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Einleitung

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4. Der Ständerat

4. Der Ständerat

«Grossfamilie», wird gemeinhin als Vertreter des Westschweizer Radikalismus bezeichnet. Die Radikalen setzten sich im Gegensatz zu den Liberalen für mehr Volksbeteiligung ein und waren auch gegenüber der sozialen Frage aufgeschlossener. Als Bezugspunkt mag das «System Escher» dienen: Als Chef der liberalen «Bundesbarone» dominierte der Zürcher Alfred Escher die schweizerische Politik bis in die 1860er-Jahre und war der Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, während er demokratische Anliegen oft mehr als zweitrangig behandelte. Doch liegen die Unterschiede im liberal-radikalen Koordinatensystem nicht selten in den De tails, die auch aus Droz mehr als nur einen Radikalen machen. Er wies, schrieben Perrenoud und Barrelet, «sowohl konservative wie progressive Züge auf» und stand der repräsentativen Demokratie zumeist näher als der direkten.12 Als Staatsrat im Kanton Neuenburg vertrat Droz zunächst die Anliegen der Radikalen: Als Vorsteher des Erziehungs- und Kultusdepartements setzte er in den frühen 1870er-Jahren nicht nur ein neues liberales Schulgesetz, sondern auch ein Kirchenorganisationsgesetz durch. Die Spaltung der reformierten Kirche und die Gründung der staatsunabhängigen Eglise indépendante nahm Droz dabei in Kauf. In einem anderen Dossier, das sich kurz vor der Wahl in den Bundesrat aufdrängte, stand er jedoch kaum eindeutig aufseiten der Radikalen. Die kompromisslose Auseinandersetzung in der Frage der Verstaatlichung der Bahnlinie Le Locle–Neuenburg 1874/75 führte sogar zu einem Zwist innerhalb der radikalen Partei. Droz war überzeugt, dass die Verstaatlichung ein zu grosses finanzielles Risiko für den Kanton darstellte.13 Als Befürworter der zentralistischen Bundesverfassungsvorlage von 1872 zeigte er sich wiederum bereit, den 1874 angenommenen Kompromissvorschlag mitauszuarbeiten. Ab 1877 setzte er als Bundesrat das Fabrikgesetz um, einen wichtigen Programmpunkt der Radikalen. Je mehr aber Droz sich in seine aussenhandelspolitischen Dossiers vertiefte, desto stärker wurde sein Engagement von inneren Notwendigkeiten geleitet. Selbst mit dem Vertreter der katholisch-konservativen Innerschweiz, dem späteren Bundesrat Josef Zemp, schien er als Pragmatiker in gewissen Fragen zusammenarbeiten zu können. In der Flüchtlingsfrage nahm Droz gegenüber den Anarchisten eine Haltung ein, die derjenigen seines Kollegen Louis Ruchonnet, des anderen Westschweizer Radikalen im Bundesrat, widersprach. Um keine aussenpolitischen Schwierigkeiten zu riskieren, distanzierte sich Droz von den anarchistischen Umtrieben und sprach von

einem radikalisierten Sozialismus. Auch in der Handelspolitik warnte er vor einem drohenden staatssozialistischen Protektionismus und vertrat eine freihändlerische Position. Für eine gewisse politische Heimatlosigkeit steht auch Droz’ Stellungnahme von 1898 kurz vor seinem Tod: Als er sich gegen die Gründung der Bundesbahnen aussprach, distanzierten sich von ihm einige politische Freude, die Droz in den Fängen der Hochfinanz wähnten.

Urs Kramer zeichnet das Gesamtbild eines von Lebens- und Sachnotwendigkeiten geprägten Politikers: Numa Droz hatte einst Missionar werden wollen, wechselte aber in die Politik, wo er einerseits als kirchenkritischer Radikaler und Befürworter einer zentralistischen Verfassung, andererseits als zunehmend liberaler, staatskritischer und wirtschaftsnaher Bundesrat wirkte. Nur der Schlussstein in der Biografie von Droz fehlt in Urs Kramers Werk. Nach dem Rücktritt übernahm Droz die Leitung des neu eröffneten Zentralamts für den internationalen Eisenbahnverkehr. Stellenangebote als Gouverneur Kretas sowie als Berater und Minister des Königs von Siam schlug der auch im fernen Ausland bekannte Neuenburger jedoch aus. Diese von weiteren gesundheitlichen Problemen, familiären Sorgen und einem Bruch mit Freunden geprägte Zeit lag im Manuskript nur in Fragmenten vor.

Dafür aber eröffnet Kramers Darstellung bis 1892 neue Perspektiven und Forschungsfragen. Sein Blick auf Numa Droz ist institutionengeschichtlich und auf die Funktionsbedingungen der sich entwickelnden Bundesverwaltung ausgerichtet. Die Prozeduren und Eigenheiten der Diplomatie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden durch Kramers faktenreiche Arbeit zuweilen so fassbar, dass der Autor fast eine Kulturgeschichte der eidgenössischen Bürokratie und Diplomatie mit ihren Etiketten vorzulegen scheint. Droz’ antiklerikale Seite wird von Kramer zwar behandelt, aber ebenso erwähnenswert ist die Beobachtung, dass sich Bundesrat Droz mit den Ultramontanen mitunter einigen konnte. Netzwerke der Parteien bleiben oftmals unterbeleuchtet, doch zeigt Kramer an Droz’ Beispiel auch die zunehmende Durchlässigkeit der «freisinnigen Grossfamilie» auf – einen Aspekt, der weiterverfolgt werden könnte. Besonders interessant ist Droz’ Zusammenarbeit mit den Wirtschaftsverbänden. Hier trägt Kramer bei zur Geschichte des sich in die Politik ausdehnenden schweizerischen Verbandswesens. Im 19. Jahrhundert forderten einige Stimmen eine Beteiligung der Schweiz an Kolo-

nisierungsprojekten. Droz lehnte dies 1885 ab: «Darüber sind alle Nationalökonomen einig, dass, um zu kolonisiren, ein Stat ein Küstenland sein und also auch eine Flotte haben muss.»14 Die kommende Forschung könnte sich um solche Zusammenhänge und um den Hintergrund von Aussenminister Droz’ Argumentation kümmern.

Thomas Zaugg, im April 2021

Numa Droz bringt es in jungen Jahren als Autodidakt zum Lehrer, Journalisten und Politiker der Neuenburger Radikalen. Er wird mit 31 Jahren der jüngste Bundesrat der Geschichte. Hier auf einem undatierten Porträt wohl des Neuenburger Atelierfotografen Louis Colin (1821–1881). Schweizerische Nationalbibliothek, Graphische Sammlung, Sammlung Fotoporträts

Teil 1 Aufstieg aus einfacher Herkunft

(1844–1875)

1874 wurde die Totalrevision der Bundesverfassung angenommen. Sie hatte in Armee, Recht und teilweise auch im Schulwesen eine dringend nötige Zentralisierung des jungen Bundesstaats zur Folge. Ganze vier Bundesratssitze waren wenig später, im Dezember 1875, neu zu besetzen. Einige der Zurücktretenden scheuten offenbar vor der Aufgabenlast in der neuen Verfassungsrealität zurück. Am 18. Dezember 1875 wurde Numa Droz in den Bundesrat gewählt. Der Neuenburger Ständerat, ein Befürworter des Zentralismus, hatte allerdings nur ein knappes Wahlresultat vorzuweisen – eine Folge auch der Uneinigkeit von Droz’ Neuenburger Parlamentskollegen. In den ersten Bundesratsjahren sollte der Konflikt Droz’ mit seiner Neuenburger Basis immer wieder seinen Schatten nach Bern werfen.

Woher aber kam der 31-Jährige, der bis heute jüngste Bundesrat? Schnell war er in die Bundespolitik aufgestiegen: Bereits 1869 hatten ihn die Neuenburger in den Grossen Rat gewählt. Zwei Jahre später wurde er mit 27 Jahren Staatsrat und Ende 1872 Ständerat. Dabei hatten schwierige finanzielle Verhältnisse und ein früher Vaterverlust Droz’ Jugend geprägt. Die Literatur enthält zwar kaum gesicherte Aussagen zu seiner Politisierung.1 Doch ergibt sich für die ersten Jahre das Bild eines rastlosen Autodidakten. Nach der Lehre als Graveur bildete er sich im Selbststudium weiter und wurde Primarlehrer. Ursprünglich Anwärter auf einen Missionarsposten, wurde Droz zurückgewiesen. Durch seine Kontakte zu Intellektuellenkreisen sattelte er auf den Journalismus um und stieg in die Politik auf, in der er sich den Radikalen anschloss.

Der neu zusammengesetzte Bundesrat Anfang 1876, in der Mitte Bundespräsident Emil Welti, prägender Bundesrat bis 1891. Numa Droz lässt den Nebelspalter jedoch «im Stich», wie dieser schreibt, und liefert kein Konterfei. Nebelspalter, Nr. 2, 1876

Teil 2 Turbulenzen und finanzielle Not

(1875–1883)

In den ersten Jahren als Bundesrat, 1876 bis 1878, übernahm Numa Droz das Departement des Innern, wobei er insbesondere das Fabrikgesetz von 1877 umsetzte. Droz realisierte allerdings bald, dass es sich beim EDI um eine Art Gemischtwarenladen von unübersichtlicher Aufgabenvielfalt handelte. Die Bundesverfassung von 1874 hatte dem EDI, aber auch anderen Departementen eine grosse Mehrlast beschert. Die Bundesinstitutionen waren auf diese Herausforderung kaum vorbereitet. So wurde die Reorganisation der Departemente zu einem von Droz’ Hauptanliegen. 1879 übernahm er das neue Handels- und Landwirtschaftsdepartement, das zu weiten Teilen auf seine Initative hin geschaffen worden war. Im DHL kümmerte sich der gelernte Graveur etwa um den Schutz des ge werblichen und künstlerischen Eigentums. Die Aussenhandelspolitik entsprach Droz’ Vorlieben und Fähigkeiten. Die Zeit der Grossen Depression seit 1873 brachte europaweit protektionistische Wirtschaftsrezepte mit sich. Droz, ein überzeugter Verfechter des Freihandels, musste die Zolltarife erneuern und zahlreiche Handelsverträge mit den Nachbarstaaten neu verhandeln.

Die Stellung Droz’ blieb in diesen ersten Jahren nicht unangefochten. Wegen des Zwists unter den Radikalen in seinem Heimatkanton musste er sich seine Wiederwahl als Bundesrat hart verdienen. Dazu kam seine finanzielle Notlage: Das bundesrätliche Einkommen reichte kaum aus, um den Lebensunterhalt der Familie und die Kuren seiner gesundheitlich angeschlagenen Frau zu bestreiten. Zwischen 1882 und 1883 stand Droz aus diesen privaten Gründen, aber auch aus Frust über die mangelnden aussenhandelspolitischen Fortschritte kurz vor dem Rücktritt. Er interessierte sich für einen Posten in der Diplomatie und führte aber auch Verhandlungen mit der Privatwirtschaft, die ihm ein höheres Einkommen versprechen konnte als der Bund. Letztlich aber blieb Droz dem Bundesrat erhalten und konnte sein Gehalt mit regelmässigen publizistischen Beiträgen aufbessern, die seinen Ruf als gewandten Rhetoriker konsolidierten.

1. Die Bundesverfassung von 1874 als Herausforderung

1948 hat der Schweizer Diplomat William Rappard die Verfassungsrevision von 1874 mit dem Satz charakterisiert: «C’est donc bien d’une révision et non pas d’un bouleversement, qu’il s’agit.»1 Hans von Greyerz fasste einige Jahre später unter der Überschrift «Der schweizerische Bundesstaat als säkularisierte Referendumsdemokratie» die Ergebnisse der Verfassungsrevision wie folgt zusammen: «Im allgemeinen Teil der Bundesverfassung, der das Grundverhältnis zwischen Bund und Kantonen regelt, war durch die Totalrevision nur wenig verändert worden. Der Bundesstaat hatte seine Aufbauprinzipien nicht ausgewechselt. Aber es waren Tore geöffnet worden, durch die die Wege von den Ursprüngen weit weg zu führen vermochten. Der Bundesstaat war jetzt vollständig säkularisiert durch die Proklamation konfessionell unbeschnittener Glaubens- und Niederlassungsfreiheit und die Aufhebung des geistlichen Gerichts. Das liberale System erschien gekrönt von der Garantie der Handels- und Gewerbefreiheit.»2 Die Kantone büssten im Militär- wie auch im Rechtswesen an Souveränität ein. Im liberalen Geist waren auch die Gewaltentrennung, der Ausbau des Rechtsstaats und die Verselbstständigung des Bundesgerichts als dritter Bundesgewalt vollzogen worden. Die repräsentative Demokratie wurde durch das fakultative Referendum für Bundesgesetze und allgemeingültige Bundesbeschlüsse an den Volkswillen gebunden.

Neben diesen wichtigsten Veränderungen gab es noch eine Reihe weiterer Kompetenzübertragungen beziehungsweise die Schaffung neuer Bundeskompetenzen. Alles in allem blieben in der Bundesverfassungsrevision von 1874, im Vergleich zur Verfassung von 1848, 60 Artikel un verändert, 14 wurden fallengelassen, 40 modifiziert, und es kamen neu 21 Artikel hinzu.3 Peter Dürrenmatt bemerkte 1963 zur Bedeutung der Revisionsvorlage von 1874: «Das Jahr 1874 leitete, im weiteren und engeren Sinne, einen neuen Abschnitt der modernen Schweizer Geschichte ein.» Es habe sich vor allem bald gezeigt, «dass das gleiche Volk, das dem zentra-

listischen Grundsatz an und für sich zugestimmt hatte, kritischer und föderalistischer eingestellt war, sobald es über die Ausführung entscheiden musste». Der Kampf der Föderalisten und Zentralisten habe sich nun aus der Bundesversammlung ins Volk verschoben.4

Die neu und wiedergewählten Bundesräte standen somit ab dem 1. Januar 1876 vor geradezu herkulisch anmutenden Herausforderungen. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Organisation der Zentralverwaltung sowie deren Personalbestand bei Weitem nicht den Anforderungen der neuen Bundesverfassung entsprachen, wie Droz 1899 in seiner Politischen Geschichte der Schweiz im neunzehnten Jahrhundert vermerkte. So trieb ein jeder für sich «im Bundesrat, in den Räten, sogar im Lande den Wagen vorwärts und beklagte sich dann doch über die allgemein überhandnehmende Reglementiererei», wobei deren Finanzierung längst noch nicht gesichert war.5 Für Hans von Greyerz sind die auf 1874 folgenden 16 Jahre durch den «politischen Kampf um die Durchführung der Bundesverfassung» gekennzeichnet, «welche in vielen Fällen bloss Befugnisse des Bundes geschaffen hatte, die es erst noch durch Gesetzgebung auszuwerten galt».6 Das Gesetzesreferendum wurde nun zum neuen Kampfmittel.

Unter diesen schwierigen politischen und äusseren Voraussetzungen trat Numa Droz als der jüngste Bundesrat aller Zeiten am 1. Januar 1876 sein Amt an. Erschwerend kam dazu, dass er im Bundesrat der einzige Repräsentant der sprachlichen Minderheiten der Schweiz war und mit dem Departement des Innern zugleich das wohl schwierigste und vielgestaltigste Departement hatte übernehmen müssen, das die Mehrzahl der in der neuen Bundesverfassung verlangten Änderungen gesetzgeberisch und organisatorisch vorzubereiten und auch umzusetzen hatte. Droz habe ein Ministerium erhalten, das über die Jahre zu einem «mammouth» angewachsen sei, meinte Pierre-André Bovard. Die nicht weniger als 18 Unterabteilungen hätten oftmals keine natürliche Verbindung zueinander aufgewiesen: von der Kanzlei und dem Archiv über die Wasserbetriebe, die Polytechnische Schule bis hin zu den Wäldern und der Gesundheitspolizei.7 «La plus grande partie des lois nouvelles tombait dans le ressort de l’Intérieur», meinte auch Droz im Rückblick.8 Es ist nicht anzunehmen, dass er sich vom Schwierigkeitsgrad der Aufgaben beeindrucken liess, wohl aber grossen Respekt hatte gegenüber den ihn erwartenden Herausforderungen. Aufgrund seiner Erfahrungen im Kanton Neuenburg wusste er, wie man schwierige, ja oft fast aussichtslos scheinende Geschäfte und

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