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3. Ein schwieriger Staatsrat

Teil 5 Handelskriege und Demission

(1887–1892)

Die meisten europäischen Staaten versuchten seit den späten 1870er-Jahren, sich mit hohen Zöllen voneinander abzuschirmen. Ein zweiter Industrialisierungsschub, eine lange anhaltende Wirtschaftskrise seit 1873 und die grosse Konkurrenz aus Grossbritannien, den USA und Russland führten in vielen Wirtschaftszweigen zu Schutzmassnahmen. Der Protektionismus verdrängte immer mehr den Freihandel. Numa Droz schuf innenpolitisch eine gute Ausgangslage für neue Handelsverträge. In der Folge glückte eine Reihe von Vertragsabschlüssen mit Deutschland, ÖsterreichUngarn und Italien. Doch Frankreich erwies sich als schwieriger Verhandlungspartner. Ausgerechnet der grosse westliche Nachbar, der während Jahrhunderten auf die Schweiz prägenden Einfluss ausgeübt und für wechselseitige Prosperität gesorgt hatte, entzog sich Droz’ Verhandlungskunst. Zwischen der Schweiz und Frankreich entbrannte ein Handelskrieg, der erst 1895 zu einem Ende kam.

Droz erlebte diese Wiederannäherung nicht mehr im Amt. Er war bereits am 31. Dezember 1892 als Bundesrat zurückgetreten. Dass die Demission mit dem für ihn traumatischen Bruch mit Frankreich zusammenhing, ist anzunehmen. Doch hatte auch die zunehmende Kritik am «System Droz» seinem Namensgeber zu schaffen gemacht. Einige Bundesräte beobachteten Droz’ Reorganisation mit Argwohn, beklagten eine gewisse Eigenmächtigkeit und wollten in aussenpolitischer Hinsicht wieder mitreden können. Nicht zuletzt aber war es die familiäre Situation gewesen, die Droz nun endgültig aus dem Bundesrat scheiden liess. 1893 übernahm er die Direktion des Zentralamts für den internationalen Eisenbahnverkehr.

1. Schwierige Handelsvertragsverhandlungen in Zeiten des Protektionismus

Numa Droz hatte mit der von ihm angestossenen und schliesslich vom Bundesrat und Parlament genehmigten Partialrevision der Bundesratsorganisation von 1878 und der Übernahme des neu geschaffenen Departements für Handel und Landwirtschaft zwar schon ab 1879 die Verantwortung für den Politikbereich des Handels und der Aussenhandelspolitik übernehmen können.1 Doch war die Ausgangslage für eine Erfolg versprechende Vertretung der schweizerischen Interessen in der Aussenhandelspolitik alles andere als optimal gewesen, weil die Zolltarifrevision im Juni 1878 ein Fragment geblieben war. Droz’ Verhandlungsposition in den wichtigen Handelsvertragsverhandlungen mit Frankreich, aber auch mit den drei anderen Nachbarstaaten war belastet. Den Widrigkeiten zum Trotz hatte er sich aber schnell in die Materie einarbeiten und die immer stärker werdenden protektionistischen Veränderungen in der europäischen Wirtschafts-, Zolltarif- und Aussenhandelspolitik erkennen können. Der Protektionismus konnte für die Schweiz mit ihrer freihändlerischen Tradition im Handelsaustausch und den eigenen tiefen Zolltarifen für verschiedene bedeutende Wirtschaftszweige zu einer Existenzfrage werden. Droz versuchte daher nicht nur durch eine strukturierte und vorausschauende Arbeitsweise in seinem Departement, sondern auch durch die Publikation von Aufsätzen, zu wirtschaftlichen Fragen eine öffentliche Debatte über seine wirtschaftlichen Vorstellungen und Lösungsansätze zu lancieren, um die wichtigsten Verantwortlichen in Wirtschaft, Landwirtschaft und Politik in einem freihändlerischen Sinn beeinflussen zu können. In den Jahren 1883 und 1884 mischte sich Droz dann politisch und publizistisch auch in die heftige Auseinandersetzung um ein neues Zolltarifgesetz ein, das das Provisorium von 1878 endlich ablösen sollte. Er hatte erkannt, dass die Schweizer Wirtschaft durch die eigene Gesetzgebung benachteiligt wurde und dass diese daher dringend neu konzipiert werden sollte, wenn man die unbefriedigenden Handelsverträge mit Italien, Österreich-Ungarn und Deutschland neu aushandeln wollte.

Das Hin und Her in den Räten kritisierte die Bibliothèque Universelle et Revue suisse im Juli 1883 in ihrer Rubrik «Chronique Politique», wohl von Droz geschrieben oder initiiert. Niemand habe vor zehn Jahren gedacht, dass in der Schweiz je derart über Freihandel gestritten würde, «que dans ce pays de liberté qu’on appelle la Suisse, on en viendrait à discuter si le libreéchange est réellement une bonne chose, ce libre-échange qui fait la grandeur de la force de notre industrie».2 Diese Situation veranlasste Droz zum Schreiben vom 25. Juli 1883 an Arthur Chenevière, in dem er neuerliches Interesse am Angebot der La Genevoise bekundete. In den Sommermonaten 1883 schien Droz die resignative Phase im Zusammenhang mit der Zolltarifdebatte jedoch allmählich zu überwinden. Er wollte den Kampf gegen die Protektionisten, die vor allem in Verbänden der Ostschweiz und der Landwirtschaft zu finden waren, direkt aufnehmen. In kürzester Zeit verfasste er die Studie Protectionnisme ou libre-échange im Umfang von mehr als 40 Seiten, die im November 1883 in der Bibliothèque universelle et Revue suisse erschien und auf Deutsch übersetzt wurde.3 Für Droz stand offensichtlich viel auf dem Spiel, er fühlte sich nach den negativen Erfahrungen in der Junisession 1883 des Parlaments herausgefordert.4

Droz ging von der Tatsache aus, dass die Schweiz bis vor wenigen Jahren noch stolz war auf ihre freihändlerische Tradition, die zu Wohlstand geführt hatte. Nun müsse man sich, so Droz, fragen, warum seit einiger Zeit ein ansehnlicher Teil der schweizerischen Politiker «sich bemüht, unsere Handelspolitik auf ganz andere Bahnen zu lenken? Woher kommt es, dass jener Theil die individuelle Thätigkeit immer mehr und mehr durch diejenige des Staates ersetzen will und einzig noch im Schutzzoll das Heil unserer Industrien erblickt?»5 Droz’ Artikel erregte Aufsehen und trug zur Lösung in der Zollrevision von 1884 bei.6 Er habe, schrieb die Bibliothèque universelle et Revue suisse in ihrer nächsten Nummer, «pas seulement intéressé le public, il a produit une grande sensation dans le monde officiel».7 Droz erreichte ein Aufbäumen aller moderaten Kräfte zugunsten der Erarbeitung eines freihändlerisch geprägten Zolltarifs.8 Mit der Vorgehensweise hatte er indirekt auch seinen Führungsanspruch in der Wirtschafts- und Aussenhandelspolitik zum Ausdruck bringen wollen, wie er dies schon einige Monate zuvor für die Landwirtschaftspolitik gemacht hatte.9

Als Ergebnis der mühevollen innerschweizerischen Auseinandersetzungen konnte 1884 zwar ein neues Zolltarifgesetz verabschiedet werden,

8. Kurzer Handelskrieg mit Italien

Die Frage, ob die Schweiz den Handelsvertrag von 1889 mit Italien im Hinblick auf die durch Frankreich und Deutschland zu erwartenden Kündigungen der Handelsverträge auch auf den 1. Februar 1892 vorsorglich kündigen sollte, hatte im Dezember 1890 und Januar 1891 nicht nur den Bundesrat beschäftigt, sondern kurze Zeit zuvor auch massgebliche Wirtschaftskreise, die am 24. Dezember 1890 von Droz zu dieser Frage um eine Meinungsäusserung gebeten worden waren.248 Im Zusammenhang mit dieser Bitte hatte am 29. Dezember 1890 auch der Vorort des SHIV generell die Frage der Kündigung der Handelsverträge diskutiert.249 Dabei vertrat der Vizepräsident des Vororts, Hans Wunderly-von Muralt, bezüglich des Vertrags mit Italien die Auffassung, dass die Schweiz von sich aus den Vertrag kündigen sollte, da dieser «so verhasst» sei, dass «man mit einer Kündigung der öffentlichen Meinung entgegenkommt». Cramer-Frey als Präsident machte demgegenüber auf mögliche Konsequenzen aufmerksam, denn sobald «Frankreich uns gekündigt hat und wir Italien, so müssen wir wegen des Weins und der Südfrüchte auch Spanien kündigen. Er glaube, dass auch Deutschland der Schweiz künden werde, sobald Frankreich es tut.» Alfred Frey, der Sekretär des Vororts, meinte zu dieser Frage, dass «Italien etwas Odioses darin sehen müsse, wenn wir ihm alleine kündigen. Wenn die Schweiz im Übrigen mit den Kündigungen zuwarten will, so muss sie dies auch Italien gegenüber tun, schon im Hinblick auf seine politische Verbindung mit Deutschland. Es ist zweifelhaft, ob wir die Mittel zu einer Repressionspolitik finden werden. Unter diesen Umständen wäre es vorzuziehen, allen zu kündigen.» Cramer-Frey fasste schliesslich die Aussprache in Bezug auf das Verhältnis mit Italien am Schluss der Sitzung vom 29. Dezember 1890 wie folgt zusammen: «Auch für OesterreichUngarn ist der Wein von grösster Bedeutung: es wird also schwierig sein, sich nur in Hinsicht auf diesen Punkt mit Italien auf einen Zollkrieg einzulassen. Man könnte auch die bestehenden Verträge lediglich auf ein Jahr verlängern; doch werden das die Schutzzöllner im eigenen Lande nicht

wollen.» Die Diskussion über die dem Bundesrat zu empfehlende Strategie wurde schliesslich an der 16. Sitzung der Schweizerischen Handelskammer vom 22. Januar 1891 und, wie bereits erwähnt, in Anwesenheit von Bundesrat Droz zu Ende geführt.250

Nachdem in der zweiten Januarhälfte des Jahrs 1891 Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn ihre Handelsverträge mit der Schweiz gekündigt hatten, kündigte am 10. Februar 1891 die Schweiz nun auch den Handelsvertrag vom 23. Januar 1889 mit Italien auf den 12. Februar 1892.251 Deutschland und Österreich-Ungarn hatten ursprünglich geplant, ihre Vertragsverhandlungen mit Italien gemeinsam mit der Schweiz in Bern zu führen.252 Nach erfolgreichem Abschluss der Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn und danach zwischen diesen beiden Staaten und der Schweiz hoffte man, mit der gemeinsamen Aufnahme von Verhandlungen mit Italien um den 20. Juli 1891 herum beginnen zu können.253 Um für diese Verhandlungen gut vorbereitet zu sein, bat Droz am 3. Juni 1891 den Vorort des SHIV, bei den am Handel mit Italien interessierten Wirtschaftskreisen die notwendigen Abklärungen durchzuführen. Fristgerecht erhielt Droz den umfangreichen Bericht des Vororts Mitte Juli 1891.254 Schon am 4. Juli 1891 konnte der Bundesrat die Verhandlungsdelegation bestimmen, die von Droz in Bern geleitet werden sollte. Neben Droz wurden Bavier, der schweizerische Gesandte in Rom, und Cramer-Frey sowie alt Bundesrat Hammer als Delegationsmitglieder bestimmt.255 Der vorgesehene Terminplan konnte aber nicht eingehalten werden, da bis zum 20. Juli 1891 die Handelsvertragsverhandlungen zwischen der Schweiz und Deutschland sowie Österreich-Ungarn, bedingt durch den von Deutschland und Österreich-Ungarn verlangten Unterbruch wegen des Referendumskampfs in der Schweiz um das neue Zolltarifgesetz, noch nicht hatten abgeschlossen werden können. Aus diesen Gründen hatten sich Deutschland und Österreich-Ungarn Mitte Juli 1891 entschieden, mit Italien in München allein zu verhandeln. Aber auch diese Verhandlungen stiessen auf grosse Schwierigkeiten, sodass sie erst im Dezember 1891 abgeschlossen werden konnten, also nahezu gleichzeitig mit den Verhandlungen mit der Schweiz.256

Infolge dieser Verzögerungen konnten die Kontakte zwischen der Schweiz und Italien im Hinblick auf die Eröffnung von Handelsvertragsverhandlungen erst im November 1891 wieder aufgenommen werden.257 Die Schweiz befand sich nach Abschluss der Verhandlungen mit Deutsch-

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