Ursula Caflisch-Schnetzler: Johann Caspar Lavater Jugendjahre. Vom Wert der Freundschaft, Band 1

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Band 1 V om Wert
Freundschaft LAVATER JOHANN CASPAR JUGENDJAHRE
Ursula Caflisch-Schnetzler
der

Neujahrsblatt der Gelehrten Gesellschaft in Zürich auf das Jahr 2023, 186. Stück (Fortsetzung der Neujahrsblätter der Chorherrenstube Nr. 244)

Johann Caspar Lavater Jugendjahre

Band 1

Vom Wert der Freundschaft

Mit einem bisher unveröffentlichten Text von Johann Caspar Lavater

Von der unausdenklichen Theilbarkeit des Raums und der Zeit

NZZ Libro

Ursula Caflisch-Schnetzler

Autorin und Verlag danken für die Unterstützung: Fachstelle Kultur des Kantons Zürich; Stadt Zürich Kultur; Altstadt Kirchen der Stadt Zürich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

Umschlag: Marco Morgenthaler, Zürich; Vorderseite: Zeichnung des jungen Johann Caspar Lavater von Johann Rudolf Füssli; Rückseite: Lavater als Scherenschnitt, Abbildung aus dem »Lavaterbuch«; vgl. Abbildungsverzeichnis, S. 243 Gestaltung, Satz, Korrektur: Marco Morgenthaler, Zürich Bildbearbeitung: Manù Hophan, Zürich Druck, Einband: Balto Print, Litauen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN 978-3-907396-22-3

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

Inhalt

7 Einleitung

25 Freundschaftsbegriff 49 Zürich im 18. Jahrhundert 73 Kindheit und Jugend 95 Ausbildung und Selbstfindung 113 Klagen eines Patrioten 131 Exspektantenreise und Bestimmung des Menschen 151 Erste Werke und Heirat

Anhang 181 Von der unausdenklichen Theilbarkeit des Raums und der Zeit. 1766 243 Abbildungsverzeichnis 252 Anmerkungen 292 Bibliografie 302 Personenregister 309 Zur Autorin

Einleitung

»Lavater! Erzähl uns Deine Lebensgeschichte so umständlich wie möglich.« 1

Wie auch immer man eine Biografie verfassen will, so besteht die Hauptaufgabe wohl darin, die »inneren Regungen« wie auch »die äußeren Einflüsse« darzustellen und »den Menschen in seinen Zeitverhältnissen« 2 zu zeigen. Johann Wolfgang von Goethe packte diese Forderung in das Vorwort seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit und rückte seine Person aus dem »engen Privatleben in die weite Welt« 3, um damit auch die Pyramide seines Daseins »so hoch als möglich in die Luft zu spitzen« 4. Dem Zürcher Theologen, Philosophen und Autor Johann Caspar Lavater, welchem Goethe diese Intention in seinem Brief vom 21. September 1780 mitgeteilt hatte, bedeutete die eigene Berühmtheit weit weniger, doch erkannte auch er die Notwendigkeit seiner Lebensbeschreibung und setzte deshalb eine »einzig wahre Urkunde« 5 seines Lebens auf. Diese Aufzeichnungen zu seinen Kindheits- und Jugendjahren veröffentlichte er jedoch nicht selbst, sondern überließ sie als Manuskript seiner Familie und den »vertrautesten« 6 Freunden. Da »doch nun einmal eine Lebensgeschichte von mir wird gemacht werden müssen« 7, setzte Lavater sein Vertrauen darauf, dass eine Biografie aus seinen gedruckten und ungedruckten Schriften, seinen Tagebüchern und aus seiner enorm dichten Korrespondenz postum verfasst werde, in welcher sein Charakter wie die äußeren Einflüsse und sein Wirken in Zürich, der Schweiz und in ganz Europa als Mensch, Theologe, Philosoph, Anthropologe und Physiognom, Pädagoge, Ästhet und Kunstsammler dargestellt ist.

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Zeit seines Lebens hatte sich Lavater mit sich selbst auseinandergesetzt, um über seinen Verstand, die damit umgesetzte Vernunft und eine innere Tugend zu jener Glückseligkeit zu gelangen, die er in der Nachfolge Christi sah. Wie Aurelius Augustinus, so erkannte auch er in Gott den Urschöpfer, der ohne Hilfe den Menschen erschaffen, ihn jedoch nicht ohne dessen Mithilfe selig machen könne.8 Die Gedanken des seiner Zeit vorauseilenden Kirchenlehrers und Dialektikers Augustinus waren dem jungen Lavater bereits früh vertraut.9 Er fand in den Confessiones nicht nur das kritische Lebensbekenntnis und ein Bekenntnis zu Gott, sondern entdeckte bald schon selbst auch das in dessen Gnade stehende und mit einem eigenen freien Willen versehene Individuum. Im Bild des Menschen liebenden und Mensch gewordenen Gottes fand sich der junge Lavater mit seinem eigenen regen Geist aufgehoben und stellte sich ein Leben lang oft schonungslos der Frage nach den Aufgaben der eigenen Person innerhalb der göttlichen Schöpfung und damit über sein Werk und Wirken hinaus der zentralen Frage nach der Bedeutung des Menschen.

Johann Caspar Lavater wurde am 15. November 1741 als zwölftes Kind des Arztes und Pflegers des Stiftes zum Großmünster, Johann Heinrich Lavater, und dessen Frau Regula, geb. Escher vom Glas, im Haus ›Zum Waldries‹ in Zürich geboren. Aus gutbürgerlichem Haus stammend, besuchte Lavater nach der Deutschen Schule die Lateinschule und das Collegium Humanitatis. In seinem Studium der Theologie am Collegium Carolinum wurde er unter anderem durch die Professoren Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger mit dem Gedankengut der Aufklärung vertraut gemacht. 1762 beendete er sein Theologiestudium als Verbi Divini Minister. Noch im gleichen Jahr setzte Lavater mit seinem Kommilitonen, dem späteren Maler Johann Heinrich Füssli, die von Bodmer und Breitinger gelehrten Gedanken in seiner Klageschrift gegen den korrupten Landvogt von Grüningen, Felix Grebel, um. Die jungen Theologen verfassten anonym das Traktat Der ungerechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten und bewirkten damit, dass die Zürcher Regierung die Vorkommnisse untersuchen musste. Grebel wurde verurteilt, doch hatten

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auch die Ankläger wegen ihres unrechtmäßigen Vorgehens vor den Stadtvätern Abbitte zu leisten. Deren Familien sowie die ehemaligen Lehrer veranlassten daraufhin, dass die beiden jungen Theologen zusammen mit ihrem Freund und Mitstreiter Johann Felix Hess eine Bildungsreise nach Deutschland antraten, begleitet bis Berlin von dem renommierten Philosophen und Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Dieser machte die jungen Zürcher mit zahlreichen bedeutenden Gelehrten Deutschlands bekannt und überließ sie danach für einen mehrmonatigen Aufenthalt dem aufgeklärten Reformtheologen Johann Joachim Spalding in Barth in Schwedisch-Pommern. Spalding führte die drei jungen Theologen nun gezielt in die europäische Literatur und in die Predigttätigkeit ein. Im März 1764 kehrten Lavater und Hess nach Zürich zurück (Füssli reiste weiter nach England), wo Lavater weiterhin im elterlichen Haus wohnen blieb und seine ersten schriftstellerischen Versuche vorantrieb. 1764/1765 gründete er die Moralische Gesellschaft in Zürich und trat der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach bei. Am 3. Juni 1766 heiratete Lavater die um ein Jahr jüngere Zürcherin Anna Schinz. Zusammen hatten sie acht Kinder, wovon der Sohn Johann Heinrich und die beiden Töchter Anna (»Nette«) und Anna Louisa das Erwachsenenalter erreichten. Lavater wurde 1769 zum Diakon, 1775 zum Pfarrer an die Waisenhauskirche in Zürich gewählt. 1778 bekam er den Ruf als Diakon an die Stadtkirche St. Peter, wo er erstmals eine eigene Amtswohnung beziehen konnte (zuerst die ›Reblaube‹, ab 1784 die ›Neue Helferei‹, das heutige ›Lavaterhaus‹) und ab 1786 als erster Pfarrer amtete. Im gleichen Jahr erreichte ihn ein Ruf nach Bremen, den Lavater ablehnte. Er trat jedoch die bereits geplante Reise mit seinem Sohn nach Göttingen an und reiste auch in die Hansestadt Bremen, wo er mit allen Ehren empfangen wurde. Bei seinem Besuch und besonders während seiner Predigt musste er des großen Menschenandranges wegen »immer Mit 6 Soldaten – auf u. von der Canzel begleitet werden«; es standen an jenem Predigtsonntag in Bremen um die »3000 Menschen auf dem Kirchhof«.10 Man beschenkte ihn mit silbernen Terrinen und mit »Soucoupes – inwendigt vergoldt«, mit einer großen goldnen »Medaillen« mit dem Wappen der Stadt Bremen, gab ihm »2 Silberne

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Lichtstök – 2 Tafeln-Tücher – u. 2 dozend Servietes Mit Kränzen« sowie ein »goldnes Etuy« 11 und vieles mehr und ließ auch während seiner Anwesenheit ein dreimastiges Segelschiff unter dem Namen »Johann Caspar Lavater« vom Stapel laufen mit dessen großem Porträt am Heck (Abb. 1).

Die Rückreise nahm Lavater über Weimar, wo er bei Goethe logierte und auch mit der noch im Kindbett liegenden Herzogin Luise, der Patin von Lavaters 1778 und 1780 geborenen gleichnamigen Töchtern, im Schloss mehrfach sprach. Auch traf er sich dort mit Johann Gottfried Herder und dessen Frau Caroline sowie mit Christoph Martin Wieland. Der Weg zurück nach Zürich führte ihn über verschiedene Stationen zu weiteren ihm vertrauten Freunden.12 Während seiner Amtszeit in Zürich schrieb Lavater weit mehr als vierhundert Werke 13, reiste viel und pflegte Freundschaften mit den wichtigsten Exponenten aus Kultur, Politik und Gesellschaft; zudem unterhielt er einen auch für das 18. Jahrhundert immens umfangreichen Briefwechsel mit Korrespondenten aus ganz Europa 14 und war einer der beliebtesten und gefragtesten Prediger seiner Zeit. Als die Franzosen 1798 in die Schweiz einmarschierten, wandte sich Lavater mit seinem Wort eines freyen Schweizers an die große Nation 15 und mit einem kritischen Schreiben An das helvetische VollziehungsDirektorium 16. Wegen seiner politischen Schriften und seiner Haltung verhaftete man ihn und deportierte ihn auch 1799 für eine kurze Zeit nach Basel. Wieder nach Zürich zurückgekehrt, wurde er während der zweiten Schlacht um Zürich am 26. September 1799 vor seinem Haus an der St.-Peter-Hofstatt von der Kugel eines französischen Soldaten getroffen. Lavater starb am 2. Januar 1801 in seiner Heimatstadt Zürich nach einer langen Leidenszeit an den Folgen dieser Schussverletzung.

Gleich nach Lavaters Tod am 2. Januar 1801 »Nachmittags zwischen 2 bis 3« 17 Uhr setzten die ersten Nachrufe auf den Zürcher Pfarrer ein. So berichtete am 5. Januar 1801 die Zürcher Zeitung (der Name Neue Zürcher Zeitung wird erst ab 1821 verwendet) über dessen »Leichenbegängnis«. Der Berichterstatter lobte den Pfarrer von St. Peter als einen »frommen Weisen« und »einen Mann von

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1 — Das Ostindien-Schiff »Johann Caspar Lavater« mit seinem Porträt am Heck.

2 — Johann Heinrich Lips; Johann Caspar Lavaters Denkmal.

seltener Thätigkeit«, erwähnte dessen »Vaterlandsliebe« und nannte ihn einen »Menschenfreund und Beförderer des Guten«. Auch der Kupferstecher, Radierer und Maler Johann Heinrich Lips setzte seinem Freund und Förderer Lavater gleich nach dessen Tod ein künstlerisches Denkmal, welches er aus geschäftstüchtigen Gründen bereits vor dessen Ableben im Geheimen entworfen hatte 18 und der hohen Nachfrage wegen – die Auflage von 2000 Exemplaren war in Kürze ausverkauft (Abb. 2) 19 – in leicht abgeänderter Form und in einem größeren Format später neu stechen ließ.20 Im Chor der Kirche St. Peter wurde von der Kirchgemeinde bald schon ein Epitaph zu Lavaters Gedenken und Ehren erstellt, wie bereits 1801 eine »Ode auf Johann Caspar Lavater« gedruckt vorlag und ein Jahr später Lavater das »Neujahrsgeschenk ab dem

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3 — Johann Heinrich Dannecker; Johann Caspar Lavater.

Musiksaal an die Zürcherische Jugend« gewidmet wurde. Von Seiten der Stadt Zürich verzichtete man auf ein ursprünglich geplantes öffentliches Denkmal für Lavater. Lips meldete denn auch verärgert am 23. April 1802 dem in Andelfingen tätigen Theologen, Freund und Sammler Wilhelm Veith: »Zürich ist immer eine Mixtur, aus der, wenn sie gerüttelt wird, immer nur ein stinkend abderitische Luft aufsteigt. Wir erfahren es aufs neüe mit Lav. Denkmal, das errichtet werden soll.« 21 Man richtete deshalb einen Denkmalfonds ein und verpflichtete den bekannten klassizistischen Künstler Johann Heinrich Dannecker, der mit seiner 1794 postum geschlagenen Schiller-Büste den Durchbruch als Bildhauer erzielt hatte.22 Er entwarf eine überlebensgroße Gewandbüste in Carrara-Marmor, welche vom Stuttgarter Bildhauer Friedrich

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Distelbarth nach dem 1802 von Dannecker erstellten und in Paris mit Erfolg gezeigten Gipsabdruck von Lavater ausgeführt und 1805 von Dannecker selbst fertiggestellt, signiert und nach Zürich geschickt wurde (Abb. 3). Da man die Büste aus verschiedenen Gründen weder in der Kirche St. Peter noch im Garten des Waisenhauses aufstellen konnte und wollte, wurde sie in Lavaters ehemaliges Amts- und Wohnhaus an die St.-Peter-Hofstatt gebracht. Nicht nur Lavater zu Lebzeiten, sondern nun auch dessen Büste erreichte dort eine »Celebrität« und damit einen starken Andrang einer »Masse lästiger Besucher« 23, sodass man sie bereits zwei Jahre später in die Wasserkirche brachte, wo die Stadtbibliothek im Erdgeschoss die Büsten von bedeutenden Zürcher Persönlichkeiten aus dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert präsentierte.24 Aus Platzgründen wechselte sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Depositum des Landesmuseums, wurde danach lange Zeit vor und in der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich am Predigerplatz aufgestellt und ist seit 2017 als Dauerleihgabe der Zentralbibliothek Zürich wieder »die schönste Zierde« 25 im ›Lavaterhaus‹.

Die postumen Schriften zu und über Lavater setzten inhaltlich in ganz unterschiedlicher Form gleich nach dessen Tod ein. Deren wichtigste sollen hier kurz erwähnt sein.

Die erste bekannte Biografie zu Lavaters Leben und seinen Schriften erschien 1801 anonym in Leipzig.26 Im Vorwort »An die Leser« entschuldigt sich der Autor für seine »rhapsodischen« Bemerkungen zu Lavater, den er »als freyen Mann« 27 und Patrioten bezeichnet, welcher den Mut aufgebracht habe, als einer der wenigen sich vehement gegen die allgegenwärtige Besatzermacht Frankreich zu äußern. Um Gerechtigkeit und Wahrheit gehe es dem Autor in dieser Biografie und darum, dass man den Menschen und die Schriften von großen Männern nicht »einer frühen Vergessenheit Preiss« 28 gebe.

Jacques-Henri Meister, ein enger Freund Lavaters aus der Studienzeit am Collegium Carolinum,29 welcher seiner polemischen Schriften wegen das Zürcher Bürgerrecht verloren und seine weiteren Werke von Paris aus fast aus-

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schließlich in französischer Sprache geschrieben hat, vergleicht den Zürcher Pfarrer in seiner Biografie, die Ende 1801 bereits übersetzt auch auf Deutsch vorlag, mit Denise Diderot, auf den Meister 1786 ebenfalls eine Mémoire verfasst hatte.30 Diderot und Lavater seien in ihren Meinungen zwar ganz unterschiedlich gewesen; dennoch sieht der Verfasser eine auffallende Ähnlichkeit in deren »Enthusiasmus und Güte«, wodurch sich beide in ihrem »Geist und Herz im gleichen Grade auszeichneten« 31. Beide wurden sie durch ihre Fantasie beherrscht und wussten sich eine eigene Sprache zu schaffen. Zudem hatte sie »die Natur mit dem Vortheil eines sehr edlen und interessanten Aeussern ausgestattet«. »Hatte der eine den schönsten Philosophenkopf, so hätte der andre mit dem seinigen für das Bildnis eines Apostels zum Modell dienen können. Raphael würde den ersten zum Muster gewählt haben, wenn er den Kopf eines Plato hätte mahlen wollen; nach dem letztern würde er den Kopf des Lieblingsjüngers Jesu entworfen haben.« 32 Wie Meister weiter in seiner Biografie zu Lavater festhält, liebten Diderot und Lavater die schönen Künste, der »eine beurteilte alle Gemälde als dramatischer Dichter, der andere als physiognomischer Beobachter.« 33 Sei Diderot von Natur aus mit einer größeren Stärke des Geistes, mit mehr Talenten ausgestattet gewesen, so besaß Lavater mehr Tat- und Willenskraft und einen »sanftern, feurigern, kraftvollern und expansivern Geist« 34 . Lavaters Schwiegersohn Georg Gessner, Theologe und späterer Antistes von Zürich, hatte nach Lavaters Tod freien Zugang zu allen Manuskripten, Briefen und Unterlagen aus Lavaters Nachlass, auf deren Grundlage und dank seines engen Verhältnisses sowie des ausdrücklichen Wunsches seines Schwiegervaters er 1802/1803 Johann Caspar Lavaters Lebensbeschreibung von seinem Tochtermann in drei Bänden niederschrieb und herausgab.35 Obschon Gessner anfänglich noch daran zweifelte, dieser Aufgabe genügend gewachsen zu sein, bezeichnet er die ab 1802 vorliegende Biografie in seiner Vorrede als »ein nützliches Werk« 36. Er wolle Lavater so darstellen, wie er gewesen sei, und nicht, wie ihn ein Biograf »zu mahlen, zu charakterisieren und darzustellen gut fände« 37. Lavater habe ihm selbst diese Aufgabe mit den Worten aufgetra-

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gen: »Wenn ich todt bin, so erwartet man von dir meine Lebensgeschichte –und du mußt sie auch schreiben«.38 Dass Gessner den Biografen geben sollte, zeigte sich bereits in dem Promemoria zur Lebensgeschichte 39, welche dem Schwiegersohn von »meinem Herzensfreünde Johann Caspar Lavater in Erwartung seines nahen Todes« 1794 bezüglich einer »Lebensgeschichte« in die Feder diktiert wurde. Gessner beabsichtigte mit all seinem Wissen um Person, Werk und Wirken Lavaters, diese Lebensbeschreibung nun so zu »schreiben, wie ich erzählen würde, wenn du [Lavater] an meiner Seite sässest, mein Urtheil zwar nie verhehlen, aber ihm auch nie ein Uebergewicht über die wirkliche Darstellung gestatten« 40. Lavaters Leben teilte Gessner in seinen drei Bänden – ähnlich der hier in einem ersten Band vorliegenden Biografie –in die Jahre 1741 bis 1769 (Band 1), 1770 bis 1785 (Band 2) und 1786 bis 1801 (Band 3) auf. »Nicht mehr! Also seh’ ich dich nicht mehr, den meine Seele liebet!«, schrie Johann Heinrich Füssli – überwältigt von Gefühlen beim Gedanken an den Abschied – seinem Kommilitonen und engsten Freund Lavater in seiner Ode Klagen 41 von 1763 nach, als er weiter nach London, Lavater und Johann Felix Hess jedoch zurück nach Zürich reisten. Seine unaussprechliche Angst vor diesem Abschied führte bei Füssli dazu, dass er während der ersten zwei Tage nach der Trennung, die er »zu den schrecklichsten« seines Lebens zählte, in den »voll fühlloser Tränenlosigkeit« gelebten Stunden während des Aufenthaltes in den verschiedenen Posthäusern diese Klagen »flüchtig aufs Papier geworfen« hatte.42 Sie – wie die Briefe an Lavater – zeigen dessen innigste und auch eifersüchtig für sich allein beanspruchte Freundschaft mit dem gleichaltrigen Freund Lavater. Die Ode schließt mit den Worten des italienischen Dichters Pietro Metastasio:

Mai sie cara occhi miei Tu non fosti, o Alma amata, ne tal pena o mai provata nel dividermi da te.

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Nachdem Füssli in London von Lavaters Tod erfahren hatte, plante er sogleich, eine Biografie seines ein Leben lang innerlich mit ihm verbundenen fernen Freundes zu schreiben.43 Zu einer eigentlichen Lebensbeschreibung von Füssli ist es zwar nicht gekommen, jedoch zu zwei Oden an Lavater nach dessen Tod.44 Deren erste ist in Form von Distichen mit wechselnden Hexametern und Pentametern als stark korrigierter Entwurf auf der Rückseite eines Briefes erhalten und beginnt mit jenem Denkspruch, den Lavater Füssli bei ihrem zweiten Abschied in Göttingen 1764 übergeben hat: »Thue den siebten Theil von dem was du thun kannst«. Füssli eröffnete seine Trauer um den »nun / izt unsterblichen Freund«, dessen »Arm ich entfloh«, in dieser Ode an Lavater und beendete sie mit den Worten: »Lavater wärest du hier / Lavater sähst du mich izt – hier bin ich bewundernd den Welt Strom, den dein bescheidener Mund über dich selber ergoß!« 1803 entstand eine weitere Ode von Füssli auf seinen ehemaligen Freund, nun in Form eines Zwiegesprächs zwischen ihm als »Der Fremdling« und »Lavater«. Nach seinem Verlust der ehemals als »reinste Freundschaft« und »voll reiner Liebe« zugewandten Beziehung 45 zu dem nun über Jahrzehnte hinweg nicht mehr gesehenen Freund, dessen Briefe Füssli als »Amulett« auf sich trug 46 und die keine fremde Hand hatte berühren dürfen,47 erschuf der Maler gleichzeitig mit den beiden Oden in Gedanken und im Gedenken an seinen Freund das bis anhin von der Forschung in diesem Zusammenhang nicht mit einbezogene Gemälde »Hypnos und Thanatos tragen den Körper des toten Sarpedon nach Lykien» (Abb. 4).

Ulrich Hegner hatte für seine 1836 erschienenen Beiträge zur nähern Kenntniß und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater’s 48 wie Gessner Zugang zu Lavaters Handschriften. Offensichtlich wurde ihm auch die Einwilligung gegeben, Auszüge aus den Briefen zu veröffentlichen, da Lavater ihm gegenüber geäußert hätte, aus den Briefauszügen an Freunde werde seine eigene Person besser zu erkennen sein.

Hatte Jacques-Henri Meister Lavater 1802 noch mit Diderot verglichen, so lobt Friedrich Wilhelm Bodenmann 1856 in seinem Vorwort Lavaters »unbeschreiblich reichbegabte Persönlichkeit« 49 und stellt seine Verdienste in die

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Reihe der Reformatoren, nur dass Lavater nicht gegen das Papsttum hatte kämpfen müssen, sondern »gegen die religiöse und sittliche Entnervung der deistischen Aufklärung« 50. Die Absicht Bodenmanns ist es, diesen »Kern- und Kraftmann wieder aufzufrischen« 51 und Lavaters reiches äußeres wie inneres Leben biografisch nachzuzeichnen.52

Johann Caspar Mörikofer will 1861 in seiner Würdigung den Schriftsteller »durch seinen persönlichen Charakter beleuchten« 53, da dieser im größten Teil seiner Schriften in »ungewöhnlicher Weise« hervortrete, denn die Biografie sei der Schlüssel zum Verständnis von Lavaters Schriften.

Franz Muncker kritisierte 1883 in seinem Vorwort zu Johann Kaspar Lavater. Eine Skizze seines Lebens und Wirkens die Kritiklosigkeit in Georg Gessners Lavater-Biografie und strebte mit seinen Aufzeichnungen nun einen neuen Versuch an, »Lavater nach seinem Leben und Wirken darzustellen«, mit der Einschränkung, dass mit diesen Aufzeichnungen das Desiderat der »bisher mangelnden, wissenschaftlich ausreichenden Monographie« nicht behoben werden könne.54

Weiter erschienen bis heute neben zahlreichen kleineren und größeren Schriften und zwei Werkausgaben 55 1902 eine Denkschrift zu Lavater, herausgegeben von der Stiftung von Schnyder von Wartensee anlässlich der hundertsten Wiederkehr seines Todestages; 56 1939 folgte die Biografie der Schriftstellerin und über ihren Mann mit Lavater verwandten Mary LavaterSloman 57 mit der Ambition, Lavater als Mensch und als »Genie des Herzens« zu zeigen, 1988 eine Bildbiografie von Anne-Marie Jaton,58 die den Philosophen, G ottesmann und Physiognomen ins Zentrum zu rücken suchte, und 2012 eine Zusammenstellung seiner Gedanken unter der Prämisse, Lavater neu zu entdecken.59

Der erste Versuch, Lavaters literaturwissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Verdienst aufgrund seiner Quellen auch wissenschaftlich anzugehen, ist Hans Wysling im Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung Zürich im 18. Jahrhundert zu verdanken.60 Horst Weigelt 61 gibt nur wenig später mit seiner kurz gehaltenen Publikation 1991 eine fundierte Einführung

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4 — Johann Heinrich Füssli; Schlaf und Tod tragen den Leichnam des Sarpedons nach Lykien.

in Lavaters Leben und Werk sowie in dessen Wirkungsgeschichte, ebenfalls anhand von nachgewiesenen Quellen und mit dem wichtigen Hinweis, die Aufmerksamkeit besonders auf Lavaters Beziehungen zu richten, da dieser »an nahezu allen theologischen und geistigen Strömungen seiner Zeit lebhaft partizipiert, zu fast allen bedeutenden Persönlichkeiten seines Jahrhunderts Kontakte gepflegt und sich in den verschiedensten Bereichen mit seiner nie ruhenden Feder engagiert« 62 hatte. Hinzu komme noch sein »kaum überschaubarer Briefwechsel mit Partnern aus halb Europa«, ohne welchen man »weder seine Biographie noch sein breites literarisches Werk adäquat« verstehen könne.63

Die wichtigsten Schriften aus Lavaters Œuvre wurden ab 1998 historischkritisch ediert. Sie bewegen sich nicht nur im Gedankenfeld der Theologie, sondern beschäftigen sich intensiv auch mit philosophischen, anthropologischen, poetischen, pädagogischen, politischen, physiognomischen und naturwissenschaftlichen Fragen.64 Seit 2017 wird dessen gesamte Korrespondenz digital als Netzwerkstruktur 65 erfasst und daraus die wichtigsten Briefwechsel 66 Lavaters historisch-kritisch ediert. Die Sammlung Johann Caspar Lavater 67 ist seit 2012 im ehemaligen Wohnhaus von Lavater mitten in der Altstadt von Zürich beheimatet, bestückt mit einmaligen Sammlungsstücken des berühmten Zürcher Theologen. Darunter befindet sich auch das sogenannte »Lavaterbuch«, in welchem postum festgehalten und einzeln beschrieben die bedeutendsten Porträts von ihm namentlich und mit einmaligen Abbildungen zusammengetragen sind. Mit der Erschließung und Erforschung von Lavaters Physiognomischem Kabinett,68 seiner immensen Kunstsammlung, welche sich Kaiser Franz I. von Österreich für seine Privatsammlung nach Lavaters Tod angeeignet hatte, würde auch der individuelle und originelle Kunstsammler Lavater inmitten von Europas Gelehrten- und Fürstenhäuser sichtbar gemacht werden.

Die wissenschaftliche Fachtagung 2020 in Halle/Saale unter dem Titel »Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts. Johann Caspar Lavater« 69 sowie der hier vorliegende erste Teil der dreiteiligen Biografie liefern weitere Zeugnisse zu einem fundierten Verständnis und zur objektiven Beurteilung.70

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5 — Banknote der Northampton Bank.

Dank der wissenschaftlichen Forschung zu Lavaters Werk, seiner Korrespondenz und seinem in die verschiedensten Bereiche hinein vernetzten Wirken kann festgehalten werden, dass der Zürcher als eine der bedeutendsten Personen des 18. Jahrhunderts gelesen werden muss.

In Pennsylvania, einem der Auswanderungsziele von Schweizern im 18. und 19. Jahrhundert, wurden von der Northampton Bank sowohl deutsche als auch amerikanische Banknoten herausgegeben, auf welchen in der entsprechenden Währung Berühmtheiten abgebildet waren. 1836 erschien in den Vereinigten Staaten nun eine Banknote in deutscher Sprache mit dem Wert von »Fünf Thaler«, auf welcher zum einen der Rütlischwur dargestellt ist, zum andern mit je einem Porträt die beiden Gelehrten, Theologen, Schriftsteller und Dichter Christian Fürchtegott Gellert und Johann Caspar Lavater (Abb. 5).

Am 21. Juli 1995 entdeckte der deutsche Astronom Freimut Börngen im Hauptgürtel den Asteroiden 19263 und benannte ihn nach dem Schweizer Theologen und Philosophen Lavater. Damit wurde Lavater nicht mehr einzig durch sein

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Werk und Wirken, sondern nun auch ganz real wie Johann Wolfgang von Goethe (3047), Friedrich Schiller (3079), Johann Gottfried Herder (8158), Immanuel Kant (7083) und Friedrich Gottlieb Klopstock (9344) universal in seiner ganzen Bedeutung zu einer bleibend benannten Erscheinung.

Goethe beschreibt im Rückblick auf sein von den verschiedensten Freundschaften geprägtes Leben auch mehrfach Lavaters Person, sei dies anlässlich ihres ersten längeren Beisammenseins in Frankfurt und Ems 1774 oder aber bei seinen Besuchen in Zürich 1775 und 1779. Für ihn »war der Umgang mit Lavater in den jungen Jahren wichtig und lehrreich« 71. Das Bild und die Art des Zürcher Pfarrers prägten sich denn auch bei ihm ein:

Die tiefe Sanftmut seines Blicks, die bestimmte Lieblichkeit seiner Lippen, selbst der durch sein Hochdeutsch durchtönende treuherzige Schweizerdialekt, und wie manches andere, was ihn auszeichnete, gab allen, zu denen er sprach, die angenehmste Sinnesberuhigung; ja seine, bei flacher Brust, etwas vorgebogene Körperhaltung trug nicht wenig dazu bei, die Uebergewalt seiner Gegenwart mit der übrigen Gesellschaft auszugleichen. Gegen Anmaßung und Dünke wußte er sich sehr ruhig und geschickt zu benehmen; denn indem er auszuweichen schien, wendete er auf einmal eine große Ansicht, auf welche der beschränkte Gegner niemals denken konnte, wie einen diamantnen Schild hervor und wußte denn doch das daher entspringende Licht so angenehm zu mäßigen, daß dergleichen Menschen, wenigstens in seiner Gegenwart, sich belehrt und überzeugt fühlten.72

Lavater lebte in, mit und für seine Freundschaften, die ihm ermöglichten, die verschiedensten Diskurse der Zeit im geschriebenen Gespräch in einer neuen Sprache aufzunehmen und sie individuell mit seiner eigenen Art zu prägen. Er war ein Beziehungsgenie im persönlichen wie im geschriebenen Wort und zählte – wie er Johann Gottfried Herder am 4. Februar 1773 mitteilte – neben seiner Frau und den Kindern die Freunde zu den »drey Dinge[n] unter der Sonne«, die das Beste seien, was er habe.73

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6 — August Friedrich Oelenhainz; Johann Caspar Lavater.

Die hier vorliegende Biografie nähert sich in den drei Teilen »J« (»Jugendjahre« 1741–1767), »C« (»Schriftsteller und Freund« 1768–1785) und »L« (»Amtsinhaber und Kunstsammler» 1786–1801) der Person und dem Werk von JCL fast ausschließlich über seine unerschöpflich reichhaltigen und zahlreichen eigenen Quellen. Sie orientiert sich dabei eng an dessen Freundschaften, welche für Lavater das Fluidum seines Schaffens gewesen waren und die er intensiv und oft sehr offen über seine Korrespondenzen gepflegt und mit seinen zahlreichen Reisen ins In- und Ausland persönlich vertieft hatte. Anhand seiner Briefwechsel und seines Netzwerks werden Lavaters »innere Regungen« mit den »äußeren Einflüssen« hin zu einem Ganzen über den neu definierten Freundschaftsbegriff verbunden und in verschiedenen Bereichen in einen erweiterten Zusammenhang gestellt. Die Öffnung der Person über die Freundschaften hinaus auf das Zeitalter der Aufklärung, des Sturm und Drang und der Empfindsamkeit wird das 18. Jahrhundert, dessen Kind Lavater durch und durch gewesen ist, in seiner ganzen Faszination in den Bereichen Theologie, Philosophie, Anthropologie, Pädagogik sowie in den Natur wissenschaften und der Kunst in einem neuen Licht aufzeigen und damit verdeutlichen, welch zentrale Bedeutung die damaligen Beziehungsfelder für den Austausch von Gedanken auch im Hinblick auf unsere Zeit gespielt haben.

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Freundschaftsbegriff

»Wo seyt ihr, ihr der Menschen Beßte? Ihr Pylades und ihr Oreste ?« 1

Das 18. Jahrhundert ist als das »Jahrhundert der Freundschaft« in die Sozial- und Geistesgeschichte eingegangen. Im Kontext einer aufstrebenden bürgerlichen Sozietät baut sich ein neues Freundschaftsideal auf, welches mit der Aufwertung des Gefühls die Individualität des Menschen in der Gemeinschaft stärkt. 2 Der Freundschaftsbegriff ist dabei eng mit dem antiken Begriff der Liebe verbunden, der in die drei Termini »Eros« (Ἔρως), »Philia« (φιλία) und »Agape« (ἀγάπη ) gefasst wird. Bezeichnet Eros nach dieser Definition die körperliche Anziehungskraft und Liebe, besonders auch zwischen den beiden Geschlechtern, so ist Philia jene zwischen zwei Menschen von gleichen Interessen, gegenseitiger Anerkennung und dem Wunsch, sich in der eingegangenen Freundschaft miteinander und über sich hinaus zu entwickeln.

Die höchste Form der Liebe ist Agape, die uneigennützige Liebe, eine seelische Verbindung zwischen zumeist zwei Menschen, welche die christliche Nächstenliebe wie auch die Liebe zu Gott mit einschließt. Agape ist die reine Liebe des Menschen zum Mitmenschen wie zu Gott. Sie impliziert damit jenes Aristoteles zugeschriebene Zitat zur wahren Freundschaft, die »eine Seele in zwei Körpern« sei und dem Menschen dadurch den Weg zur Eudaimonie (εὐδαιμονία), zur eigentlichen Glückseligkeit, öffne. In der Nikomachischen Ethik, in welcher Aristoteles ausführlich auf die Freundschaft zu sprechen kommt,3 ist Freundschaft »eine Tugend oder doch mit der Tugend verbunden« und gehört zum »Notwendigsten im Leben« eines jeden Menschen. Niemand

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könne ohne Freunde leben, da zwei Menschen besser in der Lage seien, zu denken und zu handeln.4 Um sich in der Freundschaft dem andern jedoch zuwenden zu können, bedarf es der kognitiven Reflexion auf sich selbst, welche nicht erst im Zeitalter der Aufklärung einsetzte, sondern sich bereits bei Aristoteles verschiedentlich aufzeigen lässt.5 Der gleich gesinnte und auch seelisch verbundene Freund wird im Idealbild der agapischen Liebe – wie später auch in der christlichen Ethik – zum zweiten Ich, welches das eigene wie das Wohlwollen des Mitmenschen durch Eigen- und Nächstenliebe befördert. Agape ist der griechische Ausdruck für lateinisch Caritas. Sie steht für die bedingungslose, befreiende und auf den Mitmenschen hin zentrierte Nächstenliebe wie für die Liebe des Menschen zu Gott und Gottes zu den Menschen und zur Schöpfung und ist damit Ausdruck auch der Gnade des von Paulus verwendeten Begriffs der absoluten Liebe.6 Agape wird in diesem Sinne des freundschaftlichen Umgangs zum Zentrum einer spezifisch christlichen Ethik,7 sodass Lavater 1765 an seinen älteren Freund und Mentor, den Arzt Johann Georg Zimmermann, schreiben kann: »Die wichtigsten Wolthaten Gottes gegen mich sind Freunde.« 8

In diesem Sinne übersandte Lavater im April 1773 seinem erst kurz zuvor gewonnenen Briefpartner Johann Gottfried Herder ein umfangreiches Paket von Kopien seiner Briefe an andere,9 um Herder in dieser Form der Zuwendung seinen Begriff einer Freundschaft, sein Denken und seine Wesensart zu zeigen. Lavater fand dazu »keinen kürzern, einfältigern, natürlichern Weg« als diesen, seinem »liebsten Bruder« Herder seine »innerste Denk- und Handelnsweise« über die von ihm verfassten Briefe »klar vor die Seele zu bringen« 10. In den Briefen an den Freund, den er kaum je sehen wird,11 verbindet sich Lavater mit ihm über das geschriebene Wort. Er teilt Herder das von sich Wissenswerte über seine schriftlichen Zeugnisse mit, um ihm sein innerstes Ich zu offenbaren, welches sich über die Kommunikation mit dem Du von Herder zu jener Einheit verbinden sollte, die für Lavater eine Freundschaft im eigentlichen Sinne ausmacht.12 Der Brief wird somit zum eigentlichen Bindeglied einer geistigen und seelischen Nähe. Er zeichnet sich durch eine christliche

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Nächstenliebe aus und wird in der thematisch geführten Kommunikation vertieft und gepflegt. So schreibt Lavater dem neu gewonnen Freund Herder: »Nun, mein Bruder, beschließ ich diesen Brief. Lege die Feder weg, und senke meine Stirn auf dies Blat – daß Gottes Seegen mit ihm in deine Seele dringe, daß mein Herz des deinigen werth werde –.« 13 Seine zahlreichen Briefpartner suchte Lavater – »seit er die Welt besser kenne« 14 – zumeist gezielt nach den ihn interessierenden Wissens- und Glaubensbereichen aus. Er wollte den von ihm so bezeichneten »Zusammentreffungs Punkt« mit ihnen finden, um eine entsprechende Korrespondenz aufzubauen. Wie er Zimmermann 1775 schrieb, könne man sich einander besonders dann freundschaftlich zuwenden, wenn man sich nicht als ganzer Mensch, sondern gegenseitig nur in gewissen Bereichen anziehe. Als Beispiel nennt Lavater seine Beziehungen zu Georg Christoph Lichtenberg und zu Johann Wolfgang Goethe. Bei Lichtenberg könne er diesen einen »Zusammentreffungs Punkt« nicht finden, bei Goethe jedoch sehr wohl, obschon dieser und er kaum verschiedener sein könnten, jedoch »an den wenigen Punkten, die sich berühren«, kaum fester und »mehr zusammenhangen«.15 Bereits als junger Theologe erkannte Lavater das Potenzial des Briefs als Mittel der Freundschaft und als eine »Werkstätte der Tugend« 16. Dabei orientierte er sich primär an den Paulusbriefen wie an der Stelle im Matthäus-Evangelium, worin es heißt, dass, was auf der Erde gebunden, auch im Himmel zusammenbleiben werde und Gott unter jenen sei, die gemeinsam in seinem Namen um etwas bitten.17 Die wahre Freundschaft ist für den jungen Lavater daher bereits ein höherer Grad der Liebe, in welcher sich »gewiße vernünftige Geschöpfe miteinander verbinden«, um »aus ihren Vollkommenheiten ein gegenseitiges Vergnügen« zu schöpfen und gemeinsam »an ihrer Glükseligkeit« zu arbeiten.18 Dieses Freundschaftsideal fand über die kreative und rezeptive Dichtungstheorie der Zürcher Professoren Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger auch Eingang in die Poesie von Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias, an dem, wie auch an Christian Fürchtegott Gellerts Werk, sich der junge Lavater mit seinen eigenen Vorstellungen vorerst orientierte.

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Der Theologiestudent Lavater teilte denn auch seinem damaligen »Herzensfreund« und früheren Kommilitonen am Collegium Carolinum in Zürich, Johann Heinrich Hess, 1762 in einem Brief mit, dass er seine Freunde in drei Klassen einteile. Zur ersten Klasse gehörten jene, mit denen er unverbindlich als Bekannte umgehe, die er sich jedoch »so sehr als möglich zunuz« machen möchte und auch ihnen, wo immer möglich, nützlich sein wolle. Die zweite Klasse nenne er Freunde und unternehme alles, damit sie in die oberste Klasse, die Klasse der Herzensfreunde, aufstiegen, zu denen er damals einzig Heinrich Hess zählte.19 Das Ziel einer solchen Herzensfreundschaft war für Lavater, die eigene Seele und diejenige des Freundes möglichst genau zu beobachten und sich und den Freund in dieser Gemeinschaft zu jener angestrebten Glückseligkeit zu führen. Über die Selbsterforschung und -verbesserung sollte die eigene Seele als göttlicher Teil des Menschen zu jenem höheren Grad der Liebe werden, welche die gewünschte Herzensliebe zum Freund erst möglich mache. Diese für Lavater »wahre« Freundschaft führt zur Zufriedenheit und Glückseligkeit und zur Gemeinschaft mit dem Mensch gewordenen Christus. Lavater schilderte aus der großen Zahl seiner Korrespondentinnen und Korrespondenten insbesondere seinem Herzensfreund Johann Heinrich Hess, später dann auch Johann Gottfried Herder, dessen Freundschaft und Briefwechsel ihm »heiliger, als alles, was mir je auf Erden heilig war« 20, wie auch Johann Georg Zimmermann, seinem »liebenswürdigen«, »liebsten«, »allerliebsten«, »sehr werthen« Freund und »Doctor« in seinen Briefen im Sinne dieser Selbstreflexion den eigenen Charakter wie auch die Vorstellung seiner christlichen Dogmatik.

Ein langer, magerer Mensch sei er mit einer eher weiblichen »Gesichtsbildung« (Abb. 1), schreibt Lavater mit noch nicht achtzehn Jahren an Hess aus dem nahen Städtchen Baden, wo er bereits in jungen Jahren seiner Tuberkulose wegen immer wieder für längere Zeit zur Kur weilte. Er hätte eine durch seine Blutmischung feurige und wilde Einbildungskraft und sei nie mittelmäßig, jedoch wegen seiner »auf allzu viele Gegenstände zielende[n] Wißensbegierd«

28 ≡ freundschaftsbegriff

1 — Der junge Lavater, von ihm selbst gezeichnet.

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oft flüchtig, sodass das »Aug seines Verstandes« wohl größere Dinge bewirken könnte, wäre es denn auf einen bestimmten Zweck fokussiert. Sein Herz sei von Geburt und von Natur aus menschenliebend und seine Liebe andern gegenüber »feürig«. Lavater kommt in seiner Charakterisierung auch auf die Freundschaft zu sprechen, die er »unentheiligt« nennt und in ihr die Würde des Menschen sieht, die für das Jenseits zu gestalten er sich im Diesseits oft noch als zu schwach sehe. Seine Liebe sei jedoch in der Freundschaft zu Johann Heinrich Hess und allgemein im christlichen Sinne »unwandelbar«.21

Die zweite Beschreibung findet sich in der Verbindung zu dem 1772 in Zürich noch wenig bekannten und mit seiner Theologie in der Limmatstadt auch nicht erwünschten Herder. 22 Lavater suchte ganz gezielt mit dem damals in Bückeburg tätigen Theologen eine Korrespondenz zu eröffnen, da er in einem ganz bestimmten Bereich jenen »Zusammentreffungs Punkt« zwischen ihnen sah. Am 10. November 1772 notierte Lavater in sein Tagebuch, dass er mit seiner Frau Anna am Abend noch Tee getrunken und sich wegen der Menge der ihn belastenden Geschäfte beschlossen habe, sich besonders auch in seiner Korrespondenz einzuschränken und »ohne Noth« keinen neuen Briefwechsel mehr anzufangen. Nur mit jemandem beabsichtige er zusätzlich noch zu korrespondieren, da er ohne diesen Mann »nicht fortkommen« könne; »für den hat mein Herz schon mehr geschlagen, als ich sagen dürfte«.23 Noch am gleichen Abend der Niederschrift dieser Zeilen in sein Tagebuch erreicht ihn ein Brief mit einer ihm unbekannten Handschrift, den er öffnet und in der Unterschrift gleich Herder erkennt, dessen zuvor gewünschte Korrespondenz mit diesem Brief einsetzt und über gut zehn Jahre intensiv von beiden Seiten her weitergeführt werden sollte.24 Bereits wenige Monate später schreibt Lavater dem neu gewonnen Freund Herder »Einige Stellen meines Lebens – oder meines Characters«. Es habe, so Lavater an Herder, von seiner frühesten Jugend an nur einen Weg für ihn als schwachen und doch kühnen, törichten, glücklichen wie kindischen, starken, sanften und hitzigen Menschen gegeben. Diesen Weg hätte ihm Gott »aüßerst zärtlich« dargelegt und ihm dabei seine geheimsten, oft auch kühnen Wünsche erfüllt. Mit der Suche nach einer theoretischen

30 ≡ freundschaftsbegriff

Erkenntnis im Glauben sei diese »hohe herzerhebende Erfahrung« jedoch stetig geschwunden, da Gott nur ein Ohr für die »stille, einfältige warme Empfindung« habe. Die Schärfung der Imagination auf das faktisch Wesentliche hätte ihn jedoch lange vor den sich ständig einschleichenden Zweifeln und auch vor einem gewissen Leichtsinn bewahrt, »Gottes und meines Berufes, und des Namens, den Niemand kennt, als wer ihn empfängt«, zu vergessen und sich ganz von Gott abzuwenden. Dennoch sei er für eine kurze Zeit zum Atheisten geworden. Aus dieser Not – so hält es Lavater in seiner Charakterisierung an Herder von 1773 fest – und aus diesem Labyrinth und vor diesem sich öffnenden Abgrund habe ihn Gott jedoch in Form einer neuen Zuwendung gerettet.25

Auch Zimmermann berichtete Lavater unter der Überschrift »Datum von meinem Leben« in einem langen Brief 1775 von seinem bisherigen Leben und eröffnet das intime Schreiben als Erklärung auch gleich mit den Worten: »Herr Jesus – wie machst du mir so bange mit deiner beyspiellosen Freundschaft!« 26 Schnell und ohne Hebamme sei er am 15. November 1741 zur Welt gekommen, wäre bei der Geburt beinahe gestorben, habe nach seiner frühen Kindheit die Schulen in Zürich entweder als Schlechtester oder als Bester absolviert und danach den geistlichen Stand gewählt:

Die unersättlichste Neü und Wissbegier, die zärteste Weichlichkeit, der heftigste Zorn, die reinste Güte bewegten mich unaufhörlich. Ich hatte von Jugend auf Religion, und erhielt von Gott – wofür ich bat. Unrecht reizte mich zum heftigsten Zorn. Ich hatte das freündschaftlichste Herz. Es war sterblich verliebt in zwey Hessen, Füßli von Rom in mich. Diese 3 haben viel Antheil an dem was ich izt bin. Füßli brachte mich in Bekanntschaft mit Klopstok, und war der erste, der mein poetisches Genie entdeckte.

Felix Hess erregte meine phylosophische, Füsslin meine poetische, Heinrich Hess meine freündschaftliche Kraft.

Und Lavater fährt fort, dass er mit Felix Hess und Johann Heinrich Füssli zusammen »à tout prix« den Landvogt von Grüningen, Felix Grebel, seiner

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2 — Eberhard Siegfried Henne nach Johann Heinrich Füssli; Lavater, Füssli und Johann Felix Hess bei Johann Joachim Spalding in Barth.

ungerechten Handlungen wegen hatte anklagen wollen, dass sie den um ein Jahr jüngeren Felix Hess, der noch nicht Bürger und damit in Zürich noch nicht zünftig gewesen sei, vor der Obrigkeit geschützt und mit ihrem gewagten Verfahren zwar den »allgemeinen Beyfall des Publikums«, aber auch »das schärfste hochobrigkeitliche Missfallen« erhalten hätten. Ihres »illegalen Wegs halber« mussten sie daher vor den Stadtvätern von Zürich »Abbitte« leisten. So seien sie bald darauf zu dritt über Berlin nach Barth zu dem aufgeklärten Reformtheologen Johann Joachim Spalding gereist, wo Füssli, Hess und er neun glückliche Monate verbrachten (Abb. 2).

32 ≡ freundschaftsbegriff

Von da über Berlin zurük. Nach Hause. Da Lieder machen, Prediger, Andachtbücherschreiber, Kinderbüchlein, Dienstboten, abc Büchlein – und Aussichten in die Ewigkeit. Ein mit der grössten Nonchalance geschriebenes vermuthungreiches – Werk – welchs Gespann zu einigen poetischen Gebaüden ist – Schweizerlieder – die izt die Freüde aller Schweizer sind. Die 4te Ausgab’ ist unter der Presse.

Nach der Beschreibung seines Lebens und der Aufzählung der bereits verfassten Werke kommt Lavater anschließend »in wenige[n] Worte[n]« detailliert auf seine christliche Ethik zu sprechen, die zentral mit dem Menschsein verbunden sei. Nach Lavater kann sich die Menschheit nicht allein entwickeln, da sie von Äußerlichkeiten abhängig sei, welche auf sie einwirkten.

Der Zürcher Theologe formulierte seine Religionsphilosophie kaum je deutlicher in einer seiner publizierten Schriften, wie er es in diesem Brief an den vertrauten Freund Zimmermann 1775 getan hatte. Die mit vielen Unterstreichungen gekennzeichneten und mit Gedankenstrichen unterbrochenen Zeilen zeigen Lavaters Suche nach einem Gottes- und Menschenbild, welches sich in seinem Freundschaftsbegriff widerspiegelt und kumuliert.

Aüßerlichkeiten – bringen nichts in den Menschen hinein. Man kann Sie –Gnade, Fürsehung, Führung, Glük, Zufall – oder Gott – den himmlischen Vater heissen. Natur, Anlage – erlaubt nur einen gewissen Grad der Entwickelung. Die Religion ist eigentlich im Menschen, wie alles oder vielmehr sie ist nichts als die Menschheit in ihrer Gesundheit – wie Leben ohne Nahrung wird, und nicht ohne Nahrung sich entwickelt oder erhält. So Religion. Ohne Unterricht lernt der Mensch nichts, oder unendlich langsam. Ohne ordentliche Nahrung bleibt der Mensch nicht gesund. – So der Mensch ohne Offenbarung – ein Atheist, ein ununterrichteter kraftloser Mensch. Positiven Unterricht also – bedarf die menschliche Natur zu ihrer Belehrung. Sie bedarf zur Entwickelung ihrer Anlagen – Entwickelnder Aüsserlichkeiten. Jede Kraft im Menschen, bedarf besonderer Entwickelungsmittel. Jedes

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Leben – besonderer Nahrung. Diess ist der Schlüssel der Offenbarung. Offenbarung im weitesten Sinn ist Entwickelung, Bildung, Erziehung der menschlichen Natur. Sie ist Gottes Ebenbild – das darzustellen, als solcher, die daseyenden LebensKräfte alle zuentwickeln, zuvereinfachen, in Harmonie zubringen ist der Zwek aller göttlichen Offenbarungen und Anstalten. Die Schrift ist das Urkundenbuch dieser göttlichen Offenbarungen. Die Schrift ist die Geschichte dessen, was die Menschen von der Gottheit erfahren haben. Stückweise sind alle ihre Personen (denn sie ist fast immer Geschichte) einzele Seiten des Ebenbildes Gottes; Schimmer, Blitze, Funken – der Herrlichkeit Gottes. Ganz ist es Jesus Christus – das höchste Ebenbild der Gottheit! Das höchste Urbild der Menschheit der einzige Gott der Menschen; und der einzige Mensch[.] In ihm ist alle GottesKraft vermenschlicht – alle Menschheit vergöttlicht.27

Anders als in den Korrespondenzen mit Hess, Herder und Zimmermann beschrieb Lavater in den zahlreich mit Johann Wolfgang Goethe gewechselten Briefen sein Leben nicht. Die beiden fanden sich auch nicht über die Religion, sondern über den Gedanken der Individualität und der geniehaften Gottähnlichkeit des Menschen. So schreibt der Zürcher Ende Juli 1782 nach einer intensiven Zeit der Freundschaft nach Weimar, dass sie sich, so sehr, »so himmelweit verschieden« sie auch schienen, doch »über gewisse grosse Punkte« träfen, wenn sie sich nur »ruhig und lange genug mündlich« darüber unterhalten könnten.28 Goethe seinerseits bat in seinem Brief vom 3. November 1780 den »L.[ieben] Br.[uder]« Lavater, »lass uns immer näher zusammenrücken«, denn »die Zeit kommt doch bald wo wir zerstreut in die Elemente zurückkehren werden aus denen wir genommen sind.« 29 So different die beiden großen Geister Lavater und Goethe auch gewesen sein mögen, so vereinte sie als »Zusammentreffungs Punkt« ihrer Freundschaft 30 die eigenständige Unabhängigkeit der jeweiligen Individualität. Der »freye Willen des andern« sei ihm »heilig, wie eine Gottheit« 31, meinte Lavater auf Goethes Antwort betreffend der Darlegung seines Religionsbegriffs und der Pflaster, die bei dem

34 ≡ freundschaftsbegriff

jeweils andern nicht anschlagen mögen, da es »in unsers Vaters Apotheke« bekanntlich viele Rezepte gebe.32

Man hatte sich über die Werke in ersten frühen Briefen gefunden, erkannte fasziniert im andern die jeweilige Einmaligkeit der Genialität und das »freye Wesen« 33, besuchte sich gegenseitig und korrespondierte über gut zehn Jahre miteinander, manchmal auch nur, um sich »einmal wieder« über einen Brief zu »berühren«.34 Lavater verstand die Individualität als ein allgemeines Gesetz, das sich als Einheits- und Analogieprinzip in der Natur manifestiere und alles zu einem Ganzen verbinde, jedoch »aus jeglichem« ein »besonderes Ganzes, ein selbstständiges Individuum« mache.35 Jeder menschliche Körper, »wie jeder Körper überhaupt«, sei auf eine bestimmte Weise aus verschiede -

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3 — Johann Felix Hess, Lavater und Johann Heinrich Füssli (v. l.).
Wer war Johann Caspar Lavater? Warum wurde er zu einem der wichtigsten Influencer und Networker im Europa des 18. Jahrhunderts? Im ersten Band der Biografie zeichnet die Literaturwissenschaftlerin und Lavater-Forscherin Ursula Caflisch-Schnetzler die Jugendjahre des berühmten Zürcher Theologen und Philosophen nach. ISBN 978-3-907396-22-3 9 783907396223 www.nzz-libro.ch

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