Joseph Jung: Lydia Welti-Escher (1858–1891). Biographie.

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Der Verlag dankt der Alfred Escher-Stiftung für grosszügige Unterstützung.

Neuauflage der Biographie 2013. Die erste und zweite Auflage, ergänzt mit Quellen, Materialien und weiteren Beiträgen, erschien 2008 unter dem Titel «Lydia Welti-Escher. Ein gesellschaftspolitisches Drama». Die dritte Auflage, erweitert durch zusätzliche Quellenbestände, erschien 2009 unter dem Titel «Lydia Welti-Escher (1858–1891). Biographie. Quellen, Materialien und Beiträge». Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikro­verfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur aus­zugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetz­lichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhand­lungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Illustrationskonzept: John Schoch und Firma Blackpoints Gestaltung Inhalt: Heinz Egli Gestaltung Umschlag: Katarina Lang, Zürich Koordination und wissenschaftliche Systemkontrolle: Tanja Neukom Knecht Lektorat: Edgar Haberthür Druckvorstufe und Druck: Karl Schwegler AG, Zürich-Oerlikon Einband: Buchbinderei Burkhardt AG, Mönchaltorf ISBN 978-3-03823-852-2 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


Inhalt

Inhalt Zum Geleit

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Vorwort 11 Die Protagonisten

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Der Skandal

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Die Falle schnappt zu

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Die Begutachtung

25

Lydia Welti-Escher ist geistig vollkommen gesund

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Verleumdet und verleugnet

33

Amtsmissbrauch 42 Elternhaus und Sozialisation

51

Der Vater

51

Die Mutter

55

Lydia verliert das Schwesterchen und die Mutter

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Die Grossmütter

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Mit dem Vater allein

69

Das wohlerzogene Mädchen

72

Die Herrin über das Belvoir und ihr Vater

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Die Vertrauensperson

82

Die Pflegerin

86

Heiratspläne zwischen Pflicht und Neigung

92

Das Nein zur traditionellen Frauenrolle

92

Das Ende der Hoffnung auf Emanzipation

96

Tod und Beerdigung des Vaters

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Die letzten Dinge

106

Grossartige Demonstration

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Friedrich Emil Welti zieht im Belvoir ein

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Unter dem Namen Escher in den Wirtschaftsolymp

112

Leere in der Beziehung

115

Sommer 1885 im Belvoir: Der Dritte im Bunde

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Alles was blieb: Einmachgläser und Byrons Briefe

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Begegnung mit Karl Stauffer: Von den Porträtsitzungen zum Auswanderungsplan

122

Florenz 1889: Der Traum wird Wirklichkeit

135

Inspiration Kunst: Zwei Männer und ein Projekt

136

Von den wirklich bedeutenden Dingen im Leben

141

«Dein Mann wird nichts merken»

145

Liebesnacht und Flucht nach Rom

151

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Lydia Welti-Escher (1858–1891)

Stauffers Muse

157

Geheimnisvolle Anziehung

157

Kunst als Lebensaufgabe

163

Karl Stauffer, ein gebrochener, weisshaariger Mann ohne Lebenskraft 164 Irrenhaus in Rom und Scheidung

167

Wohin mit Lydia?

167

«Ermanne dich und kämpfe…»

174

Die Errichtung der Gottfried Keller-Stiftung

184

Kunstwerke, wie sie keine andere Privatgalerie besitzt

185

Die Kunststiftung als Lebensziel

188

Der Name: Von «Welti-Escher» zu «Gottfried Keller»

191

Zusammensetzung des Stiftungsrats

196

Konstituierung der Kommission

200

Das Ende Allein mit Stauffers Manen

203 203

Alarmsignale 207 Von den letzten Dingen

215

Nachlass und Vermächtnis

221

Das finanzielle Erbe Mutmassungen und Widersprüche

234 234

Vermögensverwaltung 236 Der Verlust des Stiftungsvermögens

238

Der Fall Maggi

241

Der Zürcher Immobilienbesitz

246

Die Rezeptionsgeschichte

252

Die Tragödie in den Medien

252

Literarische und musikalische Bearbeitungen

263

Anmerkungen

272

Verzeichnisse und Register

296

Dank

315


Zum Geleit

Zum Geleit

Es gibt Biographien, deren Konturen die Zeit glattschleift. An so einem Menschenleben kann sich die Erinnerung nicht festhalten. Und es gibt andere Menschen, deren Lebensgang durch die Zeit profilierter wird und hoch über die historischen Umstände hinausgehoben wird. An einer solchen Biographie kann die Lektüre immer wieder neu ansetzen, dank guten Quellen und klugen Interpreten. Lydia Welti-Escher ist so eine aus ihrer Zeit herausgewachsene Figur. An und mit ihr können Nachgeborene erfahren, was die Zeitgenossen nicht oder jedenfalls ganz anders erkannten. Das macht Geschichtsforschung sinnvoll und relevant, denn sie vermag uns ins Gespräch mit dieser abenteuerlichsten Zürcherin der Moderne zu bringen. Genau das erleben wir mit Joseph Jungs Buch. Was wäre, wenn Lydia Welti-Escher wieder einmal Rede und Antwort stünde? Interviewer stellen Fragen, die stets Fragen ihrer Zeit sind, und das gilt auch für die klügsten Interviewer. In der New York Times Book Review werden Persönlichkeiten heutzutage gefragt: «Which skills were not con­ sidered cool when and where you grew up? Which were not encouraged? Who did most to flip gender scripts in your life?» Lydia hätte Antworten auch auf solche Fragen parat, so wie damals, bei der psychiatrischen Anamnese in der Römer Klinik. Was sie dort zu Protokoll gab, ist atemberaubend und entschädigt für ihre verlorene Autobiographie Gedanken einer Frau. Nehmen wir das Beispiel Widerstandskraft. Sie ist heute hoch im Kurs, bei Frauen wie Männern. Viel zu leicht geht vergessen, dass sie noch vor drei Generationen nur zu einem sehr viel höheren sozialen und individuellen Preis zu haben war. Lydia Escher lebte nicht so, dass sie Widerstandskraft entwickeln konnte, weder gegen die Ansprüche von aussen noch ­gegen ihre eigenen – schon gar nicht, wenn es um die zwei Männer ging, ihren Ehemann und ihren Hausmaler. Widerstand gegen die strengen Ehekonventionen ihrer Zeit, in allererster Linie im Denken der jungen Lydia selbst, wäre nötig gewesen, damit es nicht zur Heirat mit dem Bundesratssohn Welti gekommen wäre. Nur die Bereitschaft, die Ehezwänge im eigenen Kopf fahrenzulassen, hätte den nächsten Mann und die mit ihm erwachten, immens beflügelnden Kunstprojekte zu einer Lebenschance werden lassen. Das Verführt- und Sich-selbst-Entrissen-Werden durch eine Naturgewalt von einem Mann, durch den Balkonkletterer Karl Stauffer, war keine Verwirrung ihres Instinkts. Während sie aber nach dem Ehebruch bereits mit «Lydia Stauffer» unterschrieb, suggerierte er, er wäre lieber der Geliebte ­einer Verheirateten als der nächste Ehemann. Die beiden Durchgebrannten müssen einander jäh zu einer – gelinde gesagt – gewaltigen Überraschung geworden sein.

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Lydia Welti-Escher (1858–1891)

Fünf Monate nach Lydia Welti-Eschers Selbstmord im Dezember 1891 kam im Tessin ein Mädchen auf die Welt, das später Lydias Leidenschaft für Kunst teilen sollte. Die Grosstat von Lydias Vater nützte der kleinen Alfonsina Storni nichts mehr, denn sie fuhr nicht durch den neuen Gotthardtunnel nach Zürich, sondern über den Atlantik und wurde Argentinierin. Die Schweiz der Eschers stiess ein liberales Fenster auf, in dem die Grundlagen der modernen Schweiz gelegt wurden, doch wie lange es dauerte, bis ihre Produktivität das Leben der Mehrheit prägte, zeigen die Stornis. Ihre Schweiz war ein Auswanderungsland. In Buenos Aires schrieb Storni, Künstler seien die wahren Aristokraten unter den Menschen. Das war die selbstbewusste Geste einer Künstlerin, die Verkrustungen aufbrechen wollte, allen voran die starren Gender-­ Kategorien ihrer (und Lydias) Zeit. Storni hätte Lydia ins Stammbuch ­geschrieben: «Meine Seele hat kein ­Geschlecht.» So ein Schlachtruf war vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs alles andere als leicht zu leben, aber er steht für Stornis Bekenntnis zum Widerstand als künstlerischer Mensch. Es ist gut vorstellbar, dass Storni im tragischen Dreieck zwischen dem Ehepaar Welti-Escher und Stauffer den Stoff für ein Theaterstück gewittert hätte, obschon, vielleicht aber auch weil sie stets Komödien oder Farcen schrieb. Die beiden Frauen wuchsen noch in einer Männerwelt auf. Die Frauen in Lydias Kindheit und Jugend starben dahin wie Vögel, die in unsichtbare Länder flogen, und Lydia wuchs flink in die verwaiste Rolle der Hausherrin hinein. Die vierzehnjährige Hausdame im Belvoir-Park begleitete die Poli­ tikerkränzchen ihres Vaters und verkam dabei (in den Augen eines an Phantasie und psychologischem Scharfsinn armen Zeitgenossen) zur «Puppe». Das geschieht noch immer, wenn man Babys und Kleinkinder für die Welt der Grossen und ihre Beauty-Contests trimmt, nur sind es heute die Mütter selbst. Immerhin kam Lydia nicht nur in Kontakt mit Kommerz. Alt Staatsschreiber Gottfried Keller genoss grossonkelhaft seine Suppe in Lydias Gesellschaft und gab, obwohl er ein Jahrgänger ihres Vaters war, die Hoffnung aufs Liebeln nicht auf. Putzige Briefe schrieb er nicht nur ihr. Sie übersetzte das Gedicht An das Herz ins Italienische und trank mit ihm und andern Weissbärtigen Likör bis zum Umfallen. Die feinsinnige Lydia muss ihn begeistert haben, wie alle, die «aus den himmlischen Quellen der oberen Bergpartieen getrunken [haben], wo die Schafheerden der Dichtersippschaften weiden und die Musen auf kleinen Melkstühlen sitzen» (Keller schrieb dies einer andern Freundin). Der Historiker Joseph Jung hat nicht einfach – sozusagen en passant, auf dem Weg zu einem anderen Forschungsziel, dem Lebenswerk von Al­ fred Escher – aus einem glücklichen Versehen eine Schatzinsel gefunden. Jung wusste um das zeit-, kultur- und wirtschaftsgeschichtliche Kaliber nicht nur von Alfred Escher, sondern auch seiner Tochter Lydia und der Persönlichkeiten, die fest mit dem Leben beider verwoben sind. So wurde


Zum Geleit

der Biograph der helvetischen Gründerzeitfigur auch zum Pionier der Frauengeschichtsforschung des 19. Jahrhunderts. Das ist weder ein Wunder noch ein Paradox, sondern ganz einfach Glück – Leserglück nun schon in der vierten Auflage! Hildegard Elisabeth Keller

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Lydia Welti-Escher (1858–1891)


Vorwort

Vorwort

Die ursprüngliche Ausgabe dieses Werks erschien am 10. Juli 2008 aus Anlass des 150. Geburtstags von Lydia Welti-Escher. Mit dieser ersten wissenschaftlich abgestützten Biographie von Lydia Welti-Escher nahm die Persönlichkeit von Alfred Eschers Tochter neue Gestalt an. Im erstmals veröffentlichten psychiatrischen Gutachten, das die beiden italienischen Gerichtsmediziner Nicola De Pedys und Rinaldo Roseo 1890 im Irrenhaus von Rom erstellten, kam Lydia Welti-Escher im Rahmen einer umfassenden Selbstdarstellung zu Wort. Eine grössere Anzahl bis zum damaligen Zeitpunkt unveröffentlichter Briefe gab dem Werk zusätzliche Qualität. Das Werk stiess in der Öffentlichkeit auf so grosses Interesse, dass es noch 2008 – inhaltlich unverändert – ein zweites Mal aufgelegt werden konnte. Von den sämtlichen Quellenbeständen, die bis heute nicht als verschollen gelten, blieb damals insbesondere ein Konvolut weiterhin verschlossen, das wichtige Erkenntnisse zu den dramatischen Ereignissen in Lydia Welti-Eschers letzten Lebensjahren versprach: der Bestand J I.63, der im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern liegt und als «Archiv der Familie Welti von Zurzach AG» angeschrieben ist. Zu diesem Bestand, der zwischen 1940 und 1989 in mehreren Etappen eingeliefert worden ist, gehört auch die sagenumwobene Schachtel 11, die den Vermerk «gesperrt» trägt und der «Angelegenheit Lydia Welti-Escher» gewidmet ist. Nicht einmal über formale Aspekte wie Art und Umfang der enthaltenen Dokumente war bis 2008 Auskunft zu bekommen. An Einsichtnahme oder gar Veröffentlichung war erst recht nicht zu denken. Wiederholt wurden auch meine Gesuche, diesen Bestand konsultieren zu dürfen, abgelehnt. Es war eine persönliche Freude und eine wissenschaftliche Genugtuung, dass ich die dritte Auflage meiner Lydia Welti-Escher-Biographie, die 2009 erschien, erstmals auch auf diesen Bestand abstützen konnte. Nicht nur wurde mir vom Sachwalter uneingeschränkte Einsicht in den Bestand J I.63 gewährt, ich wurde ebenso autorisiert, die entscheidenden Dokumente vollständig oder im Wortlaut nach freiem Gutdünken zu ­publizieren. Ebenfalls freie Hand liess man mir hinsichtlich der Interpretation der für die Forschung damals erstmals zur Verfügung stehenden Fakten. Im Lichte dieser erweiterten Quellenlage des Bestandes J I.63 verschoben sich von der zweiten Auflage des Buches zur dritten einige Akzente in den Persönlichkeitsbildern der Protagonisten: Lydia Welti-Escher blieb die reife und bemerkenswerte Frau, doch traten die Brüche in ihrem Selbstverständnis, ihrem Denken und Handeln deutlicher zutage. Die neu verfügbaren Selbstzeugnisse spiegelten die Einsamkeit und die Trost-

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Lydia Welti-Escher (1858–1891)

losigkeit ihrer letzten Wochen und Tage mit aller Härte. Das Bild von Bundesrat Emil Welti als Drahtzieher und grauer Eminenz fand zusätz­ liche Bestätigung. Als scharfsinnig mitdenkender und entscheidender Kopf in seinem Netzwerk erwies sich – neben dem Gesandten Simeon Bavier – Doktor Edmund Schaufelbühl, Direktor der Psychiatrischen Klinik Königsfelden. Das Profil des Bundesratssohnes Friedrich Emil Welti galt es auf die eine Seite hin etwas weicher zu zeichnen. Denn mit seiner geschiedenen Ehefrau Lydia hatte er gemeinsam, dass er in kritischen ­Situationen vielfach versagte. Willig fügte er sich in die Rolle einer Marionette seines Vaters. Mit neuer Schärfe traten damit aber auch die Spannungen und Widersprüche zwischen dieser Folgsamkeit gegenüber dem Vater, seinem Mitleid mit Lydia und seiner gnadenlosen Rache an Stauffer hervor. Die nun vorliegende Neuauflage der Biographie folgt im Haupttext unverändert den Ausführungen von 2009. Auch die Anmerkungen wurden – von technischen Anpassungen abgesehen – übernommen. Dem Wunsch des Verlags nachkommend, der 575seitigen dritten Auflage eine umfangmässig handlichere vierte folgen zu lassen, hat mich bewogen, auf den Anhang mit den verschiedenen im Wortlaut abgedruckten Quellen und Beiträgen von Drittpersonen zu verzichten. Dies schien mir verantwortbar zu sein, zum einen, da die Evidenzen dieser Materialien in die Biographie eingeflossen sind, zum andern, da ich auch in dieser Neuauflage wiederholt aus den grundlegenden Quellen zitiere oder relevante Aussagen indirekt wiedergebe. Zürich, im Spätsommer 2013

Joseph Jung



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Lydia Welti-Escher (1858–1891)

Blick von Enge über den ­Zürichsee zu den Glarner ­A lpen. Illustration J. Weber (Ausschnitt).

stellen, dass er den Draht zur Bevölkerung und zu lokalen Gepflogenheiten nicht fand. So trat er aus diesem Gremium nach kurzer Zeit wieder aus. Friedrich Emi Welti war in erster Linie ‹fils à papa› und ‹protégé›. Er verdankte seine Karriere seinem Vater und dem Namen Escher, der ihn zugleich reich machte. «Welti konnte sich nicht acclimatisieren», hält ein Zeitzeuge fest. Und dann konkretisiert er den Unterschied zwischen Alfred Escher und Friedrich Emil Welti: «Escher hielt viel auf guten Haushalt, hatte viel Gesellschaften. Er besass eine Equipage mit 2 Pferden, eigene Kühe und einen Kuhknecht, um eigene Milch zu haben; feinste Spezereien. Dem Schwiegersohn Welti war dies alles zu kostspielig. Man sah ihn nie ausfahren. Er schaffte als erstes die Equipage und den Kutscher ab, ebenso die Kühe und den Knecht. Er bezog den Kaffee aus dem Konsum, 2. Qualität.» Und dann kam der zeitgenössische Berichterstatter zu folgendem Schluss: «Welti, der aus engen Verhältnissen stammte, passte weder in die Familie noch in die Gemeinde. Man hätte von einem gebildeten Juristen Anderes erwarten können.» Und so überrascht es nicht, dass Friedrich Emil Welti in der Zürcher Gesellschaft keinen Zugang fand. Doch war es nicht bloss die konservative Schicht des alten Zürich, welche den Bundesratssohn ablehnte. Welti wurde an der Limmat und am Zürichsee von Anfang an nicht heimisch. Vorbei waren die Zeiten, da der nun im Grabe liegende Herr des Belvoir ab und zu zum Schwatz auf der Gemeindekanzlei aufgetaucht war, als man in der Enge seine generöse Gemeinnützigkeit lobend und dankbar vermerkte und ihm überhaupt mit Respekt und Reverenz begegnete. Der neue junge Herr aus Zurzach, in Bern aufgewachsen, hatte sich auch in der Gemeinde Enge ins Abseits manövriert. Welti war und blieb in Zürich ein Fremdkörper. Dies zeigt auch Folgendes: Kaum war Friedrich Emil Welti im Belvoir eingezogen,


Friedrich Emil Welti zieht im Belvoir ein

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wurde rigoros ausgemistet. Was an alte Zeiten erinnerte, verschwand aus dem Blickfeld. Mit Welti war im Belvoir eine neue Kultur eingezogen. Die «schäbigste Liquidation» fand bereits kurz nach Eschers Tod statt: Selbst Eschers Nachtröcke und Brillen wurden verkauft.187 In der Enge war man über den Bundesratssohn empört. Auch verstand man nicht, wie Eschers Tochter all dies zulassen konnte. Kurz nach der Heirat unternahmen Friedrich Emil und Lydia WeltiEscher ihre Hochzeitsreise. Diese führte sie nach Rom. Ausgestattet mit den Referenzen von Bundesrat Emil Welti, wurden sie dort vom Gesandten ­Simeon Bavier empfangen. Dieser war erst kurz zuvor aus der Landesregie- Simeon Bavier → S. 18f. rung ausgeschieden, um diesen Posten am königlichen Hof in Rom anzu­ treten. Die Flitterwochen waren schneller vorbei als geplant. Wegen eines «Unwohlseins» – das offenbar zugleich Friedrich Emil und Lydia erfasst hatte – mussten die Frischvermählten ihren Aufenthalt im Süden vorzeitig abbrechen. Bundesrat Emil Welti schrieb: «Wir sind sehr besorgt wegen ­Eurer Gesundheit und können nicht begreifen, warum Ihr keinen Arzt beizieht. […] Zu den bedauerlichen Folgen Eures Unwohlseins gehört die directe Heimreise.»188 Nicht nur für Bundesrat Welti war es unverständlich, warum die beiden – statt einen Arzt aufzusuchen – beim Auftreten des «Unwohlseins» auf direktem Weg an den Zürichsee zurückkehrten. Auch aus heutiger Sicht mutet dieser Entschluss zunächst seltsam an. Verständlich wird er vor dem Hintergrund der Entwicklung, welche die emotionale Basis der Beziehung zwischen Lydia und Friedrich Emil seit Alfred Eschers Tod durch­gemacht hatte: Lydia und Friedrich Emil Welti-Escher hatten sich bereits nach kurzer Zeit des Zusammenlebens nicht mehr viel zu sagen. Belvoir. Gouache von M. Vollenweider (Ausschnitt).


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Lydia Welti-Escher (1858–1891)

Stauffers Sexualleben: « ... was mal auf’s Atelier kommt meistens ordinaere Waare wird natürl. gelegentl. im Sinne eines physiologischen Processes ohne jede Illusion gedeckt» (Brief Karl Stauffer an Max Mosse, 11. November 1888). «Ganz wohl bin ich hier schon der verdammten Coitusverhältnisse wegen nicht, die Maedel sind zwar jung und hübsch in den Beos [Bordellen] aber hol’s der Teufel der Sache fehlt der Styl. Werde ich froh sein wenn ich den ersten Begattungsact wieder in meinen 4 Pfaehlen mit Andacht und Hingebung auszuüben versuche. [...] Sie [Anna] fehlt mir sehr, resp. nicht sie gerade, aber ein Weib was zu meiner Dispos. steht, na in 6 bis 7 Wochen kann es ja wieder los gehn» (Brief Karl Stauffer an Max Mosse, 15. Juli 1886). «3 Monate lang hatte ich wieder mit den üblichen Schwanzgeschichten zu thun, der Pseudosyphilis, die diesmal in einer Weise auftrat, dass ich warhaft krank war 4 Wochen. Immerhin weiss ich jetzt zur Evidenz dass es Herpes ist, und ich immer noch die frohe Aussicht habe die Franzosen aquiriren zu koennen. Ich werde mir wahrscheinlich, so wie ich etwas Zeit habe das Praeputium amputiren lassen um das Elend los zu werden, denn jetzt habe ich es dick. Ich stehe immer noch auf dem Standpunkt der physiologischen Beschaelung, da ich bis jetzt weder Zeit noch übrig Geld genug hatte mich um einen geschmackvollen Coitus umzusehn. Mit der Zeit wird auch dies kommen. Erst die Arbeit dann das Vergnügen!» (Brief Karl Stauffer an Max Mosse, 17. Februar 1889).


Stauffers Muse

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«Ich kann Keine recht zeichnen oder malen, die ich nicht umarmt habe» (zit. Frey, Stauffer-Bern, S. 359). Über die erste Nacht mit Anna: «Die ‹Hochzeit›, die wir gefeiert haben, kannst Du Dir nicht vorstellen. Meine Zeugungs- und Geschlechtskraft war unerhört» (Brief Karl Stauffer an Max Mosse, 15. Oktober 1886, zit. von Arx, Chronik, S. 46). «Ich entbehre nichts als die Wonne des Koitus» (Brief Karl Stauffer an Max Mosse, 1. Oktober 1882, zit. von Arx, Chronik, S. 46). «Die kleine schwarze, die wir da in dem Beo [Bordell] in Zürich antrafen an dem bewuss­ ten Abend an der Koengengasse, ist wieder von zu Hause durchgebrannt ich traf sie in einem Beo in Biel und feierte ein würdiges Wiedersehn sie machte ihre Sache ausgezeichnet» (Brief Karl Stauffer an Max Mosse,16. August [1886?]).

Karl Stauffer-Bern (1857– 1891), Stehender weiblicher Akt, o. J., Radierung. Depositum der Gottfried Keller-Stiftung im Kunstmuseum Bern (Ausschnitt).

Karl Stauffer-Bern (1857– 1891), Skizzenblatt mit drei Köpfen, Selbstporträt mit Zwicker, 1883, Bleistift. Graphische Sammlung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (Ausschnitt).


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Lydia Welti-Escher (1858–1891)

Karl Stauffer-Bern (1857– 1891), Bildnis Lydia WeltiEscher im roten Kleid, 1886, Öl auf Leinwand. Depositum der Gottfried Keller-Stiftung im Kunsthaus Zürich. «Roth Seidenplüsch oder Sammt mit Hut und Schleppe – sehr schneidig! Würde ich jedenfalls machen lassen von der Farbe, die Sie (mit unfehlbarer Sicherheit) herausgegriffen. Wenn auch weisser Atlas mich im Moment präoccupirt, so ist es nur deshalb, weil ich Sie im Saskiakostüm noch nicht zu sehen die Ehre hatte» (Brief Karl Stauffer an Lydia WeltiEscher, s.d., zit.Brahm, Stauffer-Bern, S. 75).

Für kurze Zeit nur war Lydia eine glückliche Frau. Es waren die Tage, die sie gemeinsam mit Stauffer in Florenz und Rom verbrachte und wo ihr ihr Geliebter mit dem gigantischen Kunstprojekt eine herausfordernde Aufgabe zu lösen gab. Die letzte Chance auf Lebensinhalt schuf sich Lydia mit der Errichtung ihrer Stiftung – bezeichnenderweise wiederum ein Kunstprojekt! Doch mit der Wohnsitznahme in Champel schwanden Lydias Lebensgeister. Verschiedene Ereignisse und Erfahrungen trieben sie unwiderstehlich auf den letzten Lebenspunkt zu. Am 24. Januar 1891 stirbt in Florenz Karl Stauffer. Vier Tage später wird er auf dem protestantischen Ausländerfriedhof Agli Allori beerdigt. Lydia lässt am frischen Grab einen Kranz niederlegen, auf dessen Schlaufen geschrieben steht: «Den Manen meines unvergesslichen Freundes.»381 Lydias Verhalten ist auf den ersten Blick nur schwer zu erklären. Wie kommt sie dazu, Karl Stauffer noch immer als «unvergesslichen Freund» zu bezeichnen? Wie lässt sich die Symbolkraft der Kranzniederlegung in Einklang bringen mit der gnadenlosen und eiskalten Antwort, mit der Lydia – nach der Entlassung aus dem Manicomio und der Rückkehr in die Schweiz – die Hilferufe Stauffers abwies? Wie erklärt sich, dass Lydia ihrem nun «unvergesslichen Freund» nur wenige Monate zuvor durch ihren Anwalt hatte ausrichten lassen, dass sie von ihm nichts, absolut nichts mehr hören wolle? Machte sich Lydia Vorwürfe, dass sie ihr Verhalten gegenüber Stauffer nach der Rückkehr in die Schweiz dem Verdikt Friedrich Emil Weltis unterworfen hatte? Die Nachricht von Stauffers Tod zog für Lydia keinen Schlußstrich unter die Vergangenheit. Im Gegenteil: Die Erinnerung an die Ereignisse in Florenz und Rom wurde neu geweckt. Die ganzen Jahre seit der ersten Begegnung mit ihm – 1885 im Belvoir – nahmen die scharfen Konturen des Unvergesslichen an. Lydias Reaktion auf Stauffers Tod und ihre nachfolgenden Handlungen und Verhaltensweisen lassen keinen Zweifel offen: Lydia fühlte sich mitschuldig an Karl Stauffers Tod. Seither meldete sich ihr alter Sterbewunsch immer gebieterischer zurück und verdichtete sich schliesslich zur idée fixe – zur Vorstellung, die alle anderen Perspektiven löschte. Gegenüber Karl Vogt sprach Lydia sich aus: «Stauffer ist für mich gestorben, also muss ich für ihn sterben!»382 In Genf fand Lydia Welti-Escher ihre letzte, tiefste Einsamkeit. In der Stadt Calvins hatte sie kaum Freunde und Bekannte. Der einzige gesellschaftliche Kreis, in dem sie hin und wieder verkehrte, war derjenige um den alten Politiker und Naturwissenschafter Karl Vogt. Dieser tat sein Möglichstes, um die verzweifelte und lebensmüde Frau auf andere Gedanken zu bringen: «Sie nannte sich schliesslich unsere Adoptivtochter und man hatte sich nur zu erwehren gegen alle Dienste, die sie uns erweisen wollte. Sie schien das Bedürfniss zu [hab]en, Gesellschaft zu sehen; wir führten ihr einige Bekannte zu, giengen mit ihr in das Theater...»383 Daneben pflegte sie vornehmlich auf dem Korrespondenzweg Beziehungen zum Maler Johann Salomon Hegi. Gelegentlich war er auch ihr Gast bei einem Essen in der Villa «Ashburn». Hegi, welcher der Generation Alfred


Das Ende

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