im Blick hiess es, sie habe «nicht ihr volles Potenzial» abrufen können, aber auch: «Ariellas vierte internationale Medaille!» Sie hatte nicht ihr volles Potenzial abgerufen. Sie musste weg. Weg aus Berlin. Weg aus Magglingen. Weg vom Leistungszentrum. Aber zuerst musste sie sich am Flughafen Zürich in einen weissen Ledersessel setzen, gleich nach der Rückkehr. Die Produzenten der Sendung sportlounge des Schweizer Fernsehens hatten sie um ein Interview gebeten, und sie hatte sich überreden lassen. Ariella war verschnupft und 68
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erschöpft, und sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie am Boden war. Ariella, geschminkt. Ariella, lächelnd. Ariella wusste auf jede Frage eine Antwort. «Ariella Kaeslin, Sie sind als Titelverteidigerin an den Start gegangen. Ist das jetzt eine Niederlage, eine gefühlte, oder ein Sieg?» – «Das ist ein Sieg für mich. Die Bronzemedaille bedeutet mir extrem viel, weil ich brutal dafür habe chrampfen müssen.» «Ist die Bronzemedaille sogar wertvoller als Gold vor zwei Jahren?» – «Für mich schon, ja.» «Spitzensport im Allgemeinen ist ja nicht nur gesund für den Körper. Gibt es auch Momente, in denen Sie sagen: Puuuh, jetzt habe ich es dann gesehen?» – «Es ist vielleicht nicht das Gesündeste. Aber es ist wohl gesünder, als daheim zu sitzen und nichts zu machen.» Fragen, Antworten. Ob sie Angst habe, dass sie ihren Körper kaputtmache. Ariella: Nein, sie habe keine Angst. Eher habe sie Angst davor, «dass ich später, im Berufsleben, nicht die gleichen Emotionen spüre wie jetzt», im Turnen. Ob die Olympischen Spiele in London ihr nächstes grosses Ziel seien. Ariella: Ja, die Olympischen Spiele seien das nächste grosse Ziel. Aber sie wolle auf keinen Fall sagen, dass danach fertig sei, «im Moment bin ich zwar müde, aber die Motivation ist gross». Ob sie für die Olympischen Spiele das Training intensiviere. Ariella: Ja, sie befinde sich in der Vorbereitung auf einen neuen Sprung, sie wolle noch nichts verraten, der Weg sei lang, «ein schwieriger Sprung, ein grosses Risiko», sie liebe das Risiko, liebe die Herausforderung. Zudem wolle sie sich nicht nur auf den Sprung konzentrieren, sondern auch auf den Mehrkampf, denn sie habe gemerkt, dass sie auch am Schwebebalken zur Weltspitze gehören könne. Nein, sie habe keine Angst. Ja, die Olympischen Spiele seien das nächste grosse Ziel. Ja, sie intensiviere das Training. Und wie war es wirklich?
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So: Weg aus Berlin. Weg aus Magglingen. Weg vom Leistungszentrum. Ariella ging weg. Ihr Vater, der die Entscheidungen, die Ariella be trafen, immer der Mutter überlassen hatte, seiner Tochter aber stets eine Stütze gewesen war, ihr stolzer Vater holte sie mit dem Auto in Magglingen ab. Auf dem Parkplatz nahm er Ariella in den Arm und verstaute ihr Gepäck im Kofferaum. Der Vater am Steuer, Ariella auf dem Beifahrersitz. Schweigen. Der Vater sagte: «Ich bin für dich da.» Nach Hause, bitte! Nach Hause? Drei Monate Auszeit, das war der Plan. Das war die Notbremse, auf die ihre Mutter spätestens seit den Weltmeisterschaften in London gewartet hatte. Ariella ging zurück nach Luzern, aber nicht ins Haldenquartier, nicht in ihr altes Zuhause. Es gab die Familie nicht mehr, wie es sie gegeben hatte, die Eltern hatten sich getrennt, und es gab auch ihr Zuhause nicht mehr. Das Haus im Haldenquartier, in dem Ariella aufgewachsen war, war niedergerissen worden. Ariella zog in eine Wohngemeinschaft, in der ein paar ihrer Kolleginnen lebten, dann und wann übernachtete sie in Meggen, in der neuen Wohnung ihrer Mutter, in einem Zimmer, das sie kaum kannte. Nach Hause? Sie hoffte, der Abstand würde ihr guttun. Sie ging ins Turntraining, ins Lauftraining, ins Krafttraining, machte in Luzern weiter, wo sie in Magglingen aufgehört hatte, sie wollte sich nicht aufgeben, sie war Turnerin, seit sie sich entsinnen konnte. War zur Turnerin geboren. Sie hatte ihrem Sport alles von sich gegeben, hatte den Körper geschunden und sich gequält. Es wäre ihr egal gewesen, wenn sie später Rückenprobleme bekommen hätte, Arthrose, was auch immer, damit wäre sie klargekommen. Darauf hatte sie sich eingestellt. Sie wünschte sich, irgendwer würde ihr sagen, da!, das ist es! Sie habe Diabetes. Sie habe Hepatitis. Sie habe Vitamin-A-Mangel, Vitamin-BMangel, Vitamin-C-Mangel. Das hätte geholfen, das wäre zu beheben gewesen. Aber niemand sagte etwas. Niemand sagte, sie leide unter einer Erschöpfungsdepression. Sie fand es selbst heraus. Sie googelte ihre Symptome.
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Herzklopfen. Saure Beine, schon beim Treppensteigen. Kopfschmerzen, die ganze Zeit. Wilde Gedanken. Verrücktes Hirn. Konzentrationsschwächen. Motorische Störungen. Und als sie die Antwort hatte, hatten sie plötzlich auch die Ärzte. Aus der Distanz fügten sich die Puzzleteile zusammen. Plötzlich sah sie die Symptome überall. Sie schaute einen Fernsehbeitrag über den deutschen Skispringer Sven Hannawald, der unter Depressionen gelitten hatte und zurückgetreten war, und dachte: «Verdammt, mir geht es so wie ihm.» Ein Zeitungsbericht über den deutschen Fussballer Sebastian Deisler, der unter Depressionen gelitten hatte und zurückgetreten war: «Das bin ja ich!» Ein Buch über den deutschen Fussballer Robert Enke, der unter Depressionen gelitten und sich vor einen Zug gelegt hatte: «Wenn ich jetzt nichts mache, kommt es nicht gut.» Was sie hatte, war psychisch. Und gegen Ende der Auszeit kam der Gedanke, bald wieder nach Magglingen gehen zu müssen – und da wusste sie: Es ging nicht mehr. Kopenhagen. Frühsommer 2011. Ariella und ihre Freundinnen. Die Frage: «Sagt mal – wie ist das Leben ohne Turnen? Ist es schön?» Die Antworten: «Es ist megaschön.» Und: «Wir erzählen dir besser nichts davon. Sonst hörst du noch auf.» Ariella sagte nichts. Sagte nicht, wozu sie sich soeben entschieden hatte. Aber am Abend rief sie ihre Mutter an, aus Kopenhagen: «Mami, ich höre auf.» Und ein paar Tage später, nach der Rückkehr, rief sie ihren Manager an: «Ich höre auf.» Ihr Manager war zu diesem Zeitpunkt nicht Giusep Fry, sondern ein Geschäftspartner von Giusep Fry, ein ehemaliger Spitzensportler, der in seiner Karriere auch so einiges erlebt hatte. Er versuchte gar nicht erst, Ariella umzustimmen oder sie wenigstens dazu zu bringen, sich noch ein2007– 2011
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mal Gedanken zu machen. Er sagte: «Dann machen wir eine Pressekonferenz. Nächsten Montag.» «Muss das sein?» «Das muss sein.» Am Sonntagabend rief sie Linda an, ihre beste Freundin in Magglingen, und sagte ihr, dass sie zurücktrete. Und am Montagmorgen liess sie sich von ihrem Manager nach Magglingen fahren, um ihre restlichen Sachen abzuholen. Ein paar Monate vor der Auszeit in Luzern war sie von der Wohnung in Biel umgezogen in ein Einzelzimmer des Leistungszentrums in Magglingen. Der Manager sass am Steuer, Ariella auf dem Beifahrersitz. Ariella immer auf dem Beifahrersitz. Frau Stettler am Steuer. Ihre Mutter am Steuer. Ihr Vater am Steuer. Der Manager am Steuer. Ariella kramte ihr Handy hervor und rief den Trainer an. Sie hatte einen Kloss im Hals. Sie sagte: «Ich muss dir etwas sagen. Etwas, das man nicht einfach am Telefon sagt. Hast du kurz Zeit? Ich bin gleich da.» Der Trainer stand in der Turnhalle, als sie in Magglingen eintraf, und sagte, er habe Verständnis, es tue ihm leid, es sei eine super Zeit gewesen mit ihr. Er möge sie und werde die Zeit mit ihr in guter Erinnerung be halten. Ariella fiel ein Stein vom Herzen. Der Trainer versammelte die Turnerinnen, Ariella erzählte, Tränen flossen. Zurück im Auto. Inzwischen war die Medienmitteilung über die kurzfristig anberaumte Pressekonferenz an die Journalisten verschickt worden. Ein Journalist rief auf Ariellas Handy an und fragte: «Ariella! Bist du schwanger?» Ein anderer Journalist rief an und fragte: «Ariella! Heiratest du?» Nein, Ariella trat zurück. Hätte sie sagen sollen, sie trete zurück, weil es ihr beschissen ging? Sie hatte sich genau überlegt, was sie sagen wollte, hatte sich den Text Wort für Wort aufgeschrieben. Hatte sich vorbereitet wie auf einen Wettkampf, ihren letzten Wettkampf.
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Ihre Bilder
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Abb. 4 Schlank, kräftig, zäh: Ariella, Kindersportlerin.
Abb. 5 Die Haare kurz, wie aus Protest: Ariella, Hoffnungsträgerin.
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Abb. 6 Liebe für den Sport, Gespür für den Körper: Ariella, Wasserskifahrerin.
Abb. 7 Ein nicht unerheblicher Teil der Erziehung: Ariella (links) und eine Kollegin mit der Trainerin Frau Stettler.
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Abb. 11 5.30 Uhr Aufstehen, 5.55 Uhr Müeslimischung und Koffeinshot: Ariella am Schwebebalken im Mehrkampffinal der Olympischen Spiele 2008 in Peking.
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Abb. 12 «Weisst du eigentlich, wie schlimm das wäre?»: Ariella beim Pferdsprung im Mehrkampffinal der Olympischen Spiele 2008 in Peking.
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Abb. 20  Die letzte Stunde einer Karriere: Ariella bei der RĂźcktritts-Pressekonferenz am 11. Juli 2011 in Luzern.
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Abb. 21 Ein Chihuahua, aber kein typischer Schosshund: Ariella mit Clowie und Simba, dem Hund ihrer Mutter, im Februar 2015 in Arosa.
Abb. 22 Immer mehr Halt: Ariella im Februar 2015 in Arosa.
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Ihre Gespr채che
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«Du musst jedem und überall Stopp sagen, musst alles abwehren, abwimmeln. Das kostet unglaublich viel Kraft.» – «Stimmt.» Ariella Kaeslin redet mit Steff la Cheffe, Rapperin, geboren 1987 – V izeweltmeisterin 2009 im Beatboxen, «Swiss Music Award» als «Best Talent National» 2010, Nummer-eins-Album «Vögu zum Geburtstag» 2013
Ariella: Ich dachte immer, mir könnte nichts passieren. Ich dachte, dass ich jede Anstrengung meistern könnte, wenn ich mich nur bemühte. Das Training, die öffentlichen Verpflichtungen, die Schule – alles musste nebeneinander Platz haben, das erwartete ich von mir. Und trotzdem kam der Moment, in dem ich zusammenbrach. Steff la Cheffe: Ich weiss, wovon du sprichst. Ja ? Es geschah auf meiner ersten Tournee, das war 2010. Im Frühling war «Bittersüessi Pille» erschienen, mein erstes Album, ich pushte mich, mein Umfeld pushte mich, wir pushten uns bis in den Herbst hinein, und irgendwann ging es nicht mehr. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch. Das wusste ich nicht. Wie lange brauchtest du, um dich zu erholen ? Wir sagten während zweier Wochen alle Termine ab. Alle Interviews, alle Auftritte, alle Promo-Events. Hast du den Leuten gesagt, dass ein Nervenzusammenbruch der Grund für die Absage war ? Nein. Niemandem ? Im Nachhinein schon. Ich sagte, ich hätte es nicht mehr ausgehalten. Ich gebrauchte nie das Wort Burn-out, in meiner Definition war es immer ein Nervenzusammenbruch. Steff la Cheffe
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Ich habe mich nie getraut, einen Grund anzugeben, der der Wahrheit nahekam. Wenn ich irgendwohin eingeladen war und merkte, dass nichts gehen würde, dass ich keinen vollständigen Satz würde reden können, rief ich an und benutzte irgendeine Ausrede, um mich abzumelden, meistens im allerletzten Moment. Ich sagte nie, dass ich psychisch am Boden war. Ich flunkerte – und das war psychisch natürlich auch wieder eine Belastung. Warum hast du nicht die Wahrheit gesagt? Weil du Angst hattest, es würde dir als Schwäche ausgelegt und dass du dir damit etwas verbauen würdest? Wäre es nicht leichter gewesen, die Wahrheit zu sagen? Doch, klar, im Nachhinein schon. Im Nachhinein denke ich, dass die meisten Verständnis gehabt hätten. Aber wenn du mittendrin steckst, siehst du ja immer das Bild, das die Öffentlichkeit von dir hat. Und du siehst oder meinst zumindest, dass du davon meilenweit entfernt bist. Du versuchst, irgendwie in dieses Bild reinzupassen, jedenfalls unbewusst. Stimmt. Und du willst nicht Gefahr laufen, auf eine psychische Schwäche reduziert zu werden. Du weisst, dass das ein gefundenes Fressen für die Medien ist. Dann heisst es: «Das ist die mit dem Nervenzusammenbruch.» Kürzlich habe ich mit einer Politikerin über Burn-outs geredet. Wir kamen zum Schluss, dass es zwischen unseren Metiers einen wichtigen Unterschied gibt. Wenn du in der Politik Schwäche zeigst, wird dir das, so simpel es tönt, immer als Schwäche ausgelegt. In der Musik ist es anders. In der Musik kann Schwäche als Stärke interpretiert werden. Es kann bedeuten, dass du die Menschen berührst und sie sich mit dir zu identifi zieren beginnen, weil du interessant wirkst und eine Tiefe hast, die sie von sich selbst kennen, aus dem wahren Leben. Im Sport ist es vielleicht eher wie in der Politik. Wobei, so von aussen gesehen: Es könnte ganz sympathisch sein, von einer Sportlerin zu erfahren, dass sie Schwächen hat. Man würde sie dann nicht als unmenschliches, übermenschliches Wesen wahrnehmen, was ja sonst oft genug der Fall ist, jedenfalls in meinen Augen. Ich glaube, ich habe nicht über meine wahren Probleme geredet, weil ich nicht noch mehr Rummel um meine Person wollte. Richtig. Ich habe die Geschichte von meinem Nervenzusammenbruch ja auch nicht allen unter die Nase gerieben. Wenn mich jemand Ende 2010 112
Ihre Gespräche
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fragte, wie das Jahr gewesen sei, sagte ich: «Ja, cool, aber irgendwann war ich erschöpft.» Dabei liess ich es oft bewenden. Kannst du mir erzählen, wie es zur Überlastung gekommen war ? Ich war bereits erschöpft in die Tournee gegangen, weil ich vor dem Album-Release zwei Jahre lang keine Ferien gemacht hatte. Wir hatten dieses Ziel: das Album im Frühling herauszugeben. Und daran gab es kein Vorbeikommen. Du musst ein Datum für die Pressung bestimmen, eines fürs Release, du hast Daten für alles. Vertrieb, Label, Artwork, Homepage, Video, Medienmitteilungen. Du arbeitest einfach, arbeitest dich kaputt. Ferien? Interessiert keinen. Interessierte auch mich nicht. Wir machten uns Druck, und darum entstand immer neuer Druck. Ich war jung, 22-, 23-jährig damals, dieses Album war mein erster grosser Schritt. Ich wollte alles richtig machen. Ich habe halt auch sehr hohe Ansprüche an mich, bin kritisch bis zum Verrücktwerden, mache mir Gedanken lange im Voraus, sehr viele unnötige Gedanken, ich rechne alles durch. Ich auch. Die Band aufbauen, das Video drehen, Promo-Termine. Das ist schon physisch sehr anstrengend, manchmal schlief ich vier Stunden, und dann musste ich zwölf Stunden durchhalten. Ich war hart, vor allem zu mir selbst, ich gab es mir, und alle sagten: «Wow, du bist professionell.» Aber es ging mir an die Substanz, zuerst eben an die physische. Ich habe ja nicht viel Speck, und den wenigen, den ich hatte, verbrannte ich. Und dann ging es mir ans Psychische, an mein Nervenkostüm. Ich arbeitete nonstop, und gleichzeitig war ich im Begriff, eine öffentliche Person zu werden. Heftig. Wann hast du das Ausmass deiner Bekanntheit realisiert ? Daran erinnere ich mich sehr genau. Ich war mit meinem Freund in Vals im Thermalbad. Bikini, Freund, Thermalbad, keine Kostüme, keine Bühne, keine Interview-Situation: Es gab null Indizien dafür, wer ich sein könnte. Ich sang nicht, ich rappte nicht. Ich war irgendwo in den Bergen. Und als wir das Becken verlassen, rennt mir eine hinterher, «he!, bist du nicht …?», ich drehe mich um, «können wir bitte ein Föteli machen?», und ich denke so: «Neeeeeein! Die hat mich jetzt anderthalb Stunden lang beobachtet und sich überlegt, ob ich die Steffi sei oder nicht.»
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Das war während der Tournee ? Kurz vorher. Mit dem Beginn der Tournee wurde es noch extremer. Dann kam der August, der Nervenzusammenbruch – und das Fazit, dass ich ganz schnell Ferien brauchte. Im Oktober war es so weit, da hatten wir das letzte Konzert hinter uns, endlich. Ich hatte die Nase voll, von allen und allem. Es störte mich, wenn ich auf der Strasse angesprochen wurde. Es störte mich, wenn die Leute mein Lied sangen. Es störte mich, wenn ich erkannt wurde. Fertig, Ferien buchen, weg. Ich nehme also den Zug zum Flughafen, bin total am Ende, total abgelöscht. Der Zug ist übervoll, ich quetsche mich mit meinem Gepäck auf einen Einersitz. Kopfhörer auf, Kapuze hoch, ich denke: «Lasst mich in Ruhe.» Und da sehe ich, wie zwei Jungs auf mich zukommen, «heeeee!», «Steff!», die wollen reden, aber ich will nicht, der Schalter kippt um. Ich bin sonst nicht so, ich versuche immer, freundlich zu sein, aber in diesem Moment sage ich: «Jungs, kein Bock. Sonst gern, aber nicht jetzt.» Und dann Ferien, endlich! Endlich. Wobei: Es ging ja noch weiter. Erster Tag in Marokko, ich sitze auf der Terrasse einer ganz normalen Pension. Okay, es war eine Pension, die von einer Schweizerin geführt wird, mein Fehler, selbst schuld. Ich mache es mir also gemütlich, freue mich darüber, dass mich niemand kennt, dass keiner da ist, der irgendetwas in mich hineinprojiziert. Und dann nähert sich mir tatsächlich ein anderer Gast der Pension, eine Frau, sie sagt, sie wolle nicht stören, aber ich sei doch die Steff. Na ja, da war’s wieder, mitten im Nirgendwo. Aber, ehrlich gesagt: Mit der hatte ich es dann ganz gut. Mit der Zeit hatte ich mit beidem Mühe – mit dem Bekanntsein und dem Nichtbekanntsein. In der Schweiz kannte man mich. Im Ausland kannte man mich nicht. Wenn ich im Ausland war, zum Beispiel in den Ferien oder in einem Trainingslager, fiel es mir richtig schwer, auf die Leute zuzugehen. Ich hatte verlernt, von mir aus eine Konversation anzufangen, weil ich es von der Schweiz her ja gewöhnt war, dass die Leute auf mich zukamen, nicht umgekehrt. Lustig ist auch, wenn die Leute dir sagen, du sollst so bleiben, wie du bist. Dann denke ich: «Ja, danke. Es ist ja auch verdammt leicht, so zu bleiben, wie ich bin, wenn ihr alle mich auf den Sockel stellt.» Wenn alle um dich 114
Ihre Gespräche
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herum spinnen und total komisch auf dich reagieren – wie willst du dann bitte schön so bleiben, wie du bist? Es kam schon vor, dass ich in Bern ins Tram stieg, es war früher Morgen, ich war müde, und als ich wieder aussteigen wollte, tippte mir einer von hinten auf die Schulter, ein alter Bekannter, und sagte: «He, nur weil du jetzt berühmt bist, musst du nicht so tun, als würdest du mich nicht mehr kennen.» Ich hatte ihn halt nur nicht gesehen, und er hat den Spruch bestimmt nicht im Ernst gemeint. Trotzdem. Als ich nach dem Karrierenende zurück in die Schule ging und den Lehrer eines Tages fragte, ob es wohl möglich wäre, dass ich eine Prüfung verschiebe, sagte er: «Meinst du, nur weil du Ariella Kaeslin bist ?» Ich weiss nicht mehr, warum ich die Prüfung hätte verschieben müssen, ist auch egal. Ich hatte keine Sekunde lang daran gedacht, von meinem Namen profitieren zu wollen. Ich fragte den Lehrer als ganz normale Schülerin. Das ist hart. Wie sehr hat das öffentliche Leben tatsächlich jemand anderes aus dir gemacht ? Oder, anders gefragt: Gefällt dir dein Image ? Schwierig zu sagen. Du kannst dein Image nicht komplett kontrollieren. Ein Beispiel: Der Berner Rapper Greis war immer ein Vorbild für mich, weil er sich öffentlich engagiert. Er hat Politologie studiert und nie ein Geheimnis aus seinen politischen Ansichten gemacht. Und was geschah? Er wurde auf das Bild des Polit-Rappers reduziert. Was mich betrifft: Ich habe als Teenager auch Demos mitorganisiert, ich war auch in der Reitschule – aber ich habe diesen Teil von mir nie in den Vordergrund gestellt, weil ich nicht wollte, dass man mich in eine Schublade steckt. Ist dir das gelungen ? Greis hat das Image ja nicht wegen nichts. Er ist aktiv, er setzt sich ein, das Image entspricht ihm. Aber er ist eben auch ein Mensch. Wir sind Menschen. Du bist Ari, ich bin Steff. Wir sind nicht nur sportlich oder frech. Wir haben auch andere Momente, schwache Momente. Wir haben Momente, in denen wir inkonsequent sind. Das Problem ist, dass die Öffentlichkeit beziehungsweise vor allem die Medien diese Momente nicht ertragen. Sie wollen Ja-Nein-Antworten. Sie wollen, dass du zu diesem Ja und zu jenem Nein sagst. Und dann sage ich eben Ja, wenn ich gefragt werde, ich sage: Steff la Cheffe
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Bildnachweis
Privatarchiv Ariella Kaeslin: Abb. 1–7, 21–22 © foto-net: Abb. 19 (Paul Zimmer) © imago: Abb. 15 (Schreyer) © Keystone: Abb. 14 (Peter Klaunzer), 16 (Matt Dunham), 17 (Jean-Christophe Bott), 20 (Sigi Tischler) © NZZ: Abb. 9 (Franco Bottini), 10 (Adrian Baer), 11–13, 18 (Christoph Ruckstuhl) © Reuters: Abb. 8 (Georgios Kefalas) © Simon Tanner: Umschlagbild
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