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Via Mondacce

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Der Weg nach Haifa

Der Weg nach Haifa

Die Geschichte von Bruno Breguet beginnt in der kleinen Gemeinde Minusio bei Locarno. Hoch über dem Lago Maggiore zieht sich die schmale Via Mondacce dem Hang entlang, vorbei an Villen und kleinen Weingärten. Das Panorama ist atemberaubend. Von der Magadinoebene schweifen die Augen des Besuchers über den Monte Ceneri und die Tessiner Alpengipfel. Weit unten spiegelt sich das Städtchen Locarno im ruhigen blauen Wasser, in der Ferne lassen sich die Umrisse der Brissago-Inseln erahnen. Einzig vereinzelte Palmen scheinen einen Schatten auf diese paradiesische Welt zu werfen. Von hier ist es ein weiter Weg nach Haifa.

Fast am Ende der Via Mondacce steht das Haus, in dem Breguet nach seiner Geburt am 29. Mai 1950 aufgewachsen ist und das bis zu einem schicksalhaften Novembertag im Jahr 1995 einen Fixstern in seinem Leben bildete. Sein Vater Ernesto Breguet war ein Zugezogener aus dem Bauerndorf Coffrane im Neuenburger Jura. Die wenigen dort ansässigen Betriebe der Uhrenindustrie verschwanden bereits im frühen 20. Jahrhundert, der Uhrenmachername Breguet hatte sich jedoch gehalten. Ernesto baute als Zimmermann und Dachdecker ein erfolgreiches Geschäft auf, dem er seine ganze Aufmerksamkeit widmete und dank dessen die Familie in passablen finanziellen Verhältnissen lebte. Stark von seiner Arbeit absorbiert, zeigte er wenig Interesse an seiner Familie oder der Erziehung seines Sohnes.1 Auf die Politisierung von Bruno hatte er jedenfalls keinerlei Einfluss. Selbst nicht politisch und ohne jegliches intellektuelle Interesse, war er einer dieser Menschen, bei denen man sich nicht sicher ist, ob sie jemals ein Buch gelesen haben.2

Im Gegensatz zum Vater war die Mutter, Zita, eine gebürtige Tessinerin. Das Haar dieser kleinen Frau war bereits ergraut und ihr Gesicht ein wenig zerknittert, bevor sie wegen Brunos Festnahme in Israel schreckliche Ängste durchlebte.3 Dennoch sollte sie über 100 Jahre alt werden. Von seiner Mutter erfuhr Bruno viel Zuneigung, und die beiden verband eine enge Beziehung.4 Neben Bruno wuchsen im Haus Breguet ausserdem drei Geschwister auf. Die Schwestern Renée und Madeleine, noch in

den Kriegsjahren geboren, waren deutlich älter. Renée wanderte bald nach Brasilien aus. Ob Südamerika deshalb auch für den jungen Bruno zu einem Sehnsuchtsort wurde? Madeleine wiederum heiratete einen Zeichner der Maggia Kraftwerke, zog nach Locarno und verschwand so ebenfalls früh aus dem Elternhaus.5 Die liebevolle Beziehung mit Bruno blieb jedoch erhalten. Der drei Jahre jüngere Ernesto junior schliesslich war ganz anders veranlagt: Politisch nicht interessiert und weniger begabt für manuelle Tätigkeiten; sehr entschlossen, aber wenig einfühlsam.6 Die beiden Brüder waren so unterschiedlich, dass sie in ihrer Jugend kaum etwas miteinander unternahmen.7

Politisch illustre Nachbarn der Breguets an der Via Mondacce waren Guido Cavagna und seine Familie. Cavagna war eines der Gründungmitglieder der Partei der Arbeit (PdA) und in den Nachkriegsjahrzehnten einer der Anführer ihrer Tessiner Sektion. In den 1950er-Jahren stieg er ins Zentralkomitee der PdA auf, später sogar ins Politbüro, und vertrat die Partei acht Jahre lang im Tessiner Grossen Rat. Sein Sohn Mauro und Bruno Breguet spielten als Kinder viel zusammen, häufig Indianer, manchmal Fussball. Bruno ging im Haus Cavagna ein und aus. Als die Buben die Primarschule besuchten, traf Bruno den drei Jahre jüngeren Mauro wohl ohne böse Absicht mit einem Stein am rechten Auge. Die Verletzung war schwer, Mauro trug eine lebenslange Sehbeeinträchtigung davon. Noch heute ist er enttäuscht, dass weder Bruno noch seine Eltern ihn im Spital besuchten und er nie eine Entschuldigung erhalten hat. Er bezeichnet Bruno daher als sonderbaren, eigenartigen Charakter. Ausserdem, so erinnert sich Cavagna, habe Bruno als Kind und Jugendlicher einen starken Überlegenheitssinn gezeigt.8 Diese Eigenschaft sollte auch später immer wieder durchscheinen, wie wir noch sehen werden.

Die beiden Sprösslinge blieben allerdings in ihrer Jugend eng miteinander verbunden. Auch Vater Guido Cavagna zeigte sich nach Breguets Verhaftung in Israel nicht nachtragend. In einem Schreiben, das vor Gericht den guten Charakter des verhinderten Bombenlegers attestieren sollte, kam er zum Schluss, dass seine Beurteilung von Bruno Breguet nur positiv ausfallen könne.9 Einige Jahre später rühmte er ihn in einer Ansprache im Tessiner Grossen Rat sogar als gutes Beispiel für Idealismus.10

«Es ist nicht ganz einfach, vom Terroristen Breguet Bruno ein Bild zu zeichnen, das ihm gerecht wird», beschied einmal ein Kommissar des Tessiner Nachrichtendiensts seinen Kollegen bei der Bundespolizei (BUPO)

Abb. 2: An der Via Mondacce in Minusio, hoch über dem Lago Maggiore, thront das Elternhaus von Bruno Breguet.

mit einem resignierenden Seufzer, der wohl durch den Gotthard zu hören war.11 Grundsätzlich kann man dem Commissario zustimmen. Wenn man indes mit den Leuten spricht, die Breguet damals näher gekannt haben, ergibt sich zumindest ein sehr klares Bild, was seinen Charakter und sein Verhalten als Jugendlicher betrifft. Bruno Breguet war sanft, sehr freundlich, bisweilen herzlich, korrekt und versuchte stets Konfrontationen zu vermeiden. Gleichzeitig war er verschlossen, schüchtern, zurückhaltend, fast schon ängstlich. Er sprach wenig, erst recht nicht über sich.

Nach fünf Jahren an der Primarschule in Minusio besuchte Breguet ab dem Sommer 1963 das Gymnasium in Locarno, wo man ihm nach fünf weiteren Jahren ein Abschlusszeugnis in die Hand drückte. Im Sommer 1968 wechselte er ans kantonale Liceo in Lugano, um eine Matura – das Schweizer Pendant zum Abitur – vom mathematisch-naturwissenschaftlichen Typus C anzustreben. Dazu pendelte Breguet jeden Wochentag morgens vom Elternhaus in die Tessiner Metropole und abends zurück an die Via Mondacce. Beim Liceo selbst handelte es sich um ein grosses Gebäude, noch aus dem 19. Jahrhundert, das zwar nur wenige Schritte vom Luganersee mit seinem mediterranen Flair entfernt lag, dessen Gänge aber kalt und dunkel waren. In den Nischen lauerten die Büsten von Tessiner und italienischen Persönlichkeiten, die die Schüler reglos anglotzten, wenn sie aufgeschreckt vom ohrenverletzenden Klang eines uralten Gongs in die Klassenzimmer eilten.12

Bruno zählte zu den besten Schülern. Er war fleissig, intelligent und kreativ. Selbst als sich die Absenzen mehrten, konnte er mit der Klasse scheinbar mühelos mithalten. «Aus ihm hätte etwas werden können. Das Zeug dazu hätte er gehabt», urteilte der Vizedirektor des Liceo, ein Signore Caccia, nach Breguets Verhaftung in Israel etwas wehmütig.13 Zweimal musste er im Unterricht eine Präsentation halten. Einmal sprach er zur Nuklearenergie, einmal über den Vietnamkrieg, der da mals seinen blutigen Höhepunkt erreichte.14 Gelegentlich schwärmte er von Südamerika und Kuba.15 Ein Mitschüler erinnert sich ausserdem an eine gemeinsame Recherche zu Albert Camus in der Bibliothek. Bruno sei vom französischen Existenzialisten begeistert gewesen.16 So weit, so zeitgeistig.

Obwohl schüchtern, schweigsam und verschlossen, war Bruno in seiner Klasse nie isoliert. Er stand mit allen auf gutem Fuss, und die ihm eigene Hilfsbereitschaft zeigte sich, wenn er die Kommilitonen bei den

Schulaufgaben unterstützte.17 Grundsätzlich habe unter den Klassenkameraden ein Klima des Respekts geherrscht, Rüpel und Raufbolde hätten keine ihr Unwesen getrieben, erinnert sich Graziano Monzeglio, der heute als Tonexperte in der Filmbranche tätig ist.18 Bruno war aber im Grunde ein Einzelgänger. In der Mittagspause ging er nicht mit den anderen essen. Stattdessen zog er sich zum Lernen in das örtliche Pensionszimmer zurück, das der Klassenkamerad Monzeglio bewohnte und ihm für diese Stunden als Refugium zur Verfügung stellte.19 Generell lernte Bruno sehr viel. Abends ging er fast nie aus. An Partys war er nie anzutreffen. Er rauchte nicht, trank keinen Alkohol.20 Stattdessen las und lernte er.

Auch amouröse Beziehungen unterhielt Breguet damals nicht, obwohl viele Mädchen dem blendend aussehenden und zuvorkommenden jungen Mann Avancen machten. Doch Bruno war zu schüchtern und vielleicht auch nicht interessiert.21 Immerhin entwickelte er zwei Schulfreundschaften: Da war einerseits Gianni Quattrini, sein Banknachbar aus der hintersten Reihe, der den sensiblen, belesenen und ihn schulisch unterstützenden Bruno als Kameraden sehr interessant fand. Der begnadete Sänger Quattrini mag wohl auch an Breguets Form des leisen Widerstands im Klassenzimmer seine Freude gehabt haben. Immer wenn ein Lehrer etwas sagte, das Bruno nicht passte, stimmte er sotto voce die Internationale an – die einzige Musik, die ihm gefiel, wie sich Quattrini erinnert.22 Andererseits war da noch Pio Bianchini, von dem noch die Rede sein wird. Die drei Freunde verbrachten viel Zeit zusammen, in der Schule und abends bei Spaziergängen. Bruno sprach dabei viel über Kommunismus und von Che Guevara. Gianni gab er Ches Buch Der Partisanenkrieg zur Lektüre, in der Schule diskutierten sie zusammen über das Werk.23

Zu Hause unterstützte Bruno die Mutter in der Küche. Noch heute erinnert man sich an die «Biscotti», die er für Familienmitglieder und Bekannte gebacken hat. In freien Stunden, vor allem in den langen Sommerferien, half er seinem Vater bei der Arbeit, lernte dessen Metier. Mit seinen geschickten Händen baute er unter anderem schon bald selbstständig kleine Mauern.24 Ob zum Guten oder zum Schlechten, sein handwerkliches Talent sollte in allen Etappen seines Lebens durchscheinen.

Breguets Politisierung war insofern typisch für die Generation «68». «Man kann die Gründe nicht verstehen, die dazu führten, dass ich so viel Zeit in israelischen Gefängnissen verbracht habe, wenn man sich nicht die politische Atmosphäre vergegenwärtigt, die in Europa gegen Ende der

1960er-Jahre geherrscht hat», erklärte er einige Jahre später selbst in einer autobiografischen Schrift.25

Breguet las denn auch nicht nur Bücher von Che Guevara, sondern verschlang auch die Schriften vieler sozialistischer und antikolonialistischer Vordenker wie Mao, Lenin oder Frantz Fanon.26 Zudem liess er sich einschlägige Periodika an die Via Mondacce liefern, zum Beispiel aus Havanna die ab 1967 monatlich in Spanisch herausgegebene Zeitschrift Pensamiento critico oder aus Hanoi die französischsprachige Wochenzeitung Le Courrier du Vietnam. Der Vietnamkrieg war für Breguet, wie für so viele der aufstrebenden Neuen Linken, ein herausragendes Ereignis bei der politischen Bewusstseinsbildung.27

Eine besonders interessante Publikation in Breguets Privatbibliothek stellte die ebenfalls auf Kuba produzierte Zeitschrift Tricontinental der Organization of Solidarity with the Peoples of Africa, Asia, and Latin America (OSPAAAL) dar.28 Diese Allianz gegen den Imperialismus war im Januar 1966 von den Delegierten zumeist linker militanter Bewegungen aus 82 Ländern an der Trikontinental-Konferenz in Havanna gegründet worden. «Für mich», erklärte Breguet, «bedeutete jenes Ereignis den symbolischen Beginn einer neuen Perspektive im Kampf für die Befreiung aller vom Imperialismus unterdrückter Völker.»29

Die idealistische Vision von OSPAAAL, so beschreibt es die Wissenschaftlerin Anne Garland Mahler, war die «eines interkontinentalen Austausches, der zu einer global vereinten und sich gegenseitig unterstützenden Front» gegen den gemeinsamen imperialistischen Feind führen sollte.30 Durch die Verteilung von grafisch oftmals beeindruckenden und deshalb propagandistisch wirkungsvollen Plakaten, Filmen und Zeitschriften wie Tricontinental entwickelte sich OSPAAAL in den späten 1960er-Jahren zu einer treibenden Kraft des transnationalen Linksradikalismus und seiner politischen Kultur. Breguet jedenfalls gelangte durch die Auseinandersetzung mit ihren medialen Erzeugnissen zur Überzeugung, dass der Kampf für den Sozialismus von ausserhalb der Industriestaaten geführt werden musste.31 An den Trikontinentalismus angelehnt war auch die für seinen Weg zur PFLP letztlich wichtige Vorstellung, dass sich die Welt bereits mitten im Dritten Weltkrieg befand, da alle linken bewaffneten Gruppen rund um den Globus gemeinsam für die Weltrevolution kämpften.32

Die Einrichtung von Brunos Schlafzimmer, als er im Juni 1970 seine Reise nach Haifa antrat, bot einen materiellen Spiegel dieser Geisteswelt.

Den seltenen Besuchern blickte Che Guevara von einem schwarzweissen Porträtfoto entgegen, die Wände waren tapeziert mit dem Manifest «Frantz Fanon, fils de la violence» von Jean-Paul Sartre und einer grossen, farbigen Landkarte von Südamerika (Massstab 1:800 000). Zentral an einem Nagel hing eine kleine, nur leicht gerundete und ansonsten rechteckige Bronzeplakette der PFLP: Die eine Hälfte bildete Palästina ab, die andere einen Guerillakämpfer mit einer Inschrift auf Arabisch und Englisch: «Wir werden den Feind überall bekämpfen.»33

Zu Breguets propalästinensischer Radikalisierung kam es allerdings erst, als der Nahostkonflikt plötzlich und mit voller Wucht die scheinbar neutrale Schweiz erfasste. Er wurde zugleich Akteur und Spielball jener Schweizer Terrorjahre.

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