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Erwin W. Heri
Das verlorene Jahrzehnt Und was Anleger daraus lernen sollten
Verlag Neue Z端rcher Zeitung
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© 2011 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlaggestaltung: Atelier Mühlberg, Basel Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: freiburger graphische betriebe, Freiburg i. Br. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-683-2 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
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Inhalt Prolog Einleitung
7 9
Teil I Etwas Geschichte kann nicht schaden
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Teil II Anlagepolitische GrundsatzĂźberlegungen
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Teil III Vier Themenkreise Konjunktur und Geldpolitik Marktentwicklung und Markteffizienz Die Finanzkrise Anlagestrategien und Anlageprodukte
Teil IV Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
67 69 97 113 136
163
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Einleitung Im Sommer 1990 erschien mein erstes populärwissenschaftliches Buch zu Geldund Anlagefragen mit dem Titel Was Anleger eigentlich wissen sollten. Es war quasi das Manuskript meiner ersten Vorlesung zu Finanzmarktfragen an der Universität Basel, die ab Mitte der 1980er-Jahre angeboten wurde. Finanz- und Anlagefragen waren zu jener Zeit absolute Boom-Themen. Aus den USA herüberschwappend, wurde etwa Mitte der 1970er-Jahre «Finance» zu einem der «hot issues» an den Universitäten – ein Thema, das immer mehr junge Wissenschaftler anzog. Die Zeit war geprägt von Aufbruchstimmung. Die Fragestellungen, die sich den Wirtschaftswissenschaften mit dem Übergang von fixen zu flexiblen Wechselkursen boten, plötzlich entstandene Volatilitäten und Unsicherheiten aus der ersten Erdölkrise, die der Industrie noch nie gesehene Problemstellungen brachten, und Strukturveränderungen in der traditionellen Bankindustrie forderten die Nationalökonomie und mit ihr die Finanztheorie heraus. Wissenschaft und Universitäten reagierten mit einem zunehmenden Angebot an entsprechenden Kursen und Programmen. Die Bankund Finanzindustrie, die sich Anfang der 1990er-Jahre gerade anschickte, sich aus der letzten Immobilienkrise heraus zu restrukturieren, war ein dankbarer Abnehmer sowohl der neu entwickelten theoretischen Ansätze als auch der Absolventen, die die entsprechenden Theorien verstanden. Mit der vermehrten Konzentration der Banken auf eine immer bedeutender werdende Privatkundschaft, einer damit einhergehenden Professionalisierung der Anlageberatung und mit der zunehmenden Bedeutung institutioneller Anleger gewannen die entsprechenden Ansätze, Theorien und Produkte auch eine breitere Öffentlichkeit. Entsprechend wurden die Ausbildungsangebote an den Universitäten von einem breiten Publikum in Anspruch genommen. Ich erinnere mich gut und gern an Vorlesungsveranstaltungen in den 1980er-Jahren an der Universität Basel, die in den damals grössten Vorlesungssälen abgehalten werden mussten und in denen mindestens 50 Prozent der Zuhörer mit dunklem Anzug und Krawatte sassen und gleich alt wie der Dozent oder älter waren. Das Interesse an Finanzmarktfragen war gigantisch. Zu Recht. Die nächsten zehn Jahre brachten der Finanzindustrie einen gewaltigen Aufschwung. Die aus der Finanztheorie abgeleiteten Lösungsansätze für viele Probleme, die sich der realen Wirtschaft stellten, ermöglichten es der «Finance», einen echten Mehrwert für die Finanz abteilungen der Industrie- und Dienstleistungsbranchen zu erbringen, aber auch
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Einleitung
die immer wichtiger werdenden privaten und institutionellen Anleger zu unterstützen. Zehn Jahre später war die Euphorie fast mit Händen zu greifen. Die Aktienmärkte hatten mehrere Hundert Prozent zugelegt. Die Finanzindustrie hatte Anlage vehikel entwickelt, die das Blaue vom Himmel und Gewinnwachstumsraten von nie gesehenen Grössenordnungen versprachen. Es war klar, dass beispielsweise das Internet mit all seinen grossartigen Produkt- und Dienstleistungsfantastereien die ent wickelte Welt und natürlich später auch die Entwicklungsländer in neue Sphären katapultieren würde. Neue Paradigmen allenthalben. Der Beobachter der weltweiten Finanzszene wusste es vermutlich damals schon, weiss es aber sicher heute: Wenn die neuen Paradigmen kommen, wird es Zeit, sich zurückzulehnen, Ruhe zu bewahren und nachzudenken. Im Jahre 1999 ist die erste Auflage des Buches Die Acht Gebote der Geldanlage erschienen. Die damals euphorische Zeit hat auch in jenem Buch ihre Spuren hinterlassen. Die historische Analyse, die dort vorgenommen wurde, hatte aber durchaus zur Vorsicht gemahnt. Nicht wesentlich über 8 Prozent war die durchschnittliche Rendite per annum, die sich aus der Historie der Aktienmärkte ableiten liess. Etwas magere Zahlen, nachdem die Aktienmärkte gerade ein paar Hundert Prozent zugelegt hatten. Aber sollte dies jetzt wirklich plötzlich anders sein? In den Acht Geboten wurde darauf verwiesen, dass allzu grosse Euphorie nie und nimmer eine diszipli nierte, auf Langfristigkeit und Diversifikation aufgebaute Anlagestrategie ersetzen dürfe. Und diese würde mit Vorteil mit den eher konservativen Ertragszahlen aus der Historie rechnen. Dann kam das neue Jahrzehnt. Die Euphorie machte Ernüchterung und Frustration Platz. Das Platzen der Dotcom-Blase, dramatische Einbrüche an den Aktienmärkten, Krisen, die Rezession. Nach zwei Jahren der erneute Wiederaufschwung. Alles schien vergessen. Die zwei Jahre vorher versprochenen strukturellen Verbesserungen an allen möglichen Fronten wurden verschoben. Weder hatte man den politischen Willen noch die Zeit, sich den strukturellen Fragen zuzuwenden. Die Wirtschaft lief wie geschmiert, die Finanzindustrie und ihre Boni sowieso. Und die Risiken? «We’ll cross the bridge when we get there» war einer der Sprüche eines grossen Bankers. Bis uns im Jahre 2008 die strukturellen Probleme wieder einholten: Finanzkrise, Rezession, Frustration. Die Aktienkurse sind wieder annähernd am gleichen Ort wie vor zehn Jahren – der Zeit der ganz grossen Euphorie. Ein verlorenes Jahrzehnt? Und die Zukunft? Bevor wir uns über mögliche Zukunftsszenarien Gedanken machen, möge sich der Leser durch die nächsten Kapitel hindurchbeissen. Sie sollen die letzten zehn Jahre beleuchten. Aber nicht isoliert, sondern im Lichte dessen, was uns die Finanz- und Anlagemärkte in der Vergangenheit haben erleben und vielleicht lernen lassen. Wir tun dies vor dem Hintergrund einer berühmten Aussage des Nobelpreisträgers für Nationalökonomie aus dem Jahre 2002, des Psychologen Daniel Kahneman. Er behauptet, Anleger hätten aus der Geschichte der Finanz-
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Einleitung
märkte noch nie etwas gelernt. Immer wieder würden sie die gleichen Fehler machen. Wahrscheinlich hat Kahneman recht. Auch wenn dies an sich erstaunt, denn schon der späte, ausgesprochen sympathische Börsenprotagonist André Kostolany schrieb einmal: «In 72 Jahren (Börsenaktivität; E. H.) konnte ich feststellen, dass die Börse immer dasselbe Theaterstück ist, aufgeführt in verschiedenen Theatern und mit immer neuen Akteuren.»1 Das vorliegende Buch versucht diese Themen aufzunehmen. Es ist eine Aufsatzsammlung – zum Teil eine Art Zeitreise. Der dritte Teil, den wir mit «Vier Themenkreise» überschreiben, enthält beispielsweise eine Auswahl an Kolumnen und Essays, die ich über die letzten zehn Jahre in unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften publiziert habe. Die Artikel dienen dazu, spezifische Fragestellungen im Bereich Finanzen und Anlagen in unterschiedlichen Zeitfenstern und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Dabei werden an einzelnen Stellen unterschiedliche theoretische Ansätze auf sich ähnelnde Problemstellungen angewandt; andernorts analysieren wir mithilfe des gleichen theoretischen Ansatzes sich ähnelnde Themen. Die Hoffnung besteht, dass wir damit Aspekte identifizieren können, die es uns als Anleger und Analysten ermöglichen, gewisse Strukturen, vielleicht auch Regelmässigkeiten, zu erkennen, damit wir Kostolanys Theater nachvollziehen und vielleicht Kahnemans Aussagen Lügen strafen können. Vor den vier Themenkreisen im dritten Teil liefern die beiden ersten Abschnitte zunächst einen historischen Rückblick, mit dem wir das letzte Jahrzehnt erst in das richtige Licht setzen können (Teil I). Anschliessend folgen einige anlagepolitische Grundsätze, bei denen der Frage nachgegangen wird, ob die aus den späten 1980erJahren stammenden Acht Gebote der Geldanlage im Lichte der jüngeren Erfahrungen zu revidieren sind (Teil II). Der vierte Teil dient dann einer Zusammenfassung und dem Nachdenken über mögliche Zukunftsszenarien. Bei der skizzierten Vorgehensweise entstehen notwendigerweise Wiederholungen und Redundanzen, die sich aus der Übungsanlage ergeben. Vielleicht helfen aber gerade die Wiederholungen, dass sich Gelerntes auch verfestigt.
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Teil I Etwas Geschichte kann nicht schaden
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Teil I
Die ersten zehn Jahre des neuen Jahrhunderts waren an den Anlage- und speziell an den Aktienmärkten zumindest der Alten Welt eine echte Enttäuschung. Noch selten musste man in der Geschichte der Aktienbörsen einem ganzen Jahrzehnt eine Negativ- oder Nullrendite zugestehen. In der Tat waren die 1930er-Jahre bisher das einzige Jahrzehnt, seit die entsprechenden Statistiken in der Schweiz geführt werden, in dem über zehn Jahre im Durchschnitt eine negative Rendite eingefahren wurde. Nachdem die 1990er-Jahre im Durchschnitt zweistellige Renditen per annum abgeworfen hatten – nota bene ebenfalls ein historisches Ereignis –, entstanden unglaubliche Erwartungen, so etwa im Sinne von neuen Paradigmen der Wirtschaftsentwicklung o. Ä. Als langjähriger Beobachter der globalen Finanz- und Anlageszenerie war man allerdings schon damals geneigt, sich eher zurückzulehnen und sich auf fundamentale Grössen zu berufen, die letztlich die Renditen an den Finanzmärkten definieren. Und diese liessen es schon damals fragwürdig erscheinen, zweistellige Perannum-Renditen als nachhaltig zu betrachten oder gar in alle Ewigkeit fortzuschreiben. Solches geben die wirtschaftlichen Grunddaten nicht her, und sie haben es nie hergegeben. Und von neuen Paradigmen, die die Finanz- und Wirtschaftsentwicklung in den nächsten Jahrzehnten nachhaltig verändern würden, hat man schon zu viele gesehen (und wird weitere sehen), als dass man sie noch ernst nehmen wollte.2 In diesem Sinne waren die erfolgreichen 1990er-Jahre an den Aktienmärkten vielleicht ebenso wenig repräsentativ wie es das nachfolgende enttäuschende Jahrzehnt war. Ohne völlig in die Wirtschaftshistorie abzugleiten, sollte man sich kurz daran zurückerinnern, dass im Grunde genommen die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Basis für die «Roaring Nineties» an den Anlagemärkten in den 1970er- und 1980er-Jahren gelegt wurde. Da waren die Aufgabe der Goldbindung des Dollars im Jahre 1971 sowie die inflationäre Finanzierung des Vietnamkrieges durch die USA, die bei fixen Wechselkursen rein mechanisch zu einer Übernahme der inflationären US-Tendenzen bei den Handelspartnern führen musste. Darauf folgte die Ablösung des Währungssystems fixer Wechselkurse (Bretton-Woods-System) durch ein mehr oder weniger reines Floating. Ein System, für dessen Analyse und Funktionsweise kaum historisches Erfahrungsmaterial zur Verfügung stand.3 Aus diesem Strauss quasi exogener Schocks entstand eine noch nie erfahrene und völlig unerwartete Volatilität in einer Reihe ökonomischer Kernvariablen, die das westliche Wirtschaftssystem nachhaltig durchschüttelte. In der Tat neue Paradigmen. Nicht aber in irgendwelchen Produkt- oder Prozessfantasien, sondern in den wirtschaftlich-fundamentalen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens. Mit den dramatischen Erhöhungen der Volatilität und der Unsicherheit von Preisen und Systemen konnten die Wirtschaftssubjekte nur schwer umgehen. Es fehlte auch hier schlicht die historische Erfahrung. Als illustratives Beispiel sei erwähnt, dass der Kurs des Schweizer Frankens gegenüber dem US-Dollar – während Jahren stabil bei 4,30 CHF pro US-Dollar – in wenigen Jahren auf noch gerade 1,50 CHF fiel, nur um anschliessend wiederum in nerhalb weniger Monate auf nahezu 3 CHF pro Dollar anzusteigen. Ähnliche Entwicklungen verzeichnete der DM-Kurs des Dollars. Bis Ende der 1960er-Jahre prak-
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Etwas Geschichte kann nicht schaden
tisch konstant zwischen 4,20 DM und 4,00 DM pro Dollar, verlor die US-Währung plötzlich markant an Wert, um Ende der 1970er-Jahre gerade noch bei 1,80 DM pro Dollar zu notieren. Ähnlich überraschend stieg der Greenback dann innerhalb von fünf Jahren wieder auf über 3 DM pro Dollar an. Schwankungsbreiten, an die man sich erst noch gewöhnen musste. Aber nicht nur bei den Währungen: Als weiteres Beispiel zeigt die nachfolgende Abbildung 1 die Schwankungen des Goldpreises, quasi als Repräsentant der generellen Entwicklung in den Rohwarenpreisen, von 1945 bis 2009. Während Jahren stabil und dann ab Mitte der 1970er-Jahre mit noch nie gesehenen Ausschlägen von bis zu Dutzenden von Prozenten pro Jahr in beide Richtungen. Und als wären es der Schocks nicht schon genug gewesen, ging dies einher mit der ersten Erdölkrise in den frühen und der zweiten Erdölkrise in den späten 1970er-Jahren. Auch dies wollen wir in einer Grafik darstellen. Ein Erdölpreis, der während 70 Jahren praktisch konstant war, um ab Mitte der 1970er-Jahre plötzlich Bewegungen auszuführen, die nicht nur unerwartet kamen, sondern in ihrer Grössenordnung geradezu undenkbar waren (Abbildung 2). Eine Vervierfachung in den frühen 1970er-Jahren und dasselbe Spiel dann noch einmal gegen Ende des Jahrzehnts. Wir können uns heute nur mehr schwer vorstellen, welche Schocks die globalen Volkswirtschaften in den 1970er-Jahren erlebten. Grafiken geben nur einen unvollständigen Eindruck davon. Jährliche Preisänderung in % 140 % 120 % 100 % 80 % 60 % 40 % 20 % 0% –20 % –40 % –60 %
1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
Quelle: Bloomberg.
Abbildung 1: Die jährlichen prozentualen Veränderungen des Goldpreises von 1945 bis 2009 ($/Unze).
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Teil I
$/Barrel 140 120 100 80 60 40 20
real (Preise 2008) nominell
0 1918 1923 1928 1933 1938 1943 1948 1953 1958 1963 1968 1973 1978 1983 1988 1993 1998 2003 2008 Quellen: US Commodity Research Bureau, 1918–1944: US-Durchschnitte, 1945–1985 Arabian Light (Ras Tanura), 1986–2009: Brent spot.
Abbildung 2: Entwicklungen des Erdölpreises ($/Barrel) von 1918 bis 2010.
Konsequenz dieser Giftmischung in den ökonomischen Rahmenbedingungen waren schwerste Rezessionen der westlichen Wirtschaftsnationen in der Mitte der 1970er-Jahre und anschliessende zweistellige Inflationsraten bei einem Grossteil der westlichen Industrieländer. Natürlich konnte all das nicht ohne Auswirkungen auf die Entwicklung an den Finanzmärkten bleiben. Die Konsequenz der teilweise zweistelligen Inflationsraten waren Zinsraten, die sich ebenfalls im zweistelligen Bereich bewegten. In der Tat bezahlte beispielsweise eine zehnjährige Anleihe des britischen Staates in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre einen jährlichen Couponzins von über 15 Prozent, und die Rendite der Eidgenossen (Schweizer Staatsanleihen) lag auf historisch noch nie gesehenen 7 Prozent.4 Zusammen mit den ansteigenden Inflationsraten hatte plötzlich auch im Zinsbereich eine Volatilität Einzug gehalten, die man durchaus als historisch bezeichnen kann. Die nachfolgende Grafik soll dies wiederum exemplarisch belegen. Sie zeigt die Entwicklung der Zinsraten von US-Staatsanleihen zurück bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sowie einen Indikator für die europäische Zins geschichte bis 1850. Die Darstellung soll aufzeigen, wie aussergewöhnlich sich die Situation in den 1970er- und 1980er-Jahren präsentierte. Dass in einem solchen Umfeld auch Aktienanlagen nicht besonders attraktiv erscheinen, liegt auf der Hand. In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre verloren die Aktiennotierungen weltweit bis zu 50 Prozent ihres Wertes, und es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis die früheren Notierungen wieder erreicht waren.5
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Etwas Geschichte kann nicht schaden
Zinssatz in % 15 %
10 % USA
Europa 5%
0% 1800
1850
1900
1950
2000
Quelle: Madison, Wellershoff & Partners.
Abbildung 3: Die Historie der langfristigen Zinsen in den USA und in Europa (Durchschnitt aus GB, D, I, F).
Zu Beginn der 1980er-Jahre veränderte sich die Situation radikal. Die westliche Welt hatte sich darauf geeinigt, dass das Krebsgeschwür der Inflation als Hauptübel und Hinderungsgrund für eine vernünftige wirtschaftliche Entwicklung auszumerzen sei. Des Weiteren griff die Erkenntnis um sich, dass dies nicht ohne kurzfristig schmerzhafte Eingriffe in die Konjunkturentwicklung sowie die Wirtschaftsstrukturen ablaufen könne. Mehr oder weniger international koordiniert, begann die FED (Federal Reserve), die US-amerikanische Zentralbank, unter dem damaligen Vorsitzenden Paul Volcker, auf einen restriktiven geldpolitischen Kurs einzuschwenken. Die kurzfristigen Zinsen wurden angehoben. Und zwar auf ein Niveau, das über den langfristigen Ertragsraten lag. Dies war ein unmissverständliches Signal dafür, dass die Zentralbank ihre Strategie der Inflationsbekämpfung ernst nahm. Die Reaktion auf der Konjunkturseite folgte auf den Fuss. Eine Inversion der Zinsstrukturkurve (die kurzfristigen liegen über den langfristigen Zinsen) ist Gift für die Konjunkturentwicklung, denn sie führt notwendigerweise zu einer Verknappung des Kreditangebotes. In einer solchen Situation wird es für Banken, die sich üblicherweise mit kurzfristigen Geldern refinanzieren, schlicht uninteressant, langfristige Kredite auszugeben. Auf der andern Seite ist eine Zinsinversion das einzig valable Mittel, eine einmal in Gang gekommene Inflation zurückzubinden und die entsprechenden Erwartungen zu brechen. Entsprechend stürzten die USA Anfang der 1980er-Jahre in eine
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Teil I
kreditinduzierte Rezession. Allerdings erholte sich die US-Volkswirtschaft relativ rasch. Noch in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre wuchs sie schon wieder; strukturell gestärkt und mit einer Inflationsrate, die inzwischen wieder auf unter 5 Prozent zurückgegangen war. Noch wichtiger als die reinen Zahlen war aber die Tatsache, dass die FED dank der Konsequenz, mit der Paul Volcker seine Politik durchgezogen hatte, eine Glaubwürdigkeit erlangte, die eine wesentliche Basis für den Erfolg künftiger Aktionen (und vor allem künftiger Vorsitzender) sein sollte. Das wichtigste Aktivum einer Zentralbank ist und bleibt ihre Glaubwürdigkeit. Nicht selten wirkt Geldpolitik nämlich nicht nur wegen der konkret vorgenommenen Massnahmen, sondern wegen des Verhaltens der Wirtschaftssubjekte, die im Vertrauen auf eine glaubwürdige Zent ralbank ihre eigenen Massnahmen anpassen und damit die Zentralbank indirekt unterstützen – im positiven wie im negativen Fall. Glaubwürdigkeit ist Kern, aber auch Notwendigkeit einer erfolgreichen Zentralbankpolitik. Mehr oder weniger im Tandem mit der FED schlugen die andern westlichen Zent ralbanken einen ähnlichen geldpolitischen Kurs ein. Wie die FED, so traten auch die Schweizerische Nationalbank und die Deutsche Bundesbank zu Beginn der 1980erJahre radikal auf die geldpolitische Bremse. Sie produzierten eine Inversion der Zinsstrukturkurve, und wie die USA stürzten auch Deutschland und die Schweiz darauf folgend in eine Rezession ab.6 Natürlich wurden durch diese koordinierten Aktionen der Zentralbanken auch die Spitzen bei den langfristigen Zinsen gebrochen. Die obige Abbildung 3 zeigt dies eindrücklich. Inflation und Inflationserwartungen waren gebrochen, und entsprechend setzte bei den langfristigen Zinsen ein jahrelanger Abwärtstrend ein, der bis heute anhält. Der Rest der 1980er-Jahre diente der Aufarbeitung und Erholung von der ökonomischen Giftmischung der 1970er-Jahre. Eine konsequente Stabilitätspolitik der westlichen Industrieländer unter Führung der FED führte zu einer Rückführung der Inflationsraten und damit der internationalen Geld- und Kapitalmarktzinsen. Eine weit um sich greifende Tendenz zu (neo-)liberaler Wirtschaftspolitik, in Kombination mit immer globaleren Strukturen und Prozessen aufseiten der sich international ausrichtenden Unternehmen, bildete die Basis für einen breit abgestützten Wirtschaftsaufschwung, der bis in die 1990er-Jahre hinein andauerte. Die Schattenseite des Aufschwungs war ein schon ab Mitte der 1980er-Jahre wieder auftauchendes Inflationsgespenst. Zwar bei Weitem nicht in Grössenordnungen, wie man es aus den 1970er-Jahren kannte, aber die Zentralbanken waren gewarnt und wollten sicherstellen, dass plötzlich entstehende Inflationserwartungen nicht wieder einen selbst verstärkenden Prozess (Selffulfilling Prophecy) in Gang setzten. Entsprechend früh reagierten sie. Noch in den späten 1980er-Jahren setzten sie wiederum mehr oder weniger koordiniert das Instrument der Zinsinversion ein. Die von der Zentralbank kontrollierten kurzfristigen Zinsen wurden in die Höhe geschraubt, bis sie über der Rendite langfristiger Staatsschuldverschreibungen lagen. Und auch jetzt wirkte die Kur radikal. In den frühen 1990er-Jahren stürzten die westlichen Industrie
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Etwas Geschichte kann nicht schaden
länder mehr oder weniger synchron wieder in eine Rezession. Damit einher ging nota bene wiederum ein Rückgang der Inflationsraten. Das letztliche Ziel, eine Rückbindung der Inflation, wurde auch diesmal wieder erreicht. Die Kosten der Rezession wurden in Kauf genommen. Der gehorsamste Schüler der monetaristischen Doktrin, die der damaligen geldpolitischen Strategie zugrunde lag, war die Schweizerische Nationalbank unter ihrem damaligen Chef Markus Lusser. Sie hat die Schweizerische Volkswirtschaft zwischen 1988 und 1993 rund sechs Jahre unter der Fuchtel einer inversen Zinsstruktur darben lassen. Konsequenz: eine nachfolgend fast siebenjährige Stagnation der Wirtschaftsentwicklung.7 Die Lehre für den Beobachter der Wirtschafts- und Finanzszenerie ist klar: Die Inversion der Zinsstrukturkurve ist ein ausgesprochen effizientes Instrument für eine Zentralbank- bzw. Anti-Inflationspolitik. Die Rückführung der Inflation erfolgt aber letztlich immer aufgrund der durch die Zinsinversion ausgelösten Rezession. Entsprechend sollte das Selbstverständnis einer Zentralbank ja auch nicht darin bestehen, eine Inflation zu bekämpfen; sie soll sie verhindern. Eine interessante Aussage in einer Zeit, in der wir die geldpolitischen Aggregate eben erst ver-x-facht haben und damit ein Inflationspotenzial in noch nie gesehenem Ausmass geschaffen haben. Wir werden weiter hinten darauf zurückkommen. Dank der weiteren Verfolgung einer stabilitätspolitischen Doktrin aufseiten der Zentralbanken und dank einer weiteren Intensivierung der Liberalisierungs- und der Globalisierungstendenzen brachte der Rest der 1990er-Jahre einen ungebrochenen Wirtschaftsaufschwung mit relativ tiefen Inflationsraten und einer Vervielfachung der Unternehmensgewinne. Dazu kam die verstärkte Tendenz in Europa, näher zusammenzurücken und auf eine gemeinsame Währung hinzuarbeiten. Dies resultierte in einer beeindruckenden Konvergenz der Zinssätze innerhalb Europas und einer Senkung der langfristigen Renditen auf Niveaus, die man seit der Vorkriegszeit – und damit seit dem Goldstandard – nicht mehr gesehen hatte. Auf der politischen Seite markierte der Fall der Mauer im November 1989 einen Wendepunkt. Selbstredend wurde dieses Ereignis vielerorts dahingehend interpretiert, dass liberale Tendenzen, die freie Marktwirtschaft, die Globalisierung usw. nun den finalen Durchbruch errungen hätten und die Welt friedlich in Richtung globaler Marktwirtschaft marschieren könne. Optimismus allenthalben. Was positiv interpretiert werden konnte, wurde so gesehen, Negatives wurde ausgeblendet. Globalisierung, freie Märkte, Shareholder-Value, Dotcom, Internet usw. – wieder einmal neue Paradigmen, wohin man blickte. Natürlich gab es kurzfristige «hick-ups», die das System erschütterten. So die Asienkrise Ende 1997, die im Sommer 1998 durch das Russlanddebakel einiger Grossbanken und den Beinahe-Zusammenbruch eines der grössten damaligen Hedgefonds (LTCM) ergänzt wurde. Allein die Geschwindigkeit, die Kompetenz und die Flexibilität, mit der auf diese Krisen reagiert wurde, erhöhten den Optimismus und den Glauben noch mehr, in der neuen Welt sei nun alles machbar.
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Teil I
Und entsprechend reagierten die Aktienmärkte. Während die noch einigermassen ruhig verlaufenden 1980er-Jahre an den Aktienmärkten eine Gesamtperformance zwischen 150 und 200 Prozentpunkten erbrachten (der Pictet-Index für Schweizer Aktien stieg in den 1980er-Jahren beispielsweise um 175 Prozent), katapultierten die Roaring Nineties die Aktienmärkte zwischen 300 und 400 Prozent in die Höhe (der Pictet-Index für Schweizer Aktien: +353 %). Natürlich ist es trivial, im Nachhinein festzustellen, dass dies zu fundamentalen Überbewertungen der Aktiennotierungen führte. Vielerorts wurde auch davor gewarnt, dass gegen Ende der 1990er-Jahre Börsennotierungen erreicht wurden, die nur mehr schwer fundamental zu erklären waren (ausser eben mit den neuen Paradigmen). Um hier einige technische Aspekte einzubringen: Price-Earnings-Ratios von teilweise über 50 und Price-Book-Values von 10 und mehr waren Grössenordnungen, die eher an die japanischen Überbewertungen aus den späten 1980er-Jahren erinnerten denn an alles, was wir bis dahin gewohnt waren (Japan leidet auch heute noch unter der Aktienblase aus den späten 1980erJahren!). Einige Leser mögen sich an die erste Ausgabe der Acht Gebote der Geldanlage zurückerinnern, in der Mitte 1999 von einer markanten Überbewertung der USAktienmärkte gesprochen wurde. Ein fundamentales Bewertungsmodell brachte uns dort zum Schluss, dass «diese Bewertung von einer sehr optimistischen Gewinn erwartung für US-Unternehmen und von der Annahme weiter sinkender Zinsen (zeugen). Wenn diese beiden Erwartungen enttäuscht werden, wird der US-Aktienmarkt eine Korrektur erfahren, bis die Bewertungen wieder auf ein vernünftiges Niveau zurückfinden» (Seite 65). Die erwähnten Erwartungen wurden enttäuscht, und die Korrektur folgte auf dem Fuss. Ein fundamentales Bewertungsmodell als Kristallkugel für Otto Normalinvestor? Zweifel sind angebracht. Auf der einen Seite war das optimistische Szenario per se nicht auszuschliessen, und auf der andern Seite gibt es wohl etwa so viele Fundamentalmodelle wie Analysten und Gurus selbst. Und in jeder Situation gibt es den einen oder andern, der glaubt, im Augenblick gerade eine fundamentale Über- oder Unterbewertungen identifizieren zu können. Otto Normalinvestor ist diesen Expertenmeinungen jeweils ziemlich hilflos ausgeliefert.8 Es ist nicht ganz klar, wann um die Jahrhundertwende die Einsicht um sich zu greifen begann, dass vielleicht doch nicht ganz alles möglich ist und wir vielleicht doch noch nicht in der besten aller Welten leben. Es mögen die oben erwähnten Ereignisse gewesen sein: die Asienkrise, die Russlandkrise, LTCM. Vielleicht begann der Umschwung aber auch mit den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001, die uns auf brutalste Weise darauf aufmerksam machten, dass der damalige Kalte Krieg nicht das einzige geopolitische Risiko war, mit dem wir uns auseinandersetzen sollten. Vielleicht war es auch die Erkenntnis, die rund um den Enron-Skandal entstanden ist, dass die Roaring Nineties neben anderem auch Individuen an die Schalthebel der Macht gebracht hatten, die ethisch-moralisch nicht
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Etwas Geschichte kann nicht schaden
Zuwachsraten in %
Zinssatz in % 10,0 % 9,0 %
Zinsinversion
8,0 %
Zinsinversion
7,0 %
Zinsinversion
6,0 % 5,0 % 4,0 % 3,0 %
6,0 %
2,0 %
4,0 %
1,0 %
2,0 %
US-Konjunkturentwicklung
0,0 %
0,0 % Abschwung
Abschwung
–2,0 %
Abschwung
– 4,0 % 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 01 GDP US Chained 2005 Dollars SA q-o-q (rhs)
02
03
Federal Funds Target Rate US
04
05
06
07
08
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US Generic Govt 10 Year Yield
Quellen: Datastream, Bloomberg.
Abbildung 4: Federal Funds Rate und Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen (Skala links) und US-Konjunktur von 1990 bis Herbst 2010.
unbedingt für solche Ämter gerüstet waren. Wahrscheinlich war es ein wenig von allem. Hinzu kam – einmal mehr, und ich werde nicht müde, diesen Aspekt immer wieder zu betonen –, dass der lang andauernde Konjunkturaufschwung mit einem leichten Anziehen der Inflationsraten die FED just um die Jahrhundertwende veranlasste, wieder einmal auf die Bremse zu treten und zum Instrument der Zinsinversion zu greifen. Abbildung 4 illustriert die Entwicklung des kurzfristigen US-Zinses, der Federal Funds Rate, sowie des langfristigen Zinses (Rendite zehnjähriger Staatspapiere) auf der einen und den Zyklus der US-Konjunktur auf der andern Seite. Der ersichtliche Anstieg der Federal Funds Rate im Jahre 1999 führte zur viel beschriebenen Zinsinversion (bei der die kurzfristigen Zinsen über den langfristigen liegen) der Jahre 1999 und 2000, und die Konjunktur folgte modellgetreu in den Ab schwung. Die Situation war also in etwa die gleiche wie in den frühen 1990er-Jahren, wie die obige Grafik illustriert: Inversion der Zinsstruktur mit anschliessendem Konjunktureinbruch. Anders als in früheren (und auch späteren) Phasen entstand zwar um die Jahrhundertwende keine Rezession nach klassischem Muster (zwei sich folgende Quartale mit negativen Zuwachsraten des Bruttoinlandsproduktes), aber Mitte 2001 wies die US-Wirtschaft praktisch ein Nullwachstum auf. Die FED hatte damit ein zehn Jahre andauerndes Konjunkturhoch und damit einen der längsten Aufschwünge der US-Wirtschaftsgeschichte in die Knie gezwungen.
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Teil I
Neben all den konjunkturellen und bewertungsbezogenen Überlegungen eher kurzfristiger Natur erlauben wir uns in der Folge einen kurzen Einschub. Er soll zusätzlich eine Reihe struktureller Änderungen in den 1980er- und 1990er-Jahren beleuchten, die für das Verständnis der weiteren Entwicklungen wichtig sind. Die Zeit war geprägt von allen möglichen Finanzinnovationen: von neuen Finanzierungsformen, Eigenkapital (sprich: Aktien) nicht nur als Finanzierungsvehikel für Unternehmen, sondern schon fast als Sparinstrument für Anleger und damit Substitut für Bankeinlagen; von Märkten und Produkten, über die ein Teil der neu entstandenen Volatilitäten gehandelt oder abgesichert werden konnten; von Futures, Opti onen und Versicherungskontraktem, die Volumina an den Finanzmärkten entstehen liessen und schon früh Warner auf den Plan riefen. So schrieb Helmut Schlesinger, damaliger Präsident der Deutschen Bundesbank, schon im Jahre 1987, kurz nach dem Oktober-Crash an der Wall Street: «Der Zusammenbruch der Weltbörsen ist nichts anderes gewesen als die Antwort auf eine ungesunde Entwicklung der Märkte in den letzten Jahren. Die Finanzmärkte werden sich von nun an wieder auf normale Bahnen zurückziehen, und die Unternehmen werden sich in der Folge wieder mehrheitlich durch tradi tionelle Kredite und weniger direkt an den Finanzmärkten finanzieren.»
Solche Äusserungen waren damals radikal – vielleicht auch übertrieben. Denn sie verkannten die Tatsache, dass Finanzmärkte in aller Regel (!) nicht irgendwelche Selbstläufer, sondern Produkte und Strategien als Reaktion auf strukturelle Änderungen in der Realwirtschaft produzieren. Und diese strukturellen Veränderungen waren Mitte der 1980er-Jahre real und offensichtlich. Die gestiegenen Volatilitäten; die entstehenden Ungleichgewichte in der globalen Wirtschaft; die Petrodollarströme, welche die Bankbilanzen aufblähten und zu wilder Kreditvergabe überall in der Welt führten; Staatshaushalte, die immer tiefer in die Schuldenfalle gerieten und die weltweiten Zinsmärkte geradezu mit Anleihen überschwemmten. Und als Gegenpol die wachsende Bedeutung institutioneller Anleger wie Versicherungen, Pensionsund Anlagefonds, die letztlich die Nachfrageseite für einen grossen Teil der neu entstandenen Produkte darstellten. Strukturelle Veränderungen, die allesamt die Finanzmärkte als Intermediär in das Zentrum einer arbeitsteiligen, immer globaler funktionierenden Wirtschaft stellten. Mit der zunehmenden Bedeutung dieser Märkte wuchs auch die Finanzierungsund Finanzmarkttheorie zu einer eigenständigen Disziplin innerhalb der Nationalökonomie heran. Während es in den 1970er- und den frühen 1980er-Jahren noch kaum Lehrstühle für Geld und Finanzen gab, würde es sich heute kaum mehr eine wirtschaftswissenschaftliche Fakultät leisten, keine entsprechenden Ausbildungsgänge anzubieten. Auch diese Aspekte gilt es zu berücksichtigen, wenn wir in der Folge wieder zur Beschreibung der eher kurzfristig-konjunkturellen Situation um die Jahrhundertwende zurückkommen.
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Etwas Geschichte kann nicht schaden
Die Reaktion der FED auf den Wirtschaftsabschwung im Jahre 2001 war ebenso heftig wie die vorhergegangene Bremsübung. Abbildung 4 legt davon Zeugnis ab. Innerhalb von zwölf Monaten setzte die US-Zentralbank die für ihre geldpolitische Strategie wichtige Federal Funds Rate von 6,5 Prozent (Anfang Januar 2001) in zehn Schritten auf noch gerade einmal 1,75 Prozent (bis Mitte Dezember 2001) herunter. Sie hat damit der US-Wirtschaft den nötigen Sauerstoff zugeführt und den Motor ziemlich abrupt wieder angeworfen.9 Immerhin hatten aber die oben zusammengetragenen Warnlichter (LTCM, der 11. September 2001 und Enron) bereits einiges an Dynamik und Optimismus aus dem globalen Finanzsystem herausgenommen. Der Glaube an die ewige Hochkonjunktur, die uns das Internet bescheren sollte, die Hoffnung auf nur noch steigende Unternehmensgewinne und all die wunderbaren und wundersamen Finanzprodukte, die diese Unternehmensgewinne in schon fast risikolose Performance hätten übersetzen sollen, alle sind sie in sich zusammengebrochen und haben einer etwas realistischeren Einschätzung Platz gemacht. Für den Moment. Des Weiteren mussten die Aktienmärkte zum ersten Mal seit den 1970er-Jahren während einer Fünfjahresperiode wieder eine negative Performance schreiben (Ak tienindex der Genfer Bank Pictet & Cie von 2000 bis 2004: –7 Prozent). Die nachfolgende Abbildung zeigt die entsprechenden Zusammenhänge. Sie stellt die Entwicklung der Aktienindizes in der Schweiz (SMI inklusive Dividenden) und Deutschlands (DAX) von 1970 bis Mitte 2010 dar. Die Entwicklung der ersten Jahre nach den Roaring Nineties spricht Bände. Der Schock sass tief. Zu hoch waren die Erwartungen um die Jahrhundertwende geschraubt worden, und ein mancher, der davor gewarnt hatte, dass man historisch an den Aktienmärkten wohl eher im Bereich von 6 bis 9 Prozent per annum verdient hatte und nicht die zweistelligen Ertragsraten, an die man sich in den 1990er-Jahren langsam zu gewöhnen begann, wurde allzu lange belächelt. Viele der hochgejubelten New-Economy-Firmen brachen in sich zusammen. Internetfantasien wurden wie Sand weggeschwemmt, und ein manches Businessmodell, für das Ende der 1990erJahre noch Traumpreise bezahlt wurden, ohne dass es je wirklich getestet worden wäre, löste sich in Luft auf. Der amerikanische NASDAQ-Index – die New-Economy-Börse schlechthin – verlor von Mitte März 2000 bis ins Frühjahr 2003 rund 80 Prozent seiner Börsenkapitalisierung, und seine kleine deutsche Schwester, der NEMAX, verlor vom Frühjahr 2000 bis zum Herbst 2002 rund 96 Prozent. Die Berechnung des NEMAX wurde Ende 2004 eingestellt. Aber die Lethargie dauerte nicht allzu lange. Obwohl durchaus Stimmen zu vernehmen waren, die darauf aufmerksam machten, dass uns die Roaring Nineties Überbewertungen in ähnlichen Grössenordnungen wie in Japan in den 1980erJahren beschert hatten, begannen die Aktienmärkte ab dem Frühjahr 2003 erneut zu drehen. Nicht wenige Auguren machten schliesslich darauf aufmerksam, dass die Märkte nach der Korrektur nach unten inzwischen wieder auf Niveaus angelangt waren, die fundamental interessant erschienen.10 Des Weiteren hat die oben bereits
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Teil I
Indexstand 3500
3000 DAX 2500
2000
Roaring Nineties
Verlorenes Jahrzehnt
1500
1000
SMI
500
0 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 Quellen: Pictet & Cie für CH, Stehle und Bloomberg für D.
Abbildung 5: Der schweizerische (SMI inklusive Dividenden) und der deutsche Aktienindex (DAX) von 1970 bis Mitte 2010 (1970 = 100).
zitierte Expansionspolitik der FED (Abbildung 4), die eins zu eins auch wiederum von der Schweizerischen Nationalbank und von der Deutschen Bundesbank bzw. inzwischen von der Europäischen Zentralbank übernommen wurden (stark positive Zinsstruktur), einmal mehr zu einem mächtigen Konjunkturschub geführt. Die Unternehmensgewinne begannen wieder anzuziehen und mit ihnen die Börsenkapitalisierungen. Und schon im Jahre 2006 hatten die Märkte mit einer Performance von über 100 Prozent seit den Tiefs im Frühjahr 2003 die vorhergehenden Höchstmarken aus dem Jahre 2000 übertroffen. Die ausgesprochen tiefen Geldmarktzinsen im Umfeld ebenso tiefer Inflationsraten hatten ein Ambiente geschaffen, das schon fast wieder an die späten 1990er-Jahre erinnerte. Die damaligen Überbewertungen waren aus der Welt geschafft, und die neu entstandene Dynamik liess die Korrekturen um die Jahrhundertwende (vermeintlich) schon bald zu einem schlechten Traum werden. Tiefe Zinsen können aber auch eine Kehrseite haben. In einem Umfeld, in dem Leverage, sprich: Schuldenmachen nicht nur für Unternehmensbilanzen, sondern auch für Privathaushalte gesellschaftsfähig wird, können allzu tiefe Zinsen falsche Signale aussenden. Plötzlich werden ehemalige Luxusgüter wie Eigenheime, Ferienwohnungen, Sportwagen o. Ä. für Leute er
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Teil II Anlagepolitische Grundsatz端berlegungen
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Teil II
Nachdem wir in den letzten Abschnitten historisch rückblickend von der enttäuschenden Performance gesprochen haben, die uns die Aktienmärkte der alten Welt in den vergangenen zehn Jahren geliefert haben – eben das verlorene Jahrzehnt –, wollen wir uns in den nachfolgenden Abschnitten auf die Frage konzentrieren, ob sich daraus eine grundsätzliche Änderung der Art und Weise ergibt, wie wir als Anleger an und mit diesen Märkten arbeiten sollten, um eine vernünftige Vermögensrendite zu erwirtschaften. Was ist anders geworden und wie müssen wir darauf reagieren? Immerhin hat dieses Jahrzehnt einige Prozess- und Produktinnovationen auch und gerade im Finanzbereich gebracht, die es wert sind, im Kontext der historischen Erfahrungen durchleuchtet zu werden. Tatsächlich ist es heute so, dass die schiere Flut moderner Finanzprodukte und -strategien es Otto Normalanleger nahezu unmöglich macht, noch zu wissen, was es alles gibt, geschweige denn, was für ihn richtig ist. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann eine Liste der Anlagekategorien, die uns heute zur Verfügung stehen, etwa bei Geldmarktanlagen beginnen, dann über Obligationen (Renten), Aktien, Immobilien, Private Equity und Hedgefonds bis hin zu Commodities (Gold, Öl, Weizen, Soja usw.) gehen. Natürlich kann man in all diese Anlagekategorien auf unterschiedlichste Art und Weise investieren. Sei dies als Direktanlagen oder als Anlagefonds, Letztere alternativ als Indexprodukte (Indexfonds, börsengehandelte Fonds), aktive Produkte, Dachfonds oder allesamt als strukturierte Produkte wiederum im Indexsegment oder aktiv mit symmetrischen oder asymmetrischen Risiken. Der Fantasie sind schon lange keine Grenzen mehr gesetzt. Jedes dieser neu entstandenen Investmentvehikel wird in zahlreichen Büchern und Abhandlungen in allen Details erläutert und erklärt. Es ist nicht die Absicht des vorliegenden Buches, diesen Werken ein weiteres hinzuzufügen. Ab und zu werden wir aber im Kontext unserer strategischen Überlegungen und im Zusammenhang mit einzelnen Artikeln in Teil III auf die eine oder andere Produktkategorie oder -innovation zurückkommen. Zunächst wollen wir etwas eingehender als im obigen historischen Rückblick auf die Standardanlagekategorien der Aktien und der Obligationen mit ihren Risikound Ertragseigenschaften eingehen. In welcher Art und Weise, sprich: über welches Produkt oder welche Struktur die konkrete Investitionstätigkeit dann ausgeübt wird, bleibt eher im Hintergrund. Auch wenn der Leser vermuten wird, dass wir bei der Produktausgestaltung eher in Richtung Kollektivanlagen und passiver Ansätze tendieren und Komplexität eher verabscheuen. Zur Renditegeschichte der Aktien- und der Bondmärkte
Wir haben im ersten Kapitel bereits in die historische Trickkiste gegriffen, uns dort eher auf eine Beschreibung einzelner Jahrzehnte beschränkt, dafür aber das wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Umfeld mit einbezogen. Wenn wir in der Folge nun die Zeitreiheneigenschaften der Finanzmarktkurse analysieren, dann interessiert uns im Prinzip alles, was uns die Geschichte an Einzeldaten liefern kann. Denn wenn
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Anlagepolitische Grundsatzüberlegungen
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man nach den möglichen Risiken an den Finanzmärkten gefragt wird, dann sollte man doch zumindest wissen, was schon einmal passiert ist. Denn dies wären ja Ereignisse, die man aus den Möglichkeiten sicher nicht ausschliessen kann (so unwahrscheinlich sie im konkreten Fall auch erscheinen mögen). Im Übrigen haben wir ja im Vorwort bereits bemerkt, dass uns ein Interview mit dem Nobelpreisträger Daniel Kahneman provoziert hat, der (wahrscheinlich zu Recht) bemerkt, dass Anleger unfähig seien, aus Erfahrungen, die sie an der Börse gemacht haben, zu lernen. Sie würden sich jedes Mal von Neuem falsch verhalten. Ein Grund dafür liegt natürlich darin, dass sich die Anleger zu wenig für historische Zusammenhänge an den Weltbörsen interessieren und dass sie – stets auf der Suche nach neuen Gewinnmöglichkeiten – immer gerade dem jüngsten Modetrend nachrennen. Dies spricht dafür, einer systematischen Erkenntnissuche eine möglichst lange Zeitreihengeschichte zugrunde zu legen. Über die langfristigen Entwicklungen der Aktienmärkte wird viel geschrieben und viel gesprochen. Immer wieder finden sich ähnliche Grafiken zur Historie des Auf und Ab der Aktienpreise, wie wir sie im letzten Kapital darstellen. Die Muster sind überall ähnlich. Eine mit vielen Zacken sich stetig nach oben bewegende Kurve, die in jedem einzelnen Moment nach oben aus- oder nach unten abzubrechen droht. Je älter oder ausgeprägter dabei die Tradition der Aktienfinanzierung relativ zur
Indexstand
100 000
10 000
Indizes Schweizer Aktienmarkt Immobilien Schweiz (eigene Schätzung) Schweizer Obligationen Konsumentenpreisindex Schweiz
51 495
14 769 3908
1000
630
100
10 1925 1929 1933 1937 1941 1945 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1973 1977 1981 1985 1989 1993 1997 2001 2005 2009 Quellen: Pictet & Cie, Immobilien: eigene Berechnungen.
Abbildung 9: Die langfristige Entwicklung von Schweizer Aktien, Immobilien und Obligationen von 1925 bis 2009.
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Teil II
reditfinanzierung in einem Land ist, desto länger sind auch die jeweiligen Zeit K reihen, die für die Analyse solcher Entwicklungen zur Verfügung stehen. Für unsere Arbeiten haben wir Daten aus den USA zurück bis 1800 verwendet; für die Schweiz benutzen wir wiederum die im letzten Kapitel beschriebenen PictetDaten zurück bis 1925; und für Deutschland verwenden wir ein Datenset, das bis 1949 zurückgeht. Die Abbildungen 9 bis 11 illustrieren die entsprechenden Zeitreihen. Unabhängig von der Länge der gewählten Zeitfenster bzw. der analysierten Länder sehen die Muster ähnlich aus. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Indizes nicht unbedingt überall das Gleiche darstellen. Ein Aktienindex in einem Land braucht keineswegs das Gleiche abzubilden wie der Aktienindex in einem andern Land. So ist bekannt, dass z. B. die Sektorenzusammensetzung in Deutschland völlig anders ist als die Zusammensetzung des Marktindex in der Schweiz, der seit längerer Zeit von Novartis und Nestlé sowie von zwei Grossbanken dominiert wird. Ferner ist natürlich der US-Index aus dem Jahre 1900 auch nicht mehr mit dem S&P (Standard & Poor’s) 500 des Jahres 2009 vergleichbar. All dies sind wichtige Aspekte bei der Detailbeurteilung der Aktienmarktentwicklung. Wenn wir uns aber wie in den obigen Abbildungen für die generellen Tendenzen interessieren, dann treten sie in den Hintergrund.
100 000 deutsche Aktien
56 100
deutsche Obligationen
10 000
4830
1000
100
10 1949
1954
1959
1964
1969
1974
1979
1984
1989
1994
1999
2004
2009
Quellen: Datastream, Bloomberg. Die historischen Daten für Deutschland wurden freundlicherweise von Prof. Stehle am Finanzlehrstuhl der Humboldt-Universität zu Verfügung gestellt. Die historischen Umlaufrenditen von Pfandbriefen (1949–1954) und von Staatsanleihen stammen aus der Dissertation von K. Kielkopf.
Abbildung 10: Die langfristige Entwicklung des deutschen Aktien- und Obligationenmarktes von 1949 bis 2009.
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Anlagepolitische Grundsatzüberlegungen
Wir haben die Indizes zu Beginn der jeweiligen Betrachtungsperiode auf 100 normiert (USA auf 1). Der graue Kurvenverlauf zeigt die Entwicklung des jeweiligen Rentenindex und der rote Verlauf die des Aktienindex. Mit der Indexierung bilden wir quasi das Verhalten eines Investors ab, der zu Beginn der jeweiligen Periode 100 Währungseinheiten in den Index investiert (USA = 1 Währungseinheit), während der Betrachtungsperiode investiert bleibt und nach Ablauf der Periode, also Ende 2009, in gewissem Sinne schaut, «was im Sack ist». Eine typische sogenannte Buy-and-Hold-Strategie über eine nota bene ausgesprochen lange Zeitperiode.13 Ein Blick auf die Grafiken zeigt, dass sich die Investitionen allesamt vervielfacht haben und dass der Aktien- dem Obligationenindex weit davonläuft; je länger die Zeitperiode, desto mehr. Eine Feststellung, die wir bereits in Tabelle 2 des historischen Rückblicks als historisches Faktum zur Kenntnis genommen haben. In den USA stieg der Aktienindex in den 200 Jahren von 1 auf rund 10 Millionen, während der Bondindex gerade einmal auf etwas über 20 000 anstieg. In der Schweiz stieg der Aktienindex von 1925 bis Ende 2009 von 100 auf über 51 000 (der Obligationenindex auf knapp 4000) und in Deutschland von 1949 bis Ende 2009 von 100 auf 56 000 (bzw. auf 4800). Der Blick zeigt aber auch noch einmal die vermeintliche (und immer wieder strapazierte) Einzigartigkeit der Korrekturen in den Jahren 2000 bis 2002 und
100 000 000 9 719 216 10 000 000 1 000 000
US-Aktien US-Obligationen
100 000
21 387
10 000 1000 100 10 1 1801 1811 1821 1831 1841 1851 1861 1871 1881 1891 1901 1911 1921 1931 1941 1951 1961 1971 1981 1991 2001 Quellen: Bloomberg, Datastream. Der historische Datensatz für die USA stammt von der Wharton School der University of Pennsylvania und wird dort insbesondere von Jeremy Siegel bearbeitet (vgl. www.jeremysiegel.com).
Abbildung 11: Die langfristige Entwicklung des US-Aktien- und -Bondmarktes von 1800 bis 2009.
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40
Teil II
2008, die wir bereits bei der Kommentierung von Abbildung 6 thematisiert hatten. Ähnliches wie in diesen «Katastrophenphasen» hat sich ganz offensichtlich innerhalb der gewählten Zeitfenster schon mehrfach abgespielt (und wird sich auch in Zukunft wieder abspielen). So funktionieren diese Märkte: ein stetiges Auf und Ab entlang eines längerfristigen Trends, der wegen der kurzfristigen Ausbrüche auf beiden Seiten oft kaum wahrgenommen wird. Hätte man so investieren können? Einfach nur die Indizes kaufen? Zur damaligen Zeit wohl kaum. Heute wäre dies aber durchaus möglich. Heute sind weltweit sogenannte Indexstrategien, bei denen völlig passiv in die jeweiligen Indizes bzw. Märkte investiert wird, sehr populär und werden von mehr und mehr Investoren verwendet. Die obige Aufzählung der zahlreichen Produktvarianten legt Zeugnis davon ab. Wir werden auf solche Strategien und deren Rechtfertigung noch im Detail zurückkommen. Nun sind Grafiken wie die obigen und die entstehenden Zahlen zwar beeindruckend, vermögen aber gefühlsmässig nicht viel herzugeben. Was bedeuten schon Entwicklungen, die über mehrere Jahrzehnte von 100 auf 100 000 ansteigen? An den Finanzmärkten interessieren vielmehr die per annum erzielbaren Renditen. In Tabelle 2 des historischen Rückblicks fanden sich bereits Hinweise auf die entsprechenden Zahlen. In der Folge bestimmen wir die jährlichen Renditen aus den auf den letzten Seiten gezeigten Grafiken bzw. den Indexzahlen, die den Grafiken zugrunde liegen. In der nachfolgenden Abbildung haben wir sie visualisiert: Deutschland Aktien Schweiz Aktien
11,1 %
USA Bonds
Aktien
Bonds
Bonds
8,0 %
7,7 %
6,7 % 4,9 %
4,5 %
1925–2009
1801–2009
1948–2009 Quellen: wie Abbildungen 9–11.
Abbildung 12: Durchschnittsrenditen an den Aktien- und Bondmärkten der USA von 1800 bis 2009, der Schweiz von 1925 bis 2009 und Deutschlands von 1948 bis 2009.14
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Anlagepolitische Grundsatzüberlegungen
Die langfristige Überlegenheit der Aktie gegenüber der Obligation wird deutlich, und zwar unabhängig von Betrachtungsperiode und Land. Deutlich werden aber auch die mit den beiden Anlagemedien erzielbaren Renditen. Sie liegen im Aktienbereich zwischen 7 und 12 Prozent per annum und im Rentenbereich zwischen 4,5 und 6,5 Prozent; damit liegen sie in etwa bei den in Tabelle 2 zusammengetragenen Werten. Für die USA und die Schweiz liegt der Durchschnitt in einem ähnlichen Bereich. Die etwas höher ausgewiesenen Zahlen für Deutschland sind darauf zurückzuführen, dass in der wesentlich kürzeren Periode, die hier zur Verfügung stand, die Renditeausreisser der 1990er-Jahre eine grössere relative Bedeutung haben. Die hier dargestellten Aktienrenditen führen immer wieder zu Frustrationen. Um die Jahrhundertwende bei denjenigen, die noch im Fieber der Roaring Nineties der Illusion unterlagen, an den Aktienmärkten würde man doch immer mindestens zweistellige Renditen verdienen. Und heute frustrieren sie diejenigen, die nach den Erfahrungen in den Jahren 2000 bis 2002 und noch einmal im Jahre 2008 meinen, an den Aktienmärkten gäbe es nur Risiken und keine Renditen. Die Zahlen belegen einmal mehr, dass einerseits die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dass andererseits aber mit genügend Geduld, sprich: einem vernünftigen Anlagehorizont, die hohen Kurzfristrisiken an den Aktienmärkten immer durch höhere Erträge abge golten wurden. Die nächste Abbildung illustriert anhand der Aktien- und Bondrenditen einer Langfristanalyse an der London Business School für eine grosse Anzahl weiterer Länder über mehr als 100 Jahre, dass unsere Schlussfolgerungen nicht nur für die obigen drei Länder Gültigkeit haben, sondern auch für ein viel grösseres Set an Ländern.15 Die jeweils roten Balken zeigen die durchschnittlichen Aktienrenditen, die grauen Balken die durchschnittlichen Renditen der Obligationen. Es bestätigt sich sowohl die Überlegenheit der Aktie als auch die Grössenordnung der jährlich erzielbaren Renditen. Die 7 bis 10 Prozent durchschnittlicher Rendite per annum für die Aktienmärkte, von denen wir schon im ersten Kapital gesprochen hatten, sind somit nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern bestätigen sich über eine relativ grosse Stichprobe unterschiedlichster Länder und Zeitperioden. Ähnlich sieht es mit den Risikoprämien zwischen Aktien und Obligationen aus, die irgendwo im Bereich zwischen 3 und 5 Prozent per annum zu liegen scheinen. Wenn man sich die Langfristgrafiken der Aktien- und der Bondnotierungen ansieht, dann stellen sich im Prinzip zwei Fragen: 1. Was ist für den langfristigen, trendmässigen Anstieg der Aktiennotierungen von rund 8 Prozent pro Jahr verantwortlich, und 2. woher kommen die exorbitanten kurzfristigen Ausschläge, die in einzelnen Jahren auf beiden Seiten +/–50 Prozent und mehr ausmachen können? Mit andern Worten: Es stellt sich die Frage nach den renditegenerierenden Prozessen in der kurzen und in der langen Frist.
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Teil II
Renditen in % 15
12
9
6
3
Schweden
Australien
Südafrika
USA
Kanada
Niederlande
Vereinigtes Königreich
Schweiz
Irland
Dänemark
Japan
Frankreich
Spanien
Deutschland
Italien
Belgien
0
Quelle: Credit Suisse Global Investment Returns Sourcebook, Zürich 2010.
Abbildung 13: Renditen von Aktien und Renten in 16 Ländern von 1900 bis 2009.
Die Antwort auf die Frage nach den Langfristtendenzen ist schnell gefunden. Wenn man – anders als kürzlich ein (inzwischen zurückgetretener) Schweizer Bundesrat (ein Mitglied der Schweizer Regierung) – akzeptiert, dass die Börse nicht einfach nur ein Spielkasino ist, sondern dass dort im weitesten Sinne über das wirtschaftliche Potenzial einer Volkswirtschaft verhandelt wird, dann sind die ren ditegenerierenden Elemente der langen Frist in Bereichen wie Wirtschafts- und Unternehmensentwicklung sowie Innovationskraft und Gewinndynamik zu suchen. Alle wirtschaftlichen Bewertungs- und Fundamentalmodelle sind sich darin einig, dass die Börsenkapitalisierung einer Unternehmung mit ihrer Gewinnentwicklung zu tun hat. Wir hatten im letzten Abschnitt bereits darauf hingewiesen: Je erfolg reicher die langfristige Gewinnentwicklung einer Unternehmung ist, desto höher steigt der Wert dieser Firma und, bei öffentlicher Kotierung an einer Börse, die entsprechende Börsenkapitalisierung. Mit andern Worten: je grösser das Gewinnpotenzial einer Firma, desto erfreulicher die Dynamik des Aktienkurses. Gleiches gilt im übertragenen Sinne für den Aktienindex eines Landes. Dieser bildet ja nichts anderes ab als den Gesamtwert der an der Börse des Landes kotierten Unternehmen. Die nachfolgende Abbildung soll empirische Evidenz für diese Hypothesen liefern. Sie soll aufzeigen, dass der langfristige Konnex zwischen der Entwicklung des Aktienmarktes und der Unternehmensgewinne nicht völlig an den Haaren herbeige-
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Anlagepolitische Grundsatzüberlegungen
zogen ist. Die Grafik enthält auf der einen Seite die langfristige Aktienmarktentwicklung in den USA von 1871 bis heute und auf der andern Seite einen Index für die US-Unternehmensgewinne in der gleichen Zeitperiode.16 Auch wenn die Unternehmensgewinne bei Weitem nicht die einzige Triebfeder der Aktienmarktentwicklung sein können (als weiteren wichtigen Faktor hatten wir ja bereits die Zinsentwicklung identifiziert), so zeigt die obige stilisierte Darstellung der langfristigen Entwicklungen doch eine recht gute Übereinstimmung. Interessant ist auch die in der Grafik deutlich werdende Abkoppelung der Kurse in den Roaring Nineties, als die Kurse eher durch Gewinnfantasien als durch effektive Gewinne getrieben schienen. Nun sind aber Indexgewichtungen nicht konstant. Das Gewicht einer Einzelaktie verändert sich mit der Börsenkapitalisierung einer Unternehmung – mithin also mit deren langfristiger Gewinnentwicklung. Wenn die Kapitalisierung einer Unternehmung ein gewisses Minimum unterschreitet, wird der entsprechende Titel aus dem Index genommen und durch die Valoren einer Firma ersetzt, deren Kapitalisierung entsprechend zugenommen hat. Auf diese Art und Weise identifiziert ein Aktien index langfristig bzw. tendenziell die Gewinner und Verlierer innerhalb einer Volkswirtschaft.17
Indexstand
100 000
Aktienentwickung (indexiert)
10 000
1000
Unternehmensgewinne (indexiert)
100
1870er
80er
90er
1900
10er
20er
30er
40er
50er
60er
70er
80er
90er
2000
Quelle: Robert Shiller, Yale University.
Abbildung 14: Unternehmensgewinne und Aktienmarktentwicklung, historische Darstellung für die USA von 1870 bis 2009.
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Teil II
Wenn man auch dies in stilisierter Form grafisch darstellen möchte, dann entsteht folgendes Bild: Indexstand 100 000 000
Digitalisierung, Neue Medien
10 000 000 1 000 000
Elektrizität, Chemie, Autoindustrie
100 000
Petrochemie, Elektrizität
10 000 1000
Wasser-, Textil-, Eisenindustrie
100 10
Dampfkraft, Stahlindustrie
1 1801 1811 1821 1831 1841 1851 1861 1871 1881 1891 1901 1911 1921 1931 1941 1951 1961 1971 1981 1991 2001 Quellen: wie Abbildung 11, eigene Darstellung.
Abbildung 15: Die Triebfedern der langfristigen Aktienmarktentwicklung.
Die Darstellung zeigt auf, wie sich unterschiedliche Unternehmen bzw. Indus trien in den unterschiedlichen Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung dank ihrer Gewinn- und Innovationskraft als Triebfedern des Wachstums und damit als rendite generierende Elemente der Börsenentwicklung etabliert haben. Gewinner sind mit ihren neuartigen Produkten und Prozessen hinzugestossen, veraltete Industrien und Prozesse wurden eliminiert. Erst wenn unsere Innovationskraft, unser Wissensdurst und unser Erfindergeist zum Erliegen kommen, wird auch die Dynamik des Wirtschaftens erlöschen, dieser Prozess ein Ende finden und die Kurve langfristig nach unten abkippen. Mit all den Innovationen sowohl im Produkt- als auch im Prozessbereich, die im Moment am Horizont stehen, brauchen wir davor aber noch nicht Angst zu haben. Innovationskraft und Erfindergeist liegen im Wesen des Menschen begründet und haben die Menschheit seit Hunderten von Jahren vorwärtsgetrieben. Tendenziell ansteigende Börsenkapitalisierungen sind ein Spiegel und ein Indiz für diese Entwicklung. Niemand kann heute mit Sicherheit voraussagen, welche Industrien oder gar Firmen in den nächsten Jahrzehnten Gewinner in diesem Innovationsrennen sein werden. Wenn man sich aber ansieht, was im Bereich der Gen-, Nano-, Bio- oder Umwelttechnologien alles läuft, dann zweifelt man nicht daran, dass uns die Basis
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Teil III Vier Themenkreise
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Teil III
Auf den nachfolgenden Seiten finden sich Essays und Kolumnen, die innerhalb der letzten zehn Jahre geschrieben wurden. Sie behandeln ähnliche Themen wie die beiden letzten Kapitel, allerdings in einem jeweils konkreten zeitlichen und damit wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Kontext. In diesem Sinne sind sie fass barer als die oft eher theoretisch gehaltenen Ausführungen in Teil I und II. Ziel dieses Teiles im Buch ist es, aus konkreten Fällen der letzen zehn Jahre das zu lernen, von dem Kahneman meint, wir könnten es nicht. Wir haben die Aufsätze mehr oder weniger chronologisch um vier Themenkreise herum angeordnet. Themenkreis 1 behandelt geldpolitische Strategien und Modelle im Kontext der jeweiligen konjunkturellen Situation in den USA und in Europa. Beim Lesen der einzelnen Arbeiten mag es gelegentlich hilfreich sein, einzelne der Abbildungen in den beiden ersten Teilen zu Rate zu ziehen, um sich die jeweilige konjunkturelle Situation oder die Entwicklung der Zinsen vor Augen zu führen. Themenkreis 2 analysiert unterschiedliche Börsen- und Finanzmarktsituationen über die letzten Jahre, stellt sie in einen historischen Kontext und vertieft die unterschiedlichen Hypothesen zur Markteffizienz. Ein Buch, das sich zum Ziel setzt, die Finanzmarkt- und Anlagesituation der Nuller-Jahre und darüber hinaus zu analysieren, kommt nicht umhin, sich über die von 2007 bis heute (und wahrscheinlich noch lange) wirkende Finanzmarktkrise zu äussern. Nicht weil wir der Meinung wären, dass diese zu einer radikalen Änderung unserer langfristigen Markteinschätzungen führen müsste – das tut sie in der Tat nicht. Es geht vielmehr darum, dass die jüngste Finanzkrise einige strukturelle Schwachpunkte in allen möglichen Bereichen des Finanzmarkt-, Börsen- und des generellen Wirtschaftsumfeldes offengelegt hat, die intensiv zu diskutieren sind, noch bevor die Krise überstanden ist. Sonst werden gegebenenfalls Strukturen zementiert, die nichts Geringeres tun, als den Samen der nächsten Krise zu pflanzen. Einer Krise, die wir dann vielleicht nicht mehr mit der ähnlichen Vehemenz bekämpfen können wie jetzt, einfach weil wir dann keine Munition mehr haben. Dies ist der Inhalt des dritten Themenkreises. Im vierten Themenbereich versuchen wir dann den Kreis wieder zu schliessen und zu den reinen Anlagethemen zurückzufinden. Es werden dort Anlagestrategien und -produkte diskutiert, die Rolle des Investmentresearch und die Bedeutung des Anlageverhaltens spezifischer Marktteilnehmer für die Marktdynamik selbst. Eine Aufsatzsammlung wie die vorliegende weist gelegentlich Wiederholungen auf. Dies lässt sich kaum verhindern, werden doch ähnliche theoretische Ansätze auf unterschiedliche Zeitfenster angewandt, und einzelne Themen werden in unterschiedlichen Aufsätzen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Aber vielleicht sind es am Schluss ja die Wiederholungen, die es uns ermöglichen, die provokativen Aussagen Kahnemans Lügen zu strafen. Aus historischen Erfahrungen kann man lernen. Man muss nur bereit sein, die identifizierten Konzepte mit der gebotenen Beharrlichkeit zu verfolgen.
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Vier Themenkreise
Themenkreis 1 Konjunktur und Geldpolitik: Analysen, Modelle und Kommentare ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●●
Hat’s gut gemacht, … hat’s gut gemacht … (Jahresende 2005) Die Geister, die sie riefen … (Herbst 2001) Die Rezession, die keine war (Frühjahr 2002) So entsteht Deflation! (Frühjahr 2003) Schnelllebige Zeiten (Jahreswende 2003/04) Konjunktureuphorie: Einige Wehrmutstropfen aus historischer Sicht (Sommer 2006) Und sie dreht sich doch … (Frühjahr 2007) Kein aussergewöhnlicher Zyklus (Jahreswende 2007/08) Augenreiben (Jahreswende 2007/08) Der Drachenritt des Ben B. (Frühjahr 2008) Unerkundetes Territorium (Herbst 2010) Warum Konjunkturprogramme selten etwas bringen und Ökonomen schlecht prognostizieren (Herbst 2010)
Der vorliegende Themenkreis konfrontiert uns im Rahmen unterschiedlichster historischer Zeitfenster einmal mehr mit dem geldpolitischen Modell der westlichen Zentralbanken. Wir beginnen die Aufsatzsammlung mit einer Art Nachruf auf Alan Greenspans Zeit als Chairman der FED, geschrieben Ende 2005. Greenspan hat die Politik der US-Zentralbank während 18 Jahren geprägt und war der Architekt einer geldpolitischen Philosophie, die von verstecktem Aktionismus geprägt war. Er hat die US-Konjunktur zwar immer wieder aus Wellentälern herausgeholt, sie gleichzeitig aber auch immer wieder durchgeschüttelt. Vielerorts wird die Zeit Greenspans heute kritisch beurteilt, weil er mit einer ausgesprochen expansiven Strategie vermeintlich allzu lange eine Tiefzinspolitik gefahren sei. Damit trage er die Verantwortung für eine übermässige Kreditnachfrage bei breiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung und eine entsprechende Inflation der Asset-(insbesondere der Immobilien-)Preise, die über kurz oder lang in so etwas wie die gegenwärtige Finanzkrise habe münden müssen. Die nachfolgenden Aufsätze skizzieren Greenspans Politik anhand unterschiedlicher Zeitfenster. Sie zeigen auf, dass die relativ durchsichtigen geldpolitischen Strategien der Zentralbanken in den letzten 10 bis 15 Jahren immer wieder ein interessantes Prognoseinstrument für nachfolgende Konjunkturentwicklungen abgegeben haben. In nicht wenigen Fällen konnten sie gar eine Basis zur Analyse gleichzeitig ablaufender oder nachfolgender Entwicklungen an den Aktienbörsen liefern. Wir haben gesehen, dass dort ja Zukunftserwartungen gehandelt werden, die in aller Regel durch die Zinspolitik der Zentralbanken beeinflusst werden. Die nachfolgende Grafik mit einem Abbild der kurzfristigen Zinsen und der USKonjunktur soll eine Einordnung der verschiedenen Aufsätze in die Zeitgeschichte ermöglichen. Wir haben oben bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es sinnvoll ist, die jeweiligen Argumente im Rahmen der jeweils aktuellen Situation zu sehen.
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Teil III
«Warum Konjunkturprogramme selten etwas bringen» 10,0 %
«Konjunktureuphorie»
9,0 % 8,0 % 7,0 %
Zinsinversion
«Und sie dreht sich doch …»
«Die Rezession, die keine war» «Schnelllebige Zeiten»
6,0 %
«Augenreiben»
«Kein aussergewöhnlicher Zyklus»
«So entsteht Deflation!»
«Hat’s gut gemacht, … hat’s gut gemacht …»
3,0 % 2,0 %
18,0 % 16,0 %
«Unerkundetes Territorium»
Zinsinversion
5,0 %
«Die Geister, 4,0 % die sie riefen …»
20,0 %
10,0 % 8,0 %
«Der Drachenritt des Ben B.»
6,0 % 4,0 %
1,0 %
2,0 %
0,0 %
0,0 %
–1,0 %
–2,0 %
–2,0 %
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Der US-Konjunkturzyklus (Wachstumsraten des realen BIP, rechte Skala)
2006
2007
2008
2009
2010
–4,0 %
Entwicklung der Federal Funds Rate (Skala links)
Abbildung 22: Die Chronologie der nachfolgenden Abschnitte zum Themenkreis 1 im Kontext der Federal Funds Rate und der US-Konjunktur.
Der letzte Aufsatz des ersten Themenkreises setzt sich mit Wirtschaftsprognosen generell auseinander. Er wirft ein ausgesprochen kritisches Licht auf die Art und Weise, wie traditionelle Ökonomen ihr inzwischen fast 100 Jahre altes Standard instrumentarium noch immer für volkswirtschaftliche Prognosen einsetzen und diese auch noch für Geld verkaufen, obwohl bekannt ist, dass solchermassen entstandene Analysen wertlos sind. Die Thematik wird im Themenkreis über die Finanzkrise unter dem Titel «Und wenn die Modelle nicht stimmen?» weiter hinten noch einmal aufgenommen.
Jahresende 2005 Hat’s gut gemacht, . . . hat’s gut gemacht . . .25 Im Januar 2006 tritt Alan Greenspan nach 18 Jahren an der Spitze der amerikanischen Notenbank als Präsident ab. Sowohl den akademischen als auch den politischen Beobachtern der geldpolitischen Szenerie in den USA hat Greenspan in den letzten fast 20 Jahren unabhängig von deren jeweiligen politischen bzw. theoretischen Couleur einiges abgerungen. Von Beifall über Stirnrunzeln bis hin zu grauen
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Zum Autor Erwin W. Heri ist ein «Hybrid» der internationalen Finanzmarktszenerie. Ausgebildet (Studium, Doktorat, Habilitation) in Bern, Basel, Ann Arbor und Stanford, war er zunächst als Professor für Nationalökonomie und angewandte Statistik an der Universität Basel tätig, bevor er sich der Banken- und Finanzpraxis zuwandte. Dort machte er zuerst als Global Head of Research, Asset Management and International Private Banking beim Schweizerischen Bankverein in Basel Karriere, wurde dann als Chief Investment Officer und später CFO Mitglied der Konzernleitung der Winterthur Versicherungsgruppe und schliesslich Chief Investment Officer bei der Credit Suisse in Zürich. Während seiner ganzen Zeit in der Finanz- und Anlagepraxis behielt er seinen Status als Professor der Universität Basel bei, hielt dort seine Vorlesungen und betreute seine Doktoranden. Daneben war er während mehrerer Jahre Gastprofessor am HEI der Universität Genf. Er betreute Forschungsseminarien und publizierte. Die Forschungsgebiete befanden sich immer im Bereich der praktischen Anwendungsmöglichkeiten der theoretischen Finanzmarktforschung, und ein wesentliches Anliegen war die Übersetzung der Finanzsprache und der Finanzprodukte für den Mann auf der Strasse. So entstand neben wissenschaftlichen Arbeiten auch eine Reihe populärwissenschaftlicher Abhandlungen, von denen sich die Acht Gebote der Geldanlage aus dem Jahre 1999 zu einem Bestseller entwickelten. Heute ist Erwin W. Heri Chairman einer an der Börse kotierten internationalen Bankengruppe in Zürich (Valartis Bank) und betreut eine Reihe grösserer Mandate im Anlage- und Finanzbereich, aber auch in der Industrie. Er leitet ferner ein britisches Family Office und betreibt eine Beratungsfirma im Pensionskassenbereich. Er war langjähriger Vorsitzender der Anlagekommission der Pensionskasse des Bundes. Tätigkeiten im wissenschaftlichen Bereich beinhalten die Vorlesungstätigkeit an den Universitäten Basel und Genf, die Doktorandenbetreuung sowie Publikationen und Vorträge. Erwin W. Heri ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern. In seiner Freizeit ist er vor allem kulturell und sportlich interessiert. In jüngeren Jahren war er langjähriges Mitglied der Schweizerischen Tischtennis-Nationalmannschaft und vertrat die Schweiz an zahlreichen Welt- und Europameisterschaften.
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