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1969: Als der Nahostterrorismus in die Schweiz kam

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Via Mondacce

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Die Gründung der PFLP – der Organisation, die Breguet auf seine verhängnisvolle Mission nach Israel schickte – war unmittelbar eine Folge des Junikriegs von 1967, jenen sechs Tagen aus Blut und Feuer, die den Nahen Osten für immer veränderten. Die Ursprünge der Organisation reichen aber weiter zurück und sind eng verwoben mit der politischen Entwicklung der Region in der Nachkriegszeit. Denn personell, ideologisch und hinsichtlich der politischen Zielsetzung war die PFLP ein Sprössling der Bewegung der Arabischen Nationalisten (BAN), die sich 1954 in Beirut um die pittoreske American University (AUB)1 formierte.

Die BAN bestand aus einer Gruppe von Intellektuellen aus verschiedenen arabischen Ländern, in der Mehrheit palästinensische Studierende und Absolventen der AUB, die über linke Politik, Marxismus und PanArabismus diskutierten.2 Den israelisch-palästinensischen Konflikt betrachteten sie nicht isoliert, sondern interpretierten ihn im Kontext von Kapitalismus, Imperialismus, Kommunismus und revolutionärem Kampf. Unter den Gründern und der operationellen Führung der BAN ragten zwei palästinensische Medizinstudenten hervor, die später die Geschicke der PFLP bestimmen sollten: George Habasch und Wadi Haddad. Nach ihrem Abschluss an der AUB zogen die beiden orthodoxen Christen weiter in die jordanische Hauptstadt Amman, wo sie für eine Weile eine Praxis für Bedürftige betrieben. Bald wandten sie sich allerdings ganz der politischen Arbeit zu.

Im Sechstagekrieg von 1967 fügte Israel seinen arabischen Gegnern eine vernichtende militärische Niederlage zu. Israelische Truppen besetzten das von Jordanien verwaltete Westjordanland, den ägyptisch regierten Gazastreifen sowie die syrischen Golanhöhen und entrissen Ägypten für die nächsten 15 Jahre die Kontrolle über die Sinai-Halbinsel. Dies führte bei den bewaffneten palästinensischen Organisationen zu der Erkenntnis, dass sie für einen Sieg über den israelischen Staat nicht auf die arabischen Armeen zählen konnten, sondern ihr Schicksal vielmehr in die eigene Hand nehmen mussten. Zu diesem Zweck schlossen sich in den Monaten

nach dem Sechstagekrieg die beiden bewaffneten Flügel der BAN, Vengeance Youth und Heroes of the Return, sowie die zuvor eigenständige, paramilitärische Palästinensische Befreiungsfront (PLF) von Ahmed Jibril3 zur PFLP zusammen.4

Unter der Führung des charismatischen George Habasch wurde die neue Gruppierung 1968 Mitglied der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) – der Dachorganisation zahlreicher politscher Gruppen, die durch den bewaffneten Kampf die Schaffung eines palästinensischen Staates anstrebten und die den exklusiven Anspruch erhob, das palästinensische Volk zu vertreten. Hinsichtlich Grösse und Einfluss wurde die PFLP innerhalb der PLO lediglich von Jassir Arafats Fatah übertroffen.5

Ideologisch oszillierte die PFLP zwischen drei mächtigen Weltanschauungen, dem (palästinensischen) Nationalismus, dem Pan-Arabismus und dem Sozialismus.6 Zumindest in den frühen Jahren war das Denken der Gruppe stark vom Maoismus geprägt. Ihr Manifest vom Februar 1969, The Strategy for the Liberation of Palestine, lehnte sich entsprechend eng an Maos Schrift Analysis of the Classes in Civil Society an.7 Ideologische Orientierungshilfe bezogen die PFLP-Aktivisten ausserdem von Che Guevaras Lehre vom Guerillakrieg,8 die zur gleichen Zeit im Tessin auch Breguet studierte.

Die PFLP kämpfte in erster Linie für einen palästinensischen Staat. Sie bekannte sich aber nicht ausschliesslich zum kompromisslosen bewaffneten Kampf gegen Israel. Neben diesem nahen Feind nahm die Gruppe von ihrem Hauptquartier in Amman auch weiter entfernte und abstraktere Feinde ins Visier, weil diese als eine Unterstützungsstruktur Israels wahrgenommen wurden: «reaktionäre» arabische Regimes, die globale zionistische Bewegung und der Imperialismus weltweit. Jede Strategie zur Beseitigung Israels musste sich deshalb auch mit diesen fernen Feinden auseinandersetzen.

Mit diesem ideologischen Spike-Protein war die PFLP empfänglich für transnationale Verbindungen mit radikalen Gruppen der Neuen Linken im Westen und in Japan. In ihrem Selbstverständnis sah sich die PFLP auch von Anfang an unzertrennlich mit anderen revolutionären Kräften verbündet: «Die palästinensische Revolution, die mit der arabischen Revolution und im Bündnis mit der Weltrevolution verschmolzen ist, ist allein in der Lage, den Sieg zu erringen. Die palästinensische Revolution auf die Grenzen des palästinensischen Volkes zu beschränken, würde ein

Scheitern bedeuten, wenn wir uns an die Natur der feindlichen Allianz erinnern, der wir gegenüberstehen.»9

Die Palästinenser waren demzufolge auf Verbündete angewiesen, um die starke Allianz zwischen Israel und seinen Helfern besiegen zu können. Gleichzeitig sah die PFLP in der Befreiung Palästinas einen wesentlichen Katalysator für revolutionären Wandel im Nahen Osten und darüber hinaus. Durch diese Linse betrachtet erschien der Kampf der Palästinenser als lediglich einer von zahlreichen revolutionären Brennpunkten in der Dritten Welt.10 Es ist wenig erstaunlich, wenn eine solche Konzeptualisierung des bewaffneten Kampfs bei Breguet auf Anklang stiess, war sein Denken doch seinerseits von der Vorstellung geprägt, dass die linken bewaffneten Gruppen überall auf der Erde in einem Dritten Weltkrieg gemeinsam für die Revolution kämpften.

Die Terrorismusstrategie der PFLP Wie die Fatah führte auch die PFLP nach ihrer Gründung zunächst von Jordanien aus Guerillaangriffe in Israel durch. Im Frühling 1968 stellte sie mit einigen Tausend Kämpfern eine stattliche Streitkraft.11 Doch die Organisation hielt die Überfälle über die Grenzen bald für ineffektiv und zu verlustreich, weshalb sie rasch ihre Taktik änderte. Wadi Haddad baute innerhalb der PFLP eine klandestine Einheit auf, die «externe Operationen», sprich spektakuläre Anschläge ausserhalb des Nahen Ostens, durchführen sollte, um die öffentliche Aufmerksamkeit im Westen auf das Schicksal der Palästinenser zu lenken.

Haddad hatte den kommunikativen Charakter dieser neuen Gewaltstrategie bereits an einer Sitzung der PFLP-Führung im Dezember 1967 deutlich gemacht: «Ich meine spektakuläre Einzeloperationen. Diese werden die Aufmerksamkeit der Welt auf die Palästinafrage lenken. Die Welt wird fragen: ‹Was ist das Problem in Palästina? Wer sind diese Palästinenser? Warum tun sie so etwas?› […] Am Ende wird die Welt das Problem satthaben. Sie wird zu dem Schluss kommen, dass mit Palästina etwas geschehen muss. Sie wird uns Gerechtigkeit geben müssen.»12

Die spektakulären Gewaltakte, die sich in den folgenden Jahren insbesondere gegen zivile Passagierflugzeuge richten sollten, zielten damit in erster Linie darauf ab, die Wahrnehmung des Nahostkonflikts in der westlichen Öffentlichkeit grundlegend zu verändern: Die Palästinenserfrage

sollte nicht länger als Flüchtlingsproblem, sondern als politischer Konflikt gesehen und die PLO damit als legitime nationale Befreiungsbewegung etabliert werden. «Die Weltöffentlichkeit war nie für oder gegen uns, sie hat uns einfach immer weiter ignoriert», lamentierte der eloquente PFLPGeneralsekretär Habasch.13 Der öffentlichkeitsscheue Haddad, der Ge heimnisse und Intrigen liebte, sollte dies mit terroristischen Anschlägen in Europa ändern. Oder, wie der britische Journalist David Yallop einst die neue Rollenverteilung der beiden langjährigen Weggefährten beschrieb: «Dr. Habasch gab seiner Organisation die intellektuelle Begründung, während sein Arztkollege Wadi Haddad der Mann war, der durch seine Aktivitäten Habasch eine Weltbühne für seine Rhetorik verschaffte.»14

Haddads erster Streich erfolgte am 23. Juli 1968. «Wir sind Palästinenser, und wir haben Ihren Flug übernommen», verkündeten drei als Priester verkleidete Attentäter, die an jenem Tag den El-Al-Flug 426 von Rom nach Tel Aviv in ihre Gewalt brachten und nach Algier entführten.15 Die Luftpiraten verlangten die Freilassung von 100 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen. Nach 40 Tagen knickte eine verunsicherte israelische Regierung schliesslich ein und stimmte der Freilassung von 16 Gefangenen zu.

Die Schweiz, zumindest die diplomatische, wurde bereits in diese erste palästinensische Geiselkrise hineingezogen.16 In Algier hatte nach der Landung der entführten Maschine nämlich die algerische Regierung die Kontrolle übernommen. Während alle Frauen, Kinder und nicht israelischen Passagiere umgehend nach Frankreich ausgeflogen wurden, hielten die Behörden die übrigen Fluggäste sowie die Besatzung in einem Hotel in der Hauptstadt fest und verhandelten mit der israelischen Regierung über ihre Freilassung. Als die El-Al-Crew Mitte August immer noch in Algier festsass, beschloss die International Federation of Air Line Pilots’ Associations (IFALPA) Mitte August einen Boykott der algerischen Flugplätze. Durch diesen Entscheid der internationalen Vertretung der Pilotenschaft waren scheinbar auch die Flüge der Swissair nach Algerien infrage gestellt.

Dies rief wiederum eine scharfe Reaktion der algerischen Regierung hervor, die nach einem Austausch auf diplomatischer Ebene in einem Telegramm des algerischen Aussenministers (und 2019 gestürzten Präsidenten) Abd al-Aziz Bouteflika an Bundespräsident Willy Spühler gipfelte. Die Algerier machten klar, dass sie eine Beteiligung der Swissair am Boykott als «unfreundliche Haltung der schweizerischen Regierung» auf-

fassen würden, die «politische Konsequenzen» haben könne. Dem Einwand des Schweizer Botschafters in Algier, dass die Schweizer Regierung gegenüber den Swissair-Piloten kaum Druckmöglichkeiten besitze, wurde wenig Verständnis entgegengebracht.17

Hinter den Kulissen übte die Schweizer Regierung jedoch durchaus Einfluss auf die Swissair aus und bewirkte eine Haltungsänderung. Dass man sich bei der Fluggesellschaft nun gegen den Boykott stellte, löste wiederum lebhafte israelische Reaktionen gegenüber der Schweiz aus, was vor allem die Swissair in eine schwierige Situation gebracht habe, wie man im Eidgenössischen Politischen Departement (EPD) konstatierte.18 Als die Boykottaktion bereits nach wenigen Tagen abgebrochen wurde, löste sich das Problem schlagartig. Dass die Schweiz in der Geiselkrise zwischen die Fronten der politischen Erwartungen geriet, die arabische Staaten auf der einen und Israel auf der anderen Seite an sie richteten, war allerdings ein Vorbote der Dinge, die da kommen sollten.

Einige Monate später, am Zweiten Weihnachtsfeiertag, beschossen zwei Attentäter der PFLP auf dem Rollfeld des Flughafens von Athen einen Jet der El Al, der sich gerade für den Weiterflug nach New York bereit machte. Ein Passagier starb im Kugelhagel, eine Stewardess wurde schwer verletzt. Die Angreifer wurden verhaftet und verurteilt. Es war der erste tödliche Anschlag einer Palästinenserorganisation ausserhalb des Nahen Ostens.19 Nur zwei Tage später schlug Israel zurück: Spezialeinsatzkräfte der Armee zerstörten bei einem Überfall auf den belebten internationalen Flughafen Beirut mehr als ein Dutzend Maschinen ziviler libanesischer Fluggesellschaften. Der finanzielle Schaden war riesig und die Lebanese International Airways musste daraufhin ihren Betrieb einstellen. Politisch schwächte der Angriff die christlich geführte libanesische Regierung und verstärkte die Spannungen zwischen ihr und den bewaffneten palästinensischen Organisationen.20

Das US-Aussenministerium verurteilte den Angriff gegenüber der israelischen Regierung in schärfsten Tönen als «eine gefährliche Eskalation», die «in keinerlei Verhältnis zur Provokation» stehe.21 In Paris schäumte Präsident Charles de Gaulle vor Wut, weil das Kommando mit französischen Helikoptern eingeflogen worden war, und verhängte ein Waffenembargo gegen Israel.22 Doch die Gewaltspirale drehte sich weiter, denn nun sahen sich die Palästinenser wieder zu einem Racheakt verpflichtet.

Das El-Al-Attentat am Flughafen Zürich Am 18. Februar 1969 schlug die PFLP erneut zu. Kurz nach halb sechs eröffnete ein vierköpfiges Kommando von einem Parkplatz des Zürcher Flughafens Kloten das Feuer auf eine Linienmaschine der El Al, die gerade zur Startbahn rollte. Die Boeing 720 sollte durch die Schüsse zum Stillstand gebracht werden. Gemäss ihrem Einsatzbefehl hätten die Attentäter, die in einem mehrwöchigen Trainingskurs im Nahen Osten speziell für diesen Anschlag ausgebildet wurden,23 die Maschine danach evakuieren und schliesslich zur Explosion bringen sollen. Doch die Sache lief nicht nach Plan.

Seit der Entführung von Flug 426 im Sommer 1968 wurden nämlich sämtliche Flüge der El Al von Air Marshalls des israelischen Inlandsgeheimdiensts Schin Bet begleitet. Der Sicherheitsbegleiter von Flug 432 an diesem Tag war der erst 22-jährige Mordechai Rachamim. Im Alter von vier Jahren war er mit seiner Familie vom Irak in den jungen Staat Israel ausgewandert, wo er in bescheidenen Verhältnissen in einem Kibbuz aufgewachsen war. Im Sechstagekrieg hatte er als Fallschirmjäger gegen die arabischen Armeen gekämpft und sich so für die Aufgabe empfohlen, Flugzeuge der El Al gegen weitere Überfälle palästinensischer Kommandos zu verteidigen.24 Genau dies tat Rachamim nun. Von einem Fenster des Cockpits begann er zurückzuschiessen, während neben ihm der von einer Kugel im Bauch getroffene Kopilot lag. Der junge Familienvater sollte fünf Wochen später im Kantonsspital Zürich seinen Verletzungen erliegen.25

Wegen Rachamims Gegenwehr konnte sich das PFLP-Kommando nicht wie geplant dem Flugzeug nähern. Stattdessen ging der Sicherheitsmann in die Offensive. Über die Notrutsche verliess er die mit 62 Maschinengewehrkugeln durchsiebte Maschine, rannte mit seiner Pistole der Marke Beretta über das Rollfeld, kletterte über die Umzäunung und stürmte auf den Parkplatz, von dem die Schüsse gekommen waren. Dort wurden die Attentäter gerade von Beamten der Feuerwehr, des Verkehrsdiensts sowie der unmittelbar danach ebenfalls am Tatort eingetroffenen Feuerwehr entwaffnet.26 Zwischen Rahamim und einem der Attentäter, Abdel Mehsen, entspann sich eine kurze Auseinandersetzung, in deren Folge der israelische Sicherheitsmann den Palästinenser mit drei Schüssen tötete. Rahamim sollte später aussagen, dass Mehsen ihn mit einem Sturmgewehr im Hüftanschlag bedroht hatte.

Allerdings hatte keine der anderen Personen, die sich während der tödlichen Schüsse am Tatort befanden, bei Mehsen zu diesem Zeitpunkt noch eine Waffe gesehen.27

Die Lebensläufe der drei überlebenden Attentäter waren charakteristisch für viele PFLP-Kämpfer in den Jahren nach dem Sechstagekrieg. Sie waren geprägt von Vertreibung, Armut, Hunger und Gewalt. «Seit dem Jahr 48 bis heute […] fühlten wir nie Bequemlichkeit, Sicherheit und Frieden»,28 klagte Mohamed El Heiga mit Verweis auf die Nakba (arabisch für «Katastrophe» oder «Unglück»), die Flucht und Vertreibung von über einer halben Million arabischer Palästinenser aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina während des ersten arabisch-israelischen Kriegs. Der dreijährige El Heiga erlitt eine schwere Kopfverletzung, als er aus seinem Geburtsdorf bei Haifa fliehen musste. Mit seiner Familie schlug er sich zunächst ins Westjordanland durch und von dort weiter nach Syrien. Seine Kindheit in den Flüchtlingslagern von Darah und Damaskus war von Hunger und Krankheit gezeichnet. El Heiga konnte zwar eine Ausbildung zum Automechaniker machen, fand aber keine Arbeit. So stiess er schliesslich zur 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsarmee (PLA), deren syrische Brigade unter Kontrolle der dortigen Regierung stand. El Heiga erhielt zunächst eine Ausbildung in der syrischen Armee, worauf er knapp drei Jahre als Instrukteur in der PLA tätig war. Nach dem Sechstagekrieg schloss er sich der PFLP an und unterstützte als Assistent den Kommandanten einer dreissig Mann starken PFLP-Einheit in Jordanien.29

Ibrahim Youssef, der älteste Attentäter, war bereits elf Jahre alt, als sein Vater, ein Beamter im britischen Hochkommissariat, beim Bombenanschlag auf das King David Hotel in Jerusalem getötet wurde.30 Dem Angriff der politisch rechtsstehenden zionistischen Untergrundorganisation Irgun, der in der Forschung als einer der tödlichsten Terroranschläge des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird,31 fielen am 22. Juli 1946 91 Menschen zum Opfer, die meisten von ihnen Zivilisten. Der Krieg von 1948 führte Youssefs Familie nach Ostjerusalem, wo ihr Leben gemäss dem PFLP-Kämpfer aus «Qual und Elend und Bitterkeit»32 bestand. Nach einigen Jahren als Schreiberling in der jordanischen Armee zog der römische Katholik Anfang der 1960er-Jahre nach Kuweit, wo er als Funker bei der Feuerwehr tätig war. Seine Frau und die drei Kinder, die er in Ostjerusalem zurückgelassen hatte, wurden während des Sechstagekriegs nach Jor-

danien vertrieben, wo sie seitdem in einem Zeltlager für palästinensische Flüchtlinge bei Amman lebten. Die Ereignisse des Juni 1967 politisierten Youssef, der bis zu seiner Rekrutierung für den Anschlag in Kloten politische Arbeiten für die PFLP in Kuweit ausführte.

Amena Dahbor schliesslich war erst einjährig, als ihre Familie 1948 aus einer von Zitrusblumen umgebenen Ortschaft in der Nähe von Lod in den Gazastreifen flüchten musste.33 Dort lebten die Dahbors in äusserst prekären Verhältnissen. Als Israel im November 1956 im Zuge der Suezkrise erstmals den von Ägypten verwalteten Gazastreifen besetzte, geriet Amenas Vater in einen israelischen Bombenangriff und wurde auf der Flucht von Splittern getroffen. Die Arbeitsunfähigkeit des Vaters bedeutete, dass die neunjährige Amena nun mit Handarbeiten zum Unterhalt der Familie beitragen musste. Dennoch gelang ihr ein Jahrzehnt später ein Maturabschluss. In der Frauenarmee hatte sie zudem eine militärische Ausbildung erhalten. 1967 kehrten die israelischen Truppen zurück in den Gazastreifen. Amena Dahbor landete auf einer Fahndungsliste und flüchtete nach Amman, wo sie in einer Zigarettenfabrik arbeitete. Als das israelische Militär erkannte, dass Dahbor ihnen entwischt war, wurde ihre Familie ohne Hab und Gut an die jordanische Grenze gestellt. In Amman lebten die wiedervereinten Dahbors erneut in einem Zeltlager, «in Erwartung, eine kleine Hilfe zu bekommen, ohne Kleidung, ohne Nahrung, auch ohne Haushaltsartikel».34

Als auch dieses Flüchtlingslager bombardiert wurde, floh die Familie nach Karameh. Die Ortschaft in der Nähe des Jordan wurde im März 1968 zum Schauplatz einer mythischen Schlacht.35 Seit dem Sechstagekrieg hatten palästinensische Guerillas Karameh als Ausgangspunkt für Angriffe im von Israel besetzten Westjordanland genutzt. Israel wollte diesen Stützpunkt niederwerfen, und so überquerte am 21. März eine grosse Kolonne israelischer Panzer und Infanterie den Jordan, drang auf jordanisches Staatsgebiet vor und machte sich an die Einnahme von Karameh. Die von Jasser Arafat geführte Fatah tat aber nicht, was Guerillas in solchen Situationen immer tun – sich zurückziehen und neu formieren –, sondern leistete völlig überraschend Widerstand. Die israelische Armee konnte die Ortschaft zwar weitgehend zerstören, musste sich aber nach einem stundenlangen Feuergefecht unter dem vereinten Druck von Guerilla und jordanischer Armee zurückziehen.

Aus rein militärischer Sicht war die Schlacht kein Sieg für die Palästinenser. 28 toten und 90 verwundeten israelischen Soldaten standen je etwa 100 tote und verletzte palästinensische Kämpfer gegenüber. Ausserdem wanderten 40 bis 66 in israelische Gefangenschaft. Die Fatah hatte damit mit einem Schlag beinahe die Hälfte ihrer Vollzeitkämpfer verloren.36 Ausserdem hatten die israelischen Truppen grosse Teile von Karameh systematisch zerstört. Dank cleverer Inszenierungen und einer gerissenen Manipulation der Medien durch die Guerillas verwandelte sich die Schlacht von Karameh in arabischen Augen aber in kürzester Zeit in einen grossen politischen und psychologischen Erfolg. Vier ausgebrannte Panzer, die die Israeli zurückgelassen hatten, wurden in Triumphzügen durch die Strassen von Amman und Salt zur Schau gestellt.

Das Bild der scheinbar unbezwingbaren israelischen Armee war er schüttert. Dagegen stieg das Ansehen der Guerillas, die gegen einen übermächtigen Gegner die Stellung gehalten hatten. Nach Karameh strömten jede Woche Tausende Palästinenser aus den jordanischen Flüchtlingslagern zu den Rekrutierungsbüros der Fatah. Unter ihnen war auch Amena Dahbor, die unterdessen von der Gewalt in Karameh zurück in ein Lager bei Amman geflüchtet war und in einer Schule des UNO-Hilfswerks als Lehrerin arbeitete. Sie schloss sich der Fatah an, wechselte nach kurzer Zeit allerdings in die Reihen der PFLP.

Die Lebenserfahrungen der PFLP-Kämpfer, die im Februar 1969 am Flughafen Zürich eine El-Al-Maschine unter Beschuss nahmen, und die Bruno Breguets hätten nicht unterschiedlicher sein können. Es waren aber gerade solche Schicksale von palästinensischen Flüchtlingen wie El Heiga, Youssef oder Dahbor sowie die von ihnen verkörperten «Zustände der Not und des Elends, die dem palästinensischen Volk in den Flüchtlingslagern auferlegt werden»,37 die im Kopf des Tessiner Gymischülers den Gedanken säten, sich für die Sache der Palästinenser zu engagieren.

Die PFLP wiederum hatte die Mitglieder des Klotener Kommandos als Teil ihres kommunikativen Kalküls ganz bewusst aufgrund ihres je weiligen biografischen Hintergrunds ausgewählt. «Die Teilnahme eines Flüchtlingsmädchens aus Gaza an dieser Operation», so lautete eine Erklärung auf einem Flugblatt, das man bei den Attentätern sicherstellte, sei die Antwort arabischer Frauen auf die «Bestialitäten», die israelische Fallschirmjäger im Sechstagekrieg gegen «die Frauen von Gaza» verübt hätten.38

Um die mediale Prominenz der Attentäter zu gewährleisten, weihte Mastermind Wadi Haddad den ägyptischen Journalisten Saad Fuad im Vorfeld über die geplante Aktion ein und sandte ihn nach Zürich. Fuad leistete in der Limmatstadt zunächst logistische Unterstützung bei den Anschlagsvorbereitungen, ehe er unmittelbar vor dem Gewaltakt neben dem Flughafengelände eine Fotoserie der Attentäter schoss. Die Bilder veröffentlichte er zehn Tage später zusammen mit einem Artikel über das Klotener Attentat in der Kairoer Wochenzeitschrift Al-Musawar. 39 Es ist anzunehmen, dass Fuad eigentlich zwecks spektakulärer medialer Inszenierung vor allem die Explosion der El-Al-Maschine fotografisch festhalten sollte. Dazu ist es in Zürich dank des entschiedenen Eingreifens des Sicherheitsmanns Rachamim aber nicht gekommen. Erst ein halbes Jahr später, als ein Kommando unter der Führung von Leila Khaled den Flug 840 der Trans World Airlines (TWA) nach Damaskus entführte, gelang es der PFLP, ein Passagierflugzeug in die Luft zu sprengen.

Mit dem Anschlag am Flughafen Kloten brach der Nahostkonflikt unvermittelt über die Schweiz herein. Die Alpenrepublik, die im Dornröschenschlaf von Wirtschaftsboom, Zauberformelstabilität und Neutralitätsvertrauen schlummerte, war mitnichten darauf vorbereitet. Dies zeigte sich in den folgenden Monaten, als ein Unterstützungsnetzwerk der Attentäter das Ermittlungsverfahren und den Gerichtsprozess zur kommunikativen Fortsetzung des Kampfs nutzte, um die Öffentlichkeit von einer alternativen Version von Recht und Gerechtigkeit zu überzeugen.

Der Winterthurer Prozess Eine Weiterführung des Kampfs auf und neben dem juristischen Parkett war von Wadi Haddad von Anfang an geplant. Schliesslich wurde das Kommando im Einsatzbefehl für den Flughafenanschlag folgendermassen instruiert: «Die Waffen sollen fallen gelassen werden, sie sollen nach Zerstörung des Objekts den Verantwortlichen der Sicherheitsbehörden übergeben werden. Mit den Leuten der Sicherheitsbehörde darf kein Handgemenge stattfinden und man soll sich ihnen, nach Erledigung der Aufgabe, ergeben.»40

Die PFLP und ihre Verbündeten nutzten das sich über zehn lange Monate hinziehende Strafverfahren – das erste, das in einer westlichen Demokratie gegen palästinensische Attentäter geführt wurde –, um vor der

Schweizer Öffentlichkeit und der Weltgemeinschaft für die palästinensischen Anliegen zu werben. Dabei konnten sie auf eine längere militante Tradition zurückgreifen. Schon im 19. Jahrhundert hatten nämlich terroristische Gewalttäter wie der französische Anarchist Ravachol versucht, Gerichtsverhandlungen zur Weiterführung ihres politischen Kampfs auf anderer Bühne einzusetzen.41 Das PFLP-Unterstützungsnetzwerk bediente sich für die Politisierung des Verfahrens des Drehbuchs der défense de rupture. Dabei handelt es sich um eine juristische Strategie, die der französisch-algerische Anwalt Jacques Vergès, im Rückgriff auf Ideen kommunistischer Denker und Advokaten,42 1957 im Prozess gegen Djamila Bouhired von der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) popularisierte. 1968, im Jahr vor dem Anschlag auf die El Al in Kloten, theorisierte Vergès die Strategie in seinem einflussreichen Werk De la stratégie judiciaire.

Die défense de rupture bezweckt eine Umkehrung der Rolle von An kläger und Angeklagtem, von Staat und politischem Gewalttäter. Dabei klagt die Verteidigung den anklagenden Staat selbst bestimmter Verbrechen an – häufig der Ausübung struktureller Gewalt –, um so den Gewalttaten der Angeklagten eine neue, positive Bedeutung zuzuschreiben. Gleichzeitig sollte die Autorität des Gerichts grundlegend in Zweifel gestellt werden. «Das Ziel der Verteidigung ist nicht in erster Linie, den Freispruch des Angeklagten zu erwirken, sondern vielmehr seine Ideen ins Licht zu rücken», stellte Vergès klar.43 Wie schon der Name suggeriert, sah die Strategie ausserdem vor, einen Prozess mit fast allen denkbaren Mitteln zu stören. Bei der défense de rupture geht es mindestens so sehr darum, Verzögerungen des Verfahrens oder ein Durcheinander zu kreieren, als eine ernsthafte rechtliche Rechtfertigung der Angeklagten zu präsentieren. «Der Bruch [‹rupture›] bringt die ganze Struktur des Prozesses völlig durcheinander», erklärte Vergès die Strategie. «Im Vordergrund steht unvermittelt die brutale Anfechtung der öffentlichen Ordnung.»44

Die Anwälte übernahmen dementsprechend eine wichtige Funktion in der Kampagne nach dem Anschlag in Kloten. Vergès selbst sollte sich eigentlich federführend in die Verteidigung einbringen. Als er zusammen mit dem algerischen Anwalt und früheren Justizminister Amar Bentoumi Ende März 1969 ein Gesuch um Entlassung der drei Attentäter aus der Untersuchungshaft einreichte, wurde er allerdings kurzerhand von der Kantonspolizei Zürich verhaftet und des Landes verwiesen. Dazu kam es, weil die Schweizer Bundesanwaltschaft über das ehemalige Mitglied der

Kommunistischen Partei Frankreichs 1964 eine Einreisesperre verfügt hatte.45 Vergès musste sich deshalb damit begnügen, im Hintergrund Fäden zu ziehen, während zunächst andere im Rampenlicht standen.

Die PFLP hatte Jürg Meister, einen Zürcher Juristen alter Prägung, zur Verteidigung der drei Attentäter aufgeboten, während die Union der Arabischen Rechtsanwälte (UAA) den Zürcher Robert Treadwell sowie den hauseigenen Abderrahman Youssoufi mandatierte.46 Die Rolle der beiden Schweizer Anwälte Meister und Treadwell lässt sich am ehesten als die von Erfüllungsgehilfen bezeichnen, die bisweilen gegen ihre innere Überzeugung, deswegen aber nicht weniger konsequent, die Anliegen ihrer arabischen Auftraggeber vertraten.47 Sie legten schliesslich ihr Mandat nieder, noch bevor Ende November der Prozess vor dem Winterthurer Geschworenengericht begann.

Bis dahin lancierten die Schweizer Verteidiger allerdings eine Serie von Störaktionen, die die kleine Bezirksanwaltschaft Bülach, die die Ermittlungen führte, bisweilen an ihre Belastungsgrenzen brachte. Beispielsweise sorgten sie mit aufeinanderfolgenden Ausstandsbegehren gegen die beiden ermittelnden Bezirksanwälte Robert Akeret und Jürg Rehberg für Unruhe und Verzögerungen.48 Die Verteidiger deponierten im Zürcher Kantonsrat sogar ein Pamphlet gegen die Bezirksanwälte, die daraufhin beim Bundesgericht eine letztlich erfolgreiche Aufsichtsbeschwerde gegen Meister einreichten.49 Die im Hintergrund agierenden Anwälte der UAA bemängelten derweil in der arabischen Presse die Haftbedingungen der Attentäter, die im April zweimal in den Hungerstreik traten. Der daraus folgende Druck aus arabischen Staaten führte dazu, dass im Mai sogar eine Delegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) die PFLP-Kämpfer in der Untersuchungshaft besuchte.50

Die verschiedenen Störaktionen dienten in erster Linie dazu, die Arbeit der Bezirksanwaltschaft zu behindern und das Strafverfahren zu verzögern. Die dadurch gewonnene Zeit konnte das Sympathisantennetzwerk der PFLP nutzen, um durch eine Reihe von Side Shows,51 die etwa Pressekonferenzen, Zeitungsartikel, Pamphlete und Flugblätter, Hungerstreiks, Demonstrationen oder das Anrufen der Vereinten Nationen (UNO) umfassten, Propaganda zugunsten der radikalen Palästinenser zu verbreiten. Die Kampagne sollte Glaubwürdigkeit und Legitimität der Schweizer Justiz und der Untersuchungsbehörden untergraben und ihre

vermeintliche Voreingenommenheit für Israel aufzeigen, um so das Verfahren als einen politischen Prozess, die Attentäter als politische Gefangene darzustellen.52

Zur Verwirklichung dieser Strategie wurden zwei hauptsächliche Narrative propagiert. Erstens wurde eine ungleiche Behandlung der palästinensischen Gefangenen und Rachamims behauptet. Der israelische Sicherheitsmann war per Entscheid des Zürcher Obergerichts Ende März gegen den Willen der Bezirksanwaltschaft aus der Untersuchungshaft entlassen worden, nachdem Israel eine Kaution hinterlegt und garantiert hatte, dass Rachamim zum Prozess in Winterthur erscheinen würde.53 Die drei Attentäter der PFLP wurden dagegen bis zur Gerichtsverhandlung in Untersuchungshaft belassen, obwohl der algerische Staat sich ebenfalls zu einer entsprechenden Garantieerklärung sowie zur Übernahme der Kaution bereit erklärte.54

Bereits im April traten die El-Al-Attentäter als Protest gegen diese Ungleichbehandlung zweimal in den Hungerstreik. In Kairo demonstrierten derweil arabische Studenten vor der Schweizer Botschaft für die Freilassung der drei Palästinenser.55 Eine breitere Öffentlichkeit erreichte die Justizkontroverse im Juni. Der Lausanner Zweig des Comité de Soutien au Peuple Palestinien («Komitee zur Unterstützung des palästinensischen Volks», CSPP) brachte ein «Weissbuch» mit Untersuchungsakten der Bezirksanwaltschaft Bülach in Umlauf. Die sorgfältig zusammengestellten Auszüge aus den Aussagen Rachamims und der Zeugen am Tatort erweckten den Anschein, dass der Sicherheitsmann den vierten Attentäter kaltblütig exekutierte, als dieser bereits entwaffnet war. Das etwa zur gleichen Zeit zirkulierende Flugblatt Justice aveugle? («Blinde Justiz?») schlug in die gleiche Kerbe.56

Das kurz nach dem Anschlag in Kloten gegründete Lausanner CSPP stand unter der Leitung des französischen Antisemiten Roger Henry, der während des Zweiten Weltkriegs mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierte und in der Endphase des Algerienkriegs am Terrorismus der französischen Organisation Armée Secrète (OAS) beteiligt war.57 Sein Komitee war Teil einer Gruppe von propalästinensischen Organisationen, die zwischen 1967 und 1969 in der Schweiz aufgebaut wurden und in der transnationalen Solidaritätskampagne um das El-Al-Strafverfahren eine bedeutende Funktion ausübten. Ihre Mitglieder rekrutierten sich in erster Linie aus den Reihen der Neuen Linken.58 Diese stand Israel Ende der

1960er-Jahre, in durchaus bewusster Abgrenzung zur gemässigten, tendenziell proisraelischen Sozialdemokratie, zunehmend feindselig gegenüber.59 Die Neue Linke, zugleich Zielgruppe wie Sprachrohr der Propagandakampagne, war in den Palästinakomitees allerdings nicht unter sich. Wie der Fall des CSPP zeigt, fanden sich unter dem Banner des Antizionismus auch rechtsextreme Aktivisten zusammen.

Die einzelnen Organisationen dieser kleinen Solidaritätsbewegung erhielten zumeist finanzielle Hilfe, logistische Unterstützung und Handlungsanleitungen vom Büro der Arabischen Liga in Genf und von Fuad Shamali,60 der seit 1968 als inoffizieller Vertreter der Fatah in der Schweiz seine Kreise zog. Ihre Abhängigkeit von Arabischer Liga und Fatah war so gross, dass der Schweizer Historiker Daniel Rickenbacher ihnen «teilweise eher den Charakter von Frontgruppen als von unabhängigen Organisationen» zumisst.61

Am 11. Juli legte das CSPP mit einer spektakulären Pressekonferenz in Lausanne nach. Roger Henry präsentierte den versammelten Journalisten nun direkt Auszüge aus dem Untersuchungsdossier gegen Rahamim und erklärte, dass ein Maulwurf innerhalb der Bezirksanwaltschaft Bülach die Unterlagen für 5000 Schweizer Franken an eine palästinensische Organisation verkauft habe. Dies wurde später als dreiste Lüge entlarvt. Die Genfer Polizei hörte nämlich ein Telefongespräch zwischen Henry und Shamali ab, aus dem hervorging, dass die Dokumente vom Fatah-Vertreter selbst kopiert worden waren. Shamali wiederum dürfte die Unterlagen von den Anwälten der UAA erhalten haben, die im Büro des offiziellen Verteidigers Robert Treadwell ein und aus gingen.62 Nichtsdestotrotz entfalteten die Aktionen eine gewisse Öffentlichkeitswirkung. Selbst der Tages-Anzeiger fragte kritisch: «Leisten sich die würdigen Herren der Anklagekammer den Luxus, politische Neigungen beim Haftentlassungsentscheid in Sachen Rachamim mitschwingen zu lassen?»63

Das zweite hauptsächliche Narrativ der Propagandakampagne um den El-Al-Prozess drehte sich um die Behauptung, dass die in Kloten angegriffene Maschine Waffen für das israelische Militär transportiert habe. Es gab keinerlei konkrete Anhaltspunkte, dass dieses Gerücht, das erstmals im Mai 1969 aus dem Unterstützungsnetzwerk der PFLP in Umlauf gebracht wurde, den Tatsachen entsprach.64 Dennoch hielt es sich hartnäckig bis zum Prozess vor dem Winterthurer Geschworenengericht, der am 27. November vor ungewohnt vielen Medienschaffenden begann.

Am 15. Dezember, während der finalen Phase der Gerichtsverhandlung, prangerte Jacques Vergès an einer Pressekonferenz in der Eulachstadt die parteiische Haltung der nur scheinbar neutralen Schweiz in der Affäre an. Gemäss dem umstrittenen Advokaten hätten die Schweizer Behörden nämlich absichtlich die militärische Funktion des El-Al-Flugs 432 ignoriert. Die PFLP-Kämpfer hätten das Flugzeug angegriffen, weil es für die israelische Armee bestimmte Waffen transportiert habe, wodurch es zu einem legitimen Angriffsziel geworden sei. Israel wiederum hätte mit der militärischen Fracht noch vor dem palästinensischen Kommando die Schweizer Neutralität verletzt.

Vergès hatte von der Schweizer Bundespolizei einen Passierschein erhalten, um dem Prozess in Winterthur als Beobachter beiwohnen zu können. Diese passive Rolle war ihm aber nicht genug. Er stellte mehrere Anträge, als Verteidiger der Attentäter zugelassen zu werden. Da ihm dies verwehrt wurde, hielt er sein Plädoyer statt im Gerichtssaal vor dem in Winterthur versammelten Journalistentross.65 Vergès’ Nebenvorstellung war eine von mehreren Pressenkonferenzen, die die Union der Arabischen Rechtsanwälte während des Prozesses im nahe beim Gerichtsgebäude gelegenen Gartenhotel Winterthur organisierte. Mit Vorverurteilungen Rachamims sollte dabei nochmals für Aufruhr gesorgt werden.66

Auf den Ausgang des Prozesses zumindest hatten diese Aktionen jedoch keinen Einfluss. Mohamed Abu El Heiga, Ibrahim Youssef und Amena Dahbor, die während der Verhandlung schwiegen, wurden am 22. Dezember 1969 zu je zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Mordechai Rachamim, für den die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen Totschlags gefordert hatte, wurde dagegen in allen Anklagepunkten freigesprochen.

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