Wie die Schweizer Wirtschaft tickt

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Wie die Schweizer Wirtschaft tickt Die letzten 50 Jahre, und die nächsten ... protokolliert von Beat Kappeler

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www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

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Inhalt Einführung   7 Kapitel 1 Informationstechniken nach den Sanduhren   13 Kapitel 2 Produktivität aus Sägezähnen   33 Kapitel 3 Wirtschaftspolitik: Linke und Rechte übers Kreuz   59 Kapitel 4 Sekretariate und die «objektiven» Interessen der Arbeiter   83 Kapitel 5 Die Schweiz funktioniert, weil der Verbandsstaat funktioniert   145 Kapitel 6 Die Umwelt wurde zur «Frage»   168 Kapitel 7 Woher wir kommen   180 Kapitel 8 Wo wir jetzt stecken   190 Kapitel 9 Abgesang und Schluss   218 Lebenslauf   223 Publikationen   224

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Einführung Erstaunlich, wie drastisch sich Gesellschaft und Wirtschaft in nur 20 oder 30 Jahren verändern und wie wenig wir davon in der Schweiz, in Europa und in der Welt bemerken. Gewohnte Denkfiguren und alte Kämpfe stecken noch in den Köpfen, in den Debatten. Mein Elternhaus mit Gewerbebetrieb, meine Tätigkeiten als Journalist, als Volkswirtschafter im Sekretariat des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), wieder als Journalist, als ausserordentlicher Professor in Lausanne und als Mitglied der Kommunikationskommission liessen mich seit 1950 in viele Mechaniken des gesellschaftlichen Lebens blicken, in die Motive der Menschen und in das, was dann schliesslich dabei herauskam. Und das ist oft ganz anders, als viele meinen. Wir stecken eben viel zu stark selbst drin. Ich gehöre zur Babyboomergeneration. Sie hat gewonnen, dank ihren seit dem Aufruhr 1968 erprobten Gesellschaftstechniken, sie hat das Land, die Institutionen, die Köpfe nach ihrer Façon ausgerichtet. Aber manche nun Altgewordene kämpfen diese Kämpfe immer noch, bis zu den Entschuldigungsritualen wegen Zweitem Weltkrieg, Kolonialismus, Ausländerintegration, fehlgeleiteter Sexualität und anderen Schrecken.

Das Neue ist anders, als wir denken! Das Neue kann auch diese Generation in ihren errungenen Ämtern wiederum, wie ihre Väter der 1950er-Jahre, kaum erkennen, nämlich: –– eine leidenschaftslose Globalisierung durch das neue, utilitaristische Asien, seinen Aufstieg nicht durch Entwicklungshilfe alten Stils mit Geld, sondern mit Bildung, Weltmarktorientierung und freiem Berufszutritt – im Gegensatz zu Teilen Afrikas und Lateinamerikas; –– den erreichten «keynesian endpoint» in den alten Industriestaaten, das Ende also des dauernden Ankurbelns von Nachfrage, der Umverteilung,

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nach welcher heute die Hälfte der Haushalte Geld vom Staat bekommt, was aber die Anbieter von Arbeitsplätzen und Produkten entmündigte, die Staaten Westeuropas ruinierte und nun für Hunderte von Millionen Menschen soziale Unsicherheit schafft, weil Arbeit wie Kapital fehlen und die Versprechen zurückgenommen werden müssen; die Verreglementierung der Lebensgestaltung Einzelner zugunsten von Gruppenrechten der Konsumenten, Mieter, Arbeitnehmer, Umwelt- und Sozialbewegten, Einspruchsberechtigten, Datengeschützten, Verkehrsteilnehmer, Aussenseiter, Agrarbranchen, elektronischen Medien, Tiere, wonach bald «was nicht schon verboten ist, befohlen ist»; das Erfolgsmodell des freien Arbeitsmarktes der Schweiz oder Dänemarks, der die Vollbeschäftigung bewahrte, und wo nicht mehr indus­ trielle Massenausbeutung herrscht, sondern motivierte, qualifizierte Arbeit in Partnerschaften, Teams und Projekten erfolgt; einen offenen Weltmarkt, und damit Weltarbeitsmarkt, der nicht von Superstaaten wie den USA oder der EU beschickt wird, sondern den einzelne Firmen und ihre Belegschaften in den Wertschöpfungsketten bestreiten – wenn die Staaten sie dies mit günstigen Produkt- und Arbeitsmarktregeln tun lassen; eine EU, die vom nützlichen Binnenmarktprojekt der 1950er-Jahre zur Harmonisierungswalze und zum Transferstaat wegen der Fessel des Euro wurde, und etwas völlig anderes als noch die EWG oder EG ist, für die man sich begeistern konnte; eine Schweiz mit gesellschaftlichen Spielregeln, die im Gegensatz zum übrigen Europa «bottom-up» anstatt von politischen Visionen «topdown» bewegt wird und deshalb dynamisch blieb; das dadurch bewirkte Aufrücken der Schweiz zu einem «Weltstaat» mit Weltgang, nicht im Alleingang, zu einer Metropolitanregion wie Südengland, Kalifornien, Australien, Vancouver, Singapur, Shanghai, mit hoch qualifizierten Zuzügern, und als Kopf weltweiter Netze; die Schweiz als erfolgreichen «melting pot», aber nicht mehr von un­ qualifizierten Zuzügern der 1950er- und 1990er-Jahre, die übrigens in den Arbeitsmarkt gleich gut integriert sind wie Schweizer, sondern heute mit zuwandernden Kadern, die man nicht im alten Stil integrieren muss, die aber Wettbewerb und Wohlstand schaffen;

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–– die intellektuelle Dynamik aus den angelsächsischen Ländern, entgegen dem in alten Mentalitäten verharrenden Frankreich, dem früheren Orientierungspunkt vieler Intellektueller, und entgegen Deutschlands Glitterati, die nur in den Kategorien gleich/ungleich, Täter/Opfer, Pro­ blem/Staat denken und immer noch historische Schuld wälzen; –– das Leben mit unausweichlicher Differenz statt Gleichheit in offenen, Welthandel treibenden Ländern und in Einwanderergesellschaften für Kaderleute und Vermögliche. Ich protokolliere hier, wie dies alles kam, wie es heute läuft und wie die nächste Zukunft laufen kann und soll. Wie die Schweiz tickte, tickt und ticken wird. Zuerst blicken wir mit ein paar gerafften Zahlen kurz auf das galoppierende Wachstum und den Neuerungsschub seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der Ursprung der Wohlstandsgesellschaft nach 1945 Von aussen profitierte die Schweizer Wirtschaft nach dem Krieg durch all­ gemeine technische Fortschritte, die sie innehatte oder sofort übernahm. Es war nicht nur der intakte Produktionsapparat, der ein ausgehungertes und ausgebombtes Europa beliefern konnte. Die damaligen Techniken der mittleren und grossen Schweizer Firmen zählten zur Hochtechnologie, wie man heute sagen würde. Dazu gehörten: Turbinen, Generatoren, Stromübertragung, Pharmazie, Nahrungsmittel, Bankwesen, Versicherungen, Rückversicherungen, Tourismus. Das günstige Öl und die einheimische Wasserkraft sicherten die Antriebe und Kalorien des Landes. Der tiefe Frankenkurs und die günstigen Zinsen unterstützten die Exportwelle. Die Handelsdiplomatie brachte dank Europäischer Freihandelsassoziation (EFTA), Allgemeinem Zoll- und Handelsabkommen (GATT )/Word Trade Organisation (WTO) und 1972 mit der Eu­ropäischen Union (EU ) multilaterale Marktöffnungen zuwege. Hans Schaff­ner, der Chef der Handelsabteilung, nachmaliger Bundesrat, schuf fast im Alleingang die EFTA als komplementären europäischen Binnenmarkt gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).

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Die Volkswirtschaft nahm damals Sätze, die sich wie die heutigen chinesischen Wachstumsraten ausnehmen – plus 7,3 Prozent für 1950, plus 6,5 Prozent in den Jahren 1955 und 1956, sodann plus 7 Prozent für 1960, plus 8 Prozent für 1961, und noch 1970 plus 6,7 Prozent. Auch wenn man die Einwanderung der Italiener, nachher der Spanier und Türken einbezieht, nahm der Wohlstand pro Kopf fast gleich viel zu. Die Reallöhne stiegen nicht so schnell, sodass den Firmen viel Kapital für neue Investitionen und eine schnelle Ausbreitung über den ganzen Erdball verblieb. Wenn heute etwa 1,8 Millionen Arbeitende in Schweizer Firmen weltweit beschäftigt sind, stützt dies auch die Arbeitsplätze im metropolitanen Zentrum Schweiz. Diese nahmen zwischen 1950 und 1970 um die enorme Zahl von 770 000 Personen zu. Vor der Ölkrise, nämlich 1970, gab es in der Schweiz genau 104 Arbeitslose. Schon mehrmals rissen sich die Schweizer Wirtschaftsführer mit kühnen Adaptationen zur Weltwirtschaft hoch. 1876 kam eine ihrer Dele­ gationen geschockt von der Weltausstellung in Philadelphia zurück: Die amerikanische Industrie produzierte nicht mehr Einzelstücke mit anein­ andergereihten Facharbeitern, sondern mit Maschinen und in Serie. Innerhalb weniger Jahre stellte sich die Schweizer Wirtschaft darauf um. 1919 schifften sich 200 Industrielle nach den USA ein, um Henry Fords Fliessbänder zu studieren, unter ihnen Oscar Bally, Walter Boveri, Carl Sulzer, Jacob Schmid­heiny, Karl H. Gyr und Louis Raichle. Solche technischen Quantensprünge stehen auch heute an. Die Schweiz könnte ohne ihr heu­ tiges Moratorium das rückständige Europa in der Gentechnik überflügeln. Man muss Geschäftsmodelle des Internets wie das iPhone und das iPad von Apple sowie deren Applikationen und das Elektronikbuch Kindle von Amazon entwickeln. Die Schweizer Erfolge mit Doodle oder Tilllate zeigen, dass es geht. Dazu braucht es endlich eine stärkere Softwareindustrie, die heute importabhängig ist; es braucht den Mut zu Gratisdiensten im Netz, die auf Werbeeinnahmen basieren, oder Systeme des Micropayments für ­Medien und Dienste. Die Verlage müssen ihre Bücher elektronisch verkaufen, wie alle in den USA es schon tun. Alle Einwohner müssen fliessend Englisch können und mit amerikanischen, asiatischen Usanzen vertraut sein. Diese neuen Techniken warten v. a. auf das, was Schweizer seit je am

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besten konnten, nämlich diese anzuwenden und mit bestehenden Geschäftsmodellen zu verbinden. Die neuen Techniken erlauben Gründern und neuen Selbstständigen wie vor 50 Jahren, selbst einzusteigen; es braucht nicht mehr die Giganten der Stahlwerke oder Autofabriken; es muss nicht alles hier erfunden werden.

Der Wohlstand kommt nicht von ungefähr Weitere Wachstumstreiber der 1950er- und 1960er-Jahre bestehen noch immer. Dazu zählt die konsequente Ausrichtung der Handelsdiplomatie auf den Weltmarkt und einen offenen Europamarkt – dort aber nicht auf mehr. Die Übernahme der vielen Einschnürungen im Arbeitsmarkt, Geschäftsleben und Steuerwesen sowie der Einheitswährung Euro würde die Schweiz vom «Weltgang» abhalten, mit dem sie den Wettbewerb mit den Asiaten und den USA heute bestens bestreitet. Der Franken kann von der Schweiz bestimmt werden, damit auch das Zinsniveau, der Aussenkurs und die Konjunkturimpulse. Der freie Arbeitsmarkt war nach 1945 – und ist es bis heute – eine Trumpf­k arte der Schweiz (und Dänemarks). Wenn ein Unternehmer kün­ digen kann, stellt er leichthin auch ein. Wenn die Lohnnebenkosten zulasten des Arbeiters nicht zu hoch sind, gibt es keine Schwarzarbeit. Wenn der Unternehmer nicht mit hohen Nebenkosten, Beweislastumkehr und Quoten für Einstellungen belastet wird, investiert er hier und nicht anderswo. Und wenn eine Berufsausübung für den Arbeitenden nicht an immer mehr Diplome gekettet und für den Unternehmenden nicht an immer mehr bürokratische Pflichten und Bewilligungen gebunden wird, geht das Wachstum los und es herrscht Vollbeschäftigung. In den 1950er-Jahren änderten sich die Wirtschaftsstrukturen eher rascher als heute, aber ohne Verwerfungen und Arbeitslosigkeit, denn die Geschäftstätigkeit war kaum an Bewilligungen gebunden, man fing einfach mal an. Der aufstrebende Dienstesektor und die zunehmende Verwaltung stellten ehemalige Handwerker ohne Diplome ein. Dem Lehrermangel wurde mit halbjährigen Umschulungen solcher Leute abgeholfen. Plötzlich waren Nachbarn neuerdings Versicherungsagenten, Lehrer, Verwaltungsangestell­-

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te, Kleinunternehmer. Wer einen Lehrling einstellen oder betreuen wollte und will, konnte und kann dies nach ein paar Kurstagen tun. Nach ziemlichen Kämpfen wurden in den 1950er-Jahren auch die in der Depression und im Krieg aufgebauten vermeintlichen Sicherungen der Branchen und der Beschäftigung aufgehoben – das Warenhausverbot, das Filialverbot, das Coiffeurverbot, das Schuhfabrikenverbot, Teile des Landwirtschaftsschutzes. All dies stimulierte neue Unternehmungen und damit Arbeitsplätze. Für meinen eigenen Rückblick auf die Sprungfedern der heutigen Schweiz nach 1945 bieten sich folgende Lupen an: –– Informationstechniken –– Produktivität –– Wirtschaftspolitik –– Sekretariate und die «objektiven Interessen der Arbeiter» –– Die Schweiz funktioniert, weil der Verbandsstaat funktioniert. –– Die Umwelt wurde zur «Frage» –– Woher wir kommen. Wo wir jetzt stecken.

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Kapitel 1

Wie das Wissen der Welt anzapfen? Während des Studiums hatte ich die angelsächsische Welt entdeckt. Sie war schneller, nonkonformistischer, nüchterner und präziser als die französische «civilisation», die im Gymnasium und unter weit gereisten Onkeln der Familie als Referenz des Weltstandards gedient hatte. Ich las seit damals die Financial Times, die International Herald Tribune und den Economist. Die Tribune kam in Paris heraus, wurde auch in Zürich gedruckt, war also ta­ gesgenau am Bahnhof erhältlich und enthielt Artikel der New York Times sowie der Washington Post. Das war nun wirklich Weltniveau! Doch wenn darin von einem US -Gesetz, einer Studie oder einem neuen Buch die Rede war, so setzte ein Hürdenlauf ein. Wie kam man zu so etwas? Ich ging zum PTT-Büro der internationalen Verbindungen am Bahnhof, wo alle Telefonbücher der Welt lagen. Für eine Studie zum kalifornischen Gesundheitswesen etwa, von der man vage ge­ lesen hatte, musste man dort den H-Band von Sacramento erbitten, die Adresse des Health Department abschreiben, nach Hause gehen, einen Bittbrief schreiben und internationale Antwortbriefmarken beilegen. Mit viel Glück hatte man sechs, acht Wochen später die Studie oder das Gesetz. Das war langfädig, aber ich war immer noch der Erste und Einzige, der es in der Schweiz hatte. Direkt nach Kalifornien zu telefonieren war undenkbar, denn dies hätte damals für drei Minuten etwa 30 Franken gekostet – und mehrere Versuche, bis man den richtigen Beamten gehabt hätte. Das entsprach einem halben Wochenlohn. Die hohen internationalen Tarife waren eine der grossen Gewinnquellen der PTT, und sie nährte die Bundeskasse mit diesem Zoll auf Weltläufigkeit. Ihn zu entrichten, waren die grossen, multinationalen Firmen in der Lage. Hingegen wurden Universitäten, private Forscher und Journalisten von der Teilhabe am geistigen Austausch mit der Welt durch diese Hochpreispolitik ausgeschlossen. Es war eine Steuer auf die internationalen Kontakte der geweckten Geister des Landes, welche zu Hause die Raps- oder Militärsubventionen des Bundes mitbezahlte. Auch die Briefsparte der Post pflegte seltsame Sitten, um die Kunden zum Sparen anzuhalten – oder elegant auszunehmen. Eine Postkarte konnte mit 5 Rappen frankiert werden. Aber für diesen Tarif durften nur fünf Gruss-

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Informationstechniken nach den Sanduhren

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worte und die Unterschrift vorkommen, wie es auf der Stelle, wo die Marke hinkam, in Bürokratenart aufgedruckt war: «Porto: Wenn nur mit Gruss und Unterschrift versehen, 5 Rappen im In- und Ausland, sonst 10 Rappen bzw. 20 Rappen.» Damit musste jeder, der eine wirkliche Mitteilung machen wollte, auf das höhere Porto umsteigen, obwohl die Post dafür nicht mehr leisten musste. Information war rationiert. Dem wollte auch der Journalist Ludwig Minelli Ende der 1960er-Jahre abhelfen. Er baute sein eigenes Archiv an Zeitungsartikeln zu einer Dienstleistung für alle aus. Andere Journalisten und ganze Redaktionen abonnierten sich, um seine Informationen zu beziehen. Diese kamen per Post als Bündel von Fotokopien an. In Deutschland war das Spiegel-Archiv eine sagenumwobene Fundgrube, aber nicht einfach von aussen zugänglich. Information war in Kilo gemessen.

Alles hing an der Telefonschnur Gehen wir in die 1950er-Jahre zurück: Das Telefon war zwar angekommen, aber noch nicht sehr verbreitet. Anrufe von Herisau nach Zürich wurden sogar noch vom Fräulein im Amt geschaltet. Nahm man den Hörer ab, meldete es sich, und man musste die gewünschte Nummer angeben. Nachba­ rinnen ohne Telefonanschluss kamen zu uns mit 20 Rappen in der Hand, um zu telefonieren. Das war der Tarif für drei Minuten im Inland während des Tages. Und damit alle wussten, wie lange dies dauerte, hing fast überall beim Telefon eine Sanduhr mit dieser Laufzeit. Kam ein Anruf für diese Nachbarn an, musste man über die Strasse oder in die anderen Wohnungen des Hauses rennen, um sie zu holen. Fast jedes Restaurant besass vor den Toiletten ein Gästetelefon mit Geldeinwurf oder mit einem Zähler beim ­Buffet. Vor dem Internetzeitalter war es eine Herausforderung, an der Börse zeitgerecht dabei zu sein. Täglich um 13.50 Uhr verlas man am Radio die Börsenkurse, und manche privaten Investoren führten Tabellen, in die sie die Kurse eintrugen. Um diese Zeit war aber die Börse schon zu Ende. Wollte man während des Tages intervenieren, musste man den Bankangestellten anrufen, der an einem anderen Apparat seinerseits den Vertreter an der

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Kapitel 1

Börse anrief, um die Kurse zu erfragen. Dann gab man am Telefon die Aufträge durch. Um am Morgen zu wissen, was in New York, v. a. aber in Japan an den Börsen gelaufen war, musste man ebenfalls telefonieren. Das Kursgeschehen war in meiner Erinnerung damals aber weit undramatischer, denn man musste nicht stündlich Überraschungen erwarten (ausser bei Insidergeschäften mit Kursexplosionen). Überhaupt hielt man Gewinnzunahmen der Firmen von 4 oder 5 Prozent für hervorragend. Es gab noch keine Junganalysten, welche den ergrauten Firmenbossen jährlich plus 18 Prozent vorschrieben. Kursgewinne von 10 Prozent, und dies nach mehreren Monaten, wurden als ausserordentlich erfreulich angesehen. Das Telefon aber war die Nabelschnur zur Finanzwelt. Und noch früher – da gab es ausser in Geschäften oder Arztpraxen überhaupt kein Telefon. Meine Mutter wuchs nach 1916 im Untertoggenburg auf, und wenn man die Basen und Vettern in anderen Dörfern besuchen wollte, marschierte man einfach los, z. B. 2 Stunden von Degersheim nach Hemberg, und man traf die Verwandten denn auch meist an – weil es eben noch keine Autos gab, mit welchen man herumfuhr und seine Anwesenheit unstet hielt. Nach den Besuchen machte sich meine Grossmutter mit den Kindern von sechs bis zwölf Jahren wieder auf den zweistündigen Heimweg. Noch zu meinen Zeiten schreckten uns Kinder diese Besuche am Sonntagnachmittag (wir fuhren im Auto hin), weil die Ostschweizer, und die Toggenburger besonders, sehr sparsam waren und es lange dauerte, bis einige Bisquits oder ein Glas Sirup auf den Tisch kamen. Gotthelfs Schilderungen üppiger Emmentaler Bauernessen trafen hier nicht zu. Hier waren die Bauernhöfe klein, das Gelände stotzig, zehn Kühe schon guter Mittelstand. Die Information in den Wertschöpfungsketten des Urgrossvaters Ohne Telefon geschäftete mein Urgrossvater Eugen Pauly in Kreuzlingen. Ich besitze noch etwa 600 Postkarten aus den Jahren von 1888 bis 1908, die er erhielt. Da kündigten Vertreter und Geschäftspartner ihre Besuche auf morgen an, und zwar aus dem nahen Deutschland und von ziemlich weit her aus Schweizer Ortschaften. Man konnte offenbar davon ausgehen, dass die Post innerhalb ei-

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Küchenfabrik oder Latein und Griechisch Wenn schon die Möbel nun industriell hergestellt wurden, so wollte mein Vater sie wenigstens vermitteln. Mit Kunden fuhr er samstags am Nachmittag zur Möbelfabrik Victoria in Baar in die Ausstellung, und wenn sie an­ bissen, hatte mein Vater 10 Prozent. Davon trat er die Hälfte den Kunden ab. Vor unserer Haustüre brachte er einen kleinen Schaukasten an, den ich mit Bildern aus den Victoriakatalogen füllte, über die ich mit Tusche und Feder markige Werbesprüche schrieb, wie wir es im technischen Zeichnen der Sekundarschule lernten. Ausserdem bekam ich ein Schlafzimmer aus den billigen Victoriamöbeln. Meine Schwester aber erhielt ein hausgemachtes Schlafzimmer in rötlichem Kirschbaumholz und mit eingelegten hellen Flächen aus Esche. So sollte den Kunden schon mal die grundsätzliche Wahl zwischen fabrikmässiger und handwerklicher Herstellung illustriert werden. Aber es wurde kein blühendes Zusatzgeschäft. Die Industrie schlug die handwerkliche Fertigung. Mein Vater zog nun die Konsequenz und dachte an einen Quantensprung seiner Firma. Ich war etwa 16 und ein erstes Jahr im Gymnasium, da fragte er mich: «Im Ernst, bleibst du im Gymi oder kommst du in den Betrieb? Dann baue ich jetzt nämlich eine Küchenfabrik.» Aber ich lernte so gerne, dass ich erschrocken ablehnte, und die Küchenfabrik entstand nicht bei uns. Der handwerkliche Betrieb mit fünf bis acht Arbeitern wurde weitergeführt. Er rentierte sehr gut, weil alles eingespielt war und die Einzelanfertigungen und Umbauten gute Margen boten. Der Nachfolger, ein ehemaliger Lehrling meines Vaters, führte diesen noch 35 Jahre weiter, dann wurde die Firma nach 107 Jahren aufgelöst. In den 1960er- und 1970-Jahren geschah dies jährlich in Tausenden von Fällen. Die Zeitungen meldeten regelmässig, dass im Vorjahr wiederum 1000 Detailläden eingegangen waren. Desgleichen lösten der technische Wandel und die industrielle Fertigung klassische Gewerbe wie Sattlereien, Wagnereien und Schuhmacherei auf. Hingegen behielten die baunahen Gewerbe ihren Platz, da in der Schweiz jeder Bau eine Einzelanfertigung geblieben ist. Ausserdem kamen neue Kleinfirmen auf: Werber, Versicherungsagenturen, Planer, Informatiker, Reiniger, also ein neuer Mittelstand. Oder eher der immer gleiche, tatkräftige Mittelstand, der 99 Prozent aller Firmen und zwei Drittel aller Arbeitsplätze aus-

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Kapitel 2

macht. Auch die Statistiken zeigen, dass diese Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen in der Schweiz nicht ab-, sondern sogar leicht zunehmen. Nur in den Medien findet regelmässig der Untergang des Mittelstandes statt, weil sie den Alarm aus Frankreich und Deutschland abschreiben. Dort allerdings würgten die immer engeren Kontrollgesetze und höheren Steuern den Mittelstand tatsächlich und gründlich ab.

Flexibler, offener Arbeitsmarkt – die Arbeiter setzen den Takt Die Löhne der Arbeiter stiegen in den 1950er- und v. a. 1960er-Jahren rasch an. Mit ihrem Einverständnis hielt der Vater die Stundenlöhne für die reichlichen Überstunden zurück und zahlte sie vor den Sommerferien und vor Weihnachten zusammen mit dem Lohn aus. Damit erleichterte er ihnen das Sparen. Als der vierzehntägliche Lohn zusammen mit der Überzeit erstmals mehr als 1000 Franken ausmachte, holte mein Vater die grossen Noten auf der Bank und legte sie in die Zahltagssäckchen. Alle freuten sich, Inhaber und Arbeiter. Gewerkschaften waren kaum vertreten. Lohnerhöhungen gab man damals schon nur, um die Arbeiter zu behalten. Dank der Vollbeschäftigung konnten sie die Stellen auswählen, und wenn ein Arbeiter kündigte, kam das einer Katastrophe gleich, denn man fand nicht schnell Ersatz. Da sie wussten, dass der Betrieb fast immer auf ein volles Jahr hinaus ausgelastet war, traten sie manchmal nach einem grossen und eiligen Auftrag bei Feierabend unter Führung des Ältesten vor meinen Vater und sagten: «Wir hätten da noch etwas.» Sie wollten mehr Lohn. Der Vater gab, soviel ich weiss, immer sofort nach, er hatte keine Wahl. Oben in der Wohnung zürnte er dann ein bisschen. Aber da die Preise auch immer schneller anstiegen, Anfang der 1970er-Jahre schon um 7 bis 10 Prozent im Jahr, war der Schmerz nur kurz. Ausserdem zitierte mein Vater aus der katholischen Soziallehre oft den Satz, ein ganz grosses Unrecht sei «das Vorenthalten des gerechten Arbeitslohnes». Schon früh in den 1950er-Jahren klopften auch in Herisau die ersten italienischen Arbeiter an. Mein Vater stellte Luigi Comarella aus Valdobbiadene ein, einen sehr grossen Norditaliener mit langen schwarzen Haaren,

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die er beim Arbeiten mit einer Spange zusammenfasste, eher ungewöhnlich in den konformistischen 1950er-Jahren. Er war ein «operaio» wie aus einem Fellinifilm, wirkte auch im Überkleid elegant, ja nobel. Ausserdem fuhr er ein knallrotes Moto-Guzzi-Motorrad mit der damals weit ausladenden Lenkstange. Die Kundinnen waren begeistert, mein Vater auch, denn Comarella erwies sich als Sohn eines Schreinermeisters und musste nicht angelernt werden. Später kam auch sein gleich grosser Bruder Afro nach und arbeitete im Betrieb. Ein weiterer Italiener, aus Sizilien, gab nur ein kurzes Gastspiel, weil mein Vater ihn beim Rauchen in der späneübersäten Werkstätte ertappte. Er zahlte ihm den Lohn bis auf die angebrochene Viertelstunde aus und schickte ihn weg. Keine Rekurse, kein Arbeitsgericht, auch keine Anklage wegen mutwilliger Gefährdung von fünf Familien im Holzhaus. Klare Verhältnisse innerhalb von drei Sekunden. Die Brüder Comarella kehrten nach etwa acht Jahren nach Italien zurück. Wir besuchten sie später und freuten uns, wie sie natürlich auch, als sie eine modernisierte grosse Schreinerei vorzeigten. Wenn Arbeiter, etwa Hamburger Zimmerleute in ihrer Kluft, anklopften, die man im Moment nicht einstellen konnte, war es Sitte, einen Fünfliber zu geben und sie in den nahen Adler zu einem Mittagessen zu schicken. Wiederholten sie dies bei den vier, fünf Schreinereien des Ortes, dann hatten sie ein Taggeld beisammen, und das ohne Arbeitslosenversicherung. Mindestens neun der Arbeiter, die im Laufe der Zeit eingestellt waren, machten sich nachher selbstständig: in der Schweiz, in Italien, in Kanada und Tansania. Das ist ein recht grosser Anteil, und sie selbst wie auch die anderen, die sich weiterhin irgendwo beschäftigen liessen, erlebten so die soziale Mobilität am eigenen Leibe. In einer Volkswirtschaft, die von ­kleinen Firmen, heute auch von den neuen blühenden Dienstefirmen do­ miniert wird, verfängt daher das Klassendenken nicht, also die von damaligen – und manchmal von heutigen – Linken eingepaukte Lehre von zwei unversöhnlich gegenüberstehenden Klassen, in denen man schicksalshaft steckt.

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Sekretariate und die «objektiven» Interessen der Arbeiter

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Die Einwanderer sind integriert – dort, wo es zählt Die grosse Einwanderung der letzten 50 Jahre in die Schweiz fordert auch die Arbeitgeberverbände heraus. Deren Versammlungen spiegeln heute nicht immer die Wirklichkeit im Lande draussen; es sind wenige ausländische Geschäftsinhaber darunter. Bei einzelnen Gewerkschaften sind Ausländer etwas zahlreicher. Doch mit der zweiten und dritten Generation bietet allein das Strassenbild oder das gelbe Berufsregister einer Region ein buntes Bild gelungener Integration – nämlich viele Geschäfte solcher ehemaliger Einwanderer. Wenn sie in die Verbände einträten, sähen sie, wie die Schweiz zwischen Individuum und Staat funktioniert, wie diese Zwischen­ ebenen wirken, und sie würden den direkten Zugang zu Politikern erkennen. Im Arbeitsmarkt selbst sind die Ausländer auch der ersten Generation schon integriert – viel besser als im übrigen Europa, denn die Erwerbsquote der 15- bis 64-jährigen Einwanderer ist praktisch gleich hoch wie jene der Schweizer. Sie leben nicht, wie in Frankreich, Deutschland oder England, in Wohngettos des vermeintlich sozialen Wohnungsbaus. Sie sind alle kranken- und altersversichert und pensionsberechtigt. Das ist die Integration, die zählt. Sie macht unabhängig durch Einkommen, sie motiviert, bildet «on-the-job» aus, gibt Status und stiftet Interesse an Stabilität. Ausserdem zog die Schweiz seit 2000, im Verhältnis gesehen, doppelt so viele Immigranten an wie die USA , und sie bürgerte auch doppelt so viele Ausländer ein. Grundbuch, Obligationenrecht (OR) und Zivilgesetzbuch (ZGB) – wo Juristen Gesellschaft stiften Ich verkaufte meine Junggesellenwohnung an einen Mazedonier albanischer Abstammung, der in der Schweiz mit seiner Frau zusammen etwa drei Stellen hatte und in Mazedonien mit seinem Vater sogar einige Betriebe besitzt, hier aber das Betriebskapital dazu verdient und anspart. Als er sah, dass einige Tage, nachdem wir einig wurden, schon der Termin beim Notar kam, dass nach der Un­ terschrift beim Notar schon das Grundbuch anvisiert war und er wirklicher Besitzer wurde, war er begeistert. Gewiss würde er diese

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Kapitel 4

schweizerischen Institutionen mit dem Gewehr in der Hand verteidigen – Grundbuch, OR, ZGB. Er ist integriert, weil er gemäss unseren Gesetzen auch gewinnen kann. Hernando de Soto zeigt in seinem Buch Mystery of Capital, dass etwa in Ägypten der Eintrag eines Bauerngrundstücks bis zu 15 Jahren dauern kann. So lange bekommt der Bauer auch keine Kredite und wagt sich nicht zu Investitionen vor.

Daher ärgere ich mich immer, wenn gutmeinende, aber von solchen Tatsachen unbeleckte Kabarettisten unweigerlich eine Nummer abziehen, wo die tumben Schweizer als integrationsfeindlich vorkommen. Wie kann man sich so täuschen, wie falsch kann das Selbstbild einer Nation werden, wenn die Glitterati ihr andauernd ein kriecherisches Schuldbewusstsein einimpfen! Integration findet durch die Arbeitschancen statt – und wenn die Immi­ granten merken, dass sie durch die für alle gleichen, republikanischen Gesetze auch mal gewinnen können. Deswegen muss man ihre Knoblauchküche noch lange nicht lieben (ich tu’s aber), und sie müssen nicht Dialekt sprechen. Auch die SPS, Kirchen und Ethiker können sich nicht genug im Heruntermachen ereifern. Die SPS -Vertreter von heute wären sehr beschämt und still, würden sie die lautstarken Breitseiten der Partei und der Gewerkschaften von 1957 gegen die Ausländereinwanderung kennen. Das war damals aber auch durchaus erklärlich, denn die Einwanderung unqualifizierter Arbeiter war eine direkte Arbeitsmarktkonkurrenz ihrer einfachen Mitglieder. Als in den 1970er-Jahren durch die Firma Hatt-Haller aus Zürich das neue Spital in Herisau gebaut wurde, brachte sie Italiener mit, die auf der Baustelle sogar rannten, um die Arbeit zu machen. Auch in Gewerkschaftsversammlungen hörte ich Arbeiter klagen, diese jungen, aufstiegs- und einkommensorientierten Einwanderer machten jede Menge Überstunden, was einem langsam in die Jahre kommenden, verheirateten Arbeiter nicht mehr das alleinige Lebensziel war. Doch schon in den 1980erJahren setzte das Impfen des Schuldbewusstseins ein, in den Gewerkschaften durch immer mehr akademische Sekretäre, die noch nie auf dem Bau oder in einer Fabrik gearbeitet hatten und die auch nicht als Sohn eines

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Sekretariate und die «objektiven» Interessen der Arbeiter

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Selbstständigen wie ich zusammen mit Lehrlingen und Arbeitern Staub schlucken mussten. Es steigerte sich sogar zu Ausdrücken wie «die Ausländer sind eine Chance», wonach ich ganze Säle treuer Mitglieder sah, die alle eine steile Falte auf der Stirne hatten. Diskutiert wurde nicht mehr, weil die Leute ihre Vorbehalte nicht wortgewaltig vorbringen konnten und weil es ja offenbar politisch nicht richtig war. Dann aber fehlten die Leute einfach in den Versammlungen. 1977, als ich anfing, dort nach dem statutarischen Teil über Wirtschaftslage und anderes zu referieren, waren die Säle voll, 1992 kamen manchmal noch zwölf Leute, und ich bin unbescheiden genug zu denken, dass das nicht an meiner rhetorischen Leistung lag.

Wie objektiv richtig denkende Linke die Arbeiter vertrieben Desgleichen entfremdeten die Funktionäre die ehemals brave und manchmal kämpferische sozialdemokratische und gewerkschaftliche Basis, weil sie in vulgärem Keynesianismus immer die Staatsdefizite und Staatsschulden verteidigten: Das sei «ein starker und solidarischer Staat». Dabei will das Volk nur eines: den vorsichtigen und sparsamen Staat. Ebenso haben die Funktionäre mit der weichen Linie in den Schulen den Mitgliedern eine Umwertung aller Werte nach Nietzsche vorgetragen: keine Noten, keine Leistung, viele aufpäppelnde Sonderbetreuungen, niemand ist Täter, alle sind Opfer. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass diese Verachtung der Leistung ausgerechnet den Kindern unterer Schichten schadet, denn gerade sie müssen Leistung zeigen, um hochzukommen. Oder sie gewöhnen sich an die aufpäppelnden Sonderbetreuungen und daran, dass sie ja gar nichts für nichts können, ein Leben lang. Und kommen nie hoch. Auch hier bekamen übergeordnete, holistische Gesellschaftsziele und Visionen bei linken Funktionären den Vorrang vor dem, was die einfachen Mitglieder – und Wähler – eigentlich wollten: Arbeit und Brot, tiefe Steuern, gute Schulen. Es ging nicht lange, da hat die Schweizerische Volkspartei (SVP) diese drei brachliegenden, freventlich aufgewühlten Felder neu bestellt und ist mit der Forderung nach Härte bei Einwanderung, Staatsfinanzen und Schule gut angekommen. Sie vertritt die Wünsche des Volkes.

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Die Linken denken allerdings schon seit dem «besseren Morgen», den Marx, Lenin und die Schreibtischphilosophen der Frankfurter Schule erfanden, dass das Volk eben ein irregeleitetes Bewusstsein und damit nicht Recht hat. Unpopulär bleiben auch immer jene Propagandakampagnen, welche den Leuten einzureden versuchten, es gehe ihnen hundsschlecht. Das hört niemand gerne, niemand möchte dazu gehören, und ausserdem stimmte es immer weniger, nach der Verdreifachung der Reallöhne und dem Totalausbau der Sozialpolitik seit 1945. Geschwächt wurde die Gewerkschaft als Bewegung auch durch unbeabsichtigte Modernisierungseffekte. Früher ging der Einzüger alle Monate bei allen Mitgliedern seiner lokalen Sektion vorbei und verkaufte die Monatsmarke, die man ins Mitgliederheft einklebte. Im gleichen Zug hatte er Unterschriftenbögen für Initiativen und Referenden dabei, die damit schnell zustande kamen und den zentralen Vertretern ihre Verhandlungsmacht in Berner Kommissionen sicherten. Desgleichen konnte für die zahlreichen «Frontorganisationen» geworben werden, für die Büchergilde, den Schweizerischen Arbeiter-Turn- und Sportverband (SAT US), den Arbeiterschützenbund, die Radfahrerclubs, Arbeiterschachclubs, Ferienheime, Volkshäuser, Krankenkassen, Zeitungen und die Roten Falken. Als der Einzahlungsschein dies ersetzte, fiel der monatliche persönliche Kontakt mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern einfach weg – die Bewegung auch. Natürlich macht man auch den Wandel der Lebens- und Informationsgewohnheiten dafür verantwortlich – neben der Übernahme aller Abfederungen durch den Staat und neben der soeben beschriebenen Umwertung aller Werte. Aber die neuen Bewegungen, für die Umwelt etwa, funktionieren weiterhin ähnlich aktiv und direkt, wenn auch nicht gerade mit Marken. Radfahrer im Raumzeitalter Wie aus einer Raum-Zeit-Kapsel entlehnt, legte man an der Feier des 1. Mai 1986 in Altdorf in Uri bei der SP eine Radfahrereinlage ein. Aus den alten Zeiten bestand als Gegenpol zu den bürgerlichen Automobilclubs an vielen Orten eine solche Radfahrergruppe, beschickt aus linken Haushalten und Turnvereinen. Die Altdorfer Gruppe bestand offenbar nur noch aus einer Frau und ihrer Tochter,

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die auftraten. Die Frau war gut 40, nicht mehr die schlankste, und sie fuhr mit dem Kunstrad die Basisrunden, während ihre etwa 13-jährige Tochter unwillig und verlegen darauf herumturnen musste, vorwärts, rückwärts, stehend, im Handstand. Beide trugen ein fleischfarbenes, verwaschenes Tricot. Nichts daneben als die nackte Bühne. Es war das Elend überlebter, ausgedünnter Formen der Arbeiterunterhaltung. Diese Frau war unendlich tapfer, angetan mit nichts als dem Bekennermut der alten Arbeiterbewegung und dem schäbigen Tricot.

Eine Schwächung besonderer Art betraf aufmüpfige Betriebskommissionsmitglieder. Ich habe mehrfach gehört, dass diese nicht etwa entlassen oder wie damals im Ostblock nach Sibirien verbannt wurden, sondern sie wurden mit deutlich höherem Lohn befördert und als Vorarbeiter oder Betriebsleiter in andere Abteilungen versetzt. Dabei wurde ihnen das besondere Treueverhältnis einer Kaderperson gegenüber der Firma eindringlich erklärt. Die individuelle Motivation dieser Belegschaftsvertreter kann ich nicht verurteilen, aber die Wirkung auf die zurückgebliebenen Mitglieder in der Firma war verheerender als Sibirien. Alles schien hoffnungslos käuflich. Der andere Ausweg für aufmüpfige, in den Firmen gemobbte Arbeiter war die Wahl in eine Gewerkschaftsfunktion. Ich kannte Streikführer, die nachher als Sekretäre und Präsidenten grosses Vertrauen in der Mitgliedschaft genossen. Sie konnten dann sogar glaubwürdig gegen Schönredner von links auftreten, weil sie wussten, was ein verlorener Arbeitskampf an Reputation und Geld kostet.

Jeder hat Kapital, jeder ist Unternehmer Mein persönliches gesellschaftliches Reformprojekt neben den liberalisierenden Reformen bei Firmen, Kartellen und Weltmarkt war und ist die Beteiligung der Arbeitenden an den Firmen. Mit sanften oder ausdrücklichen Vorstössen dazu lief ich 15 Jahre lang in den Gewerkschaften, bei Linken wie bei Bürgerlichen ins Leere. Mit gut 20 Jahren war ich sechs Monate in London, um – nach Griechisch und Latein im katholischen Kollegium – end-

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lich Englisch zu lernen. Ich lernte die Ideale der «fabian society» kennen und sah die seit den 1930er-Jahren prosperierende Warenhausgruppe John Lewis, die den Mitarbeitern gehört. Ich kannte wie alle Schweizer die allen Kunden – und daher auch sozusagen niemandem – gehörenden Grossfirmen Migros, Coop, die Mobiliarversicherung und die Wohngenossenschaften. Solange sich solche kooperativen Eigentumsformen im Markt bewähren müssen, bleiben sie wendig und innovativ. Aus der Sicht des kapitalistischen Systems ist nicht die Eigentumsform, sondern das Markt- und Wettbewerbsprinzip wichtiger. Ich hatte 1970 in Belgrad einen Kurs über das jugoslawische Modell der Selbstverwaltung besucht, der in rosarotem Zuckerguss die Vorteile zeigte. Im Idealfall waren es gemeindeeigene Betriebe, deren einzelne Bereiche als Profitzentren zugunsten der Mitarbeiter geführt wurden. Ich wusste um die «familistères» der französischen Frühsozialisten. In Frankreich hatte Präsident de Gaulle «la participation», eine staatlich geförderte Sparkasse in den Firmen, eingeführt. Deutschland hatte das 624-DM-Gesetz zur Vermögensbildung. In den USA gab es das weitverbreitete Employee Stock Ownership Program (ESOP). Die Schweden hatten ein Gesetz, wonach die Firmen 20 Prozent der Gewinne in Fonds einlegen mussten, welche mit diesem Bargeld dann Aktien zuhanden der Gewerkschaftsmitglieder kauften – eine zentralistische, komplizierte und weit von den Individuen entfernte Lösung, denn ich finde, dass eine moderne Adaptation über die Gewinn- bzw. Aktienbeteiligung der Einzelnen gehen müsste. In Deutschland hatte der Experte Carl Föhl 1964 ein Gutachten für die Regierung geschrieben, das in einer Analyse von Kreisläufen der Volkswirtschaft zeigte, wie die privaten Haushalte als Gruppe ihr Vermögen nur in jenem Ausmass steigern, wie sie aus dem laufenden Einkommen sparen und investieren. Das tun die Reichen mehr, die Armen weniger, und über eine ganze Buchseite druckte Föhl den Satz: «Wer hat, dem wird gegeben.» Ebenfalls zeigte er, dass eine hohe progressive Besteuerung der Einkommen schliesslich über die Staatsausgaben wieder den Firmen und ihren Besitzern zugutekommt. Doch zu meinem Entsetzen hatte 1972 die grosse IG Metall ihr Nein zur Vermögenspolitik entschieden und voll auf Lohn- und Konsumsteigerung der Lohnabhängigen sowie auf Umverteilung über den Staat geschal-

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tet. Das Ergebnis sieht man 40 Jahre später: ein hochverschuldeter Staat, aus dem Ruder laufende Sozialausgaben und vermögenslose Massen. Winfried Schmähl, einer der gewerkschaftlichen Ideologen, schrieb in dem rororo-Bändchen Das Nein zur Vermögenspolitik: «Der Besitznutzen aus Wertpapieren dürfte heute bei der grossteils in städtischen Gebieten (weitgehend anonym) lebenden Bevölkerung von geringer Bedeutung sein.» Das wusste er einfach so, und für diesen überheblichen Bonzen leben die kleinen Leute anonym, vielleicht mit schwarzen, venezianischen Augenmasken. Dabei haben sie intensive persönliche Gefühle, Status, Freunde, Familie, Arbeit, Vereine; sie sind wer, in jedem einzelnen dieser Lebensläufe. Doch die deutschen Gewerkschafter wollten diese Massengesellschaft, den Einzelnen als Rädchen der Gesellschaft, ohne Verantwortung, ohne Risiko und ohne Sichtbarkeit. Auch in der Schweiz gehen nach der Finanzkrise 2008 – ohne innern Zusammenhang damit – die Kritiken vieler Linker gegen die Vermögenskonzentration wieder los. Aber ihre eigene Abwehr von Vermögensbeteiligungsmodellen hat jahrzehntelang nun eine Korrektur verhindert. Denn das Vermögen in einer Gesellschaft kann nicht durch staatliche Abschöpfungen oder Erbschaftssteuern neu verteilt werden, weil damit nur Staatskonsum betrieben wird. Es kann nur durch die Streuung von Realkapital, also von Aktien und Immobilien geschehen, und dies direkt zwischen Privaten.

Kapital für Arbeitende oder Mitbestimmung für Funktionäre Anstatt staatlicher Abschöpfungen suchte ich den anderen Weg: Die Vermögensstreuung in unserem System, das auf Märkten und privatem Kapitalbesitz aufbaut. Kurz nach meinem Amtsantritt konnte ich 1978 im Magazin des Tages-Anzeigers eine vielseitige Erörterung dazu schreiben. Als Weg dazu sollten künftige reale Lohnerhöhungen mindestens teilweise als Gewinn- oder sogar als Kapitalbeteiligung ausgerichtet werden. Als Zusatzeffekt hätten die Verhandlungen darüber auch mehr Klarheit über die Lage und Gewinne der Firmen gebracht, gerade bei der Überzahl an nichtkotierten Firmen. Doch herrschte in linken wie bürgerlichen Kreisen des Landes

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immer höfliches Zuhören, und in Sitzungen sagte der ratlose Präsident nach solchen Vorschlägen zu den Teilnehmern: «Sie müssen noch den Menuplan ankreuzen.» Der Präsident des Gewerkschaftsbundes nahm mich einmal beim Essen beiseite und fragte: «Was sollen wir denn machen, wenn das hinhaut?» Ich antwortete: «Auflösen.» Mandat erfüllt. Denn in meinem Büro im SGB hing seit meinem Amtsantritt die Kopie der Zeitungsseite von 1880, welche die acht Ziele des soeben gegründeten Gewerkschaftsbundes zitierte. Alle ersten sieben Programmpunkte waren erfüllt, es fehlte nur noch die «endliche Abschaffung des Lohnsystems». Aber sogar nach diesem Triumph wären den Gewerkschaften noch viele Aufgaben verblieben: Der Schutz des Arbeitsplatzes und des Lohns der Arbeitenden, dann aber die Mitverhandlung der Gewinn- und Kapitalbeteiligungen, allenfalls sogar Einrichtungen der Freizügigkeit der Kapitalanteile, wenn die Leute ihre Stelle wechselten, oder Fonds, in welche die Mitarbeiter ihre Firmenanteile einbringen könnten, um zu vermeiden, dass alle Eier im gleichen Korb waren – der Arbeitsplatz und das Ersparte. Auch wäre der Gegensatz «principal and agent», also zwischen Eigentümern und Geschäftsführung, unter anderem Vorzeichen auch aufgetreten. Bei grossem Gewicht der Belegschaft im Kapital hätte sie in Krisen die Arbeitsplätze privilegiert und lieber Kapital vernichtet. Das wäre eine grundsätzliche Schwäche des Systems, aber mit aussenstehender Beratung zu mildern. Die Gewerkschaften hätten also genug zu tun damit. Aber die Funktionäre stehen lieber an Demonstrationen und teilen Schuldzuweisungen aus.

Moral oder Markt als Legitimation der Gewerkschaften? Das Moralisieren versuchte ich manchmal auch mit ökonomischen Argumenten für die Notwendigkeit von Gewerkschaften zu zerstreuen, denn Märkte sind perfekte Machtzerteilungsmittel, ausser bei einigen klaren Marktversagen, so auf dem Arbeitsmarkt im 19. Jahrhundert. Wenn nämlich zu viele ihre Arbeitskraft anbieten, sinkt der Preis (Lohn), und sie müssen länger arbeiten; die Frauen und Kinder müssen arbeiten, die Löhne sinken dadurch wieder, das marxsche Elend ist da. Die Arbeiter werden nur noch so weit entlöhnt, dass sie sich kalorienmässig durchbringen und werfen den

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ganzen Ertrag darüber dem Patron in den Rachen … Ein Unternehmer hingegen hört bei ungenügenden Preisen einfach auf zu produzieren, freiwillig oder durch Konkurs. Deshalb müssen die Arbeitskräfte ihr Arbeitsangebot bündeln, verhandeln und notfalls auch zurückziehen können – mit Streiks. Oder aber der Staat setzt Maximalarbeitszeiten durch. Somit haben Gewerkschaften eine saubere ökonomische Rolle. Aber praktisch alle Funktionäre wollten das nicht hören, sondern sie wollten moralischer sein als die Arbeitgeber und damit eine historische Mission erfüllen. Auf unglaubwürdige Weise moralisieren auch deutsche Spitzengewerkschafter, die gemäss Mitbestimmungsgesetz gleichzeitig oft stellvertretende Aufsichtsratvorsitzende der Firmen sind. Aber bei Schliessungen oder Lohnforderungen lärmen sie auf der Strasse vor den Sitzungszimmern der Firmen, wo sie das Jahr hindurch tagen. Dazu tragen sie Arbeitshelme und Windjacken, nigelnagelneu und ungebraucht, direkt aus dem Requisitenlager für Demonstrationen der Gewerkschaft (gibt es in Deutschland tatsächlich!). Auch einer der Hauptwidersacher gegen die Beteiligung der Arbeiter in der Schweiz, ein promovierter Akademiker im Vorstand des SGB, trug immer grobkarierte Barchenthemden, wie er sich Arbeiter offenbar vorstellte. Natürlich hätten kapital- oder gewinnmässig beteiligte Arbeiter die Sachzwänge aus Firmensicht zu ihrer eigenen Sicht gemacht, wie linke Gewerkschafter argumentierten. Aber dass dies auf jeden Fall schon so war, hätten sie wissen können, wenn sie ihre Mitglieder gekannt und ernst genommen hätten. Ich hatte erlebt, wie in Versammlungen Arbeiter auf die Funktionäre einredeten, sie sollten in den anstehenden Verhandlungen nicht zu scharf schiessen, die Firma müsse überleben können. Aber die hatten eben leider das falsche Bewusstsein. Falsch verstandenes Interesse schien mir eher auf Firmenseite gegen die Mitbeteiligung angeführt zu werden. 99 Prozent der Schweizer Firmen sind nicht börsenkotiert, und eine Gewinn- und Kapitalbeteiligung der Mitarbeiter wurde von den bestehenden Aktionären als Zudringlichkeit aufgefasst. Daher fehlte auch jede Resonanz auf bürgerlicher Seite. Doch mit Fondslösungen, um die erworbenen Aktien überbetrieblich zu parkieren, mit Rückgaberechten usw. wären diese Fragen technisch lösbar gewesen, und das Mitdenken der Mitarbeiter und ihr Eigentümerinteresse hätte

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Klein- und Mittelfirmen dynamisiert und flexibilisiert. Ich illustrierte dies zuhanden kleinerer, nichtkotierter Firmen mit der schönen Rechnung: Ohne Gewinn- und Kapitalbeteiligung besitzen die Inhaber 100 Prozent von 10 Millionen Franken Aktienwert, mit Beteiligung der Mitarbeiter aber 70 Prozent von 20 Millionen. Hier sollte man rechnen! Zu solch verbreiteten Beteiligungen gehören ein Aktien- und Buchführungsrecht mit Transparenz sowie eine liquide Börse für Mittel- und Kleinunternehmen. Die Forderungen der aufgeklärten Linken der 1970er- und 1980er-Jahre dazu waren eben kohärent.

Sulzer kaufen? Bei einigen konkreten Gelegenheiten machte ich die zuständigen Branchengewerkschafter auf die Situation aufmerksam: Etwa als Ende der 1970er-Jahre Christian Gasser seine Anteile an Mikron in Biel an die Börse brachte, oder als die Aktien der Georg Fischer AG wieder einmal in einem ihrer konjunkturellen Jammertäler steckten. Da hätte man die Stimmenmehrheit dieser Firmen für ein paar Hundert Franken pro Arbeiter kaufen können. Desgleichen hätte man das Sulzerpaket, das in den 1980er-Jahren zwischen Tito Tettamanti und Werner K. Rey schwebte, mit einer vertretbaren Summe aus der eigenen Pensionskasse erwerben können. Man weiss in der Öffentlichkeit nicht, wie wenig Kapital manchmal vermeintliche Grossaktionäre besitzen. Georg Sulzer, der bis 1982 Präsident seiner Firma war, soll bestenfalls noch 1 Prozent daran innegehabt haben. Beim Zusammenbruch der DDR 1989 hingegen musste ich meine Hoffnungen begraben, man könne das staatliche Firmeneigentum nun als Aktienvermögen den Belegschaften und den Einzelnen übertragen. Als ich im Frühjahr 1990 in Dresden eine Bekannte besuchte, lachte sie laut über diese Idee: «Das sind doch nur noch Ruinen, die will niemand.» Sie bat mich in ihren Trabant, fuhr in die ganz in der Nähe liegende Industriestadt Pirna, und da sah ich, wie aus Fabrikgebäuden des 19. Jahrhunderts aus jeder Ritze dicke gelbe Schwaden quollen. Es blieb wirklich nur der Abriss. Die Bekannte war übrigens als Psychologin in solchen Werken angestellt gewesen und musste die Arbeiter regelmässig testen, ob sie irgendwelche

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Berufskrankheiten hatten. Dann wurden sie versetzt. Im Arbeiterparadies diente eine Psychologin an der Stelle von Filtern der Rauchschwaden. Sie gestand es etwas beschämt ein. Das System erniedrigte eben alle, und solche inhumanen Machtsysteme überleben, weil sie alle schuldig machen, niemand der Privilegierten kann zurück. Hingegen kam meine Bekannte mit dem westlichen Marktsystem noch nicht zurecht. Als in jenen Wochen die ersten Altwagen aus dem Westen den begierigen Ostkonsumenten angedient wurden, nannte sie dies Spekulation. Ich entgegnete: «Aber nein doch. Nun hat der Ossi den Wagen, den er sich immer wünschte, und der Wessi das Geld. Beide sind glücklich. Das ist der Markt.» Wie sich die Köpfe eines ganzen Landes neu einrichten mussten, sah man an den Schaufenstern der Buchhandlungen. Die Bücher linker Grössen, von Karl Marx bis Käthe Kollwitz, waren durch Einführungen ins Zivilrecht, ins Baurecht, ins Handelsrecht, ins Staats- und Verwaltungsrecht ersetzt worden. Das war hohe europäische Zivilisation – Millionen von Bürgern übten sich in die Spielregeln einer anderen, produktiveren und menschlicheren Gesellschaft ein. Keine Gewalt.

. . . oder alles selbst verwalten? Eine obligatorische Gemeinwirtschaft mit ausschliesslich selbstverwalteten Firmen wollten die vier Dichter in der Schweiz einrichten, welche von SPS -Präsident Helmut Hubacher mit der Arbeit an einem neuen Parteiprogramm betraut worden waren. Otto F. Walter, Arnold Künzli, Peter Bichsel und Adolf Muschg legten einen Entwurf zu einer Volkswirtschaft aus lauter Genossenschaften vor. Der Entwurf schwebte in den Wolken, liess die Selbstbezogenheit der Menschen ausser Acht und hätte in den Wahlen ein Desaster bedeutet. Deshalb beteiligte ich mich an einem strikten Gegenentwurf und ergriff mehrmals am SPS -Kongress 1982 das Wort. Als ich in einem Rededuell mit Otto F. Walter rief, man dürfe nie das Wort «homo homini ­lupus» vergessen, lief er noch röter an, als er ohnehin schon war. Immerhin wurden an jenem Kongress die kollektivistischen Träumereien stark ausgedünnt. Am SPS -Kongress 2010 hingegen hatte die Spitze keine Zivilcourage –

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und auch kein Gespür für die nächsten Wahlen – und liess sich von umjubelten Jungsozialisten die Überwindung des Kapitalismus, ein Grundeinkommen für alle, die Abschaffung der Armee u. Ä. ins Programm setzen. Man sah auf den Fotos, wie die Parteileitung den Jusoführer bewundernd beklatschte. Das war aber nur die Wiederauflage der Schönheitskonkurrenz nach links aus dem französischen Nationalkonvent unter Saint-Just. Der wurde dann mit 26 Jahren selber aufs Schafott geführt. Heute ist man weniger radikal, und die Superlinken verschwinden, wie beim SGB damals, auch meist von selbst. Der Jusochef trat ein halbes Jahr später schon mal von der Bühne ab. Kurse für Bilanzenlesen und Firmengründung Ein zweites zentrales Anliegen während meiner Zeit im SGB war es, die Verhältnisse auf der Foto der Betriebskommission aus den 1940er-Jahren umzukehren, nämlich die Mitarbeiterseite mit gleich langen Spiessen der Information und des Wissens aufzubauen. Dazu hatte ich kurz vor dem Eintritt in den SGB, aber in seinem Auftrag, zusammen mit Ruth Dreifuss eine Tonbildschau entwickelt und von Medienfachleuten bebildern lassen, welche in die Volkswirtschaft einführte. Ruth Dreifuss kannte ich schon seit der Genfer Universitätszeit, und ich hatte mich im SGB mit anderen jüngeren Verantwortlichen dafür eingesetzt, dass sie später als Sekretärin gewählt wurde. Meine Frau und ich reisten ihr sogar ins Bündnerland in die Ferien nach, um sie zur Kandidatur zu bewegen. Für die Kurse an der Arbeiterschule, wo ich immer einen oder zwei Tage bestritt, und für spezielle Bilanzlesekurse schrieb ich eine Broschüre zu Fragen der Firmenabschlüsse. An den entsprechenden Kursen machte ich den Teilnehmern, die oft keinerlei Grundwissen hatten, Mut und sagte, sie müssten nicht alles wissen, sondern nur wissen, welches die richtigen Fragen an die Firmenleitung seien. Als Illustration für Bilanztricks verwendete ich Werner K. Reys Firmenpyramiden, lange bevor er als betrügerischer Bankrotteur aufflog. Gegen Ende meiner SGB-Tätigkeit entwickelte ich auch einen Kurs mit dem Thema Wie gründe oder übernehme ich ein Unternehmen? Dies wäre eigentlich das dritte zentrale Anliegen gewesen,

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nämlich die zweitbeste Lage der Mitarbeiter – gute Stellen – in die beste, in selbsttätige Unternehmerschaft umzuwandeln. Die Kurse hatten nicht gerade überwältigenden Erfolg. Immerhin nahmen aber z. B. Eisenbahner teil, von denen einer schon nebenher ein Reisebüro betrieb und einer einen Import für Hühnerfutter. Ein dritter Teilnehmer, aus der Informatikbranche, startete tatsächlich seine Firma und wurde vom SGB mit der ersten Ausstattung und Verkabelung der elektronischen Schreibaggregate beauftragt. Mit diesem Kurs zur unternehmerischen Aktivierung antwortete ich auf das gegen 1990 hin aufkommende Fieber zur Unternehmensgründung, das auch in der Politik Widerhall fand. Mit vielen gewerkschaftlichen Kollegen, die dem richtigen Bewusstsein nachstrebten, war ich allerdings damit im Konflikt.

Gewerkschaften aus der alten Industriewelt Mein Mandat im Vorstand des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) führte mich regelmässig nach Brüssel. Meist wurde in den Sitzungen ein EG -Kommissar eingeladen, z. B. die für die Expansion der Richtlinien in lebensweltlichen (sozialen) Fragen zuständige Griechin. Diese Kommissare wurden wie hoheitliche Würdenträger begrüsst und verdankt. Die Rituale «links ist besser», «mehr ist sozialer» wurden in jedem einzelnen Vorhaben durchgespielt, die Mitglieder überboten sich in solchen Vorstössen. Geblieben ist mir auch die Feindseligkeit der belgischen und französischen sehr linken Gewerkschaften gegen die Aufnahme skandinavischer Verbände der Staats- und Universitätsangestellten, die sich im Namen mit Akademiker­ titeln schmückten. Obwohl dies Verbände mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern und damit eine willkommene Mehrung des Einflusses waren, sagten die im alten Industriepottdenken verhafteten Vorstände, das seien nun wirklich keine echten Gewerkschaften. Auch an einem Kongress der englischen Gewerkschaften in Blackpool Anfang der 1980er-Jahre war ich einmal als Vertreter der Schweiz. Es war ein Riesenhochamt in jenem ärmlichen, heruntergekommenen Seebad. Eindrücklich waren die Vertreter der grossen Mitgliedgewerkschaften, welche bei Abstimmungen eine Tafel hochhielten, mit Zahlen drauf wie 1 350 000.

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Das war ihre Mitgliederzahl, und auch ihr Stimmengewicht. Ebenso eindrücklich gurgelten die Redner in einem proletarischen Englisch, das ich besser als das Oxford-Englisch meiner Sprachkurse verstand, weil sie fast so redeten, wie man die Buchstaben auf Deutsch ausspricht: «up» war nicht «äp», sondern eben «up». Aber die Vorstellungen der Redner waren, wie bei den Belgiern und Franzosen, ebenso der alten Industriegesellschaft verhaftet. Die Regierung Thatcher, die vorher ins Amt gekommen war, fand ein einfaches, sehr demokratisches Mittel, um die Streikwelle dieser Verbände, eher ihrer Verbandsführer, auszubremsen. Damals bestanden neben den grossen Gewerkschaften auch unzählige Kategorienverbände, die mit einem Streik das ganze Land lahmlegen konnten. So streikten einmal ein paar Hundert Rohrhahnenbediener der Raffinerien, und bald schon wurden Treibstoff, Heizöl und Flugbenzin knapp, sodass das Land stillzustehen drohte. Ein neues Gesetz schrieb dann vor, dass Streiks nur dann galten, wenn eine Urabstimmung aller Mitglieder sie beschloss. Damit waren die lautstarken und oft kommunistischen Funktionäre entmachtet, denn ein Streik ist meist das Letzte, was die Arbeiter wollen. Jedenfalls hörten sie damit fast völlig auf. Ökonomisch gesprochen wurden den Verbänden, die den anderen – also den Unternehmenden – in die Speichen greifen können, ebenfalls Transaktionskosten auferlegt. Sonst bestehen zwischen solchen Stakeholderorganisationen der Arbeit, der Umwelt, des Heimatschutzes einerseits und den Firmen andererseits, welche sie ausbremsen möchten, völlig asymmetrische Verhältnisse. Die Unternehmenden riskieren ihr Geld und dabei ihre Eigentumsrechte, die Einsprechenden gewinnen umso mehr Mitglieder und Status und ihre Funktionäre Ansehen, je stärker sie schaden. In Notsituationen sind Streiks oder spektakuläre Aktionen natürlich gerechtfertigt, wozu ich 1968 am englischen Fernsehen, zu Zeiten meiner Sprachaufenthalte, eine wunderschöne Lektion sah. Eine Diskussionssendung vereinigte dort den Anführer der englischen Studentenbewegung, Tariq Ali, und eine der Suffragetten aus der Frauenstimmrechtsbewegung von 1928, eine würdige alte Dame, die auch in der Sendung einen der riesigen Blumenhüte trug, wie man sie heute noch von den Pferderennen in Ascot her kennt. Als der Moderator die Runde fragte, wie man sich denn durchsetzen müsse, stammelte der Studentenführer irgendeinen Soziolo-

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genspruch, die alte Dame aber hielt sich am Stock und schrie: «If you cannot be heard, destroy property.» Doch wenn Verbandsführer solche kollektiven Widerstände auslösen, müssen sie selbst die Transaktionskosten spüren. Sonst hinkt der Gedanke der «countervailing powers» demokratischer Gesellschaften.

Die Linke macht linksum Grundsätzlich standen bei meinem Eintritt 1970 die SPS und die Gewerkschaften auf dem Boden des Godesberger Programms der deutschen SPD von 1959: Den Kapitalismus akzeptieren, aber verbessern. Eine Zeitenwende, eine Programmatikrevolution war vollzogen. Eine zweite Programmwende kam dann Ende der 1980er-Jahre – als die neuen Verbands- und Parteiexponenten in der Schweiz die an sich zu erwartende Linie von Godesberg zu noch liberaleren Auffassungen verliessen und wieder ins Klassenkampfschema der 1920er-Jahre zurückkehrten. Das sieht heute niemand mehr, weil nur wenige es miterlebten. Aber auch hier gilt: Die Parolen der SPS und des SGB sind heute nicht die meinen – sie haben sich geändert, nicht ich. Ich hatte im SGB verschiedentlich Diskussionen mit Vasco Pedrina, damals Adjunkt für Arbeitssicherheit und Bildung, und wenn ich keine radikale Position einnahm, sagte er, ich sei gegen die Umwälzung der Gesellschaft. Das war ich tatsächlich, aber dieses totalitäre Argument vermochte weniger nüchterne Geister und erst recht einfache Mitglieder mit solchem Druck stillzulegen. Pedrina wurde dann Kopräsident der späteren Unia und damit im SGB -Vorstand der Vertreter des grössten Mitgliedsverbandes. Ein Projekt der Selbstverwaltung in den Lüften präsentierten mir Gewerkschafter aus dem Jura. Ein nervöser Mittfünfziger, hager, mit Leder­ jacke, vielleicht eine Uniform alter Trotzkisten, mobilisierte den lokalen Sekretär und noch einen Notablen, und sie kamen nach Bern, um ein ausgefeiltes Selbstverwaltungskonzept für eine Autogarage zu zeigen. Das Gebäude hatten sie schon in Aussicht. Nach längerer Zeit fragte ich dann: «Et les ouvriers, vous les avez?» Nein, noch keine. Ich sagte, sie sollten sich wieder melden, wenn sie welche hätten. Sie kamen nie wieder. Heute immerhin verbreiten sich partnerschaftliche Mitbesitzmodelle

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spontan und überall, ohne Gesetze und Programme, auch in produzierenden Firmen und in Dienstleistungen. Denn der Wert der Firma hängt mehr und mehr an den spezialisierten Fähigkeiten der Mitarbeiter, die sich nicht einfach abwimmeln lassen und die sich v. a. mühelos selbstständig machen können, dabei einen Teil der Kunden mitnehmend. Beratungs- und Kommunikationsfirmen, Putzequipen, Anwaltsbüros, Hedgefonds, Velokuriere, Restaurants sind als Partnerschaften organisiert. Solche Fragen wie die Mitbeteiligung oder auch die Reform im Aktien-, Buchführungs- und Kartellrecht sprach ich intern wie extern etwa in gleicher Intensität an. So etwa in meiner Rede zum 1. Mai in Zürich Anfang der 1980er-Jahre. An sich war diese Einladung in die Metropole ein Zeichen, dass man in der Bewegung angekommen war. Als junger Sekretär genoss man den Vorschuss eines Hoffnungsträgers. Doch meine etwas kühlen Vorschläge entfachten nicht das gewünschte Feuer der Genossen am Platze beim Fraumünster, und der Applaus war dünn. Sie behalfen sich in den Folgejahren mit lateinamerikanischen Revolutionärinnen, die «venceremos» riefen. In meinen letzten SGB -Jahren wurde ich gar nicht mehr zu Reden anlässlich des 1. Mai eingeladen – ein Zeichen für mich, dass sich die Wege trennen würden. Als im Herbst 1988 eine interne Kommission des SGB jeden Vorstoss zu einer Gewinn- oder Kapitalbeteiligung der Mitarbeiter in der Schweiz ablehnte, war meine innere Kündigung erreicht. Eine kleine Anregung ergibt sich aus alldem für soziologische Studien: Normalerweise stürzen sie sich auf die Macht der Firmen und Manager. Es fehlen weitgehend Analysen, wie und warum Funktionäre ganz Europa von der Vermögensbildung abhielten, wie sie die Arbeit rationierten, den Arbeitsmarkt kartellierten und damit den vielen kleinen Leuten Chancen verbauten, wie sie aus Organisationsegoismus Zahlungsströme zentralisierten und darin mitmischten. Hier wurden mehr Geldwerte wegverteilt, verhindert und verschwendet als in Firmenzentralen. Hier wird anwaltschaftliche Macht an sich gerissen und ohne klare Rechenschaft verwaltet. Hier aber ist das Scheitern heute kristallklar zu sehen. Nur die Analysen fehlen.

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Die keynesianische Ankurbelung überdreht sich zur Endlosspirale in Frankreich Nach der leichten Abschwächung der Konjunktur 1991 verlangten die SPSPolitiker und die Branchenpräsidenten des Gewerkschaftsbundes hastig grosse Ankurbelungsprogramme. Sie und die meisten bürgerlichen Politiker hatten nun den Keynes entdeckt und brauchten bzw. missbrauchten ihn für jede Zusatzausgabe in Bund und Kantonen. Immer schuf man Arbeitsplätze damit, immer rollte der Multiplikator, man erwartete, dass jeder Franken vier andere in Bewegung setzen würde. Wie jene Franken wirken würden, die später für Zinsen und Schuldenabbau von den Bürgern und Firmen abgeführt werden mussten, interessierte nicht. Begonnen hatte diese Alltagsvariante des Keynesianismus unter dem Superminister Karl Schiller in der Bundesrepublik der späten 1960er-Jahre, als Willy Brandt Bundeskanzler war. Schiller behauptete, mit konzertierter Aktion und Feinsteuerung die Krisen ausbügeln und stetes Wachstum erzwingen zu können – und weil die erste kleine Nachkriegskrise 1966/67 schnell vorbei ging, gewann er Ansehen; die Feinsteuerung auch. Den weltweit verrücktesten keynesianischen Feldzug bereiteten die jungen Intellektuellen um François Mitterrand in Frankreich vor. Am 5. und 6. Juni 1975 verfolgte ich, wie diese Runde in einem Pariser Kinosaal tagte, ergänzt um internationale Leuchten wie James K. Galbraith, Wassily Leontief und Paul M. Sweezy. Einflussreich war auch Pierre Uri, Planungsfanatiker Frankreichs, Mitarbeiter Jean Monnets, Verfasser der Römischen Verträge. Dabei waren auch europäische Kommissare wie Sicco Mansholt, Jean Frey und Claude Cheysson. Die Diskussionen in diesem Kino boten – noch unkenntlich für alle Beteiligten – eine Art Filmvorschau, denn sechs Jahre später gewann diese verschworene, intellektuell konzertierte Equipe die Wahlen und führte aus, was sie dort angekündigt hatte. Fast alle Referenten wurden Minister (Jacques Delors, Michel Rocard, Jean-Pierre Chevènement, Claude Cheysson), und Jacques Attali wurde zum Einflüsterer Mitterrands. Die Leitideen besagten, dass die Wirtschaft zu verschwenderisch sei, die Konsumenten falsche Produkte nachfragten, die Arbeiter zu lange arbeiteten und sich das vermeintlich beschränkte Arbeitsvolumen streitig machten, dass die Banken Geld horteten, die USA die Welt unterjochten und dass

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der Staat mit nationalisierten Schlüsselfirmen, mit zentraler Planung und unter erleuchteter Nachfragestimulierung das Beste machen werde. Das Resultat unter Mitterrand waren vier Abwertungen, eine wachsende Diskrepanz der Einkommen zu Deutschland und den USA , höhere Steuern und Staatsschulden, eine verdoppelte Arbeitslosigkeit sowie die höchste Einkommensungleichheit in Westeuropa. Wegen der 35-Stunden-Woche rationalisierten die Firmen alle Unqualifizierten weg, und der Anteil der Löhne am Inlandprodukt fiel um 11 Prozentpunkte. Ausserdem schottete sich Frankreich immer stärker von den Ideen der restlichen Welt ab. Zum krönenden Abschluss der Konferenz erschien Mitterrand, damals ein abgehalfterter, älterer Politiker aus der Vierten Republik, ein bleicher, überraschend untersetzter Mann in einem erdbraunen Anzug. Später modelten Stylisten sein Äusseres mit dunkelblauen Anzügen, elegant geschlungen Schals und abpolierten Eckzähnen um. Jacques Attali protokollierte später die 14 langen Mitterrandjahre auf verdienstvolle Weise in seinem Buch Verbatim. Wer sonst tut heute so was noch!

Die Spirale zurückgedreht – Angebotspolitik in England und den USA Der alternative Film zu dieser französischen Vorstellung lief gleichzeitig in den USA ab, die ebenfalls unter einem eher linken Präsidenten Carter zunehmend verschuldet, wachstumsgelähmt und inflationiert waren. Paul Volcker wurde 1979 Notenbankpräsident und führte eine strenge Hungerkur durch. Die Zinsen für die Banken hob er auf 21,5 Prozent an, die Kunden mussten natürlich noch mehr zahlen. Die Börse sackte auf den Stand von 1964 ab, Panik herrschte, Banken fallierten, und die Farmer des Mitt­ leren Westens belagerten tagelang die Notenbank in Washington. Gleichzeitig förderte die Administration Reagan ab 1981 nicht die amorphe Nachfrage der Konsumenten, sondern die aktive Leistung der Unternehmer. Man senkte die Steuern, man liberalisierte, auch wenn es wehtat. So wurde die allmächtige AT&T in regionale Telefongesellschaften zerschlagen und die Mobiltelefonie befreit – man trat die Informationsgesellschaft los. Paul Volcker wich und wankte nicht, drei harte Jahre lang. Im August 1982 lo-

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ckerte er erstmals das Zins- und Geldkorsett. Doch dann wuchs die US Wirtschaft lange Jahre mit 4 Prozent, die Börse verdoppelte sich in drei Jahren, die «imperial presidency» Präsident Reagans fand ihre Mittel und trat zum Showdown gegen die Sowjetunion an. In diesen 1980er-Jahren liefen Frankreich und Amerika als Laboratorien im Massstab 1 zu 1 nebeneinander – Amerika gewann. Die Welt sollte den damaligen Jungtürken, dieser französischen Generation danken, dass sie die Ideen aus den Laboratorien der Elitehochschulen und die groben makroökonomischen Maschinenhebel des John M. Keynes im Landesmassstab umsetzten und damit bewiesen, dass es nicht funk­ tionierte. Ich war fünf bis zehn Jahre jünger als diese Equipe, und noch bevor ich 40 war, konnte ich diesen Schluss ziehen. Die europäischen Sozialisten sehen es auch heute nicht und haben auch keine neuen Ideen. Aus der Zeit heraus waren planerische Vorstellungen damals nachvollziehbarer als heute. Ich selbst leitete als sehr junger Jungtürke eine Arbeitsgruppe der SPS im Auftrag des Kongresses 1972, um Investitionsplanungen durch den Staat zu erkunden. Die Präsidenten der SPS, des SGB, dessen Wirtschaftssekretär und mein Vorgänger Waldemar Jucker waren Mitglieder. Es kam kein Ergebnis zustande. Aber damals war, wie in Frankreich, der Binnensektor der Wirtschaft viel dominierender. Fast alle Branchen waren durch Kartelle zentral gelenkt und geplant, die Währungskurse fest, die Landwirtschaft, die Schrottverwertung, Strom, Post, Telefon, Bahn auf Autarkie ausgerichtet, und damit geplant. Eine andere, alte Welt. Die Angelsachsen aber reformierten sie als erste, die verschworene Equipe um Margaret Thatcher, die Republikaner der USA , dann aber auch die Demokraten unter Bill Clinton und New Labour unter Tony Blair. Angelsächsische Linke können neue Fakten aus Technik und Wirtschaft eben lesen, kontinentale nicht. Denn die meisten Liberalisierungen folgten nicht neoliberalem Übermut, sondern dem Lauf der Technik. Netze konnten dank der Informatik di­gital und kompetitiv betrieben werden. Deshalb führte der Kontinent dann alle Reformen auch durch, nur 20 Jahre später und unter entsetzlichen ideologischen Grabenkämpfen. Es war in Europa und in der Schweiz bis weit ins Bürgertum hinein unmöglich, sich für Thatcher oder Reagan auszusprechen und weiterhin als anständiger, denkender Mensch zu gelten.

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Man kurbelt die Konsumenten an, aber handeln wollen muss der Unternehmer Auf dem Kontinent und in der Schweiz wurde und wird bei den keynesia­ nischen Ankurbelungen und Eingriffen nicht nur die spätere Rechnung, also der fiskalische Punkt, verdrängt. Sozialdemokraten und Politiker der Mitte sind weit von der Perspektive des Unternehmers entfernt, wenn sie in Vulgärkeynesianismus die Nachfrage ankurbeln wollen und immer die Kaufkraft der sozial Schwachen begünstigen oder deren Steuern senken. Dann kann sich jeder Unternehmer, gross oder klein, ausrechnen, dass er nicht gemeint ist und später höhere Steuern zahlen muss. Also investiert er nicht oder nur anderswo. Die österreichische Schule der Nationalökonomie stellt diesen Unternehmenden ins Zentrum und leitet aus seinen kumulierten Entscheiden das wirtschaftliche Geschehen ab – und dementsprechend muss man das Angebot, den Rahmen, anreizend gestalten und eine Volkswirtschaft haben, wo eins gleich eins ist, wo Schulden zurückbezahlt werden, wo Zinsen das Risiko spiegeln und entgelten, und nicht von Notenbanken tief gehalten werden. Ich habe erlebt, wie sich in der kleinen Krise 1981/82 eine Zürcher Nationalrätin der SPS rühmte, viele Beamte in verschiedenen Departementen direkt angesprochen zu haben, was sie sich alles an neuen Ausgaben vorstellen könnten. Diese Vorstösse reichte sie dann kumuliert im Rat ein. Solche Haltungen sind heute zum Mantra einer allgemeinen Wehleidigkeit geworden; bei kleinsten Widrigkeiten wird Ankurbelung gefordert. Die Rechnung kam in den west- und südeuropäischen Staaten im Frühjahr 2010 auf den Tisch. Die laufende Dosis reicht längst nicht mehr, sie muss immer erhöht werden, die aufgelaufenen Schulden aber ersticken die Staaten. Nun sind auch die USA in dieser Schuldenschlaufe. Tony Crescenzi, der Ökonom des grossen Anlagefonds Pimco, fasste dies 2010 in dem Ausdruck «keynesian endpoint» zusammen. Nachdem die Nachfrageförderung alle verschuldet hat und die Schulden von den Hausbesitzern bis zu den Banken, Staaten, Notenbanken und Weltwährungsfonds hinaufgereicht wurden, gibt es keine weiteren Garanten mehr. Jetzt fährt der Zug rückwärts.

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Die Einwände gegen den Keynesianismus sind in Studien über seine Anwendung gut begründet: –  Ankurbelungen haben kaum solche Multiplikatoren, ausser die Dosis wird dauernd erhöht. –  In guten Jahren wird nie antizyklisch gehandelt, also gespart, deshalb entwickelt sich die Verschuldung treppenartig nach oben. –  Würde tatsächlich gespart und gälte wirklich der Multiplikator, müsste er schwerwiegende Folgen haben, wenn das Geld wieder eingetrieben werden muss. –  Die Volkswirtschaften sind offen, Anstösse verpuffen im Ausland. –  Man kann nur bestehende, also alte Strukturen ankurbeln. –  Die Ankurbelungen wirken meistens zu spät, also im Boom. –  Die Löhne und Preise sind nicht mehr «sticky», können also entgegen der Annahme Keynes’ sinken, wodurch sich Strukturänderungen ergeben, die auch konjunkturelle Türen aufstossen. –  Nicht nur die Konsumenten handeln, sondern auch die Unternehmer. Wenn sie sich ausrechnen können, dass höhere Staatsausgaben und allenfalls höhere Steuern und Inflationsraten drohen, investieren sie nicht. Ihre Motivation wird unterschlagen. Unternehmerische Nachfrage nach Investitionen und Arbeitern ist aber entscheidender als einmal kurz aufgepäppelte Konsumentennachfrage. –  Keynes hebelt mit groben, makroökonomischen Ganzheiten (Konsum, Investitionen, Zinsen, Staat, Multiplikator) wie mit einer Maschine und übersieht die Mikroökonomie, die Motive der Einzelnen. Und im Original: Keynes wandte sich bei «nur» noch 12 Prozent Arbeitslosen gegen weitere Ankurbelungen. –  Ausserdem läuft viel Zynismus mit: Keynes illustrierte es mit dem Bild, wonach das Schatzamt alte Flaschen mit Banknoten füllen und sie in verlassenen Minen ablegen muss, diese dann mit Kehricht auffüllen könne, worauf privater Unternehmergeist sie ausbuddle, dazu Maschinen und Arbeitskräfte in Gang setze und so die Wirtschaft ankurble. Heute sind jene Kreise die härtesten Verfechter von Keynes, welche sonst auf Werthaltigkeit der Wirtschaft bestehen und Verschwendung oder nichtreale Kreisläufe kritisieren.

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Im bequemen Keynesianismus verhedderten sich die Köpfe auch angesichts der Konjunkturschwäche 1992. Ich machte auf Drängen der Verbände im SGB ein kleines, lustloses Progrämmchen für einige Ausgaben, das im Vorstand heftig kritisiert wurde. Ich forderte die Mitglieder auf, mir zu sagen, was sie denn wollten. In der Woche drauf erhielt ich unerhörte Ausgaben­ forderungen, klebte sie einfach aneinander, und die Sekretärin tippte den ganzen Leporello als Unterlage für den nächsten Vorstand. Und siehe da: Sie waren sehr zufrieden. Ich aber reichte die Kündigung ein.

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Lebenslauf Beat Kappeler, geboren 1946 in Villmergen, Aargau, und aufgewachsen in Herisau, ­Appenzell Ausserrhoden 1959 – 1961 Sekundarschule in der Klosterschule St. Gallen 1961 – 1965 Gymnasium Friedberg 1965 – 1966 Kollegium Appenzell, Matura Typus A 1966 – 1970 Studium in Genf, Abschluss mit Lizenziat (ès sciences ­politiques) am Institut Universitaire de hautes études internationales, heute HEID genannt 1970 – 1971 Studium in Westberlin 1972 – 1977 Freier Wirtschaftsjournalist, u. a. bei der Nationalzeitung und der Weltwoche 1977 – 1992 Geschäftsführender Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) 1993 – 2002 Autor der Weltwoche 1996 – 2000 Professor für Sozialpolitik an der Universität Lausanne 1998 – 2007 Mitglied der Eidgenössischen Kommunikationskommission 1999 Dr. h. c. der Universität Basel Heute Kommentator bei der NZZ am Sonntag und Le Temps Referent in SKU (Schweizerische Kurse für Unternehmens­ führung), Advanced Management Program Verheiratet mit Dr. Franziska Rogger, Autorin und Universitätsarchivarin in Bern, Vater zweier Kinder, cc (d. h. «child care»)

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