Joseph Jung: Einigkeit, Freiheit, Menschlichkeit. Guillaume Henri Dufour

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Einigkeit, MenschlichkeitFreiheit, Jung (Hg.)

Guillaume Henri Dufour als General, Ingenieur, Kartograf und Politiker Joseph

Joseph Jung (Hg.)

MENSCHLICHKEITFREIHEIT,GuillaumeHenriDufouralsGeneral,Ingenieur,KartografundPolitiker

Mit Beiträgen von Michael Arnold, Georges Bindschedler, Clemens Fässler, Hans-Uli Feldmann, Joseph Jung, Christoph A. Schaltegger, Peter Candidus Stocker, Thomas M. Studer, Walter Troxler und Ulrich F. Zwygart

EINIGKEIT,

Kartografisches Spitzenergebnis

26 Ein biografischer Überblick Clemens Fässler

70 Dufours Werk als Ingenieur und Wissenschaftler Georges Bindschedler

Zwischen Bewahrung und Innovation

Merci, mon Général!

6 Zum Geleit Bundesrätin Viola Amherd

8 Guillaume Henri Dufour und die moderne Schweiz Joseph Jung

104 Ein plastisches Abbild der Schweiz Hans-Uli Feldmann

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An Wendepunkten der Schweizer Geschichte

INHALT

274 Neutralität, KriegsgefahrenFlüchtlingsprobleme,undGuteDienste

Die Aussenpolitik des jungen Bundesstaats: ein Abenteuer

229 «Wehe den Besiegten» – Die Niederlage des Sonderbunds und deren Folgen Michael Arnold

Joseph Jung

173 Die Jahre vor dem Sturm: politische, wirtschaftliche und soziale Lage in der Schweiz 1813 1847 Christoph A. Schaltegger, Thomas M. Studer

Das Schicksalsjahr 1847 Der Weg aus dem Sonderbundskrieg zur Einheit

189 Das prägende Denken und Handeln: Von den strategischen zu den operativen und taktischen Entscheidungen Peter Candidus Stocker

Anhang 386 Anmerkungen 399 Bildnachweis 400 Bibliografie 407 Personenregister 411 Zum Abschluss 414 Autoren 416 Donatoren

252 Menschen und Kanonen: Die Fakten Walter Troxler

210 Dufour: eine Leadership-Studie Ulrich F. Zwygart

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ZUM GELEIT

Viola Amherd, Bundesrätin

Dufour darf als Universalgenie bezeichnet werden.

Hier setzt nur eine der herausragenden Leistungen von Guillaume Hen ri Dufour ein. Das von ihm 1838 in Carouge gegründete Eidgenössische Topogra phische Bureau erarbeitet diese Karte, gestützt auf die geodätische Grundlagenvermessung, die teilweise schon in den Jahren und Jahrzehnten davor unter seinen Vorgängern erstellt wurde. Die Topographische Karte der Schweiz – besser bekannt als Dufourkarte – stellt die Schweiz erstmals geometrisch korrekt im Massstab 1 : 100 000 dar. Unter anderem deshalb ist die Karte von nationaler Be deutung. Die Dufourkarte macht die heutige Eidgenossenschaft als Ganzes be reits vor 1848 weitgehend sichtbar. Und dies obwohl ein starker «Kantönligeist» herrscht, ein nationales Bewusstsein weitgehend fehlt und zerstrittene Kräfte in den Sonderbundskrieg führen. Auf der Dufourkarte sind die Kantonsgrenzen da gegen bloss schwach eingezeichnet.

Auch bei der Gründung und Sicherung der modernen Schweiz wirkt Dufour massgebend mit – sozusagen parallel. Als Politiker und General formt er die moderne Eidgenossenschaft und begründet ein nationales Verständnis, auf das wir uns noch heute berufen. Als siegreicher General der eidgenössischen Truppen sichert er den fragilen Staatenbund und späteren Bundesstaat. Er han delt dabei empathisch und zeigt Weitsicht. Im Sonderbundskrieg begegnet er den unterlegenen Kantonen auf Augenhöhe und hört sich ihre Zweifel an. Ebenfalls und nicht zuletzt nimmt Dufour auch auf die Geschichte der Bundesverwaltung – vor allem des Militärdepartements – grossen Einfluss: Noch heute existieren im Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS die Swisstopo als Nachfolgerin des Topographi schen Bureaus und die Bibliothek am Guisanplatz, welche 1848 auf Betreiben von Dufour als Eidgenössische Militärbibliothek gegründet wurde. Die Bibliothek am Guisanplatz als nunmehr Leitbibliothek der Bundesverwaltung beherbergt übri gens die Vorarbeiten für die Topographische Karte der Schweiz, das Konvolut Wurstemberger/Finsler. So schliesst sich ein Kreis.

Die Dufourspitze – mit 4634 m ü. M. der höchste Gipfel der Schweiz – ist gut sicht bar und prägt ein Massiv. Natürlich bringe ich diesen imposanten Berg auch mit meiner Heimat in Verbindung. Das erste Blatt der bekannten Dufourkarte von 1845 deckt Teile des Wallis ab, den frankofonen mit Vevey und Sion. Brig er scheint zehn Jahre später.

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Dufour darf als Universalgenie bezeichnet werden. Und doch ist er ein bescheidener Mensch geblieben, der Gehör und Gespür für seine Mitmenschen hatte. Ich wünsche diesem Buch viele interessierte Leserinnen und Leser.

9 Das AlfredGeneralReiterstandbildDufoursvonLanz(1847–1907)wurde1884anderPlaceNeuveinGenfeingeweiht.Merci, mon undGuillaumeGénéral!HenriDufourdiemoderneSchweiz Joseph Jung

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13 Mehr ist nicht möglich!

22 Existenzieller Beitrag für die Schweiz

24 Der Lauf der Dinge hängt manchmal an einer einzigen Person

16 Der Wilhelm Tell des Bundesstaats von 1848: ein Österreicher oder ein Franzose?

18 Dufours Kunststück

20 Dufours Glanztat

11 Die Bundesverfassung von 1848 –ein genialer Wurf

basiert die moderne Schweiz nicht auf einem punktuellen Gründungsakt, sondern sie ist das Resultat einer Entwicklung, einer Reihe von Prozessen, die ab 1848 im jungen Bundesstaat ausgelöst wurden.1 Doch es gilt, den Blick auch auf die Zeit vor 1848 zu richten und nach Kontexten zu fragen. Im vorliegenden Fall kommt man rasch zur Erkenntnis, dass sich die Schöpfer der Bundesverfassung auf Erfahrungen abstützen konnten, die einzelne Kantone seit den 1830er Jahren mit liberalen Verfassungen gesammelt hatten. Oder man könnte darauf hinweisen, dass gewisse Infrastrukturen – etwa in den Bereichen Strassenbau und Schifffahrt – bereits ab den 1820er Jahren ausgebaut wurden. Wollte man zeitlich noch weiter ausgreifen, müsste man auf die Helvetische Re publik (1798–1803) zu sprechen kommen. Kann man den Bundesstaat von 1848 als gemässigte Fortsetzung dieses zentralistischen Einheitsstaats betrachten? Nein. Bei allem Verständnis für historische Analogien: Hinter dem jungen Bundesstaat standen andere Kräfte als hinter der Fehlgeburt der Helvetik. Damit er übrigen sich auch Diskussionen um die Frage, ob allenfalls Napoleon Bonaparte der geistige Vater der modernen Schweiz sein könnte. Bei allem Respekt: Der damalige Erste Konsul der französischen Republik verhinderte den Zerfall der Schweiz. Er machte die Eidgenossenschaft zum französischen Vasallen, gab ihr 1803 die Mediationsakte und gründete sechs neue Kantone. Sein Code civil prägt die moderne Gesellschaft bis in die Gegenwart. Und ja: Napoleon I. schuf eine wichtige Grundlage der modernen Schweiz.2 Doch der Bundesstaat von 1848 folg te keinem napoleonischen Rezept.

Die Bundesverfassung von 1848 – ein genialer Wurf

Am Anfang war die Bundesverfassung. Mit ihr beginnt 1848 die Geschichte der modernen Schweiz. Gewöhnlich wird so gelehrt, und diesen Ausgangspunkt zu setzen, ist gewiss nicht falsch. Doch ist es auch umfassend richtig? Kann man die Genesis der modernen Schweiz auf ein Stück Papier reduzieren? Dann wäre sie eine rein intellektuelle Schöpfung. Ganz so einfach ist die Sache aber nicht. Denn die moderne Schweiz existierte 1848 mitnichten. Und sie war auch nicht aus dem Stand plötzlich da. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Die Bun desverfassung war ein genialer Wurf. Sie bot die stabile Grundlage für die viel fältigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, die im jungen Bundesstaat einsetzen konnten und mit denen die Schweiz den Anschluss an die Moderne fand: weitsichtige staatliche Maximen und kluge politi sche Entscheide, waghalsige Ideen und Unternehmerpioniere voller Tatendrang wiesen den Weg. Manches verlief nach der Methode trial and error. Und letztlich hatte die Schweiz auch etwas Glück. Selbst ein Staat ist gelegentlich darauf angewiesen. Lassen wir es vorerst bei dieser Analyse der Schweizer Erfolgsge schichte bewenden.Sogesehen

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a | Pro Juventute Briefmarke von Karl Bickel (1886–1982) aus dem Jahr 1937. Als Vorlage diente Dufours Porträt, das Carl Friedrich Irminger (1813–1863) geschaffen hatte. (→ S. 15)

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c | Dufour auf der 20 Franken Banknote, die von 1956 bis 1980 im Umlauf war. Der Entwurf von Hermann Eidenbenz (1902–1993) lehnt sich ebenfalls an Irminger an. b

b | Dufourstrassen finden sich in vielen Schweizer Städten wie hier in Bern.

Vom Kaiser zu Dufour! Auf den ersten Blick ein grosser Schritt. Mit Guillaume Henri Dufour und mit dem Sonderbundskrieg von 1847 öffnen wir wiederum ein Zeitfenster vor der Bundesstaatsgründung. Bildete dieser Bürgerkrieg den Ur sprung der modernen Schweiz? Wäre der siegreiche General somit deren Wegbereiter? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir etwas ausholen.

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Es fällt auf, dass in der Schweiz mit den Grossen des Landes ein sonderbarer Um gang gepflegt wird – gewöhnlich redet man sie schlecht und stürzt sie über kurz oder lang vom Sockel. Auch treibt die Neigung zur Selbstverzwergung und Verniedlichung merkwürdige Blüten. Ob diese Phänomene in der Natur des Landes liegen? Oder zeigen die Schweizerinnen und Schweizer ein paradoxes Verhalten, indem sie alles klein machen, was über das Gewöhnliche hinausragt, weil sie über sich nur die gewaltigen Alpenmajestäten akzeptieren? Wie ist zu erklären, dass Dufour als Held des 19. Jahrhunderts von den Kopfjägern bisher verschont blieb? Warum lässt man diesen General weiterhin hoch zu Ross auf seinem ko lossalen Sockel sitzen und in die Gegenwart reiten? Hängt dies damit zusammen, dass Dufour unter dem Radar der kritischen Öffentlichkeit fliegt? Oder ist dieser Dufour tatsächlich eine der grossen Integrationsfiguren der Schweiz – vielleicht die grösste ihrer Geschichte? Dann würde er eine Wertschätzung erfahren, die heute zwar verblüfft, die er aber verdient.

In der Tat: Dufour wird wie kein anderer Schweizer des 19. Jahrhun derts idealisiert, zum Vorbild und Volkshelden gemacht. Dieser Triumphzug nahm in den liberalen Kantonen schon 1847 mit dem Sonderbundskrieg seinen Anfang. Doch dann setzte er sich im jungen Bundesstaat und über alle Kantons grenzen hinweg fort. Und als dann selbst ehrwürdige Klosterfrauen den General ins Herz schlossen, wurde ganz offensichtlich, dass Dufours Sympathiewerte von der breiten Bevölkerung maximal hochgetrieben wurden. Für Dufour wurde auf marschiert, komponiert, gedichtet, gesungen und gespielt. Alles zu seiner grösseren Ehre, während die Liste der Objekte, die sein Konterfei trugen, länger und länger wurde: Souvenirartikel, Nahrungsmittel, Zahlungsmittel, Kunstwerke –Dufour war in der Schweiz bald allgegenwärtig. Er erschien in der Karikatur und in der Daguerreotypie, er wurde auf Gebrauchsgegenstände gebannt, auf Erinne rungsteller, Krüge und Gläser gemalt und in Pappmaché modelliert. Er war das Herz Ass im Kartenspiel, sein Bildnis erschien auf gedruckter Seide, auf Gedenk münzen und Medaillen, auf Briefmarken, der 20 Franken Note und dem Zigar renetui. Brienzer Holzschnitzer brachten unter dem Namen Dufourli Tabakpfei fen auf den Markt, ihnen folgten Bäcker und Konditoren und kreierten nach dem General benannte Brote und Süssigkeiten.3

Mehr ist nicht möglich!

Das grosse Bedauern gilt nicht weniger dem wissenschaftlichen Um gang mit Dufour. Zwar fand dieser rasch mehrere Biografen. Auch Journalisten und Fachspezialisten verschiedener Disziplinen, darunter Kultur- und Militärhis toriker, haben sich immer wieder mit ihm auseinandergesetzt. Die Liste der do kumentierten grösseren und kleineren Beiträge zu einzelnen Aspekten seines Le bens und Wirkens ist lang. An Tagungen und Symposien wurde er zum Thema gemacht.6 Und es ist verdienstvoll, dass Dufour dank Privatinitiative ein Muse um erhalten hat, das seinen Namen trägt.7 Ob es aber richtig ist, dass diese Plattform nicht in einer bedeutenden Schweizer Stadt, sondern auf entlegener und im Winter unzugänglicher Höhe im schwyzerischen Sattel nahe dem Wildspitz er richtet wurde? Zu bedauern ist auch, dass das Maison Dufour in Genf, das die Fon dation Dufour beherbergt, zwar von diversen militärischen Vereinen als Archiv benutzt wird, jedoch keine publikumswirksame Stätte geworden ist.8 Doch das sind letztlich Nebenschauplätze. Das Hauptproblem stellt die bis heute fehlende umfassende und systematische Beschäftigung mit Dufours Leben und Werk dar. Weiterhin sind Dufours Briefwechsel und andere Selbstzeugnisse weder aufgear beitet noch in zeitgemässer Form publiziert.9 Doch gerade diese Quellen würden der kritischen Auseinandersetzung dank digitaler Möglichkeiten gewaltigen

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Für seine immensen Verdienste um das Vaterland erhielt Dufour kein Eisernes Kreuz, und es wurde ihm auch keine Siegessäule gesetzt. Das würde in der Schweiz nicht passen. Dafür wurden für ihn in Kirchen und Kapellen Erinne rungstafeln geweiht und auf öffentlichen Plätzen Denkmäler errichtet. Er wurde skizziert, gezeichnet und gemalt – leider vorab von Laien, Anfängern und Durch schnittskünstlern. Dass der ehemalige Freischärler Carl Friedrich Irminger (1813–1863) Dufour mit dem legendären Zweispitz auf dem Tisch präsentierte, ist von kulturgeschichtlicher Bedeutung. Ebenso, dass der Freizeitmaler Franz von Elg ger (1794–1858), als Generalstabschef der Sonderbundstruppen Dufours Gegen spieler, sich mit diesem auch auf Leinwand und Papier auseinandersetzte. Dabei gilt es zu anerkennen, dass Tochter Annette Dufour (1818–1891) ihren Vater talentiert porträtierte, während verschiedene Maler, die Eingang in Künstlerlexika ge funden haben, Dufour gewöhnlich pathetisch überhöht in Szene setzten. Etwa Jules Hébert (1812–1897), der Dufour in heroischer Pose vor seinem Generalstab einher reiten lässt. Es ist zu bedauern, dass sich kein grosser Porträtist des Gene rals angenommen hat. Karl Stauffer Bern (1857–1891) hätte ihn für die Schweizer Heldengalerie malen müssen – im gleichen Zug mit Gottfried Keller (1819–1890) und Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898).4 Das wäre etwas gewesen! Doch wir sind dankbar für das Reiterstandbild auf der Place Neuve in Genf, das vom Bild hauer Alfred Lanz (1847–1907) 1884 geschaffen wurde, einem der bedeutendsten Schweizer Bildhauer seiner Zeit. Schliesslich erwähnen wir auch Dufours gelun gene Büste aus Jean Jacques (James) Pradiers (1790–1852) Künstlerhand.5

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a | Franz von Elgger (1794–1858): General Dufour, um 1850.

b | Porträt Dufours in Generalsuniform mit gespanntem Hut, von Carl Friedrich Irminger (1813–1863), um 1850.

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Schub verleihen. Dies zeigen die grossen Fortschritte, die bereits seit Jahren un ter wechselnden Perspektiven bei der historischen Aufarbeitung des 19. Jahrhun derts gemacht werden. So häufen sich Quelleneditionen, geschichtliche Dar stellungen von Personen, Institutionen und Strukturen – vielfach durch PrivatinitiativePrunkangestossen.10undPompbei Begräbnissen und Trauerfeiern sind nicht in je dem Fall Gradmesser für die gesellschaftliche Bedeutung der Verstorbenen. Wie wäre es sonst zu erklären, dass Henry Dunant (1828–1910) trotz seiner humanitä ren Grosstat «wie ein Hund» beigesetzt wurde?11 Oder dass die Öffentlichkeit über den selbstgewählten Tod von Lydia Welti-Escher (1858–1891), der verkannten Schöpferin eines hochdotierten imaginären Museums der Schweizer Kunst, vom Bundesrat falsch informiert wurde, damit die Beisetzung kein Aufsehen erregte und die Vergangenheit totgeschwiegen werden konnte?12 Es kann auch sein, dass beim Begräbnis das schlechte Gewissen zu einem spektakulären Trauergeleit führt, wenn Politiker, Honoratioren und die Spitzen der Gesellschaft die Gelegen heit wahrnehmen, beispielsweise einem Verstorbenen wie Alfred Escher (1819–1882), den man zu Lebzeiten verkannt hat, Abbitte zu leisten.13 Bei Dufour traf dies alles nicht zu. Am 16. Juli 1875 säumten Zehntausende die Strassen Genfs, um einer Persönlichkeit die letzte Ehre zu erweisen, die für die Schweiz Grosses getan hatte und bereits zu Lebzeiten mit den höchsten Ehren ausgezeichnet wor den war. In diesem Fall reflektierte der Grossaufmarsch die gesellschaftliche Be deutung des Verstorbenen.

Es hat sich eingebürgert, Strassen und Plätze nach gesellschaftlich be deutenden Personen zu benennen. Auch hier übertrifft Dufour alles, was im 19. Jahrhundert Rang und Namen hat. Kein Politiker und Wirtschaftsführer, kein General und Wissenschaftler ist auf diese Weise bis in die Gegenwart so präsent wie er. Man stösst leicht auf zwei Dutzend Orte – einschliesslich Wald- und Wie senwege, Quartier- und Durchgangsstrassen. Dazu kommen Schul- und Hoch schulareale. Und mit der Umbenennung der Höchsten Spitze in Dufourspitze setzte die Landesregierung 1863 ein unmissverständliches Zeichen: Dufour wurde mit der höchsten Erhebung der Schweiz (4634 m ü.M.) identifiziert. Mehr ist nicht möglich.

Der Wilhelm Tell des Bundesstaats von 1848: ein Österreicher oder ein Franzose?

Warum dieser Kult? Hatte Dufour ein spezielles Charisma? Allein am Lebens gang, wie ereignisreich und folgenschwer sich dieser auch gestaltet hatte, kann es nicht gelegen haben. Faszination strahlten auch andere Persönlichkeiten aus. Steht die Popularität im Zusammenhang mit einer Pioniertat? Vielleicht mit den

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Wendepunkten der Schweizer Geschichte Ein biografischer Überblick Clemens Fässler

Guillaume Henri Dufour, porträtiert von seiner Tochter Annette Dufour

An(1818–1891).

42 Als Genfer im Staatenbund: für die Einigkeit derHeiratEidgenossenschaftundFamilie42 | 50 Jahre Politiker, aber angewidert von der Politik 44 | Genf erhält ein neues Gesicht 46 | Eine Schwei zer Fahne, um die sich alle scharen 47 | Napoleon III.: ein Schüler, der Kaiser wurde 51 | Die Schweiz auf 24 Blättern 54 | Die Korrespondenz mit Freunden 56 | Der Feldherr im Sonderbundskrieg 58

61 Nach der Bundesstaatsgründung: Als Schweizer für die Menschlichkeit Der Dux Helvetiorum 61 | Wirtschaftsund Neutralitätspolitik 64 | Ein Mensch im Dienste der Menschlichkeit 66

29 Eine prägende Figur der Schweizer Geschichte

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31 Zwischen Revolution und Freiheit: Als Franzose für Napoleon

In Österreich geborener Franzose aus Genf 31 | Studium an den Militärelite schulen in Paris und Metz 34 | Korfu: bedeutender Aufenthalt auf einer unbe deutenden Insel 38 | Rückkehr nach Genf nach dem Untergang Napoleons 40

Eine prägende Figur der Schweizer Geschichte

Die Schweiz wurde zu Lebzeiten Dufours vom maroden Staatenbund vor 1798 zum modernen Bundesstaat nach 1848, vom Armenhaus Europas zu ei ner aufstrebenden Wirtschaftsnation. Dabei gibt es wohl niemanden, der diese be wegte und bedeutende Zeit in solchem Masse aktiv mitgestaltete und prägte wie Guillaume Henri Dufour. Dessen waren sich auch seine Zeitgenossen bewusst, die ihn schon zu Lebzeiten als Held verehrten, wenn auch kritische Stimmen nicht ausblieben.Baldnach seinem Tod 1875 begann die Beschäftigung mit Dufours Le ben und Werk. Die Bibliografie zu Dufour erstreckt sich heute über Hunderte von

Die Verbannung Napoleons 1815 liess Dufour definitiv nach Genf zu rückkehren. In der Folge erlebte er als Grossrat und Tagsatzungsgesandter die politischen Spannungen und Umstürze während der Restauration ab 1815 und der Regeneration ab 1830 mit. Auch der wirtschaftliche und technische Fortschritt sowie das aufkeimende Nationalbewusstsein in der Schweiz spiegelen sich in seiner Biografie: Dufour war Ingenieur von Brücken und beteiligte sich am Bau von Eisenbahnlinien. Als Kommandant der Militärschule in Thun lancierte er die Schaffung einer Schweizer Fahne. Und sein persönlicher Höhepunkt war gleichzei tig die entscheidende Wende auf dem Weg zur modernen Schweiz: Seine Glanzleis tung im Sonderbundskrieg 1847 machte ihn zu einer prägenden Figur der Schwei zer Geschichte.Auch

nach der Bundesstaatsgründung 1848 blieb Dufour mit der Ent wicklung der Schweiz verbunden. Sein Lebenswerk, die zwischen 1832 und 1864 er stellte Dufour karte, symbolisiert die Einigung der Schweiz, die es nach der gesell schaftlichen Spaltung in den 1840er Jahren und durch den Sonderbundskrieg zu erreichen galt. 1849, 1856 und 1859, in Zeiten äusserer Bedrohung, wurde Dufour erneut zum Oberbefehlshaber der Schweizer Armee gewählt, jederzeit bereit, die Neutralität und Unabhängigkeit der jungen Schweiz mit Waffen zu verteidigen. Verschiedentlich traf man ihn auch bei Napoleon III. in Paris in Sondermission, und so wurde Dufour Teil der schweizerischen Diplomatie. Schliesslich beteiligte er sich 1863 an der Gründung des IKRK, dessen humanitäres und neutrales Engagement zum Selbstverständnis schweizerischer Aussenpolitik werden sollte.

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Grosse Umbrüche und einschneidende Ereignisse prägten zu Lebzeiten Guillaume Henri Dufours (1787–1875) die Schweizer Geschichte. Bereits seine Geburt 1787 fand im Zeichen des Umbruchs statt. Er wurde in Konstanz geboren, wohin seine Eltern nach einem Umsturz in Genf via Irland emigriert waren. 1798, Dufour war elfjährig, marschierten die Franzosen in Genf ein und beendeten die Zeit des Ancien Régime. Während der Napoleonischen Herrschaft über die Schweiz studierte Dufour an den Militärakademien in Paris und Metz, bevor er als Offi zier der französischen Armee nach Korfu abkommandiert wurde.

Einträgen. Dufour hat auch selber viel geschrieben: Militärische Abhandlungen über Festungsbau und Kriegskunst, die Berichte über seine Einsätze, Eingaben an die Tagsatzung und schliesslich ein umfangreiches Briefkorpus. Die Briefe an sei ne Familienmitglieder, an seinen Lebensfreund Adolphe Pictet (1799–1875) oder an den verehrten und kaiserlichen Freund Louis Napoleon Bonaparte (1808–1873) offenbaren uns sein Innenleben. Bis heute ist die Beschäftigung mit Dufour in Fachartikeln und Zeitschriften rege. Dagegen blieben grössere biografische Wer ke selten.

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Der elfjährige Gymnasiast Guillaume Henri Dufour, 1798.

Zwischen Revolution und Freiheit: Als Franzose für Napoleon

Henri Dufour wurde am 15. September 1787 in Konstanz ge boren, das damals zu Österreich gehörte. Angesichts der familiären Verwurzelung in und um Genf mag das überraschen. Der Grund lag in den Unruhen und Wirren Ende des 18. Jahrhunderts, die ganz Europa betrafen und schliesslich 1789 zur Französischen Revolution führten. Die Ideen der Aufklärung, ihre Forderung nach Freiheit und Demokratie, fanden auch in Genf Unterstützung, nicht zuletzt in der Person von Bénédict Dufour. 1781 wurde eine demokratische Verfassung angenom men. Nur ein Jahr später errangen die konservativen Kräfte, unterstützt durch den Aufmarsch von bernischen, französischen und sardischen Truppen, wieder die Macht. Die demokratischen Errungenschaften wurden rückgängig gemacht, und zahlreiche Liberale wurden verbannt. Auch Bénédict Dufour sah sich zur Auswan derung gezwungen und zog mit Pernette Dufour Valentin zunächst nach Water ford in Irland, wohin bereits viele Genfer emigriert waren. Dort heirateten sie am 28. Februar 1784 kirchlich, nachdem die Ziviltrauung im November 1783 noch in Genf stattgefunden hatte. Nach Konstanz kamen sie schliesslich auf Anregung des

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Die Seigneurie und Republik Genf war bis 1798 ein eigenständiger Stadtstaat mit der Stadt Genf und verstreuten Herrschaftsgebieten im Umland.1 Die ständige Bedrohung durch Savoyen führte zu engen Bündnissen mit den eidgenössischen Orten Bern und Zürich, ohne dass Genf Teil der Eidgenossenschaft geworden wäre. Die politische Macht in der Stadt verlagerte sich in der Zeit des Ancien Ré gime zunehmend auf einen relativ geschlossenen Kreis einflussreicher Familien. Als regionales Wirtschaftszentrum sowie als geistige Hochburg der Reformation pflegte Genf internationale Kontakte. Die Uhrenindustrie bildete dabei den Schwerpunkt. Von ihr gingen Impulse für wissenschaftlichen und technischen Fortschritt sowie für die Etablierung neuer Berufe aus.2 Auch die Vorfahren Guillaume Henri Dufours väterlicher- und mütterlicherseits betätigten sich als Uhrmacher. Die Familie Dufour stammte ursprünglich aus Bourdigny, einem kleinen Weiler westlich von Genf an der heutigen Grenze zu Frankreich. Als der Vater von Guillaume Henri, Bénédict Dufour (1762–1837), am 20. Februar 1762 ge boren wurde, lebten die Dufours bereits seit vier Generationen als Bürger in Genf. Die Mutter Pernette Valentin (1760–1829) wuchs in Versoix auf, acht Kilometer nördlich vonGuillaumeGenf.3

In Österreich geborener Franzose aus Genf

a | Die Schwester: Elisabeth Mabille-Dufour (1796–1893).

c | Der Vater: Bénédict Dufour (1762–1837), porträtiert von George Chais.

b | Die Mutter: Pernette Dufour-Valentin (1760–1829), porträtiert von ihrer Tochter Elisabeth Dufour, 1815.

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d | Familienwappen der Dufour aus dem Berner Wappenbuch. Guillaume Henri Dufour wurde durch Schenkung das Berner Burgerrecht verliehen.

d b a c

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österreichischen Kaisers Joseph II., der mit Genfer Fabrikanten die dortige Wirt schaft wieder in Schwung bringen wollte.

Vater Bénédict Dufour fand wenig Zeit für die Erziehung seines Sohnes –er war vielseitig öffentlich tätig. Nachdem 1792 die demokratischen Kräfte an die Macht gelangten, beteiligte er sich an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung mit Volkssouveränität und Gewaltentrennung, die zwei Jahre später angenommen wurde. Weiter war er zeitweise Regierungsmitglied und amtete als Richter im neu geschaffenen Tribunal. Sein Ziel war es, zwischen den verschiedenen politischen Strömungen zu vermitteln. Radikale Forderungen der Revolution lehnte er ab. Da mit war er auch – wie die Mehrheit der Genfer – gegen eine Annexion Genfs durch Frankreich. 1798 marschierten die Franzosen gleichwohl in Genf ein und machten es zum Hauptort des französischen Departements Léman. Nun distanzierte sich Bénédict Dufour zunehmend vom politischen Regime in der Stadt. Ausdruck da von war der Kauf des Landguts Montrottier in Hochsavoyen, rund 35 Kilometer südlich von Genf, zusammen mit drei Freunden ein Jahr später. Das Gut Montrottier umfasste ein mittelalterliches Schloss und grosse Ländereien mit Wald, Obst bäumen und Reben. Fortan widmete sich Bénédict Dufour der Bewirtschaftung seines Landes und hielt sich immer weniger in Genf auf. Ab 1807 wohnte er aus schliesslich in Montrottier, während die anderen drei Miteigentümer das Schloss vor allem als Sommerresidenz benutzten. Pernette Dufour Valentin blieb mit den Kindern in Genf. Hier konnte sie auch ihre Stickereien an die wohlhabende Genfer Gesellschaft verkaufen und damit wesentlich zum Familieneinkommen beitragen. Denn die Landwirtschaft ihres Mannes rentierte vor allem in den ersten Jahren schlecht. Nachdem die Kinder ausgezogen waren, lebte auch Pernette Dufour Va lentin auf Schloss Montrottier. Guillaume Henri war während der Sommermona

1789 spitzte sich die politische Situation in Genf erneut zu. Die konser vative Regierung sah sich gezwungen, verschiedene unpopuläre Beschlüsse auf zuheben. Damit wurde auch Bénédict Dufour im selben Jahr die Rückkehr mit seiner Familie nach Genf ermöglicht. Sie zogen in die Rue de Coutance auf der rechten Seite der Rhone. Hier kamen 1790 Octavie (Todesjahr unbekannt) und 1796 Elisabeth Dufour (1796–1893) zur Welt. Die Haushaltsführung und die Erzie hung der Kinder lag in den Händen der Mutter Pernette, die als Anhängerin Jean Jacques Rousseaus (1712–1778) auch den Kindern die Werte der Aufklärung mitgab. Sie wird als streng, aber fürsorglich beschrieben, wobei die Strenge auch für sie selber galt. Oft sass sie tagsüber und bis weit in die Nacht am Stickrahmen, um mit dem Verkauf ihrer Stickarbeiten die wirtschaftliche Situation der Familie zu verbessern. Guillaume Henri war deshalb oft bei Verwandten und Freunden der Familie. Seinen Onkel Pierre Philippe Fazy (1766–1852) und dessen Frau Lou ise Pierrette Fazy Dufour (1772–1855) bezeichnete er als second père und seconde mère.4 Sie waren es auch, die ihm die erste Grundbildung zukommen liessen.

te oft im imposanten Schloss. Einer seiner Spielkameraden hier wie auch in Genf war Etienne Bonneton (1788–1809), der in Genf im selben Quartier St-Gervais wohnte und dessen Vater, Théodore Etienne Bonneton (1762–1805), einer der vier Käufer des Schlosses war. Ihre gemeinsamen Interessen fürs Zeichnen und Kons truieren, ihre gemeinsamen Spaziergänge sowie ihre selbsterfundenen Schat tentheater liessen eine enge Freundschaft entstehen.

Mit elf Jahren ging Guillaume Henri ans Collège de Genève (heutiges Collège Calvin). Doch die Schulzeit blieb ihm nicht in guter Erinnerung. Er inter essierte sich nicht für die unterrichteten Fächer, wie er später berichtete. Eine Aus nahme bildete Latein, für dessen Literatur und Heldengeschichten er sich begeis terte. So blieben die lateinischen Philosophen ständige Begleiter Dufours auch in späteren Lebensphasen. Ansonsten hatte er nach eigenen Angaben Mühe mit Ler nen, auch fiel ihm das Stillsitzen schwer. Es kam sogar so weit, dass er von der Schule gewiesen wurde. Seine Mutter musste sich gehörig engagieren, damit er das Gymnasium doch noch abschliessen konnte. Dieses Widerstreben und diese Durchschnittlichkeit erstaunen angesichts des späteren Lebenslaufs. Lag es dar an, dass ihm die Schule zu wenig Action bot? Schliesslich hatte er sich über den Einmarsch der Franzosen in Genf gefreut, die für einige Tage in der Schule ein quartiert waren, weshalb der Unterricht ausfiel. Oder fehlte ihm der Lernanreiz, da er zwar breit interessiert, aber ohne konkretes Berufsziel war? Womöglich hat ihm, der sich in Briefen und Berichten durchaus feinfühlig gab, der damalige Schulbetrieb nicht behagt. Und vielleicht hat sich die Überlieferung seiner schuli schen Schwächen auch etwas stark an seinen eigenen und wohl eher bescheide nen Beschreibungen orientiert. Denn an Intelligenz fehlte es Guillaume Henri nicht. Das entging auch seinen Eltern nicht, die ihn mit den zur Verfügung stehen den Mitteln unterstützten. Zudem war er ein Kind von ausserordentlicher Auf merksamkeit, und er interessierte sich für alles um sich herum. Er sammelte Kä fer und legte Herbarien an, besuchte Zeichenunterricht oder bastelte technische Geräte wie eine Miniarmbrust, mit der er im Schulzimmer Schabernack trieb. Sein Interesse an antiken Kriegshelden und modernen Schlachten verband sich mit seiner Führernatur in Kriegsspielen, die er in den Gassen Genfs veranstaltete. Schliesslich trieb Guillaume Henri auch Sport. Er war ein guter Schwimmer, ein kräftiger Ruderer und übte sich im Bogenschiessen.5

Studium an den Militäreliteschulen in Paris und Metz

Auch nach dem Gymnasium blieb der Berufswunsch ungeklärt. Während eini ger Zeit begleitete Dufour einen Arzt auf dessen Krankenbesuchen, und im Mili tärspital verband er an den Abenden die Wunden der Soldaten. Medizin stand im Vordergrund, als sich Dufour an der Académie de Genève einschrieb. Dort besuch

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Blick von der Ile Rousseau über das Rondeau des Pont des Bergues ins Genf der 1860er Jahre.

Zwischen Bewahrung und Innovation Dufours Werk als Ingenieur und Wissenschaftler Georges Bindschedler

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85 Festungsbau und Entfestigung der Stadt Verfasser von Schriften zum Festungswesen 85 | Alpenfestungen zur Sicherung der Neutralität: ein Réduit? 87 | Techno logische Umwälzungen und die Festungs bauten 88

73 Vom militärischen zum zivilen Ingenieur Zum Ingenieur bestimmt 73 | Kriegserfahrungen auf Korfu 74 | Kantonsingenieur in Genf 75

76 Vom Brücken- zum Eisenbahnbau Pionier der Hängebrücke 76 | Moderner Materialwissenschaftler in Theorie und Praxis 78 | Erstmalig: Genfs Pont des Bergues 79 | Als Ingenieur im Verwal tungsrat der Compagnie de Lyon 81

103 Fazit: Ingenieur als Beruf und Berufung

94 Kriegsraketen: eine militärische Innovation Die Raketen von Adolphe Pictet 96 | Dufour über die Raketen 97

In einem Brief, datiert vom 15. April 1849, erteilt der vor allem als General im Son derbundskrieg und weniger als Ingenieur weitherum berühmt gewordene Guillau me Henri Dufour seinem Freund Adolphe Pictet (1799–1875) einen Ratschlag zur künftigen Karriere von dessen Sohn Adolphe Henry Pictet (1830–1893). Die Ab sichten der Eltern, dem Sohn eine Offizierslaufbahn in der Artillerie zu bereiten, wären vor dreissig Jahren sicher vorteilhaft gewesen, schreibt Dufour. Heute, in Friedenszeiten, sei das anders, zivile Karrieren eröffneten mehr Vorteile. In der Armee während langer Jahre in unteren Rängen zu vegetieren sei nicht beson ders ermutigend. Die Karriere als ziviler Ingenieur hingegen biete dem jungen, gut ausgebildeten Mann bessere Erwerbsmöglichkeiten, «bien des ressources». Als Ingenieur werde er fast sicher sofort eine Anstellung in einer grossen Unter nehmung finden, die, sobald wieder (politische) Ordnung herrsche, ihren Aufschwung nehmen werde. Hätte er einen eigenen Sohn – schreibt der Vater von vier Töchtern etwas wehmütig – «c’est à cela que je le destinerais». Adolphe Henry wurde denn auch tatsächlich Ingenieur.1

Als einer der letzten seines Jahrgangs, im 140. Rang von gesamthaft 144 Bewerbern, wurde der 20 jährige Dufour 1807 nach einer harten Aufnahmeprü fung zugelassen. Mit Fleiss und eisernem Willen holte er das ihm offensichtlich fehlende Wissen nach und arbeitete sich rasch in die vorderen Ränge vor. Seine

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Zum Ingenieur bestimmt

Vom militärischen zum zivilen Ingenieur

Guillaume Henri Dufour trat 1797 ins Collège Calvin in Genf ein, das damals zu Frankreich gehörte. Obwohl er vielseitig interessiert und talentiert war, blieb er ein durchschnittlicher und eher gleichgültiger Schüler. Er bewies zeichnerisches Talent und Erfindergeist und träumte von einer Karriere als Künstler. Nach ei nem Jahr des Studiums von Chirurgie, Botanik und Physik an der Genfer Akade mie bewarb er sich an der erst 1794 gegründeten École polytechnique in Paris. Dies war eine höhere Lehranstalt, an der Ingenieure und Naturwissenschaftler ausgebildet wurden. Unter Napoleon wurde sie 1804 zur Militärschule umgewan delt, welche die theoretische und allgemeine Grundausbildung von Heeresoffizie ren insbesondere in den technischen Gattungen Artillerie und Genie bezweckte. Zivile und militärische Ingenieurwissenschaften waren damals eng verflochten, weshalb es nachvollziehbar ist, dass sich Dufour für eine militärische Ingenieursausbildung entschied. Abgesehen davon war die Ausbildung an der École Poly technique, als er sich dafür interessierte, noch unentgeltlich. Schliesslich waren die Schüler von der Einberufung in den Wehrdienst befreit, da sie mit dem Ein tritt in die École polytechnique gleichzeitig eine Offizierslaufbahn einschlugen.

Seine erste militärische Kommandierung als französischer Offizier führte Dufour im Range eines Leutnants der Genietruppen auf die Insel Korfu. Dort konnte er sein Wissen im Festungsbau und sein Talent in der zeichnerischen Darstellung festigen und zeichnete die erste genaue Karte der Zitadelle von Korfu und dessen Befestigungsanlagen. Die Insel war damals französisches Territorium und von den Engländern im Rahmen ihrer gegen Frankreich verhängten Seeblockade ein gekreist. Da fand er genügend Zeit zum Verfassen einer Abhandlung über die Per spektive; eine Abhandlung die ihm besonders am Herzen lag, da er sie ohne Kon sultation von Büchern «dans mes moments de loisir» niederschreiben musste und dies ihr «un cachet d’originalité» verlieh. Er schrieb ferner ein Mémoire sur la fortification permanente, das die Grundlage für sein späteres Standardwerk zum Thema abgab, und eine Schrift über Attaque d’une Place de guerre.3 In die sen Arbeiten zeigt sich deutlich Dufours Neigung zur Beschäftigung mit theore tisch wissenschaftlichen Themen auf dem Gebiet des militärischen und zivilen Ingenieurwesens im weitesten Sinne.

Der Aufenthalt auf Korfu entwickelte jedoch nicht nur Dufours theore tisch wissenschaftliche Persönlichkeit. Sein Vorgesetzter, Oberst Marie Etienne Baudrand (1774–1848), erkannte das Potential seines Untergebenen und sorgte dafür, dass Dufour sich nicht nur in der Spezialwaffengattung Genie fortbildete, sondern alle militärischen Dienstzweige kennenlernte und insbesondere auch Menschenführung und Befehlsgebung erlernte. Baudrand blieb für Dufour eine prägende Persönlichkeit und zeitlebens ein Freund. Er betraute ihn mit unter schiedlichen Aufgaben und Befehlsstellen und behielt ihn ausserdem stets in sei ner Nähe als Stabsoffizier, so dass er ihm eine umfassende praktische Ausbildung angedeihen lassen konnte. Baudrand beförderte Dufour am 15. März 1813 zum Hauptmann der Genietruppen und übertrug ihm das Kommando über eine ver stärkte Geniekompanie, damit er sich an den «Männern reiben» konnte, «pour me frotter aux hommes», wie Dufour in seinen Erinnerungen schreibt. Die Ver

Kriegserfahrungen auf Korfu

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Leistungen und sein Betragen waren mustergültig und wurden mit dem Erlass der Hälfte des Schulgeldes belohnt, was für seine Eltern eine nicht geringe finan zielle Erleichterung bedeutete. An der École polytechnique begann er sich für Ma thematik, Geometrie und Physik zu begeistern und bewies in diesen Fächern au ssergewöhnliches Talent. Anschliessend wählte er zur Weiterbildung die École d’application de l'artillerie et du génie in Metz, an der Artillerie- und Genie Offi ziere zu Spezialisten des Faches ausgebildet wurden. Beide Ausbildungsstätten schloss er in den vordersten Rängen seines Jahrgangs ab.2

Kantonsingenieur in Genf

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bindung von Theorie und Praxis und die Breite seiner Kenntnisse und Erfahrun gen wurden charakteristisch für den vielseitigen Werdegang des Ingenieurs Dufour.4

1816, unmittelbar nach dem Fall des napoleonischen Kaiserreichs, wurde Dufour vom neu geschaffenen und der Schweizerischen Eidgenossenschaft angeschlos senen Kanton Genf mit der Fertigstellung der Brücke von Carouge betraut. Er war damals erst 30 jährig und bekleidete, vorerst inoffiziell, die Funktion des Kantonsingenieurs.5 In diesen Jahren plante und beaufsichtigte er die Umgestaltung und Modernisierung der Stadt Genf. Es entstanden zwischen 1828 und 1838 der Quai des Bergues und der Quai du Seujet auf dem rechten Rhoneufer sowie auf der linken Flussseite der Grand Quai mit einem Hafen zwischen Longemalle und Fusterie. Als Verbindung zwischen den beiden Rhoneufern wurde unter Dufours Planung und Leitung 1834 der berühmte Pont des Bergues errichtet, dessen Pfei ler heute noch an die seinerzeit von Dufour konstruierte Brücke erinnern. Dufour nahm in den Jahren 1825 bis 1834 Einfluss in zahlreichen weiteren städtebaulichen Projekten dieser Zeit. Dazu gehörten die Neugestaltung der Rue de la Cor raterie und des Quartier des Bergues mit dem berühmten Hotel gleichen Namens.6

Der von Dufour geplante Grand Quai in Genf, Aquarell von Jean Du Bois (1789–1849), um 1834.

In Fachkreisen berühmt wurde Dufour durch den Brückenbau, insbesondere durch den Bau von Drahtseilbrücken oder Hängebrücken ( 41 Fünf Schweizer Brückenbauer ). Bereits in den Jahren zwischen 1815 und 1822 war dieser Konstruk tionstyp in Schottland, den USA und Frankreich angewendet worden. Dufour war in dieser Disziplin an der technologischen Spitze tätig. Fünf seiner Projekte wur den ausgeführt; drei davon waren Fussgängerstege über die Befestigungswälle und -gräben der Stadt Genf und zwei weitere Brücken überspannten die Rhone. Es waren die Brücken Saint Antoine (1823), Pâquis (1826) und Bel Air (1837) und der Pont des Bergues sowie die Verbindungsbrücke von der Mitte des Pont des Bergues zur in der Mitte der Rhone liegenden Île Rousseau (1834, Pont de l’Île aux Barques). Der Konstruktionstyp der Hängebrücke hatte nicht nur den Vorteil, dass er kostengünstig und relativ einfach und schnell zu errichten war, sondern dass die damit überspannten Befestigungsgräben und -wälle nicht beeinträch tigt wurden und im Kriegsfall rasch entfernt werden konnten. Der in nur sieben Monaten errichtete Pont Saint Antoine war 1823 die erste nicht als provisorische Brücke gebaute, mit Drahtseilkabeln bespannte Hängebrücke der Welt. Frühere Hängebrücken wurden mit Ketten oder Stangen statt Drahtseilkabeln gehalten.

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Vom Brücken- zum Eisenbahnbau

Wieso hatte Dufour nicht eine klassische Hängebrücke für Freiburg vorgeschlagen? Er wollte die – als unästhetisch empfundenen – hohen Masten an den Brückenenden vermeiden. Ausserdem beeinträchtigten die Verankerungen der Kabel in den Brückenköpfen den Zugang auf die Brücke: auf dem stadtseiti gen Brückenkopf war in den schmalen Gassen wenig Raum vorhanden und auf der gegenüberliegenden Seite stieg das Gelände steil an, womit kaum Platz für die Seilverankerungen blieb. Eine elegantere Lösung schien ihm die Stützung der Brücke durch unter der Brückenplatte verlaufende Ketten oder Kabel, die unter der Fahrbahnplatte im Brückenkopf verankert werden konnten. Dufours Projekt

Neun weitere geplante Brücken Dufours wurden nicht ausgeführt, da von Projekte in Italien und Frankreich sowie die Wettbewerbseingabe für eine Brücke über die Saane in Freiburg im Jahre 1826. Dufours Saane Brücke sah eine damals noch unerprobte Konstruktion vor, nämlich eine unterspannte Hänge brücke. Dabei wird die Fahrbahn von darunter verlaufenden Ketten getragen wie später beim Pont des Bergues. In der Mitte der Brücke hatte Dufour einen 50 Me ter hohen Pfeiler geplant, da ihm eine einzige Spannweite von über 250 Meter als zu gewagt erschien und er die Kosten einer solchen Brücke auf ein Mehrfaches schätzte. Dufour wählte den vorsichtigen Mittelweg.

Pionier der Hängebrücke

a | Der Vorschlag Dufours für eine HängebrückeunterspannteinFreiburg–hieraufeinerLithografievonPhilippedeFegely(1790–1831)–unterlaggegen

b | ... die spektakuläre Hän gebrücke ohne Mittel pfeiler von Joseph Chaley (1795–1861), die 1834 eingeweiht wurde.

77 a b

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Dufour verstand es, modernste konstruktive Technologie anzuwenden, denn er beherrschte empirische Materialwissenschaft und experimentelle Physik. Pla nung und Konstruktion von Brücken setzten damals weitreichende Vorarbeiten und Versuche voraus. Es existierten keine allgemeingültigen Normen und einzel ne Bauteile wie die Kabel mussten erst einmal entwickelt und danach hergestellt werden. Auch besass man nur rudimentäre Kenntnisse über die zu verwenden den Materialien; vieles musste durch Experimente erst in Erfahrung gebracht werden. Für seine erste Hängebrücke, den Pont Saint Antoine, baute Dufour ein Versuchsmodell, das er ausgedehnten Tests unterzog. Auch machte er wissen schaftliche Untersuchungen an Eisen, um quantitative wie qualitative Werte über das Verhalten von Eisendraht zu erhalten. Wegen der Rostanfälligkeit von Eisen

unterlag dem – als attraktiver und spektakulärer beurteilten – alternativen Pro jekt einer herkömmlichen Hängebrücke mit einer einzigen Spannweite von rund 250 Metern. Diese Brücke war zwischen 1834 und 1848 die längste Hängebrücke der Welt. 1924 musste sie dann einer neuen Konstruktion aus Beton und Stein weichen, die noch heute steht.

Der Pont de fil de fer des Pâquis in Genf, aquarellierte Lithografie.

Moderner Materialwissenschaftler in Theorie und Praxis

KartografischesSpitzenergebnis

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Ausschnitt aus der Topographischen Karte der Schweiz 1 : 100 000, Blatt XXIII, nach geführte Ausgabe 1863. Der Bundesrat beschloss am 28. Januar 1863, zu Ehren von Guillaume Henri Dufour den höchstgelegenen Gipfel der Schweiz in umzubenennen.«Dufour-Spitze»

Ein plastisches Abbild der Schweiz

Hans ­ Uli Feldmann

134 Format, Einteilung und Inhalt der topografischen Karte

164 Exposition universelle in Paris 1855: PR für die Dufourkarte

145 Die Arbeitsmethoden des Kupferstechers

106

154 DerVerstählungAuflagedruckund Doubletten 157 | Mehr farbigkeit dank Steindruck 159

166 Ehrungen

141 DerEinKupferstichmodernes Druckverfahren 141 | Angenehme Arbeitszeiten für Kupferstecher 143

132 Das Topographische Bureau in Carouge bei Genf

150 Die ersten Blätter XVI und XVII

110 Aus einem Flickenteppich: die geodätischen GrundlagenExpertenkonferenz in Bern und die Berufung von Johannes Eschmann 112 | Eschmanns Ergebnisse: ein landesweites geodätisches Referenzsystem 114 | Abweichung von nur zwei Zehntelsmilli metern 116

152 Die Kritik an den Blättern XVI und XVII

159 Die Dufourkarte – ein Schlüsseldokument

148 Der Kupferdruck

117 Die topografischen Grundlagen Unterstützung von der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 117 | Bereits publizierte Karten der Kantone 118 | Die Zürcher Wild-Karte als Markstein für künftige Kartenwerke 124 | Der freibur gische Kriegsrat sucht einen Topografen 124 | Topografische Aufnahme im Gelände 127

160 SpezialkartenDiePostkarte 1 : 300 000 160 | Die Gene ralkarte 1 : 250 000 161 | Die geologische Karte der Schweiz 1 : 100 000 164

107 Als Guillaume Henri Dufour am 20. September 1832 zum Oberstquartiermeis ter gewählt wurde, gehörte auch die Leitung der trigonometrischen Vermessun gen der Schweiz zu seinen Aufgaben.2 Diese wurde ihm am 3. November von der eidgenössischen Militäraufsichtsbehörde übertragen. Dass die Wahl auf ihn fiel, ist ein Zeichen für die militärtechnische Neuorientierung der 1830er Jahre, als die militärischen Führungsleute erhöhten wissenschaftlichen Anforderun gen genügenDufourmussten.hatte nach seiner Ausbildung an der École polytechnique in Pa ris und an der École d’application de l'artillerie et du génie in Metz mehrere Jahre in der französischen Armee gedient. Hier machte er erste praktische Erfahrun gen mit topografischen Aufnahmen und Kartenzeichnen. So entstanden zum Beispiel 1811 / 12 der Plan général de la place et des forts de Corfou et du terrein(!) extérieur à la distance d’environ deux kilomètres im Massstab 1 : 5000 und der Plan Fortifications de Lyon en 1815, ebenfalls 1 : 5000. Bei ersterem fügte er stolz hand schriftlich hinzu, dass dies der erste Plan mit Höhenkurvendarstellung sei. 1817 quittierte Dufour den Dienst in der französischen Armee und trat als Hauptmann in das neu geschaffene schweizerische Bundesheer ein. In dieser Funktion wirkte er unter anderem ab 1819 bis 1830 an der Central Militärschule in Thun als Instruktor für das Geniewesen. Während dieser Zeit publizierte er das Lehrbuch Instruction sur le dessin des reconnaissances militaires à l’usage des officiers de l’école fédérale. Ebenfalls seit 1817 war er Kantonsingenieur von Genf, ein Amt, das er ab 1828 in offizieller Funktion bis 1850 parallel zu seinem Amt als Oberstquartiermeister ausübte. Unter seiner Leitung entstand eine der ersten Kantonskarten, die Carte topographique du Canton de Genève, levée par ordre du gouvernement dans les années 1837 et 1838, G.H. Dufour direxit, im Massstab 1 : 25 000. Dabei konnte er auf kleinerer, kantonaler Ebene jene Erfahrungen sam

Im Frühjahr 1833 begonnen, wurde die topographische Karte der Schweiz mit dem Jahr 1864, also nach einer Arbeit von zwei und dreißig Jahren, voll ständig beendigt. Dieser Zeitraum umfaßt nicht die Versuche und theilwei sen Triangulationen, welche zu diesem Zweke, aber erfolglos, bis zu dem Zeitpunkte stattgefunden hatten, wo von hoher eidgenössischer Tagsazung der ernstliche Entschluß gefaßt wurde, sich auf die Höhe der benachbar ten Nationen zu stellen und dem gelehrten und industriellen Publikum, so wie den Zivil- und Militärverwaltungen eine gute topographische Karte des gebirgigsten, in mancher Hinsicht merkwürdigsten und von den Reisenden oder bloßen Touristen besuchtesten Landes in Europa zu liefern. 1

Schlussbericht von Guillaume Henri Dufour über die topografische Karte, 31. Dezember 1864

a

c | Carte topographique du Canton de Genève, levée par ordre du gouvernement dans les années 1837 et 1838, G. H. Dufour direxit, 1 : 25 000, Zustand 1871. Aus schnitt 60 % der Originalgrösse. Roter Kreis = Standort des ers ten topografischen Büros. Grüner Kreis = Wohnsitz von Dufour in Contamines/Eaux-Vives.

b | Fortifications de Lyon en 1815, 1 : 5000. Tusche-/Aquarellzeich nung, Format: 65 × 65 cm. Dufour, als Hauptmann der französischen Armee, kartierte den damaligen Zustand der Be festigungsanlage von Lyon we nige Tage vor Napoleons endgül tiger Abdankung. Links unten: «fait à Montessuy le 13 Juin 1815»; rechts unten: «Le Capi taine du Genie G.H. Dufour».

a | Plan général de la place et des forts de Corfu et du terrein exté rieur à la distance d’environ deux kilomètres, 1 : 5000.

b c

136Aquarellzeichnung,Tusche-/Format:×100cm,Ausschnitt60%derOriginalgrösse.

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110

Aus einem Flickenteppich: die geodätischen Grundlagen

meln, welche ihm später bei seinem kartografischen Hauptwerk auf grosser, na tionaler Ebene zum Durchbruch verhalfen, der Topographischen Karte der Schweiz 1 : 100 000, die später zu seinen Ehren Dufourkarte genannt wurde.

1. Für die Berechnung beziehungsweise die Festlegung der geografischen Länge, Breite und des Azimuts sämtlicher trigonometrischer Punkte der Schweiz wurde 1812 die Sternwarte von Bern als Fundamental punkt ausgewählt. Deren erhöhte Lage auf der Grossen Schanze nördlich des heutigen Bahnhofs erlaubte Sichtkontakt auf die wichtigen Jurahöhen. Damit entstand der sogenannte Koordinaten Ursprung der schweizerischen Landesvermessung. Neben der geografischen Länge –notabene bezogen auf den Meridian von Paris – und der Breite diente das astronomisch beobachtete Azimut auf den Chasseral (Richtungs winkel bezüglich des Meridians) zur Lagerung und Orientierung des Netzes. Auch bei der Positionierung der Schweiz auf dem Globus spiel ten somit die Franzosen eine führende Rolle.3

2. Schon in den Jahren 1791 und 1797 waren von Johann Georg Tralles (1763 1822) und Ferdinand Rudolf Hassler (1770 –1843) im Grossen Moos von Walperswil bis Sugiez am Murtensee in wochenlanger Arbeit eine 13 053 m lange sogenannte Basis genau gemessen worden. Im Hinblick auf das nationale Kartenprojekt wurde diese Basis 1834 durch den jungen Zürcher Astronomen Johannes Eschmann (1808–1852) und den damals erst 18-jährigen späteren Astronomieprofessor Rudolf Wolf (1816–1893) ein drittes Mal gemessen. Deren Resultat wich nur um wenige Zentimeter von heutigen GPS Daten ab.4 Zur Schulung hatten die beiden zuvor im Sihlfeld bei Zürich eine weitere Basis (3360 m) gemessen, die auch zur Kontrolle der knapp vier Mal längeren Basis im Grossen Moos diente.

Dank seiner vermessungstechnischen Ausbildung war er vertraut mit den Anfor derungen an die geodätischen Grundlagen, welche vorausgehend für die Kartie rung des Landes nötig waren: die Kenntnis eines geografischen Ausgangspunk tes (1), eine Basismessung (2) und eine fixe Höhenangabe (3).

3. Während noch im 18. Jahrhundert Höhenangaben mittels Barometer messungen sehr ungenau bestimmt wurden, setzte sich ab 1800 die tri gonometrische Höhenmessung durch. Die Bestimmung einer auf den mittleren Meeresspiegel bezogenen Referenzhöhe war für die Schweiz als Binnenland keine einfache Aufgabe. Dufour entschied bereits 1820, als Ausgangspunkt für die schweizerische Höhenmessung einen der

111 beiden Granitfindlinge im Hafen von Genf festzulegen. Die 376.86 m ü.M. des Repère du Niton (RPN) wurde von der Höhe des Chasserals ab geleitet, die zuvor von den französischen Ingenieur Geografen bestimmt worden war. Dieser Wert bildete bis zur Einführung des neuen Landes kartenwerkes nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage der in der Dufour- und Siegfriedkarte publizierten Höhenkoten. 1902 ergaben ak tuellere, genauere Vermessungen zwar einen neuen Horizont des RPN von 373.60 m ü. M., wodurch die neue Bezugshöhe 3.26 m tiefer lag als die alte. Aus Kosten- und praktischen Gründen verzichtete man aber auf die Korrektur aller Höhenangaben in den damals zwar noch nach geführten, aber in Ablösung befindlichen Karten und begnügte sich mit einer generellen Randangabe «Alter Horizont».5 Bereits seit der Grenzbesetzung von 1809 beschäftigten sich die Offiziere des eid genössischen Oberstquartiermeisterstabs mit Vermessungen.6 Diese dehnten sich, ausgehend von der Ostschweiz, nach und nach auch auf andere Landesteile aus. Bis 1829 wurden diese Arbeiten durch Oberstquartiermeister Hans Conrad Finsler (1765 1839) – dem Vor-Vorgänger von Dufour – geleitet. Neben den Mili tärs unternahmen auch Wissenschaftler trigonometrische Vermessungen, wie zum Beispiel die Professoren Friedrich Trechsel (1776 1849) in Bern und Daniel Huber (1768 1829) in Basel oder für das Wallis der Domherr Josef Anton Berchtold (1780 1859).

Repère Pierre du Niton, der Höhen-Fundamentalpunkt der Schweiz, im Hafenbecken von Genf. Zu Dufours Zeiten betrug der alte Horizont 376.86 m ü. M.

Der Anfang zur Schaffung eines nationalen geodätischen Rahmens ver lief allerdings äusserst harzig. Dufour war nach der ersten Kampagne vom Som mer 1833 unter seiner Leitung ziemlich bedrückt, wie er an den Delsberger Inge nieur Antoine Joseph Buchwalder (1792 1883) schrieb: «Ich habe mich äusserst betreten gefühlt, ich gestehe es, als ich meinen Bericht verfassen musste, um über die Verwendung der ziemlich beträchtlichen Summen Rechenschaft abzu legen, die wir 1833 ausgegeben haben, ohne ein nennenswertes Resultat zu erzielen.»10 Doch dank beharrlicher Arbeit wendete sich das Blatt in den folgenden Jahren: 1834 wurde die Basislinie im Grossen Moos zwischen Walperswil und Su giez ein weiteres Mal gemessen und 1835 die verbindende Triangulation über die Alpen vollendet. Dazu hatten Buchwalder und andere Ingenieure schon wesent liche Vorarbeiten geleistet, vielfach unter harten und entbehrungsreichen Um ständen.11 Dufour liess im Juni 1835 die bisherigen Messungen in einem grossen Canevas trigonométrique zusammenstellen, auf der die Einbettung der schweize rischen Dreieckvermessung in jene der Franzosen bildhaft zum Ausdruck ge bracht wurde.12

Expertenkonferenz in Bern und die Berufung von Johannes Eschmann Es war Dufour bewusst, welche Rolle Frankreich und seine Ingenieur Geografen bei der Vermessung der Schweiz gespielt hatten: «Die französischen Ingenieure hatten an ihre grossen Dreiecksketten bereits das Observatorium von Bern und jenes von Genf angeschlossen. Man musste ihr Werk fortsetzen und es über die ganze Schweiz ausdehnen.»7 Doch bei all diesen regionalen Vermessungsprojek ten fehlte ein zentrales Element, das die verschiedenen Teile zu einem Ganzen zusammengefügt und mit einem übergeordneten Netz die Teile nördlich der Al pen mit den südlichen verbunden hätte. Nach Übernahme der Verantwortung in Sache Landesvermessung berief Dufour am 12. und 13. März 1833 fünf Experten zu einer Konferenz nach Bern ein, um die Lage zu besprechen und die weiteren Schritte festzulegen.Mitdabeiwar auch Eschmann. Schon kurz nach dieser Konferenz be mühte sich Dufour, ihn für das eidgenössische Kartierungsprojekt zu gewinnen. «Ich schlage Ihnen mit diesem Schreiben offiziell vor, für die Triangulation der Schweiz angestellt zu werden. Wenn das Ihren Vorstellungen entspricht, bitte ich Sie, mich das schriftlich wissen zu lassen. In diesem Jahr hätten Sie im Frühjahr die Beobachtungen in den Kantonen Bern, Solothurn, Aargau und Basel vorzu nehmen und, falls es die Saison erlaubt, jene in Graubünden.»8 Dies war der Be ginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen dem Genfer und dem jungen Zürcher, der sich rasch als «Geodäsiechef» des nationalen Kartenprojekts etablier te. Kurz zuvor war Eschmann, nachdem er in Paris und Wien studiert hatte, Do zent für Astronomie an der soeben gegründeten Universität Zürich geworden.9

112

Ansicht des Gefechts bei Gisikon vom 23. November 1847. Zeitgenössischer Stich aus der Züricher Freitags Zeitung,

Das1848.

Schicksalsjahr Der1847Weg aus dem SonderbundskriegzurEinheit

Christoph A. Schaltegger, Thomas M. Studer Candidus Stocker Ulrich F.

MichaelZwygartArnoldWalterTroxler

Peter

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173 Die Jahre vor dem Sturm: politische, wirtschaftliche und soziale Lage in der Schweiz 1813–1847

Die eidgenössischen Truppen 202 | Truppen des Sonderbundes 203

Nährboden für den Sonderbund 230 | Kämp fen gegen Dufour: «Gott sei mit uns» 233 | Niederlage Luzerns: Flucht nach Flüelen 233 | «Luzern ist gefallen»: Einmarsch in Luzern 237 | Kapitulation und Besetzung 241 | Offe ne Rechnungen: Übergriffe, Kriegskosten, Prozesse 243 | Bundesverfassung 1848, poli tische und militärische Integration 248

252 Menschen und Kanonen: Die Fakten

Kräfte erhalten Auftrieb 173 | Der neue Bund: die umstrittene Verfas sungsfrage 174 | Die Kantone überneh men das Ruder 174 | Eine Hungerkrise erschüttert die Schweiz 175 | Eine Wirt schaftskrise verschärft die Not der Bevöl kerung 176 | Unterschiedliche Interessen verunmöglichen gemeinsame Zollpolitik 176 | Eine folgenreiche Abkehr vom ein heitlichen Binnenmarkt 176 | Eine schnel le wirtschaftliche Erholung 178 | Führende Rolle der Textilindustrie 178 | Modernisie rungsprozess in der Landwirtschaft 179 | Die Schweiz als Tourismusdestination 180 Liberalismus in Wirtschaft und Gesellschaft führt zur politischen Konfrontation 181 Eine liberale Bewegung entsteht 181 | Die Grossmächte stärken das Nationalgefühl 181 | Vereine als Träger des Nationalgedan kens 182 | Eine politische Wende kündigt sich an 182 | Blockbildung zwischen den Kantonen 183 | Die Revision des Bundes vertrags scheitert 183 | Die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Regenera tion 185 | Der Aufschwung der Maschi nenindustrie 185 | Eine wichtige Grundlage für den Fortschritt fehlt 186 | Der Konflikt erhält eine konfessionelle Dimension Schlussbetrachtung186 187

229 «Wehe den Besiegten» – Die Niederlage des Sonderbunds und deren Folgen

210 Dufour: eine Leadership-Studie

Chronologie der Ereignisse 252 | Personal der Tagsatzungsarmee 254 | Personal der Sonderbundsarmee 258 | Karten 261 | Feld zeichen 263 | Truppenbestände gemäss Reglement 263 | Die aufgebotenen Truppen bestände 265 | Die Organisation der Armeen 265 | Führung der Tagsatzungsarmee 265 | Führung der Sonderbundsarmee 266 | Spezialtruppen: Artillerie 267 | Spezialtruppen: Kavallerie und Genie 268 | Allgemeine Bewaffnung und Ausrüstung 268 | Verluste 269 | Dislokationsübersicht der Tagsatzungstruppen 270

189 Das prägende Denken und Handeln: Von den strategischen zu den operativen und taktischen Entscheidungen

Hungerkrisen und wirtschaftlicher Auf schwung während der politischen Restaura tionRestaurative173

Operative und taktische Entscheide: «manö vrieren statt fechten» 196

Logistik im Krieg: Planung, Transport und Ausführung zur richtigen Zeit – entschei dend für den Erfolg 203

Der General der Eidgenossenschaft, der die Schweiz rettete, und der General des Sonder bunds 206

Mitten im Gefecht – auf das Ziel fokussiert bleiben 202

172

Kriegsvorbereitungen auf beiden Seiten –Wer war besser vorbereitet? 191 General Dufour und die eidgenössische Armee 191 | General von Salis-Soglio und die Armee des Sonderbundes 194

Die 5 Dimensionen von Leadership 215 | Dufours Führung der Armee 215 | Dufours Beziehungen zu seinen politischen Vorgesetzten 220 | Dufour und die Truppenkontingente der Kantone 220 | Dufour und die Sonderbundskantone 222 | Dufours Selbstmanagement 222 | Fazit: Dufour als vorbildliche Führungsperson – auch für das 21. Jahrhundert 227

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Die Jahre vor dem Sturm: politische, wirtschaftliche und soziale Lage in der Schweiz 1813–1847

Restaurative Kräfte erhalten Auftrieb

Die Niederlage Frankreichs gegen die Alliierten in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 war der Anfang vom Ende der französischen Herrschaft über die Schweiz. Es begann die Periode der Restauration, die von konservativen Strö mungen geprägt war. In Bern übernahm das Patriziat am 23. Dezember 1813 die Regierung. Auch in den Kantonen Luzern, Solothurn und Freiburg kam es zu pa trizischen Staatsstreichen. Die alte Ordnung wurde weitgehend wiederhergestellt, allerdings gelang die angestrebte Rückkehr zur territorialen Ordnung wie in der Zeit vor 1798 und zu den Untertanenverhältnissen nicht. Die Verfassungen der Kantone Zürich, Basel und Schaffhausen waren demokratischer gefärbt, stellten

Hungerkrisen und wirtschaftlicher Aufschwung während der politischen Restauration

Christoph A. Schaltegger, Thomas M. Studer

Vom Ende der Mediation 1813 bis zur Gründung des Bundesstaats 1848 erlebte die Schweiz einen äusserst bewegten Zeitabschnitt.1 Der französische Politiker und Historiker Alexis de Tocqueville (1805–1859) sprach von einer besonderen Entwicklung innerhalb der allgemeinen Revolution, die die alten Institutionen Europas in den Ruin stürzte. Denn nirgends sei die demokratische Revolution unter so komplizierten Umständen zustande gekommen wie in der Schweiz mit ihrer heterogenenWährendGesellschaft.2einerGeneration erfuhr die Eidgenossenschaft eine grundle gende politische Umwälzung, die mit einem sozialen und wirtschaftlichen Wan del einherging – sowie dem bis heute letzten Bürgerkrieg. Die Epoche war geprägt von der Wiederherstellung der konservativen politischen Ordnung, die durch libe rale Reformanstrengungen immer mehr ins Wanken geriet. Eine wichtige Triebfe der dieser Entwicklung war der wirtschaftliche Modernisierungsprozess. Dank einer hohen Flexibilität gelang es der Wirtschaft, so manche Schranken der alten Ordnung zu überwinden und dabei das Fundament der restaurativen Ordnung zu unterwandern. Dies stützte die Bildung einer liberalen bürgerlichen Bewegung, die gegen die alten Eliten opponierte. Dabei wurde der zwischen den Liberalen und den Konservativen schwelende Konflikt zunehmend von konfessionellen Gegen sätzen überlagert.

aber die Vorherrschaft der Stadt über die Landschaft sicher. Auch die ehemaligen Landsgemeindekantone Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, die beiden Appenzell, Glarus und Zug stellten die vorrevolutionären Zustände weitgehend wieder her.

In den 1803 gegründeten Mediationskantonen Waadt, Aargau, Thurgau, Grau bünden, St. Gallen und Tessin wiesen die Verfassungen zwar liberale Züge auf, waren aber mit einem scharfen Zensus und einer übermächtigen Exekutive klar restaurativ geprägt. In den am Wiener Kongress 1815 geschaffenen Kantonen Neuenburg und Genf herrschte ein aristokratisches Regime. Im ebenfalls 1815 gegründeten Kanton Wallis wurden die Unterwalliser zwar in den Landrat auf genommen, jedoch waren sie klar unterrepräsentiert.3

Der neue Bund: die umstrittene Verfassungsfrage Während es in den Kantonen zu politischen Umwälzungen kam, wurde auf eid genössischer Ebene eine Auseinandersetzung über die konstitutionelle Ordnung der Schweiz geführt. Am 29. Dezember 1813 erklärten zehn der dreizehn Alten Orte die von Napoleon diktierte Mediationsakte für aufgehoben. Mitte März 1814 sprachen sich acht restaurative Kantone unter der Führung Berns an einer Son dertagsatzung für die Rückkehr zur dreizehnörtigen Eidgenossenschaft und die Wiederherstellung der Untertanenverhältnisse aus. Sie standen einer Gruppe von Kantonen gegenüber, die unter der Führung Zürichs nach einer Bundeslösung auf Basis einer reformierten Mediationsverfassung strebte. Die politische Lage spitzte sich schnell zu und der Konflikt drohte in einen Bürgerkrieg auszuarten. In dieser Situation intervenierten die alliierten Grossmächte und drohten den Kantonen mit einer Zwangsvermittlung. Sie sprachen sich gegen die Rückkehr zur alten Aristokratie und für den Fortbestand der neuen Kantone aus, machten aber gleichzeitig deutlich, dass sie keine von den französischen Idealen gepräg te Verfassung zulassen werden. Angesichts des erheblichen äusseren Drucks fan den die Kantone in Zürich zur langen Tagsatzung zusammen, die im April 1814 begann und mit der Beschwörung des Bundesvertrags am 7. August 1815 im Zür cher Grossmünster ein feierliches Ende fand.4

Die Kantone übernehmen das Ruder Durch den Bundesvertrag von 1815 blieb die Schweiz ein Staatenbund, allerdings in deutlich loserer Form als in der Mediationszeit. Das Schwergewicht des politi schen Lebens spielte sich wieder in den Kantonen ab, die eine beinahe vollstän dige Selbständigkeit erlangten. Insbesondere in wirtschaftlichen Belangen wur de die kantonale Souveränität weitestgehend wiederhergestellt. Den Kantonen wurde das Post-, das Salz- und das Pulverregal wie auch die Zuständigkeit für die Regelung der Niederlassungs- sowie die Handels- und Gewerbefreiheit übertra gen. Auch über die Zölle, die Währung und die Masse konnten wieder die Kanto

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Eine Hungerkrise erschüttert die Schweiz Kaum begann nach den politischen Wirren langsam Stabilität einzukehren, wur de die Schweiz von einer dramatischen Hungersnot heimgesucht. Während des Jahres ohne Sommer 1816 – verursacht durch den Ausbruch des Vulkans Tambo ra in Indonesien im April 1815 – kam es in Mitteleuropa das ganze Jahr hindurch zu schweren Unwettern, Überschwemmungen und Schneefällen. Katastrophale Ernteausfälle und eine starke Inflation waren die Folgen. Zwar begann sich die Wetterlage 1817 wieder zu normalisieren, jedoch waren die Getreidespeicher vielerorts leer und die Felder unbrauchbar. Die Folgen für die Schweizer Bevölke rung gehen aus diesem Zeitzeugenbericht des Waisenvogts Johann Josef Nieder berger aus Dallenwil im Kanton Nidwalden eindrücklich hervor:

Als die Menschen Gras assen: zeitgenössische Darstellung der Hungersnot in den Jahren 1816/17.

175 ne bestimmen. Der Bund war deutlich geschwächt. Seine wichtigste Aufgabe war die Sicherstellung der Landesverteidigung. Das einzige gemeinsame Organ des Bundes war die Tagsatzung, wo jeder Kanton über eine Stimme verfügte. Binden de Entschlüsse zu den allermeisten Geschäften mussten einstimmig gefällt wer den, wodurch die einzelnen Kantone über viel Macht verfügten.

«Im Monat April lit man grosse Noth am Veuchs-Futter. Das Veuch litt durch den ganzen Monat May wegen der Kälte dieses Monats grossen Hunger. Eher als dieser Monat ganz geendet entstaht grosser Mangel an den Lebensmit teln für das Volke. Die Produkten aller Arten stiegen schnell in hohe Preisen. […] Viele Familiensvätter wussten für ihre lieben hungrigen Kinder die nötige Nah rung zu bekommen selbe vom Hungertode retten zu kennen. Sehr viele Men

Eine folgenreiche Abkehr vom einheitlichen Binnenmarkt

Angesichts der protektionistischen Strömungen in Europa standen die Kantone kurz nach der Annahme des Bundesvertrags vor einer ersten wirtschaftspoliti schen Herausforderung. Eine gemeinsame Aussenwirtschaftspolitik gestaltete sich wegen der unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Interessen der Kantone schwierig. Zwar gab es Bestrebungen für einen Übergang zu Schutzzöllen, jedoch liess sich in der Tagsatzung keine Mehrheit für diesen Plan finden. Damit blieb der Grenzzoll aus internationaler Perspektive tief. Als Frankreich 1822 neue Schutzzölle auf landwirtschaftliche Güter der Schweiz einführte, wurde die Debatte über den Freihandel erneut lanciert. Stattdessen verabschiedeten 13 ½ Kantone ein gegen Frankreich gerichtetes Retorsionskonkordat. Die Kampfzölle erwiesen sich aber als wirkungslos. Schon im Herbst 1823 begann das Konkordat zu brö ckeln, worauf es im folgenden Jahr aufgelöst wurde.6

Die Krisenbekämpfung war eine kantonale Aufgabe. Der Bund hatte weder die Kompetenzen noch die Mittel, um aktiv zu werden. Derweil standen die Behörden in den Kantonen vor unlösbaren Problemen. Es gelang den Kanto nen kaum, die Krise adäquat zu bekämpfen. Kantonale Ausfuhrbeschränkungen und Getreidesperren führten zu Animositäten und trugen dazu bei, dass sich die Notlage zusätzlich verschlimmerte. Schliesslich sah sich gar der russische Zar Alexander I. dazu veranlasst, im Frühjahr 1817 Getreidelieferungen und eine Spende von 100 000 Rubel als Unterstützung für die notleidende Schweizer Bevöl kerung zu senden.

Unterschiedliche Interessen verunmöglichen gemeinsame Zollpolitik

Die Hungerkrise wurde durch einen starken konjunkturellen Einbruch zusätzlich verschlimmert. Die Textilindustrie als Leitindustrie der Eidgenossenschaft geriet im Hungerjahr 1816 in eine tiefe Krise. Der Auslöser dafür war die 1813 erfolgte Aufhebung der von Napoleon verfügten Kontinentalsperre. Nun über schwemmten preisgünstige, maschinell produzierte britische Baumwollproduk te die Schweiz und den europäischen Markt. Als Reaktion auf die Aufhebung der Kontinentalsperre begann sich in Europa eine Welle des Protektionismus auszu breiten, was der Schweizer Exportwirtschaft einen schweren Schlag versetzte.

Während die Schweizer Exportwirtschaft auf dem europäischen Markt mit Wid rigkeiten zu kämpfen hatte, nahmen die Handelshemmnisse auch auf dem Bin nenmarkt zu. Nachdem man sich mit dem Bundesvertrag 1815 vom einheitlichen

176 schen starben in der Schweiz vermögend dieser grossen Thürung und noch viel mehr verlohren desthalben auf die ganze Zeit ihres Lebens die Gesundheit.»5

Eine Wirtschaftskrise verschärft die Not der Bevölkerung

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Ausschnitt aus der Zollkarte der Schweiz von Johann Caspar Zellweger (1768–1855) und Heinrich Keller (1778–1862), 1825.

Binnenmarkt verabschiedet hatte, präsentierte sich die Lage in den frühen 1820er Jahren wieder wie vor der Französischen Revolution: Auf Schweizer Boden waren mehr als 400 kantonale, kommunale und teilweise auch private Zölle in Kraft. Während einzelne Wirtschaftszweige vom Protektionismus profitieren konnten, wurden der Binnen- und der Transithandel ausgebremst. In einem Bericht an den eidgenössischen Vorort schrieb der eidgenössische Zollrevisor Johann Cas par Zellweger (1768–1855): «Die Zölle, Weg- und Brückengelder allein sind schon genügend, den Transit von der Schweiz abzuhalten, denn von Rorschach bis Genf kosten sie vierzehnmal mehr als in den Nachbarstaaten.»7

Die Kantone unternahmen auf verschiedenen Gebieten Reforman strengungen, die in Richtung der Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts zielten. Allerdings waren die Massnahmen von wenig Erfolg gekrönt. Die Tagsat zung entwarf 1826 ein Konkordat für die Herabsetzung der Transitzölle auf der Handelsstrasse von Rorschach nach Genf, allerdings scheiterte das Projekt an den gegensätzlichen Interessen der west- und der ostschweizerischen Stände. Wo

Der Export in ferne Länder konnte die negativen Auswirkungen der protektionistischen Zollpolitik in Europa bald überkompensieren. Der steigende Export und die Mechanisierung der Spinnerei trieben sich gegenseitig voran. Der Grad der technischen Innovation war hoch und erzielte in allen Bereichen der

Eine schnelle wirtschaftliche Erholung Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen erholte sich die Wirtschaft schnell. 1830 exportierte die Eidgenossenschaft pro Kopf wertmässig mehr als alle ande ren europäischen Länder: doppelt so viel wie Grossbritannien, dreimal so viel wie Belgien und Holland und fünfmal so viel wie Frankreich. Beim Export machten die Textilien mit rund drei Vierteln den grössten Anteil aus. An zweiter Stelle ka men die Uhren mit acht Prozent, gefolgt von landwirtschaftlichen Produkten wie Käse. Der räumlichen Verteilung der Industrien entsprechend konzentrierte sich der Aufschwung auf bestimmte Regionen: in Zürich und der Ostschweiz den Baumwollsektor, in der Region Basel und in Neuenburg die Seidenweberei und in Genf sowie im Jurabogen die Uhrmacherei. Die wirtschaftliche Entwicklung ging mit einem langsam voranschreitenden, aber stetigen strukturellen Wandel einher, der sich nach 1850 beschleunigte. Der Anteil der Beschäftigten im Sekun därsektor stieg, während der Anteil in der Landwirtschaft zurückging.

Führende Rolle der Textilindustrie

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Die Textilindustrie erholte sich rasch und konnte ihre Stellung als Leitindustrie festigen. In den frühen 1820er Jahren waren die Manufakturen wieder gut ausge lastet. Die englische Konkurrenz konnte innert weniger Jahre wieder vom Schwei zer Binnenmarkt verdrängt werden. Hingegen gestaltete sich die Rückkehr auf den europäischen Markt angesichts des Protektionismus als ungleich schwieri ger: «Zum Glück wusste sich die Schweizer Industrie auch ohne den Staat zu hel fen», schrieb der Zürcher Historiker Wilhelm Oechsli (1851–1919).8 Der Wegfall der benachbarten Märkte veranlasste die Händler dazu, sich nach neuen Absatz märkten umzusehen. Diese wurden in Ägypten, im Orient, in Amerika und im Fernen Osten gefunden. Der britische Staatsmann John Bowring (1792–1872) schrieb 1837 in einem Bericht an das englische Parlament über die Wirtschaft der Schweiz: «Eine Menge Fabrikanten, welche früher schweren Zoll auf fremde Artikel und für ihre Fabrikate ein ausschliessliches Recht auf den Verkauf ihres Landes gewünscht hatten, zumal da sie von fremden Staaten ausgeschlossen wurden, waren nun durch Erfahrung belehrt, dass ihre Ansichten irrig waren und dass ihre Fabriken eine Kraft und Festigkeit erlangt hatten, die ihnen kein Prohibitiv-System zu geben im Stande wäre.»9

Konkordate beschlossen wurden, wie etwa über das Münzwesen (1819) oder Mas se und Gewichte (1828), scheiterte die Umsetzung oder sie dauerte sehr lange.

275 Porträt Dufours von JeanDaniel Favas (1813–1864), Öl auf Leinwand, 1854.

Die Aussenpolitik des jungenNeutralität,Bundesstaats:einAbenteuerFlüchtlingsprobleme,KriegsgefahrenundGuteDienste

Joseph Jung

374 Der General im Herbst des Lebens: Mensch lichkeit als Leitwert

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288 Deutsche Flüchtlinge und Grenzverletzun gen 1848/49: Überlebensfrage der Schweiz Herausforderungen 288 | Der heisse Som mer 1849 289 | Die Schweiz als sicherer Hafen 292 | Die Schweiz ist ein hochexplosives Pulverfass 297 | Büsinger Handel 1849 299

277 NeutralitätVerankerung in der Bundesverfassung 277 | Weitere neutralitätspolitische Schlüsseldokumente 278 | Kampf der Werte und Prinzipien 280 | Radikale Abenteurer, wirtschaftsliberale Realisten – und Konservative 282 | Bewaffnete Neutralität 284

307 Französische Flüchtlinge 1848 1852: Asyl recht ist keine Frage der Neutralität Dufour soll vermitteln 307 | Vive l'Empe reur – Eine neue Zeit bricht an 312

313 Der Konflikt mit Preussen um Neuenburg 1856/57DieSchweizer Armee wird organisiert 313 | Neuenburg 1848 und 1856: Republikaner gegen Monarchisten 314 | Verhärtete Fronten: Napoleon III. tritt auf den Plan 317 | Dufours Sondermission scheitert 320 | Fünf vor zwölf 322 | Dufour wird vereidigt 324 | Die Sondermission von Kern: Der gordische Knoten löst sich 326 | Die Schweiz gibt nach, der König verzichtet. Und Dufour? 328 | Napoleon III., der grosse Mediator? 332

365 Konflikte mit Frankreich um Savoyen und dasManöverkritikDappental 365 | Soll die Schweiz Nordsavoyen besetzen? 367 | Der General, die Schweizer Südgrenze und Alpenstrassen 367 | Die Ausmarchung Savoyens 369 | Dappental: Dufours letzte Mission 371 | Epilog: Dufour und Napole on III. Freundschaft und Interessen 373

Die Guten Dienste der Schweiz 374 | Warum die Schweiz? 375 | Dufour und die Guten Dienste 376 | Das IKRK 377 | Modernes humanitäres Völkerrecht und die DNA der Schweiz 379 | Im Zeichen der Versöhnung 383 | Humane Kriegsführung? 384

338 Die preussischen und schweizerischen AufmarschpläneMobilmachung der Schweizer Armee 338 | Demeurer maître du Lac 346 | Dufours Dispositionen 348 | Der preussische Angriffsplan 352 | Der preussische Auf marschplan 355 | Dufours Verteidigungs plan 356 | Fazit 359

→ Wie hatte sich der Bund zu verhalten, wenn die Asyl- und Flüchtlings politik kantonaler Behörden den eidgenössischen Interessen zuwider lief und gar militärische Konfrontationen mit Nachbarstaaten provo zierte?

Verankerung in der Bundesverfassung

→ War die Schweiz bereit, den politischen Flüchtlingen, die nunmehr zu Tausenden ins Land strömten, das Recht auf Asyl zu gewähren, und welche persönlichen Freiheiten durften die Flüchtlinge in Anspruch nehmen?

Neutralität

→ Durften die kantonalen Behörden, in deren Kompetenz das Asylwesen lag, zulassen, dass politische Flüchtlinge, von denen sich manche in bewaffneten Gruppen oder gar als zerriebene Kampfformationen mit leichten und schweren Waffen in die Schweiz abgesetzt hatten, von ihrem Zufluchtsort aus gegen ihre Herkunftsländer agitierten?

Mit der Unterzeichnung der Neutralitätsurkunde am 20. November 1815 aner kannten die europäischen Grossmächte im Rahmen des Wiener Kongresses den neutralen Status der Schweiz. Die Verpflichtung der Schweiz, sich nicht an Krie gen zwischen Drittstaaten zu beteiligen, lag sowohl in ihrem eigenen Interesse als auch in demjenigen der Mächte. Mit der Neutralitätsurkunde wurde der Schweiz vollkommene Souveränität garantiert. Dadurch sollte verhindert werden, dass sie je wieder von einer auswärtigen Macht abhängig werden würde, wie dies unter dem beherrschenden Einfluss des napoleonischen Frankreich der Fall gewesen war. Die Garantie der Neutralität schloss die Zusicherung ein, dass die Grenzen der Schweiz respektiert werden würden. So gesehen waren die europäischen Mächte nach schweizerischem Verständnis die Verpflichtung eingegangen, bei Grenzver letzungen zugunsten der Schweiz einzuschreiten. Später präzisierte die Eidgenos senschaft, dass dies kein Recht der mitunterzeichnenden Mächte sei, da allein sie entscheide, ob und unter welchen Bedingungen sie Hilfe beanspruchen wolle.1

Kaum waren die innenpolitischen Krisen der 1840er Jahre, die zum Sonderbundskrieg geführt hatten, bewältigt, sah sich die Schweiz mit neuen Konfliktpotenzialen und Problemstellungen konfrontiert. Dabei wurde eine ge hörige Sprengkraft aufgebaut, die den Bestand des jungen Bundesstaats verschie dentlich gefährdete. Die Schweiz geriet ins Spannungsfeld europäischer Kriege und Revolutionen. Dabei war sie gezwungen, ihren neutralen Status genauer zu definieren. Bald wurde deutlich, dass das Asylrecht als integrierender Bestand teil der Neutralität zu betrachten war. Doch stellten sich weitere Fragen:

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278

Mit dieser Verankerung in der Bundesverfassung wurde ein unmissver ständliches Zeichen gesetzt, dass die Unabhängigkeit des Landes zu verteidigen war und die Aussenpolitik des jungen Bundesstaats auf der Neutralität zu beru hen hatte. Diese beiden Elemente wurden schnell zu einem identitätsstiftenden Prinzip der Schweiz. Denn angesichts der militärischen Auseinandersetzungen, die den jungen Bundesstaat 1848/49 und in den 1850er Jahren bedrohten, bilde te sich das «einzig Volk von Brüdern» nicht auf der politischen Bühne, sondern bei Truppenzusammenzügen und namentlich im Aktivdienst. In Not und Gefahr wuchsen Sieger und Verlierer des Bürgerkriegs von 1847 zusammen. Und so wur de das einig Vaterland besungen, das es kurz zuvor nicht gegeben hatte.3 Diese Feststellung steht ganz im Gegensatz zu einer bis heute verbreiteten Meinung, die besagt, dass die Neutralität diese Ausstrahlung erst im Ersten Weltkrieg ge wonnen habe. Bis dahin habe sie eine untergeordnete Rolle gespielt.4

→ Genügten zur Sicherung der Neutralität die Garantien der europäischen Mächte oder bedurfte es dazu eigener militärischer Anstrengungen?

Weitere neutralitätspolitische Schlüsseldokumente

Die Bedeutung der Neutralität für die Aussenpolitik der jungen Schweiz kommt nicht erst in der Bundesverfassung zum Ausdruck. Sie prägt bereits die kritischen Diskussionen, die von den relevanten staatspolitischen Gremien – Tagsatzung und Verfassungsrat – sowie den führenden liberal-radikalen Staatsmännern 1848 im Vorfeld geführt wurden. Die Ergebnisse dieser Debatte wurden namentlich in drei Schlüsseldokumenten festgehalten, zunächst im Kreisschreiben vom 28. Fe bruar 1848, das die bernische Regierung als damaliger eidgenössischer Vorort unter Bundespräsident Ulrich Ochsenbein (1811–1890) den Kantonen zustellte. Darin wird festgehalten, es sei die Aufgabe der Schweiz, die von ihr in Anspruch genommene Neutralität unter allen Umständen und mit allen Kräften aufrecht-

Diese Konstellationen zwangen den jungen Bundesstaat, die Neutralitätspolitik im Blick auf aktuelle Problemstellungen auszudifferenzieren und damit zugleich auch die Grundsätze seiner Aussenpolitik zu formulieren. Die Eckpfeiler der Aus senpolitik waren in der Bundesverfassung verankert: Gemäss Zweckartikel hat te der Bund die Unabhängigkeit des Vaterlands gegen aussen zu behaupten (Art. 2). Unter die Befugnisse der Bundesversammlung fielen unter anderem die Mass nahmen zur Garantie der äusseren Sicherheit, das heisst zur Gewährleistung von Unabhängigkeit und Neutralität (Art. 74, ad 6). Der Bundesrat hatte über die Er füllung dieser Aufgaben zu wachen (Art. 90, ad 9). Was die Asyl- und Flüchtlingspolitik betraf, so verblieb diese grundsätzlich in der Kompetenz der Kantone. Doch dem Bund stand das Recht zu, Fremde, welche die Sicherheit der Eidgenos senschaft gefährdeten, wegzuweisen (Art. 57).2

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zuerhalten.5 Von einem Bündnis mit dem Königreich Sardinien-Piemont gegen Österreich sei abzusehen. Flüchtlingen sei in Handhabung des Asylrechts und nach dem Gesetz der Humanität ruhiger Aufenthalt zu gewähren. Bewaffnet in die Schweiz eintretende Flüchtlinge seien aber sofort zu entwaffnen. Überdies sei darüber zu wachen, dass das Asyl nicht zu Umtrieben gegen die Nachbarstaaten missbraucht

Dokument ist das Protokoll der Tagsatzung vom April 1848, welche die neutralitätspolitischen Grundsätze vom Februar 1848 bekräftigte. Die Schweiz dürfe keine Bündnisse eingehen, sie müsse strikt neutral bleiben und die Aussenpolitik sei ausschliesslich Sache des Bundes. Eine kantonale Separat politik sei nicht zulässig. Das dritte Dokument ist ein eigentlicher aussenpolitischer Leitfaden, den Ochsenbein im Mai 1848 für die Tagsatzung und für den Bernischen Grossen Rat formulierte. Darin wird die Neutralität als Grundsatz ge samteidgenössischer Politik bekräftigt. Kantonale Alleingänge werden erneut

Daswerde.zweite

Erinnerungsschal an den Sonderbundskrieg 1847 mit Porträts von Guillaume Henri Dufour, Jonas Furrer, Eduard Ziegler, Ulrich Ochsenbein und Louis Rilliet-de Constant sowie Darstellungen von Gefechten und dem Einzug der Eidgenössischen Truppen in Luzern. Stoffdruck um 1848.

verurteilt. Die Tagsatzung verbot das Anwerben von Söldnern und die Bildung bewaffneter Korps auf Schweizer Boden. Allerdings lehnte sie es ab, die Neutra lität als Bundeszweck zu bezeichnen, weil sie keine dogmatische, sondern eine funktionale Neutralität anstrebte, das heisst: Sie verstand die Neutralität als Mit tel zum Zweck, um die Unabhängigkeit des Landes zu sichern. Und nur, wenn die Unabhängigkeit der Schweiz nicht mehr anders sichergestellt werden könne, nur als diese ultima ratio, dürfe die Neutralität aufgegeben werden. Diese Einschrän kung ändert indes nichts an der existenziellen Bedeutung der Neutralität für den jungen Bundesstaat: Sie war das Mass aller aussenpolitischen Dinge.

Als das neutralitätspolitische Schlüsseldokument vom Februar 1848 formuliert wurde, war die Revolution in Frankreich bereits im Gange. Nicht im Geringsten absehbar waren indes die gewaltigen Erschütterungen, die ab dem Frühjahr 1848 die anderen Nachbarländer der Schweiz erfassen sollten. Und noch bevor der neue Bundesstaat Ende 1848 aus der Taufe gehoben wurde, stellten sich aufgrund der Entwicklungen in Europa neue Fragen: Galt die prokla mierte Neutralität auch dann, wenn es um einen Kampf der Prinzipien ging: Frei heit und Demokratie hier, reaktionärer Absolutismus dort? Durfte die Schweiz bei einer solchen Ausmarchung abseitsstehen und sich hinter ihrer Neutralität verstecken? Der neue Bundesstaat erbte diese Problemstellungen und musste Antworten finden.

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Kampf der Werte und Prinzipien

So einfach, wie sich die plakative Gegenüberstellung der Werte auf den ersten Blick präsentierte, war es nicht. Ging es bei der guerra santa – so der Kampfruf, unter dem König Karl Albert von Sardinien-Piemont (1798–1849) die Österreicher aus Italien hinauswerfen wollte – tatsächlich um Freiheit und Demokratie? Oder wurde die nationale Begeisterung für dynastische Eigeninteressen missbraucht? Bestand das Ziel der Revolutionen in den deutschen Staaten in der Errichtung von Republiken? Oder ging es um die Umwandlung absolutistischer Systeme in konstitutionelle? Galt das Ziel als erreicht, wenn in Frankreich der König gestürzt war und die Republik ausgerufen wurde? Doch was war, wenn sich der Président de la République zum Alleinherrscher aufschwang? Konnte man von einer mo ralischen Überlegenheit der Republik gegenüber der Monarchie sprechen, wenn im Sommer 1848 unter dem Deckmantel der Republik der französische General Louis-Eugène Cavaignac (1802–1857) ein fürchterliches Blutbad anrichtete und Tausende verhaften und deportieren liess? War Napoleon III. den Bourbonenkö nigen moralisch überlegen, weil der Staatsstreich, den er durchführte, und das Kaiserreich, das er kurz darauf wieder errichtete, plebiszitär abgesichert wurden? Wo blieben Demokratie und Freiheit? Wo Fortschritt? Wo Reaktion? Daher noch

mals: War das, was sich ab 1848/49 in Europa abspielte, tatsächlich ein Prinzipienkampf zwischen Demokratie und Despotismus?

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Zur Erinnerung an die Vereidi gung von Louis Napoleon als französischer Präsident am 20. Dezember 1848 in der Assem blée Nationale. Lithografie mit LouisUnterschrift:Napoléon Bonaparte.

Nein, die Verhältnisse waren unklar, die Konstellationen delikat. Und wie sollte die Schweiz mit Anschlusswünschen angrenzender ausländischer Ge biete umgehen: Campione, Veltlin, Vorarlberg? Und was war mit den nordsavoyischen Provinzen Chablais und Faucigny? Die Auseinandersetzungen, die 1848 und im jungen Bundesstaat um diese Fragen geführt wurden, werfen ein zwie spältiges Bild auf den Zustand des Landes.6 Nicht zu übersehen ist der Macht kampf, der unter den radikal-liberalen Siegern des Sonderbundskriegs ausgebro chen war, zusehends erbitterter geführt wurde und bald keine Grenzen mehr kannte – weder in der Presse noch auf der politischen Bühne.

Wo blieb unter liberal-radikalen Vorzeichen die brüderliche Einigkeit, wenn masslose Verunglimpfungen die Gewaltbereitschaft nährten? Wenn von gewalttätigen Übergriffen und selbst von Putschplänen nicht haltgemacht wur de? Drohte in der Schweiz ein neuer Bürgerkrieg? Wie stand es um den Respekt

282 vor den eidgenössischen Interessen, wenn im Kanton Tessin zum Kampf gegen die Österreicher in der Lombardei aufgerufen wurde und die Aushebungsbüros überrannt wurden? Wo blieb die eidgenössische Gesinnung beim radikalen Po litiker Jules Eytel (1817–1873), der 1848 posaunte, dass sich die Waadtländer den französischen Truppen anschliessen würden, sollten diese über Schweizer Ge biet in der Lombardei einmarschieren? Und was war davon zu halten, wenn der Kopf der Genfer Regierung James Fazy (1794–1878) neutralitätspolitische Grund sätze verhöhnte, indem er beispielsweise proklamierte, dass man in der Calvin stadt das Werbeverbot nicht beachten werde? 7

Radikale Abenteurer, wirtschaftsliberale Realisten –und Konservative

Die Aussenpolitik des jungen schweizerischen Bundesstaats musste ihre Linie zwischen drei Lagern finden. Da waren zunächst jene wirtschaftsliberalen Poli tiker, die von einer Einmischung in Belange anderer Staaten nichts wissen woll ten. Sie lehnten eine expansive Aussenpolitik ab und befürworteten eine militä rische Auseinandersetzung ausschliesslich als letztes Mittel zur Verteidigung der staatlichen Souveränität. Für diese Realpolitiker war es eine Überschätzung der eigenen Kräfte und gleichzeitig eine anmassende Vorstellung, dass die kleine Schweiz mit militärischen Interventionen in den Nachbarländern den Lauf der Dinge in Europa beeinflussen könnte. Die Schweiz solle der Revolution in den re aktionär-konservativen Monarchien nicht mit Waffen zu Hilfe eilen, sondern mit der Macht des Beispiels. Das Alpenland sei der Hochaltar der Freiheit in Europa. So sprach Alfred Escher (1819–1882), der Wortführer dieser besonnenen Kräfte.8

Wie die Wirtschaftsliberalen stellten sich auch die Konservativen gegen die expansionistische Abenteuerpolitik. Bei der Asylfrage allerdings gingen die Meinungen bereits wieder auseinander. Für die Liberalen war unbestritten, dass die Schweiz eine Zufluchtsstätte für politisch Verfolgte sein musste. Mochte die Zahl der Asylsuchenden noch so gross sein – es sei moralische Pflicht und vaterländische Ehrensache, die Unglücklichen aufzunehmen und vor ihren Verfolgern zu schützen.9 Wer allerdings den geschützten Status missbrauche, den Interes sen der Schweiz zuwiderhandle und das Land in Gefahr bringe, verspiele sein Recht auf Asyl. Den Konservativen aber ging der europäische Kampf um Freiheit und Demokratie gegen den Strich, wie von einem ihrer Wortführer und Vorden ker, Philipp Anton von Segesser (1817–1888), zu hören war.10 Ihre Sympathien la gen ganz offensichtlich bei den monarchisch-dynastischen Systemen. Diesen wa ren sie ideologisch verbunden, nicht den Kämpfern auf den Barrikaden. Dass politische Flüchtlinge in der Schweiz Zuflucht fanden, war für sie mehr als wider wärtig, denn aus konservativer Perspektive war ihnen allen zuzutrauen, dass sie

414 Autoren

Michael Arnold (*1954, Luzern), lic. phil. II, Geograf, mit Abschluss in Geschichte der Neuzeit. Wissen schaftliche Berufstätigkeit im Stab der Gruppe für Generalstabsdienste / Front, in den Stabs- und Kom mandantenschulen, am Armee Ausbildungszentrum Luzern und in der Höheren Kaderausbildung der Ar mee. Als Milizoffizier in Kommandofunktionen der Artillerie und als Oberst im Generalstrab im Armee stab tätig. Militärpublizist und Stellvertretender Chef redaktor der Allgemeinen Schweizerischen Militär zeitschrift (ASMZ) von 2012 bis 2021. Initiator und Projektleiter von Ausstellungen zu G. H. Dufour (2001) und Jomini (2004). Herausgeber und Autor mehrerer Publikationen zu Dufour und Jomini sowie zur Ge schichte der Höheren Kaderausbildung der Armee.

Clemens Fässler (*1987, Gonten), M.A., Historiker und Gymnasiallehrer, ist Geschäftsführer des Vereins für wirtschaftshistorische Studien. Er studierte Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Politikwissen schaft und Latein an der Universität Zürich, wo er auch das Lehrdiplom für Maturitätsschulen erwarb.

Joseph Jung (*1955), Prof. Dr. phil., Historiker und Pu blizist, lehrte an der Universität Freiburg; er liest als Gastprofessor an Hochschulen und Universitäten. Er ist ehemaliger Geschäftsführer und Leiter Forschung der Alfred Escher Stiftung. Von ihm stammen grund legende Publikationen zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Schweiz. Mit seinen Biografien von Alfred Escher und Lydia Welti Escher erzielte er Best seller. Er ist Herausgeber der Alfred Escher Briefe (ge druckt und digital) sowie von Eschers Thronreden. Sein aktuelles Buch, ein Gesamtbild seiner über Jahr zehnte gewonnenen Einzelerkenntnisse zum 19. Jahr hundert, ist bereits Standardwerk geworden: Das La boratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahr hundert (NZZ Libro, 2. Auflage 2020). Neu auch auf Englisch im Verlag Routledge. www.jungatelier.ch

Georges Bindschedler (*1953), Dr. iur., Fürsprecher und Notar, engagiert sich in verschiedenen Unterneh mungen und in Führungsgremien von Stiftungen und Institutionen. Während vieler Jahre war Bind schedler Delegierter des Verwaltungsrats und CEO der Berner von Graffenried Holding AG, einer in der Vermögensverwaltung tätigen Unternehmensgruppe. Danach war er Verwaltungsratspräsident und Dele gierter der merz+benteli ag in Niederwangen bei Bern, einer in der Klebstoffindustrie tätigen Unter nehmung. Zu seinen weiteren Verwaltungsratsman daten zählten die Espace Media/Berner Zeitung Me diengruppe und der Berner Energiekonzern BKW AG sowie das Präsidium der Berner Fachhochschule. Bindschedler ist auch als Autor und Buchherausgeber tätig, insbesondere auf historischem Gebiet.

Hans-Uli Feldmann (*1947, Burgdorf), Kartograf, lebt seit 1975 in Murten. Fachlehrer für Kartografie SfGB (1976–1997), ehemaliger Leiter der Thematischen Kar tografie (1984–1997), des Bereichs Kartografie (1997–2008) und Geschäftsleitungsmitglied des Bundesamtes für Landestopografie swisstopo. Präsident (1996–2005) und Ehrenmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Kartografie. Seit 1990 Chefredaktor und Verleger der Fachzeitschrift Cartographica Helvetica.

Christoph A. Schaltegger (*1972), Prof. Dr., ist Ordinarius für Politische Ökonomie an der Universität Luzern und Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern und des Instituts für Finanzwissenschaft und Finanzrecht an der Universität St. Gallen. Er veröffentlicht regelmässig in wissenschaftlichen Zeitschriften, verfasst Bücher, ist rege als wissenschaftlicher Gutachter tätig und zählt ge mäss NZZ Ranking zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz. 2019 hat er zusammen mit Dr. Ivan Adamo vich das Buch Vom Kredit zur Schuld – Wenn Verschul dung die Freiheit bedroht bei NZZ Libro veröffentlicht.

sität Luzern promoviert. Er hat wirtschaftshistori sche Beiträge zu den Zentralisierungstendenzen in der Schweiz veröffentlicht und zusammen mit Chris toph A. Schaltegger mit Napoleons reiche Beute ein vielbeachtetes Buch zur Bedeutung des gestohlenen Berner Staatsschatzes von 1798 vorgelegt.

Walter Troxler (*1959), Dr. phil., Historiker, Major aD, wissenschaftlicher Leiter der Bibliothek HKA/MILAK beim VBS. Nach der Promotion an der Universität Freiburg zur Geschichtsschreibung des 19. Jahrhun derts in Deutschland tätig als wissenschaftlicher Bibliothekar der Sektion Geschichte der Universität Freiburg. 1999 wechselte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das neu eröffnete Armee Ausbil dungszentrum Luzern und 2010 als wissenschaftlicher Leiter der Bibliothek HKA an die Militärakademie an der ETH (MILAK) in Birmensdorf. War Mit arbeiter an Ausstellungen (Dufour, Jomini, Krieg und Frieden in Luzern) und den dazugehörigen Publikationen. Seit mehreren Jahren in der Redaktion der ASMZ als Vertreter der MILAK.

Thomas M. Studer (*1981), Dr., hat Volkswirtschaft und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich studiert und am Lehrstuhl für politische Ökonomie von Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger an der Univer

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Peter Candidus Stocker (*1959), Dr. phil, promoviert an der Universität Zürich mit der Dissertation Die «Neuen Zürcher Nachrichten », eine katholische Tageszeitung, im Spannungsfeld nationalsozialistischer Kirchenpolitik 1939 1945, Historiker, Master of Arts in National Secu rity Affairs mit der Arbeit Switzerland and its Relationship to European and Global Security Institutions, Naval Postgraduate School, Monterey CA/USA. Als Assessor EFQM (European Foundation Quality Management) zertifiziert. Verschiedene Tätigkeiten in Stiftungen und in der Bildungslandschaft. Mitautor des Buches Grena diere 1943–1993, Elite im Einsatz, Zürich 1993. Mitautor in verschiedenen Studien der Militärakademie. Brigadier der Schweizer Armee, zuletzt tätig als Direktor/Komman dant der Militärakademie (MILAK) an der ETH Zürich.

Ulrich F. Zwygart (*1953), Prof. Dr., ehemaliger Rechtsanwalt, Divisionär und Managing Director von inter nationalen Unternehmungen; lehrt Leadership/ Management an der Executive School der Universität St. Gallen und berät Verwaltungsräte und Geschäfts leitungen. Autor verschiedener Bücher zu Leadership/ Management, unter anderem: Das Management Alphabet, 151 Essays (2019), Dein Weg zum Erfolg (2016) und (Ir )Rationale Topmanager (2012) – alle bei NZZ Libro. Ausgezeichnet mit dem Schweizer Wirt schaftsbuchpreis 2007 für das Buch Wie entscheiden Sie? (Haupt Verlag).

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Guillaume Henri Dufour (1787–1875) hat die Schweiz versöhnt. Er ist der legendäre Befehlshaber im Bürgerkrieg von 1847. Sein Respekt gegenüber den Truppen des Sonderbunds und der Zivilbevölkerung ist beispielhaft. Auch in späteren Konflikten mit auslän dischen Mächten steht er an der Spitze der Schweizer Armee und ist Integrationsfigur für die Einigkeit des Landes. Doch Dufour ist nach dem Sonderbundskrieg alt geworden und setzt 1856/57 im drohenden Krieg mit Preussen um Neuenburg die Existenz der Schweiz aufs Spiel. Auch die Landesregierung macht kapitale Fehler. Und so lief die Schweiz Gefahr, von der politi schen Landkarte zu verschwinden. Dufour war jedoch viel mehr. Er propagierte die bewaffnete Neutralität als Voraussetzung für die Unabhängigkeit des Landes. Als Ingenieur realisierte er weg weisende Infrastruktur und Befestigungsbauten. 1832 begann er sein Meisterwerk: die Topographische Karte der Schweiz, die als Dufourkarte in die Geschichte ein ging. Die höchste internationale Anerkennung gilt bis heute Dufours humanitärem Programm – dem IKRK. Das vom Erfolgsautor Joseph Jung herausgegebene Werk bietet neue und verblüffende Erkenntnisse zu Dufours Leben und Wirken und zur Geschichte der modernen Schweiz.

97 83907 396001 www.nzz-libro.ch www.nzz-libro.de

Beiträge von: Michael Arnold, Georges Bindschedler, Clemens Fässler, Hans-Uli Feldmann, Joseph Jung, Christoph A. Schaltegger, Peter Candidus Stocker, Thomas M. Studer, Walter Troxler, Ulrich F. Zwygart. SBN 978-3-907396-00-1

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