Urs Kramer, Thomas Zaugg: Der erste Schweizer Aussenminister. Bundesrat Numa Droz (1844–1899)

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«Grossfamilie», wird gemeinhin als Vertreter des Westschweizer Radikalismus bezeichnet. Die Radikalen setzten sich im Gegensatz zu den Liberalen für mehr Volksbeteiligung ein und waren auch gegenüber der sozialen Frage aufgeschlossener. Als Bezugspunkt mag das «System Escher» dienen: Als Chef der liberalen «Bundesbarone» dominierte der Zürcher Alfred Escher die schweizerische Politik bis in die 1860er-Jahre und war der Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, während er demokratische Anliegen oft mehr als zweitrangig behandelte. Doch liegen die Unterschiede im liberal-radikalen Koordinatensystem nicht selten in den De­­ tails, die auch aus Droz mehr als nur einen Radikalen machen. Er wies, schrieben Perrenoud und Barrelet, «sowohl konservative wie progressive Züge auf» und stand der repräsentativen Demokratie zumeist näher als der direkten.12 Als Staatsrat im Kanton Neuenburg vertrat Droz zunächst die Anliegen der Radikalen: Als Vorsteher des Erziehungs- und Kultusdepartements setzte er in den frühen 1870er-Jahren nicht nur ein neues liberales Schulgesetz, sondern auch ein Kirchenorganisationsgesetz durch. Die Spaltung der reformierten Kirche und die Gründung der staatsunabhängigen Eglise indépendante nahm Droz dabei in Kauf. In einem anderen Dossier, das sich kurz vor der Wahl in den Bundesrat aufdrängte, stand er jedoch kaum eindeutig aufseiten der Radikalen. Die kompromisslose Auseinandersetzung in der Frage der Verstaatlichung der Bahnlinie Le Locle–Neuenburg 1874/75 führte sogar zu einem Zwist innerhalb der radikalen Partei. Droz war überzeugt, dass die Verstaatlichung ein zu grosses finanzielles Risiko für den Kanton darstellte.13 Als Befürworter der zentralistischen Bundesverfassungsvorlage von 1872 zeigte er sich wiederum bereit, den 1874 angenommenen Kompromissvorschlag mitauszuarbeiten. Ab 1877 setzte er als Bundesrat das Fabrikgesetz um, einen wichtigen Programmpunkt der Radikalen. Je mehr aber Droz sich in seine aussenhandelspolitischen Dossiers vertiefte, desto stärker wurde sein Engagement von inneren Notwendigkeiten geleitet. Selbst mit dem Vertreter der katholisch-konservativen Innerschweiz, dem späteren Bundesrat Josef Zemp, schien er als Pragmatiker in gewissen Fragen zusammenarbeiten zu können. In der Flüchtlingsfrage nahm Droz gegenüber den Anarchisten eine Haltung ein, die derjenigen seines Kollegen Louis Ruchonnet, des anderen Westschweizer Radikalen im Bundesrat, widersprach. Um keine aussenpolitischen Schwierigkeiten zu riskieren, distanzierte sich Droz von den anarchistischen Umtrieben und sprach von


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