Der Verlag dankt der Alfred Escher-Stiftung für die grosszügige Unterstützung.
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5., revidierte Auflage 2014 © 2007 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Umschlaggestaltung: Katarina Lang, Zürich Einband Vorderseite: Collage aus den Abbildungen S. 369 und 405 Projektadministration: Tanja Neukom Lektorat: Edgar Haberthür Satzherstellung und Druck: Karl Schwegler AG, Zürich-Oerlikon Einband: Buchbinderei Burkhardt AG, Mönchaltorf ISBN 978-3-03823-876-8 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
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Inhalt Beerdigung und Denkmal: Grossartige Demonstrationen Die Familiengeschichte
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Der Niedergang eines Zweigs der Familie Escher im 18. Jahrhundert 21 Stammbaum der Familien Escher und Uebel
28
Distanzierung: Die Familie Heinrich und Lydia Escher-Zollikofer zieht 1831 ins Belvoir ein
34
Die Jugendjahre
47
Privatunterricht: Von Heinrich und Alexander Schweizer zu Oswald Heer
47
Obergymnasium: Erste Freundschaften mit Schulkameraden
55
Die Studienjahre
65
Zofingia
69
Turnen
81
Das Leben im Belvoir: Freud und Leid Der Tod des Vaters und die Einsamkeit der Mutter
85 85
Der Student und die Frauen
91
Weitere Damenbekanntschaften und Hochzeit
95
Die kurze Ehe Der Einstieg in die Politik
102 115
1839: ‹Straussenhandel› und Putsch in Zürich
115
Im Fadenkreuz der Konservativen: Alfred Eschers Einstieg in die Politik
121
Mittwochs- und Donnerstagsgesellschaft
130
Mit der zunehmenden Macht kam auch die Kritik
133
Die Bundesverfassung von 1848
143
Die Flüchtlingspolitik
146
Das Erfolgsjahrzehnt des letzten Grossbürgers
159
BAU UND BETRIEB DER EISENBAHNEN
162
Private sollen Bahnen bauen
162
Alfred Escher und die Nordostbahn im Konkurrenzkampf der Bahngesellschaften
181
Übernahmeversuche und Fusionen
197
DIE SCHWEIZERISCHE KREDITANSTALT
210
Gründung
210
Erste Geschäftsjahre
236
Tätigkeitsbereiche und Geschäftsfelder
250
DIE RENTENANSTALT
261
Conrad Widmer – Pionier des schweizerischen Versicherungswesens 263 Die Gründung der ersten schweizerischen Lebensversicherung
264
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DAS POLYTECHNIKUM
269
Braucht die Schweiz eidgenössische Hochschulen?
269
Die Standortfrage
272
Erfolgreiches Lobbying für Zürich
278
Die Verwirklichung des Polytechnikums
287
AUSSENPOLITISCHE BEWÄHRUNGSPROBEN
297
Der Neuenburger Handel
302
Der Konflikt mit Frankreich um Savoyen
309
Die Dappentalfrage
317
ZÜRICHS AUFSTIEG ZUR SCHWEIZER WIRTSCHAFTSMETROPOLE Die Wechselfälle der 1870er Jahre Das Ende der Ära Escher in Zürich (1869): Die Schicksalsjahre
320 331 331
Von der Opposition zur Demagogie: Friedrich Lochers «Freiherren von Regensberg» und das Ende der liberalen Herrschaft in Zürich
337
Nordostbahn und Nationalbahn: Konkurrenzkampf bis zum Fiasko
342
Auf dem Weg zur finanziellen Krise der Nordostbahn
348
Das schweizerische Eisenbahnnetz
359
Die Verstaatlichung der schweizerischen Hauptbahnen
362
Das Gotthardprojekt
365
Alpentransversale: Ideen, Varianten und Pläne von 1838 bis zur Eröffnung des Gotthardtunnels 1882
367
Die Gotthardbahn-Gesellschaft und Louis Favre
378
Der Bau des Tunnels
386
Die Finanzierung der Gotthardbahn-Gesellschaft
409
Offene und heimliche Demontage: Alfred Eschers erzwungener Rücktritt
417
Die letzten Jahre: Kränklichkeit, Überarbeitung und Tod
445
Lydia, die Tochter
464
Versunken und vergessen: Escher-Vermögen und Gottfried Keller-Stiftung
490
Die letzten Tage
492
Anhang
499
Anmerkungen
499
Personenregister
508
Abkürzungsverzeichnis
512
Bildnachweis
513
Dank
515
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Das Alfred Escher-Denkmal auf dem Bahnhofplatz in Z端rich.
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Beerdigung und Denkmal: Grossartige Demonstrationen
Kurz nach 3 Uhr setzte sich der Zug vom Landgut Belvoir in Zürich-Enge Richtung Fraumünsterkirche in Bewegung. Auch wenn Staffage und Szenerie, Pferde und Kutschen, Teilnehmer und Formationen vielfach dieselben waren: Es war nicht das buntfröhliche Bild des legendären Sechseläutens, welches Tausende neugieriger Blicke anzuziehen pflegte. Es war kein Frühlingsspektakel, das inszeniert wurde. Es war Winter; Samstag, der 9. Dezember 1882. Die Zuschauer am Bleicherweg, auf dem Paradeplatz und vor der Kirche – Massen, Kopf an Kopf gedrängt – sahen ein ungewöhnliches Trauergeleit. Hinter Kutsche und Sarg in Trauerflor, geschmückt mit grünen Spenden und reich bekränzt, folgten erst Tochter und Familie des Verstorbenen, unmittelbar dahinter drei Bundesweibel mit Nebelspalter im rot-weissen Mantel. Hinter ihnen schritten Bundesräte, der Gesandte des Deutschen Reiches, die offiziellen Vertreter des eidgenössischen Parlaments, eine Hundertschaft ehemaliger und amtierender National- und Ständeräte, die Vertreter sämtlicher kantonal- und stadtzürcherischen Behörden, angeführt von den Präsidenten des Kantons- und des Regierungsrates, sowie der Stadtpräsident; weiter schlossen sich die Vertreter der verschiedenen Kantonsregierungen und -parlamente an, die Spitzen der Verwaltungsräte und der Direktionen der Nordostbahn-Gesellschaft, der Gotthardbahn, der Schweizerischen Kreditanstalt, der Schweizerischen Lebensversicherungs- und Rentenanstalt, der Schweizerischen RückversicherungsGesellschaft und des Schweizerischen Schulrates. Sie alle vertraten Institutionen, deren Gründung und Entwicklung sich mit dem Namen des Verstorbenen verknüpften. Es schritten Gelehrte und Künstler mit, farbentragende Ehemalige des Zofingervereins und aktive Couleurstudenten, Nachbarn des Verstorbenen, Bankangestellte und Verwaltungsangestellte, Knechte, Gärtner und Mägde, viri magnifici et probati, Industrielle, Fabrikanten und Kaufleute, alte und junge, vornehme und schlichte Trauergäste, darunter viele Unbekannte – «ungezeichnetes Stammholz aus dem Waldesdickicht der Nation».1 Der Tote, der zu Grabe getragen wurde, war am 6. Dezember 1882 gestorben, aufgebraucht und ausgebrannt im 63. Lebensjahr. Sein Name war Alfred Escher: «der einsichtigste und verdienteste Staatsmann Helvetiens aus der neueren Zeit», «einer der genialsten Söhne», «bekanntesten Männer» und «hervorstehendsten Persönlichkeiten» der Schweiz, «eine Denksäule der Geschichte unseres Vaterlandes»; «eine herrschgewaltige Natur» mit «autoritärem Charakter», «stark im Wollen und Verneinen, im Anziehen und Abstossen», «nicht immer frei von Schroff-
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heit und rücksichtslosem Vorgehen», «in politischen Dingen gegen seine Gegner oft verletzend» und sich damit «viele Feinde» zuziehend; eine Persönlichkeit, die durch «ungewöhnliche Arbeitskraft und Arbeitslust» sowie «unbeugsame Willenskraft» zu «überzeugen wusste»; «eine seltene Erscheinung», die «grosse Ziele» mit «Scharfblick», «furchtlosem Mut», «glühendem Eifer» und «unermüdlichem Schöpfungstrieb» verfolgte; ein Staatsmann, der «durch feurigen Patriotismus sich auszeichnete», der sein Wirken «rückhaltlos in den Dienst des Vaterlandes stellte», der mit «nie ablassender Hingabe und Tatkraft» «stets uneigennützige Dienste leistete» und dem «eine unvergängliche Bürgerkrone» gebührte; «hochgewachsen, von imponierender, vornehmer Haltung», «stolz und bewusst» – «ein ganzer Mann!».2 Zu Ehren dieses Mannes setzten die Präsidenten des National- und Ständerats die parlamentarische Session aus, so dass neben den offiziellen Abordnungen auch andere eidgenössische Politiker die Möglichkeit hatten, am Begräbnis teilzunehmen. Dieser Entscheid, der Reverenz bezeugt, liess sich wohl begründen. Denn ein grosser Teil von Eschers Leben hatte sich unter der Bundeskuppel abgespielt, und die Leistungen, die er erbracht hatte, waren unübersehbar: Alfred Escher gehörte dem Nationalrat während 34 Jahren (1848–1882) ununterbrochen an und wurde als einziger Parlamentarier in der Geschichte des schweizerischen Bundesstaates viermal zu dessen Präsidenten gewählt (1849, 1855, 1856 und 1862); 1855 nahm er die Wahl aus gesundheitlichen Gründen nicht an. Überblickt man die Liste aller Nationalratspräsidenten, so stellt man fest, dass es auch keinen Parlamentarier gibt, der dreimal zum Nationalratspräsidenten gewählt wurde. Zwei Amtszeiten bekleideten immerhin sechs Parlamentarier. Anders als heute, da die Wahl zum Nationalratspräsidenten vorab Anciennitäts- und Proporzüberlegungen folgt, war sie im 19. Jahrhundert ein eigentlicher Popularitätstest. Um Nationalratspräsident zu werden, brauchte man im Parlament eine Hausmacht. Wie stark die Gruppe um Escher war, zeigt sich daran, dass der Zürcher bis in die 1860er Jahre grundsätzlich der Unterstützung durch 60 bis 70 Parlamentarier sicher sein konnte. Zum Vergleich: 1848 zählte der Nationalrat 111 Sitze. Bis 1881 erhöhte sich ihre Zahl auf 145. Mit der Wahl zum Nationalratspräsidenten setzte man zudem ein Zeichen für die politische Haltung in wichtigen Sachfragen. Besondere Bedeutung kam den Wahlen vor innenpolitischen Weichenstellungen oder in Zeiten äusserer Bedrohung zu. Hier gab die Wahl die Richtung vor, die zu beachten der Bundesrat gut beraten war. Jede Wahl Eschers zum Nationalratspräsidenten stand unter einem besonderen Stern. Bemerkenswert erscheint die erstmalige Wahl 1849 nicht nur, weil sie in das zeitliche Umfeld des ‹Büsinger Handels› fiel, sondern auch weil Escher damals gerade erst 30 Jahre zählte. Beim zweiten Mal, 1856, war die Schweiz in ernsthafte aussenpolitische Konflikte mit Preussen verwickelt, die sogar in kriegerische Ausein-
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andersetzungen auszuarten drohten. Auch Eschers letztmalige Wahl zum Nationalratspräsidenten (1862) war von aussenpolitischen Wirren überschattet. Zwar war die ‹Savoyer Frage› kurz zuvor gelöst worden, doch musste nun der weitere Gebietskonflikt mit Frankreich um das Dappental bereinigt werden, was unter Nationalratspräsident Escher denn auch gelang. Auch auf kantonalzürcherischer Ebene nahm Escher eine herausragende politische Stellung ein, die sich in Zahlen dokumentiert: Während 38 Jahren, von 1844 bis zu seinem Tod 1882, sass er im Zürcher Kantonsrat (Grossrat), sechsmal war er dessen Präsident (1848, 1852, 1857, 1861, 1864, 1868). Während 7 Jahren (1848–1855) war er Zürcher Regierungsrat, davon während 4 Jahren Regierungspräsident. Neue Grabstätte Alfred Eschers auf dem Friedhof Manegg in Zürich. Eschers Grab im alten Friedhof in Enge wurde 1925 aufgehoben. Fotografie von Heinz Dieter Finck aus dem Jahr 1982.
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Alfred Escher von Carl Fierz-Landis Ein Volk das seine Kinder lehrt, Wie man die grossen Todten ehrt, Ist grosser Männer werth. Heil Escher, auf der Arbeit Feld Hat er geschlagen als ein Held Mit seines Geistes Schwert. Geehrt, geliebt, – beschimpft, verkannt Der Steuermann am Ruder stand Mit ehern festem Griff. Ob Neid und Hass auch tobt und stürmt Ob Hemmnis sich auf Hemmnis thürmt Er hat gelenkt sein Schiff. Er hat’s geführet fort und fort Bis er’s gebracht zum sichern Port Vorbei an Klipp’ und Riff. Und als das grosse Werk vollbracht, Da sank er müd in Grabesnacht; Sankt Gotthard hiess das Schiff. An seines frischen Grabes Rand Steh’ ich und ruf’: Oh Vaterland, Hier ruht Dein treuster Sohn! Es sei ein Denkmal ihm geweiht Ein Denkmal Deiner Dankbarkeit Nicht ihm zu Ehr und Lohn. Der Edle, der mit Riesenkraft Titanenwerk ersann und schafft, Bedarf des Denkmals nicht. Sankt Gotthard ist sein Leichenstein, Die Grabeslamp der Firnen Schein Im Abendsonnenlicht. (Privatbesitz)
䉯 Dankesurkunde vom 2. Oktober 1855 für Alfred Escher nach dessen Rücktritt aus dem Zürcher Regierungsrat.
Der Jungpolitiker engagierte sich schon früh in öffentlichen Angelegenheiten: 1848 hatte er es als Repräsentant der Tagsatzung im Kanton Tessin mit heiklen aussenpolitischen Fragen zu tun. Die Aussenpolitik war auch in späteren Jahren eines seiner Tätigkeitsfelder, auf dem er mit klugem Rat entscheidend zur Verhinderung drohender militärischer Auseinandersetzungen beitrug. Auf diesem Parkett spielte er die Rolle des unerschrockenen Mahners und Rufers und trat gegen bundesrätliche Hasardeure und parlamentarische Hitzköpfe auf. Viele überschätzten die Stärke des Landes, während man die Bedürfnisse des jungen Bundesstaates, der herausgefordert war, seine Infrastrukturen aufzubauen, aus den Augen verlor. Das Gedeihen der ganzen Schweiz hing vom Bau der Eisenbahnlinien ab, doch in der Staatskasse war kein Geld für alles und jedes. Noch fehlte es dem Finanzplatz Schweiz an den Lokomotiven des Grossbankenkredits. Escher holte die Kastanien aus dem Feuer, wie er sich auch in der Flüchtlingspolitik positionierte und sich schliesslich – das Wohl der Schweiz vor Augen – vom radikalen Heißsporn zum pragmatischen Aussenpolitiker wandelte. Die Maximen der schweizerischen Neutralitätspolitik gehen auf ihn zurück. Keinem anderen Politiker des 19. und 20. Jahrhunderts gebührt ein ähnlicher Palmarès wie Alfred Escher. Noch aussergewöhnlicher nimmt sich Eschers politische Karriere aus, wenn man seinen kometenhaften Aufstieg und die Tatsache bedenkt, wie viele Ämter er gleichzeitig bekleidete: Mit 26 Jahren war er zürcherischer Grossrat und Tagsatzungsgesandter, mit 29 Zürcher Regierungsrat, erstmals Präsident des Zürcher Grossen Rates und eines der jüngsten Mitglieder des 1848 gewählten ersten Nationalrates, mit 30 erstmals Regierungsratspräsident und Nationalratspräsident. Noch war das neugeschaffene eidgenössische Parlament 1848 nicht zu seiner ersten Sitzung zusammengetreten, als der 29jährige Zürcher schon zum eidgenössischen Kommissär ernannt und in den Kanton Tessin geschickt wurde. Über die ganze Zeit seiner politischen Tätigkeit sass Escher in rund 200 eidgenössischen und zürcherischen Kommissionen, von denen er einen grossen Teil präsidierte. Zwischen 1848 und 1882 gehörte er insgesamt nicht weniger als 103 nationalrätlichen Kommissionen an, von denen er 70 präsidierte. Kein anderer Nationalrat erreichte auch nur annähernd eine solche Zahl. Dieser Alfred Escher, während vieler Jahre unbestrittener Kopf der liberal-freisinnigen Parteigruppe, der mit seinem System den Kanton Zürich in den Griff nahm, der im Nationalrat über Macht verfügte wie keiner vor und nach ihm, von dem man sagte, von seinem wirtschaftspolitischen Machtzentrum an der Limmat aus beherrsche er selbst den Bundesrat, der zum mächtigsten Wirtschaftspolitiker wurde und sich dabei unbeirrbar für das Wohl Zürichs und der Schweiz einsetzte – für diesen Mann also, den seine eigenen politischen Freunde zu Fall gebracht hatten, war parlamentarische Staatstrauer angeordnet, damit alle mitmarschieren konnten.
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Escher’s Begräbniss von Carl Fierz-Landis Auf Wiedersehn! Die Fackeln sind erloschen, Der Chor verstummt: Er ruht im frischen Grab; Ja, Escher ruht, der edle, grosse Denker Für den’s im Leben keine Ruhe gab. Er ruht, der Starke, der in seinen Händen So oft der Heimat Wohl und Wehe trug; Er ruht, der Grosse, dessen Wort im Rathe So klar und kurz und scharf den Gegner schlug! Er ruht, der Mann, des eisern festem Willen Der Alpenriese Gotthard sich gebeugt. Der Edle ruht, für dessen stilles Wirken So manches Braven nasses Auge zeugt!
Alfred Escher war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die dominierende wirtschaftspolitische Persönlichkeit der Schweiz. Mit seinen Gründungen und Initiativen hatte er dem jungen Bundesstaat und dessen Volkswirtschaft die entscheidenden, zukunftsweisenden Impulse gegeben. Seine Verdienste um das Wohl des Landes sind immens. Er schuf die Voraussetzungen dafür, dass die Schweiz – noch 1848 ein berüchtigter Hort revolutionärer Umtriebe und ein Zufluchtsort bewaffneter Insurgenten und revolutionärer Zellen – allmählich international respektiert und geachtet wurde. Mit seinem Machtzentrum in Zürich freilich provozierte Escher und rief Gegner auf den Plan. Wenige Schweizer Politiker bleiben dem Volk in Erinnerung, wenn sie die Bühne des öffentlichen Lebens verlassen haben. Mehr noch als für Bundesräte gilt das für Parlamentarier. Und doch brachte gerade das 19. Jahrhundert Persönlichkeiten hervor, die den Bundesstaat in einem Masse prägten, wie dies in der heutigen Politik nicht mehr vorstellbar
Ich steh’ allein auf der geweihten Stätte Um die Kapelle Schweigen nur und Nacht. Da naht, von Licht umweht, im Trauerflore Ein stolzes Weib von wunderbarer Pracht! Sie schmückt das Grab mit frischen Eichenkränzen, Dann hebt die Hände segnend sie empor. «Oh ruhe sanft, es leben Deine Werke Dein Beispiel schwebe jedem Schweizer vor!» Und wie die Hehre kam, ist sie verschwunden, Doch hab’ ich, liebe Mutter, Dich erkannt. Helvetia, Du schmücktest seinen Hügel, Und weihtest ihn dem ganzen Vaterland! (Privatbesitz)
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Die Uraufführung des Stücks «Dr. Alfred Escher oder es lebe die Republik» von Hanspeter Gschwend fand am 7. Oktober 1979 in Winterthur aus Anlass der Eröffnungsfeier des Theaters am Stadtgarten statt.
ist. Eine solche Figur war Alfred Escher, der nach Leistung und Wirkung längst hätte Aufnahme ins helvetische Pantheon finden müssen. Doch politische Helden sind in der Schweiz verpönt, sei es wegen der republikanischen Abwehrhaltung gegenüber allem allzu Grossen oder wegen des grundsätzlichen föderalistischen Misstrauens gegenüber dominanten Machtfaktoren in der nationalen Politik. Dass Escher 1880 am Festakt zum 25jährigen Bestehen des Polytechnikums mit keinem Wort erwähnt und im selben Jahr zu den Feierlichkeiten aus Anlass des Gottharddurchstichs nicht eingeladen wurde, obwohl beide Ereignisse unverkennbar seine Handschrift verrieten, ist symbolhaft: Die anwesenden Honoratioren wollten nicht in Eschers Schatten stehen. Dies ist die eine Seite. Die andere: Alfred Escher, bereits zu Lebzeiten zum politischen Denkmal geworden, war Ende der 1870er Jahre auch bei seinen ehemaligen freisinnigen Freunden in Ungnade gefallen. Die finanziellen Krisen des Gotthardprojekts und der Nordostbahn hatten ihn schwer gezeichnet, und nun wollten sich viele Parteigänger nicht mehr zu ihm bekennen. Und beide Seiten – die politische Illumination wie die Abwendung seiner Partei – belegen letztlich nur das eine: Alfred Escher überragte als politische Persönlichkeit das gewohnte Mass in einer Weise, wie man dies in der Schweiz auf Dauer nicht zu dulden pflegt. Sein Persönlichkeitsprofil voller Ecken und Kanten, seine gnadenlose Härte und seine geistige Spannkraft, die bei der Verwirklichung von Projekten zutage traten, liessen niemand unberührt. Man gehörte zu seinem Lager oder zählte zu seinen Gegnern. Escher wurde als republikanischer Diktator bezeichnet und als «König Alfred I.» apostrophiert. Diese und andere Zuschreibungen spiegeln Facetten seiner vielschichtigen Persönlichkeit. Sie werden ihm teils gerecht, teils überzeichnen und verkennen sie ihn. Etwas bleibt unbestritten: Alfred Escher drängte mit mächtigem Impetus an die Spitzen von Staat und Wirtschaft. Doch er war nicht zum Herrschen geboren; seine Familie stand bei seiner Geburt am Rand der altzürcherischen Gesellschaft. Auch fehlten ihm verschiedene Attribute, die andere Politiker auszeichneten: Er hatte trotz jahrzehntelanger Politikertätigkeit nicht den Nimbus eines Doyens wie zum Beispiel Bundesrat Emil Welti. Er war keine populistische Führerfigur, die in der Menge badete wie der Berner Jakob Stämpfli, sein früherer radikaler Kampfgenosse und späterer Gegenspieler. Er zeichnete sich nicht durch respektvolle Zurückhaltung und versöhnliche Kompromissbereitschaft aus wie sein Zürcher Freund, der erste Bundespräsident Jonas Furrer. Escher war kein Redner, der seine Ratskollegen mit rhetorischer Brillanz überzeugte und die Emotionen des Volkes in Wallung brachte. Escher war auch nicht in erster Linie Visionär, was ihm bis heute immer wieder zugeschrieben wird: Alfred Escher war Realpolitiker und hinterliess entsprechend deutliche Spuren. Sein Liberalismus beseitigte die Widerstände, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts der mo-
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dernen wirtschaftspolitischen Entwicklung der Schweiz in den Weg gestellt hatten. Seine persönliche politische Entwicklung liess ihn das ursprüngliche Bekenntnis zum radikalen Zentralismus abstreifen und zum Wirtschaftsliberalismus finden. Escher arbeitete sich zum Princeps empor und blieb zugleich ein unermüdlicher Arbeiter für Volk und Land. Für das Zürcher Tonhalleorchester war es eine Ehrenpflicht, den Eintritt des Leichenzugs in die Fraumünsterkirche musikalisch zu begleiten. Gegen 4 Uhr hob Alexander Schweizer zur Abdankungsrede an. Der 74jährige Professor für Theologie hatte sich schon vor Jahren aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen und sich öffentliche Auftritte überhaupt versagt. Doch die Reverenz gegenüber dem Toten, dessen erster Turnlehrer er mehr als fünfzig Jahre zuvor gewesen war und dessen Lebenswerk er über die Jahre nicht unkritisch, doch immer freundschaftlich-väterlich – bald aus der Nähe, bald aus Distanz – verfolgt hatte, machte es für den hochangesehenen Mann zur Selbstverständlichkeit, eine Ausnahme zu machen und seinem ehemaligen Zögling den Nachruf zu widmen. Wie kaum ein anderer war Professor Schweizer berufen, die über ein halbes Jahrhundert zurückreichenden Erinnerungen an den Toten aufleben zu lassen: «Leidtragende und Mittrauernde, ein Mann im Vollsinn des Wortes, den wir nur als kraftvoll tätig uns denken konnten, ist zusammengebrochen, nicht ohne Vorzeichen und doch so unerwartet und schnell. Dass die tiefe Erschütterung des häuslichen Kreises ihre Wellen treibt über Gemeinde, Kanton, Eidgenossenschaft und ins Ausland; ein Mann, viel gelobt und viel getadelt, oft mit Leidenschaft gerichtet; aber am offenen Grabe legt sich diese Erregtheit, auch der Gegner vermag gerecht, ja milde zu urteilen. […] Diese rasche Laufbahn verdankt er gewiss nicht seiner Abstammung aus alter städtischer Familie – damals eher ein Hindernis – noch weniger einem Gunstsuchen bei der Menge, sondern der gründlichen Durcharbeitung aller Geschäfte, die zu erledigen waren.»
Nach einem Abriss von Eschers Lebenswerk brachte Schweizer seine Bewunderung für Eschers Charakterstärke angesichts der Schwierigkeiten beim Bau der Gotthardbahn zum Ausdruck: «Hatt ich seine Arbeitskraft, seine Energie und Beharrlichkeit immer hochgeschätzt, zumal er sie nie für eigenen Vorteil, sondern fürs Gemeinwohl aufwandte; jetzt als ich den bis in die Wurzeln seines Wesens erschütterten Mann sah und hörte, wie er kein Wort des Zornes, der heftigen Anklage, sondern als stärkstes Wort nur die Klage aussprach: ‹Je weniger man von den Menschen erwartet, desto besser fährt man› – da verdoppelte sich meine Hochachtung, denn schwerer als energische Arbeit ist die Aufgabe, bitteres Leid und Verkennung und Verunglimpfung männlich zu tragen.»
Zum 700-Jahr-Jubiläum der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1991 schrieb der Schriftsteller Herbert Meier (*1928) das «Mythenspiel». Darin brachte er auch Alfred Escher («Der Präsident») und dessen Tochter Lydia Welti-Escher auf die Schwyzer Landschaftsbühne. In diesem Festspiel «geht es um Angelpunkte der Schweizer Geschichte, aber nicht um die einstmals gefeierten Schlachten, sondern um die verpassten Gelegenheiten» (Rémy Charbon).
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Einfühlsam erläuterte Schweizer, wie es zu solcher Verkennung und Verunglimpfung kam und wie Escher sie verarbeitete:
Im Zürcher Fraumünster fand am Samstag, dem 9. Dezember 1882, die Abdankung des drei Tage zuvor verstorbenen Alfred Escher statt (Aufnahme von 1877/78).
«Fester Charakter wird etwa zur Härte, Beharrlichkeit zur Hartnäckigkeit, Entschiedenheit zur Rücksichtslosigkeit; sinkt dann der Starke von der Macht herab, so werden diejenigen laut, welche von jenen Ecken des festen Charakters zu leiden hatten. Noch Eines, grosse Männer, die nur auf eigene Arbeit sich verlassen, sind nicht leicht fähig, Andere neben sich aufkommen zu lassen oder gar zur gleichen Höhe heranzubilden; treten sie ab, so fehlt es an entsprechendem Ersatz. Eschers Grösse bestand nicht ohne diese Schranken und leuchtete nicht ohne diesen Schatten zu werfen. Ihr fraget: ist dieser Mann glücklich gewesen? Nein, wie man das gewöhnlich versteht, Ja, wie er es verstand. Er hat im Verkanntsein gesprochen: ‹Das Beste am Leben ist ja doch Arbeit, Mühe und Anstrengung.› Ein Arbeiter ist er geblieben und fand darin seine Befriedigung, er, der gleich Andern in Behagen und Nichtstun hätte vegetieren können, ein Arbeiter bis zum Uebermass, so dass seine Augen fast erblindeten, seine Konstitution erschüttert wurde. Und doch hat er das sie vollends erschütternde Leid würdig getragen. […] Er hat mehr Gemüt gehabt als viele ihm zuschrieben. Er hat wie Schmerz so Genuss im Gemüte tief empfunden. Er hat darum auch die über alle Wechselfälle des Glückes erhebende Religion als beste Bewahrerin der Sittlichkeit hoch gehalten und nie gemeint, je mehr Ordnung, Zusammenhang, Folgerichtigkeit man in der Natur erkenne, desto mehr müsse der Gottesglauben zurücktreten. Wir sagen ihm: lebe wohl! Seinen Leib senken wir ins Grab, wo Erde werden soll, was von der Erde genommen ist; seinen Geist befehlen wir dem Vater der Geister, der ausser unserer Erde eine unermessliche Welt hat, mit der wir in Beziehung stehen, der als Liebe mehr gibt, als wir bitten und begreifen.»3
Auf der Empore hatten drei Männerchöre Platz genommen. Die «Harmonie», der Männerchor Zürich und der Männerchor Enge, dessen Ehrenmitglied und Mäzen der Verstorbene gewesen war, leiteten mit dem gemeinsam gesungenen Lied «Der Du von dem Himmel bist» über zu den politischen Würdigungen. Zuerst ergriff der damalige Nationalratspräsident und spätere Bundesrat Adolf Deucher das Wort und widmete dem Dahingegangenen «einige Blätter der Erinnerung, der Anerkennung und des Schmerzes» aus eidgenössisch-vaterländischer Sicht. Er schloss: «Wo Escher stand, wirkte er als ganzer Mann. Mit einem edlen Charakter, mit seltener Geschäftsgewandtheit, mit oratorischem Talent und ausserordentlichen Gaben des Geistes vereinte er eine enorme Arbeitskraft, die er rückhaltlos in den Dienst des Vaterlandes gestellt hat. – So haben wir ihn gekannt und so wird sein Bild uns in Erinnerung bleiben. Geliebt von seinen Freunden, hochgeachtet von den Gegnern, war er ein gewaltiger Geist. Einer der grössten Eidgenossen aller Zeiten steigt mit ihm in die Gruft hinab. Das Vaterland aber wird ihm ein ehrenvolles Andenken bewahren.»
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Nun erklang Wilhelm Baumgartners Lied «Mein Heimatland». Gottfried Keller, der Autor des Liedtextes, sass im Kirchenschiff. Als Vertreter des Kantons Zürichs bestieg Stadtpräsident und Nationalrat Melchior Römer die Kanzel und fand für den grossen Mitbürger «Worte dankbaren Gedenkens». Dabei schilderte er insbesondere Eschers Arbeitsmoral und Perfektionismus auf eindrückliche Weise: «In allen Stellungen hat der Dahingegangene Grosses geleistet. […] Aber niemals war es ihm um seine Stellung, sondern immer nur um die Sache zu tun […] Trat er an eine Frage heran, so suchte er sie mit unerschütterlicher Energie bis auf den Grund zu durchdringen und nichts gab er aus der Hand, das nicht inhaltlich und formell gleich vollendet gewesen wäre. In solch endloser Tätigkeit beugte er den Körper allzusehr unter das Joch eines despotischen Willens, bis seine Riesennatur erschüttert, aufgerieben war.»4
Der Männerchor Enge beschloss die Trauerfeier mit «Wanderers Nachtgebet» von Carl Maria von Weber. Inzwischen war es draussen dunkel geworden. Ein Lichtmeer empfing die Trauergäste, die – wiederum begleitet von den Klängen des Tonhalleorchesters – aus der Fraumünsterkirche ins Freie traten und sich für den letzten Gang zum Gottesacker formierten. Escher hatte gewünscht, bei seinen Eltern und seiner Frau bestattet zu werden, die auf dem stillgelegten Friedhof in der Enge ruhten. Fünfzehn Kutschen boten dem engsten Kreis der Trauergemeinde Platz; die übrigen Trauergäste mussten zu Fuss gehen. Auf dem Gebiet der Gemeinde Enge, von der Bleicherwegbrücke bis zur Totengruft, standen beidseits der Strasse Schüler Spalier, je im Abstand von zwölf zu zwölf Schritten, mit einer Fackel in der einen Hand, der Mütze in der andern. Passivmitglieder des Männerchors hatten für die Kosten der Fackeln «die weit über das Benötigte hinausgehende Summe von 540 Franken» zusammengelegt.5 Unter flackerndem Licht erreichte die dunkle Prozession den alten Friedhof. Der Sarg verschwand in der Gruft. So fand Alfred Escher endlich die Ruhe, die er im Leben nicht gefunden und wohl auch nicht gesucht hatte. «Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen», klangen die letzten Worte von Carl Attenhofers Lied «Wenn dir der Tod ein Liebes nahm» in die Nacht hinaus. «Sein Geist aber lebt fort und so lange unsere Firnen hinausleuchten in alle Lande, den Völkern ringsumher als Pyramiden der Freiheit unsere kleine Republik verkündend, so lange wird auch leben in Herz und Mund des Schweizervolkes, der mit den Geschicken des Vaterlandes innig verbundene Name Dr. Alfred Escher.»6 Der Aufmarsch an Trauergästen war überwältigend und fand entsprechend Echo in den Zeitungen. So ausführlich und achtungsvoll die Schweizer Presse über den Verstorbenen und die Szenen in Kirche und Friedhof berichtete, so einmütig hatten die Journalisten Alfred Escher in der Vergangenheit nicht kommentiert. «Wir standen häufiger in gegnerischer Reihe als an seiner Seite», gab der Winterthurer «Landbote»
Der Schweizer Komponist Wilhelm Baumgartner (1820–1867) vertonte Gottfried Kellers Gedicht «O mein Heimatland», welches als op. 29 unter dem Titel «Mein Heimatland» verlegt wurde. Das Lied wurde bei Alfred Eschers Abdankungsfeier gesungen.
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«Wie die USA ist auch die moderne Schweiz aus dem Zusammenspiel von innovativer Industrialisierung, liberaler Wirtschaft und demokratischer Politik im 19. Jahrhundert entstanden. Alfred Escher verkörpert diese Erfolgsgeschichte, die alle Apfelschüsse und Sempacher Schlachten in den Schatten stellt, wie keiner sonst. Er war ihr Initiator und wurde zuletzt ihr Opfer – eine dramatische Gestalt, von der allzuviele allzuwenig wissen.» (Peter von Matt, 2007)
«Kein Zweifel: Männer wie Alfred Escher sind gefragt – in Politik und Wirtschaft gleichermassen. Sie stossen Entwicklungen an, deren Zeit allen Widerständen zum Trotz reif ist. Die Herausforderung besteht höchstens darin, dass man solche Männer, die – grosse Ziele vor Augen – alles überrollen, was ihnen im Weg steht, auch aushalten muss.» (Walter B. Kielholz, 2007)
«Die Biographie von Alfred Escher führt uns in eine Schweiz voll unglaublichem Tatendrang zurück, in welcher – trotz Föderalismus, aber mit mehr repräsentativer als direkter Demokratie – rascher entschieden, entschiedener gehandelt und nicht zuletzt viel schneller gebaut wurde.» (Thomas Held, 2007)
zu, «doch geht uns sein Tod nahe. Die Republik hat an ihm einen ihrer hervorragendsten Bürger verloren, der mit seltener Hingabe und Tatkraft sich durch ein reichbewegtes Leben hindurch den öffentlichen Dingen widmete. Er war stark im Wollen und Verneinen, im Anziehen und Abstossen, aber auch der Gegner trat ihm mit hoher Achtung entgegen, denn er war ein ganzer Mann, von welchem man immer wusste, woran man mit ihm war.»7 «Vielfach Unrecht» habe man Escher getan, stellte das «Tagblatt der Stadt St. Gallen» fest und kam zum Schluss, was andere auch erfahren und erleben mussten und was sich paradigmatisch durch die Schweizer Kulturgeschichte zieht, dass nämlich Escher «im Auslande sogar weit mehr Anerkennung seiner Verdienste um das Verkehrswesen internationaler Tragweite geerntet, als bei seinen engern und weitern Landsleuten».8 Die Zürcher «Freitagszeitung» fand deutliche Worte, und ihre Kritik zielte auch auf hohe und höchste Repräsentanten des Staates, die als offizielle Trauergäste hinter dem toten Alfred Escher einherschritten, nachdem sie ihn im Leben fallengelassen hatten: «Er war der grosse Alfred Escher. Aber das Rad des Glücks, sagen wir lieber, der Volksgunst, drehte sich auch für ihn. Es wäre schmerzlich, an seinem Sarge schon zu erzählen, wie Neid und Niedertracht sich an ihm vergriffen haben, weil – ohne seine Schuld – Misserfolge den von ihm gegründeten Schöpfungen drohten. Er wandte sie ab, diese Misserfolge, und jetzt stehen jene Schöpfungen wieder in schönem Glanze, durch sein Verdienst. Aber die Wiederanerkennung erfolgt nur langsam; doch er erlebte sie noch, und sie wird ihm den Abend seines Lebens verschönert haben. Wir zweifeln nicht, dem toten Manne wird bald die volle Anerkennung folgen, welche dem lebenden noch so süss gewesen wäre […]»9 Dabei hatte gerade die «Freitagszeitung» Escher, seine Kultur, seine Schöpfungen mehr als genug in den Dreck gezogen. Trauerfeier und Leichenbestattung waren zu einer grossartigen Demonstration geworden. Es schien, so ein Zürcher Junker in seinen Memoiren, als wolle das Zürchervolk Alfred Escher dafür Abbitte leisten, dass es ihn zu seinen Lebzeiten so sehr verkannt hatte. Und die Ehrbezeugung nahm eine zusätzliche und für das zwinglianische Zürich nachgerade ungeahnte und aussergewöhnliche Form an. Denn kaum war Escher am 9. Dezember 1882 bestattet, wurde der damals in Rom lebende Solothurner Künstler Richard Kissling Anfang 1883 durch «einige hiesige Herren» zum Entwurf einer Escher-Plastik angeregt. Im Februar konstituierte sich ein ‹Initiativcomite› mit dem Ziel, Alfred Escher ein künstlerisches Denkmal zu setzen – ein Gegenstück zu den vielen grossen Schöpfungen, die mit dem Namen des Toten untrennbar verbunden blieben. Das Komitee bestellte aus seiner Mitte eine ‹Centralcommission› für die Ausarbeitung präziser Vorlagen. Diesem Ausschuss gehörten über die Zeit 77 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur an: der Präsident des Verwaltungsrates der Kreditanstalt, der Direktionspräsident der Nordostbahn sowie Nationalräte, Ständeräte, Regierungsräte, Kantonsräte, Erziehungsräte,
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Gemeinderäte, Professoren, Pfarrherren und Obersten; es befanden sich darunter auch langjährige Weggefährten und ehemalige Freunde Alfred Eschers wie Friedrich Gustav Ehrhardt, Jakob Escher, Franz Hagenbuch oder Alexander Schweizer und die Herren «Dr. Gottfried Keller, Hottingen» und «Dr. Conr. Ferd. Meyer, Kilchberg».10 Schon Anfang April veranlasste die mittlerweile von Richard Kissling entworfene Büste Gottfried Keller zu einer in der NZZ als «Kunstnotiz» überschriebenen Aufforderung, die Weiterentwicklung dieser Büste zu einem Standbild zu unterstützen: «... und da sagt man sich beim Anblick dieses Brustbildes unwillkürlich: Wie schade, wenn die äußere Erscheinung des Mannes, welche für ein imposantes Standbild wie geschaffen war, verloren gehen soll.»11 Kissling, inzwischen nach Zürich übersiedelt, liess sich von den Eindrücken der im Mai eröffneten Schweizerischen Landesausstellung mitreissen – sie vereinigte für ihn «die bewusste Schaffenskraft des ganzen Landes in schönster Anordnung zu einem ganzen Bilde». So konnte er sich «keine schönere Aufgabe» vorstellen, als ein Denkmal für Escher zu entwerfen, «der selbst ein Inbegriff von Arbeitskraft und Energie war».12 Die Porträtbüste wurde bis Oktober an der Landesausstellung gezeigt; bereits im Juli war der Entwurf für die Statue und das ganze Denkmal so weit gediehen, dass er von den Mitgliedern der ‹Centralcommission› begutachtet werden konnte. Diese trafen also auf den von Gottfried Keller vorgespurten «glücklichen Umstand», dass sie mit dem Denkmalentwurf «bereits ein Kunstwerk sozusagen fertig vorfanden, welches des zu Feiernden würdig ist und dessen nationale Bedeutung dadurch erhöht wird, dass es der Meisterhand eines Schweizers entstammt». Fast ein Jahr später, am 3. Mai 1884, wandte sich die ‹Centralcommission›, ihrerseits unterstützt durch Lokalkomitees, mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit und bat um Subskriptionen und Geldbeiträge. Es gab die Überzeugung kund, dass das Bild Alfred Eschers der Nachwelt durch ein Monument am wirkungsvollsten überliefert werde, wenn sich der Betrachter einer in Stein oder Erz geformten Biographie gegenübersehe, die «vom gewaltigen Ringen und Vollbringen erzählt und ihn mit packender Macht zu rühmlichem Streben begeistert»; es folgt im Aufruf die Aufzählung der Escherschen Taten in höchsten Tönen: der «Mannigfaltigkeit und Fülle des Wirkens», nicht ohne sanften Seitenhieb auf jene, die dem Sohn Zürichs durch «Verkennung und Verunglimpfung» entgegengetreten waren.13 Wiewohl sich bereits Anfang 1884 das gesamte Initiativkomitee für das Modell von Kissling ausgesprochen hatte, schien es der ‹Centralcommission› dennoch tunlich, dem Künstler den definitiven Auftrag noch nicht zu erteilen, wollte man doch zuerst den Eingang weiterer Mittel für die Projektfinanzierung abwarten. Und so behielt man sich die Modifikation des Monuments je nach Ergebnis der finanziellen Beiträge ausdrücklich vor. Doch Sorge und Angst blieben unbegründet – nicht zuletzt auch wegen der hinter dem Projekt als finanzieller Garantin stehenden Kreditanstalt und dank der Leistungen der Stadt Zürich.
Denkmal für Alfred Escher. Entwurfszeichnung von Richard Kissling.
Richard Kissling (1848–1919). Schweizer Bildhauer und namhafter Denkmalplastiker. Fotografie um 1895.
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Einweihungsfeier für das AlfredEscher-Denkmal vor dem Hauptbahnhof in Zürich am 22. Juni 1889.
Am 17. November 1884 schliesslich wurde der Vertrag zwischen Kissling und der Centralcommission unterschrieben, der dem Künstler ein Honorar von 120 000 Franken zusicherte und ihn verpflichtete, die Biographie in Erz zu formen. Am 22. Juni 1889 konnte das von Kissling geschaffene Werk schliesslich eingeweiht werden. Am selben Tag fand auch eine Gedenkveranstaltung für jenen mittelalterlichen Bürgermeister statt, der – blutrünstig und den Zürchern zu mächtig – enthauptet wurde: Hans Waldmann (1435–1489). Symbolträchtiger hätten die beiden Veranstaltungen nicht sein können. Wiederum griff Gottfried Keller zur Feder: «Zwei Bürgermeister der alten Republik Zürich erregen und bewegen mit ihrem Gedächtniß den heutigen Tag. Die Zunftgesellschaften der Stadt feiern Kriegsruhm und tragischen Untergang Hans Waldmanns, und die dankbaren Mitbürger Eschers aus weiteren Kreisen enthüllen das Denkmal, das sie ihm errichtet haben. [...] Möge am heutigen Abend, wenn Waldmanns blutiger Schatten versöhnt vorübergeht, der letzte Bürgermeister ihm leuchtend zuwinken.» Bis heute sind in der Geschichte Zürichs der 22. (Waldmann) und der letzte Bürgermeister (Escher) die beiden einzigen geblieben, denen man ein ehrendes Denkmal schenkte, postum und in Dankbarkeit. Gottfried Keller formulierte in seiner Berichterstattung zu Ehren von Alfred Escher eine Ergänzung zur Inschrift auf dem Sockel: «Dem Manne, der mit Geistestreue und eigenster Arbeit sich selbst Pflichten auf Pflichten schuf und, sie erfüllend, wirkend und führend seine Tage verbrachte, die Nächte opferte und das Augenlicht!»14 Somit war Alfred Escher in den höchsten zürcherischen Olymp aufgestiegen, wo Huldrych Zwingli mit seiner Bronzestatue bereits seit 1885 auf ihn wartete und wohin den beiden 1899 Johann Heinrich Pestalozzi mit seiner Darstellung an der Bahnhofstrasse (vor dem heutigen Globus) folgen sollte. Die postume Reverenz aus Zürich in Form eines grossen Monuments hielt einen Berner Künstler nicht davon ab, die Gewichte etwas anders zu setzen. Karl Stauffer, der zwar Alfred Escher persönlich nicht kannte, aber Ende der 1880er Jahre mit dessen Tochter Lydia eine fatale Beziehung einging, sah sich angesichts des Monuments von Kissling zum Ausspruch veranlasst: «... ich bin der Ansicht, dass das eigentliche Escher-Denkmal das Loch am Gotthard ist. Punktum.»15