Daniela Kuhn: Charles Weissmann. Ein Leben für die Wissenschaft.

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Charles Weissmann

Das Buch ist die Biografie eines leidenschaftlichen Forschers, der seine wissenschaftlichen Entdeckungen im Bereich der Prionenforschung, der reversen Genetik sowie der künstlichen Herstellung von Interferon Revue passieren lässt. Charles Weissmann erinnert sich aber vor allem auch an die Menschen, die ihn begleiteten, an seine beruflichen und privaten Beziehungen, an das Leben mit seinen grossen und kleinen Dramen.

© Daniel Rihs

ISBN 978-3-03810-220-5

9 783038 102205

www.nzz-libro.ch

Daniela Kuhn Charles Weissmann Ein Leben für die Wissenschaft

Die Welt ist sein Zuhause, das Labor seine Welt: Charles Weissmann wurde 1931 in Budapest geboren und wuchs in Zürich und Rio de Janeiro auf. In den 1970er-Jahren war er als Professor für Molekularbiologie an der Universität Zürich massgeblich an der Etablierung dieser neuen Fachrichtung beteiligt. Als Mitbegründer der Biotechfirma Biogen erregte er Anfang der 1980er-Jahre mit der Klonierung von Interferon weltweit Aufsehen. Später spielte er bei der Erforschung des Rinderwahnsinns eine wichtige Rolle. Charles Weissmann lebt heute in Zürich und Florida, wo er bis 2012 am Scripps Research Institute tätig war.

Charles Weissmann Ein Leben für die Wissenschaft

Verlag Neue Zürcher Zeitung

«Kein Naturwissenschaftler ist unersetzlich. Es ist alles da – man muss es nur aufdecken. Entdeckungen sind eben nicht Erfindungen. In der Wissenschaft ist somit immer der Zeitpunkt wichtig, der Neuerungswert.»

Daniela Kuhn | Charles Weissmann. Ein Leben für die Wissenschaft

Daniela Kuhn, geboren 1969, lebt in Zürich. Als freischaffende Journalistin und Autorin schreibt sie für verschiedene Printmedien und arbeitet als Texterin für gemeinnützige Organisationen. In den letzten Jahren hat sie sich auf Lebensgeschichten und Auftragsbiografien spezialisiert. www.danielakuhn.ch

Umschlagabbildung: © Helmut Wachter


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Daniela Kuhn Charles Weissmann Ein Leben fĂźr die Wissenschaft Mit einem Nachwort von Adriano Aguzzi

Verlag Neue ZĂźrcher Zeitung



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Loorengu t 1

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Von Rzeszów und Lemberg über Zürich und Budapest nach Rio – eine Familienodyssee 2

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Zürich – Schulzeit, Medizin- und Chemiestudium 3

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New York – Molekularbiologie und Familiengründung 4

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Blütezeit – Interferon 5

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London und Florida – Abschied vom Labor

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Nachwort Von Adr iano Aguzzi

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Bildnachweis



Loorengu t

Es ist ein strahlender Morgen, an dem ich Charles Weissmann im Juli 2015 erstmals aufsuche. In Witikon, am Stadtrand von Zürich, steige ich aus dem Bus aus. Der Weg führt die Loorenstrasse hinauf, an einem Sportplatz, einem verwaisten Altersheim und schliesslich an Einfamilienhäusern vorbei. Von der Anhöhe schweift der Blick über die Albiskette und zu den nahen Bergen – und hinauf zu einem Anwesen im englischen Landhausstil. Das mächtige Haus thront, von hohen Bäumen umgeben, über einer grossen Wiese, die sich den Hang entlang erstreckt. Einen Moment lang stehe ich vor dem einfachen Maschendrahtzaun, hinter dem sich 50 000 Quadratmeter Privatbesitz befinden: Park, Garten und Villa, Tennisplatz und Schwimmbad sowie das einstige Haus der Bediensteten und eine grosse Holzscheune. Eine Welt für sich. Das Tor steht wie immer offen. Ein Namensschild fehlt. Ich gehe die von alten Birken gesäumte Zufahrtsstrasse hoch. Mit jedem Schritt kommt es näher, das Loorengut. Eine junge Angestellte öffnet die Türe und bittet mich herein. Ich meine, denselben Geruch wahrzunehmen, den ich aus vergangenen Zeiten kenne. Als Kind habe ich in diesem Haus und Garten zeitlose Stunden und Tage zugebracht, meist in inniger Verbundenheit mit meiner Cousine Adi, aber auch im Kreise der weiteren Familie. Kurz nach meiner Geburt hatte meine Mutter ihre Schwester Mina mit George Weissmann bekannt gemacht, Charles’ jüngerem Bruder. 13


Die beiden heirateten, hatten drei Kinder und lebten während einigen Jahren in diesem Haus. Charles habe ich als Kind höchst selten gesehen und wenn, dann nur von Weitem. Nun steht er vor mir und begrüsst mich herzlich. Er trägt ein Poloshirt, sein Teint verrät, dass er an der Sonne war. Für sein Alter sieht er sehr gut aus – im Oktober wird er seinen 84. Geburtstag feiern. Vor drei Tagen erst, bei einem Kaffee in der glutheissen Stadt, hat mich Charles damit beauftragt, seine Biografie zu schreiben. Bevor wir in sein Büro gehen, bleibe ich vor einem zauberhaften Gemälde von René Magritte stehen, in dessen Mitte eine grosse Wolke und ein ebenso grosser Felsbrocken über einem rötlich gefärbten Horizont und einer friedlichen Landschaft schweben. Eine zarte Mondsichel verleiht dem Bild eine grosse Ruhe. Sie steht im Kontrast zum Titel La Bataille de l’Argonne, der sich auf die deutsch-französischen Kämpfe während des Ersten Weltkriegs bezieht. Das Gemälde ist Charles’ Lieblingsbild. Seine zwölf anderen Bilder des belgischen Malers hängen in Brüssel im Magritte Museum. «Hin und wieder fahre ich hin, um sie zu besuchen», sagt er schmunzelnd, während wir die Treppe hochgehen. Charles’ Büro befindet sich zwischen dem einstigen Schlafzimmer seiner Eltern und dem Badezimmer für Gäste. Vor den Fenstern liegen der prächtige Garten, der Zürichsee und die Alpen. Seiner Mutter diente das Zimmer als Ankleideraum, heute ist es sein Reich: Möbel, Gegenstände und Fotos aus vergangenen Zeiten stehen hier beieinander, Zeugen seiner Geschichte. Ihr Wert mag für fremde Augen nicht ersichtlich sein. Etwa die beiden bestickten Sessel aus der Bibliothek, in der sich sein Vater gerne aufhielt; der Schreibtisch aus Mahagoniholz, den Charles einst 14


seiner Mutter schenkte. Oder ein Poster aus dem Jahr 1975, eine signierte Hommage von Salvador Dalí an Charles’ prägendes Vorbild, den Biochemiker Severo Ochoa. Die Atmosphäre in diesem Raum eignet sich für unser Vorhaben. Am kleinen weissen Tisch nehmen wir einander gegenüber Platz, und Charles beginnt mit seiner Erzählung, an deren Anfang seine Eltern stehen, Chiel und Bertha Weissmann.

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1 Von Rzeszów und Lemberg über Zürich und Budapest nach Rio – eine Familienodyssee

Chiel Weissmann wird am 25. Juli 1883 in Galizien geboren, in der regionalen Hauptstadt Rzeszów (ausgesprochen: Scheschov), die zu Österreich-Ungarn gehört. Die im Schtetl lebenden Juden nennen sie Rayshe. Er ist der erste Sohn von Abraham und Chaji/ Chaye Sury Weissmann, geborene Mondow. In den kommenden Jahren wird die Familie um neun weitere Kinder wachsen. Als Chiel drei- oder vierjährig ist, wird er in die Talmud-Schule geschickt. Mit zwölf Jahren hilft er im väterlichen Kolonialwarenladen mit. Der kleine Chiel reist sogar alleine ins weit entfernte Odessa, um Kolonialwaren einzukaufen. Jahrzehnte später wird er erzählen, um grösser zu wirken, habe man ihn auf dem dortigen Markt auf eine Kiste gestellt, auf der er seine Einkäufe anordnete. Viel mehr ist aus seiner Kindheit und Jugend nicht überliefert. Charles erinnert sich nur, dass sein Vater hin und wieder die Drehbewegung vormachte, mit der die Papiertüten im Geschäft des Vaters gewickelt wurden. Als junger Mann begegnet Chiel Frimet Jitte Steiner. Sie nennt sich Frieda. 1907 kommt Töchterchen Toni Rachel auf die Welt. Das Paar heiratet erst 1909, weshalb, weiss heute niemand mehr. «Mein Vater brüstete sich damit, alleine auf die Hochzeitsreise 16


nach Venedig gefahren zu sein, ohne seine Frau», sagt Charles und lacht. 1911 wird Josef Moritz geboren, in Zolynia. Chiel wird das kleine Schtetl nordöstlich von Rzeszów später als seinen Heimatort angeben. Der 28. Juni 1914 ist für die junge Familie ein einschneidendes Datum: Ein Mitglied der serbisch-nationalistischen Bewegung erschiesst in Sarajevo den österreichischen Thronfolger auf offener Strasse. Einen Monat später erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Innert weniger Tage wird aus dem lokalen Konflikt der Erste Weltkrieg. Die Front zwischen Österreich-Ungarn verläuft nicht weit von Zolynia entfernt. Das Paar flüchtet mit beiden Kindern nach Wien. Chiel findet dort Arbeit in einer Bank. Nachdem er mit der Finanzierung eines Filmprojekts zu tun hat, steigt er selbst als Produzent ins Filmgeschäft ein. In Deutschland und Österreich floriert die junge Branche, weil der Krieg das produktionsstarke und international ausgerichtete Frankreich isoliert. Chiel ist im richtigen Moment am richtigen Ort und entwickelt einen Sinn fürs Geschäft. Jakob Hermann, das dritte Kind, kommt im April 1916 in Wien zur Welt, er wird später Heini genannt. Und es gibt berufliche Pläne für die Schweiz: Im September zieht die Familie nach Zürich, in den Stadtkreis 6. Chiel knüpfte wohl bereits von Wien aus erste Kontakte zum hiesigen Filmgeschäft. Auf den Einreiseformularen bezeichnet er sich als «Kaufmann». Nach einem kurzen Gastspiel in Luzern wohnt die Familie 1918 wieder in Zürich, diesmal im Stadtzentrum, an der Löwenstrasse. Auf dem Aufenthaltsantrag notiert Chiel in Klammer: «Filiale der bayr. Filmfabrik», die in dieser Zeit zur Münchner Lichtspielkunst (MLK) mutiert. 17


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Die Münchner Lichtspielkunst (MLK) wurde am 1. Januar 1919 von Peter Ostermayr gegründet. Bekannt geworden ist sie unter dem Namen Emelka, wegen der Abkürzung MLK. Ab 1920 wird sie ausgebaut zum Emelka-Konzern, dem weitere Firmen und Kinos angegliedert werden. Ab 1930 produziert die Emelka neben Filmen auch die Tönende Emelka-Wochenschau. Doch die Theaterkette verkraftet die Umstellung auf Tonfilm finanziell nicht. Emelka muss im November 1932 Konkurs anmelden. Auf den Aufenthaltsanträgen, die Chiel laufend erneuern muss, bezeichnet er sich 1920 als «Direktor der bayrischen Filmgesellschaft». Er vertritt die Emelka in der Schweiz und besitzt inzwischen an der Mühlegasse am Zürcher Limmatquai das Kino Radium. Bei seiner Eröffnung im Jahr 1907 war es das erste Lichtspieltheater der Stadt und eines der ersten in Europa. In der Zwischenkriegszeit produziert Chiel in Deutschland mehrere Filme. Besonders erfolgreich ist der 1936 produzierte Film Mayerling, mit Charles Boyer und Danielle Darrieux in den Hauptrollen. Es ist die Geschichte des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Rudolf, dessen Tod im Jahre 1889 auf Schloss Mayerling nie ganz aufgeklärt wurde. Als Emelka in Deutschland eingeht, führt Chiel sein Büro unter dem gleichen Namen erfolgreich weiter. Privat hat sich seit 1917 oder 1918 manches geändert, wenn auch heimlich und nicht offiziell. Chiel unterhält ein Verhältnis mit einer jungen Frau, die noch ein Mädchen war, als er ihr in Lemberg und später in Wien erstmals begegnete.

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Bertha Rosenkranz kommt in Lemberg am 5. März 1900 als Tochter von Moses Rosenkranz und Pessel (Pepi) Josefina Rosenkranz, geborene Weissberg, auf die Welt. Das ehemalige Polen ist seit Ende des 18. Jahrhunderts aufgeteilt zwischen Preussen, Russland und Österreich-Ungarn. Lemberg gehört zu Österreich-Ungarn. Charles’ jüngerer Bruder George erzählt, seine Eltern seien sich dort erstmals begegnet. Chiel war mit Frieda nach Lemberg gezogen und wohnte der Familie Rosenkranz gegenüber: «Mein Vater bemerkte zu seiner damaligen Frau, das Töchterchen Rosenkranz sei ein entzückendes Mädchen …» Die Stadt ist ein strategisch wichtiger Punkt. Sie liegt in der Nähe der Grenze zum russischen Kaiserreich. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutet das auch nahe der Front. Berthas Bruder Karl meldet sich wie so viele junge Männer zu Beginn des Kriegs freiwillig bei der österreichisch-ungarischen Armee – er wird in Norditalien fallen. Moses und Pessel Rosenkranz fliehen mit Bertha und dem Sohn Ignatz nach Wien, wo sich die Familien Weissmann und Rosenkranz ein zweites Mal zufällig begegnen. Sie verlieren sich allerdings wieder aus den Augen und ziehen unabhängig voneinander in die Schweiz. Moses Rosenkranz, der mit Holz handelt, lässt sich mit seiner Familie zunächst in Genf nieder, zieht aber bereits 1917 nach Zürich. In der Limmatstadt begegnet Bertha Chiel ein drittes Mal. Dieses Mal mit Folgen. Chiel entflammt für die junge Frau mit den langen roten Zöpfen. Bertha spielt Klavier und studiert am Konservatorium. Sie lebt mit ihren Eltern im Zürcher Stadtkreis 6. Um sich ihr zu nähern, beginnt der gänzlich unmusikalische Chiel bei Bertha Klavierstunden zu nehmen. «So konnte er sie se20


hen, denn der Vater meiner Mutter war sehr streng. Ein Verhältnis wäre undenkbar gewesen, aber Klavierstunden waren möglich. Meine Mutter erzählte später, er habe seine Hände auf der Tastatur absichtlich falsch gehalten, damit sie die Position korrigiert …» Zwischen dem verheirateten Filmproduzenten und der 17 Jahre jüngeren Klavierlehrerin entwickelt sich eine intensive Liebesbeziehung. Chiel arbeitet fast rund um die Uhr. Die wenige freie Zeit verbringt er mit Bertha. Seine drei Kinder bekommen ihn nur selten zu sehen. Wenn er zu Hause ist, gibt er sich streng und dominant. Besonders die beiden Buben leiden sehr darunter. Natürlich ist auch Frieda in dieser Ehe nicht glücklich. Wusste sie von der Geliebten ihres Mannes, konnten Chiel und sie darüber sprechen? Zumindest gegenüber den Eltern Rosenkranz wird die Fassade gewahrt. Berthas jüngerer Bruder Ignatz, der in Chiels Büro arbeitet, hilft hin und wieder, die heimlichen Treffen seiner Schwester zu vertuschen. Diese lange und schwierige Liaison spitzt sich noch zu, als Bertha in den ersten Wochen des Jahres 1931 unversehens schwanger wird. Erwägt Chiel noch immer nicht, sich scheiden zu lassen? George sagt: «Er wollte sich scheiden lassen, aber Frieda sträubte sich dagegen. Als die Lage immer unerträglicher wurde, überzeugten sie schliesslich ihre Kinder, diesen Schritt doch zu tun.» Einfach ist die Situation auch für Bertha nicht. Um den Skandal eines unehelichen Kindes zu vermeiden und ausser Reichweite ihres Vaters zu sein, reist sie zu ihrer Freundin Ellen Mowinkel nach Budapest. Und nicht nur das: Sie geht dort mit Ferencz Neumann eine Scheinehe ein. Der drogensüchtige Arzt benötigt dringend Geld. 21


Am 14. Oktober 1931 bringt Bertha einen Sohn zur Welt: Karolyi Neumann. Bertha nennt ihn nach ihrem im Krieg gefallenen Bruder Karl. Charles besitzt noch heute ein leinengebundenes Fotoalbum mit Bildern von ihm und Bertha. Die Initialen auf dem Umschlag lauten K. N. «Becoming Charles» lautet denn auch die erste von Charles’ kurzen biografischen Episoden, sogenannten Vignetten, die er kürzlich als Buch zusammengetragen hat. Sie beginnt mit den Worten: «It was not easy.» In der Tat: Am 19. Oktober 1931, fünf Tage nach der Geburt, stirbt Moses Rosenkranz, unvermittelt, ohne von seinem Enkel erfahren zu haben. Bertha reist mit dem Kind nach Zürich zurück. Sie wohnt mit ihrer Mutter an der Sonneggstrasse im Kreis 6. Nur wenige Strassen entfernt lebt Chiel mit Frieda. Die Beziehung zu Bertha wird drei Jahre später endlich offiziell. Im Januar 1933 reisen Chiel und Bertha mit dem kleinen Karolyi nach Wien. Zurück in Zürich ereignen sich nun wesentliche Veränderungen: Im Mai 1933, nach einem ersten missglückten Versuch, werden Chiel, Frieda und ihre beiden Söhne eingebürgert. (Die ausserehelich geborene Tochter Toni ist in dem Dokument nicht erwähnt.) Vielleicht ist es dieser Schritt, auf den Frieda gewartet hat. Denn nun willigt sie in die Scheidung ein und verschwindet sozusagen von der Bildfläche, indem sie zusammen mit dem 17-jährigen Heini nach Lugano reist. Nach einem Aufenthalt in Wien, bei dem Bertha ihre Scheinehe auflöst, heiraten Chiel und Bertha am 4. Mai 1935 in Zürich. Charles erinnert sich an den denkwürdigen Tag. Vor seinem inneren Auge sieht er viele Leute, die vor einem Haus stehen: «Es war mir bewusst, dass es eine Hochzeit war, aber ich glaube nicht, 22


Bertha mit sohn karolyi Neumann

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dass ich die genauen Umstände kannte.» Nur zehn Tage später reisen die Eltern ein weiteres Mal nach Wien, später wohnen sie wieder in Zürich, an der Frohburgstrasse. Auch jetzt, da Chiel mit Bertha und Karolyi zusammenwohnt und wieder Vater ist von einem kleinen Kind, ändert er sein aus Arbeit und Reisen bestehendes Leben nicht. Häusliche Musse ist ihm fremd. Bertha passt sich ihrem Mann nicht nur an, sie liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab und begleitet ihn selbstverständlich auf seinen Reisen. Derweil kümmert sich ein Kindermädchen um den kleinen Karolyi oder Karczy, wie Charles damals auch genannt wird. Mit anderen Worten: Seine Eltern sieht Charles in den ersten Jahren seines Lebens nur selten, frühe Erinnerungen an sie sind vage. Die erste Beziehung, an die er sich heute in Einzelheiten erinnert, ist die zu Miss Bessy. Die englische Gouvernante wird angestellt, als Karolyi vier Jahre alt ist; denn Bertha ist von England wie von keinem anderen Land angetan. Ihr Sohn soll ein perfektes Englisch lernen und mit englischen Manieren und englischer Kultur aufwachsen. Während sich die Privaträume der Eltern im ersten Obergeschoss befinden, logiert Charles zusammen mit der Engländerin eine Etage höher. Miss Bessy kümmert sich den Tag über um ihn und bringt ihn abends zu Bett. Die beiden essen auch im obersten Stock, die Eltern speisen unten, oftmals mit Gästen. Kinder- und Erwachsenenwelt kommen nicht miteinander in Berührung. Wenigstens habe er seine Eltern duzen dürfen, bemerkt Charles und fügt an: «Miss Bessy, sie war es, die mich eigentlich erzogen hat. Mit ihr bin ich aufgewachsen.»

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Charles lernt schnell und gut Englisch. Bis heute fühlt er sich in dieser Sprache am vertrautesten. Miss Bessy ist Ende 30. Die ehemalige Krankenpflegerin mag sich als Kindermädchen gemeldet haben, weil sie alle zwei bis drei Wochen einen Migräneanfall erleidet. «Ich habe mich immer auf ihre Migräne gefreut. Dann hatte ich jeweils zwei Tage frei», sagt Charles, um im selben Atemzug hinzuzufügen: «Aber ich habe sie sehr geliebt.» Wenn Miss Bessy mit Charles’ Betragen zufrieden ist, darf er ihr dickes Anatomiebuch anschauen. «Ich war von den bunten Illustrationen fasziniert, welche die verschiedenen Aspekte des menschlichen Körpers zeigten: blaue Venen, rote Arterien, gelbe Nerven, violette Muskeln und nicht zuletzt manche anatomische Einzelheiten, von denen ich ohne dieses Buch kaum erfahren hätte.» Eingeprägt in seine Erinnerung hat sich auch eine Szene in der Wohnung an der Frohburgstrasse: «Ich hatte irgendetwas angestellt und versteckte mich hinter dem grossen Radio im Wohnzimmer. Die Eltern und Miss Bessy begannen, mich zu suchen. Zuerst meinte ich, sie täten das, um mir eine Freude zu bereiten, doch als sie immer verzweifelter nach mir riefen und mich nicht fanden, wurde es mir mulmig. Ich traute mich fast nicht mehr hervorzukommen.» Chiel kann sehr streng und ungeduldig sein. Auf meine Frage, von wem er als Kind Zärtlichkeiten erhalten hat, denkt Charles einen Moment lang nach und sagt: «Meine Mutter war sehr zärtlich, aber nicht oft.» 1937 kaufen Chiel und Bertha für 300 000 Franken das sogenannte Röntgengut, ein 1927 im englischen Landhausstil erbautes 17-Zimmer-Haus. Bauen liess es die Amerikanerin Marion 25


McHang-Röntgen, deren Mann der Neffe von Wilhelm Conrad Röntgen war, dem Erfinder der Röntgenstrahlen. Bertha lässt die Einrichtung des Hauses vom bekannten Pariser Maison Jansen ausführen, in einer Art Mischung aus englischem Landhausstil und französischen Einflüssen aus dem 18. Jahrhundert. Als Charles eingeschult werden soll, stellen Chiel und Bertha einen Antrag auf Privatunterricht. Sie pflegen im Winter während längerer Zeit in St. Moritz zu sein und möchten Charles dabeihaben. Die ersten zwei Schuljahre unterrichtet somit Miss Bessy den Jungen. Sie lehrt ihn lesen, schreiben und rechnen – alles auf Englisch. Mit den Eltern spricht Charles Deutsch. Polnisch unterhalten sich Bertha und Chiel nur, wenn der Junge etwas nicht verstehen soll. Zu anderen Kindern hat Charles kaum Kontakt, ausser zu seiner Cousine Ruth, der Tochter seines Onkels Ignatz, und dessen Frau Tamara. «Ruth war für mich fast wie eine Schwester. Ihre Familie kam immer mit, wenn wir nach St. Moritz fuhren, wir waren sehr eng mit ihnen verbunden. Sie wohnten an der Germaniastrasse.» Die dritte Primarklasse besucht Charles in Witikon, das damals noch ein Bauerndorf ist. Erstmals ist er mit Kindern zusammen, die Schweizerdeutsch sprechen. Ein Problem sei das nicht gewesen: «Ich holte das schnell auf.» Mit den Buben in seiner Klasse kommt er gut aus und Lehrer Winkler ist nett. Nur etwas stört Charles: «Ich habe mich immer geniert, wenn ich Schuhe trug, denn alle anderen Kinder durften barfuss kommen. Bei Gelegenheit zog ich die Schuhe einfach aus und versteckte sie auf einem Baum. Auf dem Heimweg zog ich sie dann wieder an.» Zur Schule, in diese andere Welt, benötigt er zu Fuss eine halbe Stunde. 26


Oft geht er den Weg alleine, manchmal fährt ihn Bertha mit dem Hudson, einem Amerikanerwagen. Chiel fährt nicht selbst. Seine wenigen Versuche endeten mit Blechschäden. In seinem riesigen Maybach mit Zwölfzylindermotor, mit dem er seine längeren Reisen unternimmt, sitzt der Chauffeur am Steuer. Der jüdische Maler Max Oppenheimer flüchtet 1938, vier Tage vor dem Anschluss Österreichs, nach Zürich. Chiel lässt sich von ihm porträtieren. Das Bild hängt heute in der Stube über dem Kamin. Im selben Jahr lernt Charles im Loorengut seinen Halbbruder Josef kennen, der gerade in der Schweizer Armee Militärdienst leistet. Die Pistole, mit der Josef herumfuchtelt, macht dem Jungen Eindruck. Erstaunlicherweise hat Charles an seine ersten Schuljahre nur gute Erinnerungen. Unter anderem an eine erste Schwärmerei: Als er acht Jahre alt ist, gefällt ihm eine Mitschülerin namens Iris. Als die Klasse 1939 die Landesausstellung besucht, hebt er das Mädchen immer wieder hoch, um ihm eine bessere Sicht zu verschaffen. Die politischen Perspektiven indessen verdüstern sich zunehmend. Am 1. September wird Polen von Nazideutschland überfallen. Chiel und Bertha verfolgen die Ereignisse mit wachsender Sorge. Eines Tages fährt Bertha in ihrem Auto die Loorenstrasse hinunter. Ein Lastwagen, der ihr an einer engen Stelle entgegenkommt, muss ausweichen. Der Fahrer, dem die jüdische Dame hinter dem Steuer offenbar bekannt ist, ruft zum Fenster hinaus: «Warte nur, bis die Deutschen hier sind!» Dieser Vorfall, sagt Charles, habe seine Eltern in ihren Erwägungen bekräftigt, 27


Maybach mit Charles, Bertha und Chiel

Chiel portrÄtiert von Max Oppenheimer

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Chiel schreibt Bertha zum 38. Geburtstag

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zu fliehen. Den Schweizer Juden, so fürchten sie, wird es nach einem deutschen Überfall nicht anders ergehen als den Juden in Deutschland. Am 10. Mai 1940 greift Deutschland die neutralen Staaten Niederlande, Belgien und Luxemburg an. Für Chiel ist damit der Moment gekommen, die Koffer zu packen und die Schweiz zu verlassen. Miss Bessy möchte nicht mitkommen. Sie sagt, ihr Platz sei während des Kriegs in England, bei ihrem Volk. Für den achtjährigen Charles ist es ein harter Abschied. Vier Jahre, sein halbes Leben, war Miss Bessy seine engste Vertraute: «Ich habe meine Eltern eigentlich erst von da an kennengelernt.» Über Genf gelangt die Familie nach Paris, wo die Lage alles andere als gemütlich ist, zumal die französischen und britischen Truppen eine Niederlage nach der anderen erleiden und die Wehrmacht mit ihrem Blitzkrieg immer näher rückt. Chiel, Bertha und Charles fahren weiter nach Portugal, im allerletzten Moment: Wenige Tage später, am 10. Juni, wird Paris nicht mehr verteidigt, am 14. Juni marschieren deutsche Truppen in die Stadt ein. In der Nähe der spanisch-französischen Grenze sieht Charles die vom spanischen Bürgerkrieg versehrte Stadt Irun. Die zerbombten Häuser sind ein Anblick, den er nicht mehr vergessen wird. An der Küste westlich von Lissabon quartiert sich die Familie in Monte Estoril in einem Hotel ein. Während einiger Monate wird Charles im nahen Carcavelos in die englische Schule geschickt. Sie wird strikt nach englischer Disziplin geführt. Die älteren Buben überwachen die jüngeren und quälen sie ungestraft. Chiel und Bertha ist klar, dass auf die Länge auch Portugal vor den Deutschen nicht sicher ist, und so klappert die sprachgewandte 30


Bertha die Konsulate ab. Ein Visum für die Vereinigten Staaten lässt sich nicht mehr beschaffen, vermögende Gesuchsteller erhalten aber Visen für Brasilien. Chiel und Bertha entscheiden sich daher für Rio de Janeiro und schiffen sich, zusammen mit Hunderten von anderen jüdischen Flüchtlingen, auf der 18 Tonnen schweren «Angola» ein. Während der zweiwöchigen Überfahrt ankert das Passagierschiff vor der damals zu Portugal gehörenden Insel Cabo Verde, 570 Kilometer vor der Westküste Afrikas. Bei der Überquerung des Äquators wird auf dem Schiff gefeiert. Seit er mit den Eltern von zu Hause aufgebrochen ist, hält Charles das Kriegsgeschehen in einem kleinen Skizzenbuch fest. Angst hat der Junge nicht. Für ihn ist alles nur interessant. Die Ankunft auf dem neuen Kontinent verläuft chaotisch: «Es war ein unglaubliches Getümmel und es dauerte lange, bis wir endlich alle unsere Kisten und Koffer beisammen hatten. Nun standen noch das Prozedere der Einwanderungskontrolle und der Zoll bevor, meine Mutter sprach wenigstens ein wenig Portugiesisch. Internationale Bankgeschäfte waren längst nicht mehr möglich. Mein Vater hatte zwar Guthaben in den Vereinigten Staaten, aber er konnte davon monatlich nur kleine Summen abheben, weil amerikanische Banken zwischen Deutschen und Schweizern keinen grossen Unterschied machten. Meine Eltern hatten deshalb ihr ganzes Vermögen auf sich: Obligationen, Bargeld und Schmuck. Den wertvollen Koffer sollte ich nun hüten, während meine Eltern die Zollformalitäten erledigten. Was er enthielt, sagten sie mir allerdings nicht. Sie setzten mich einfach darauf, mit der Anweisung, hier auf sie zu warten. Was ich tat. Ich wartete 31


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Charles’ Notizen, 1940, auf dem Weg nach Rio de Janeiro

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und wartete … Seit sie weggegangen waren, schienen mir Stunden vergangen zu sein. Sie kamen einfach nicht mehr zurück! Ich war beunruhigt und befürchtete, dass mich meine Eltern nicht mehr finden. Irgendwann beschloss ich, sie suchen zu gehen. Ich liess den Koffer stehen und hielt in verschiedenen Gebäuden nach ihnen Ausschau. Endlich sah ich sie, in einer Schlange wartend. Freudig rannte ich auf sie zu, doch mein Vater schaute mich nur entsetzt an und schrie: ‹Wo ist der Koffer?› Wir eilten an den Ort zurück, an dem ich ihn stehen gelassen hatte – er war weg. Es war furchtbar. Mein Vater konnte sich schrecklich aufregen! Er tobte noch immer, als ein voll beladener Gepäckwagen uns entgegenkam – ganz oben lag der Koffer mit unserem Geld.» Charles hat die Szene in seinen biografischen Erinnerungen notiert. Am Schluss schreibt er voller Ironie: «But, as one might guess from the fact that I survived to write these lines, all ended well …» – «Wie man anhand der Tatsache, dass ich überlebt habe und diese Zeilen schreiben kann, erraten kann: Die Sache endete gut.» Chiel und Bertha quartieren sich zusammen mit Charles im Hotel Regina ein, das sich in Botafogo befindet, an einem der Strände von Rio. Von dort ziehen sie weiter in ein schöneres Quartier, ins Hotel Copacabana Palace an der Avenida Atlântica, die dem Meeresufer entlang führt. «Brasilien war damals so billig. In diesem besten Hotel der Stadt kostete das Zimmer umgerechnet etwa 5 Franken.» Später mieten die Eltern, ebenfalls an der Copacabana, eine möblierte Wohnung, die während der weiteren Kriegsjahre ihr Domizil bleiben wird. 34


Sie nennen ihren Jungen in Brasilien nicht mehr Karolyi oder Karczy, sondern Charles. Zunächst wird Charles in das Colégio Anglo-Americano geschickt, das er allerdings schon bald wieder verlassen muss, weil die Eltern nach Buenos Aires reisen und ihn nicht allein lassen wollen. Auch dort besucht Charles ein paar Wochen lang die Schule. Wieder zurück in Rio, melden ihn die Eltern in einer kleinen, vornehmen brasilianischen Schule an, die nach dem brasilianischen Missionar Padre António Vieira benannt ist. Der Direktor bemerkt: «Wir haben drei Juden an unserer Schule: einen katholischen, einen protestantischen und einen jüdischen.» Der «jüdische» ist Charles. Als Charles die Anekdote über den Schuldirektor erzählt, fällt ihm ein Witz ein: «Ein Jude lässt sich taufen und wird protestantisch. Kurz darauf lässt er sich wieder taufen und wird katholisch. Als er gefragt wird, warum er gleich zweimal die Religion wechselte, antwortet er: ‹Wenn man mich fragt, was ich bin, sage ich: katholisch. Werde ich dann gefragt, was ich vorher war, kann ich sagen: protestantisch.›» Wir lachen beide und ich frage, woher er den Witz kennt. «Er könnte von Chiel sein. Seine Witze waren immer anständig. Er hatte ein grosses Repertoire an jüdischen Witzen.» Auch Charles erzählt gerne Witze, die zur Situation passen. Den Anstoss, ihn in diese Schule zu schicken, gibt Sebastião Marquês de Pombal, ein um zwei Jahre älterer Junge, den Charles im Hotel Copacabana Palace kennengelernt hat. Charles freundet sich mit ihm an und lernt sehr schnell Portugiesisch. Notgedrun35


gen, denn ausser dem Englischlehrer spricht niemand Englisch. Der Lehrer für Mathematik, der auch Portugiesisch und Französisch unterrichtet, nimmt die Buben in der Pause oft auf seinen Schoss und liebkost sie. Charles denkt sich nichts dabei, er lernt ohnehin eine neue Mentalität kennen: «Die Menschen in Brasilien sind lockerer. Sie nehmen das Leben nicht furchtbar ernst. Am Morgen gehen sie, wenn möglich, zuerst mal an den Strand. Und wir schlichen nach der Schule gelegentlich noch ins Kino.» Im selben Jahr treffen auch Ignatz, Tamara, Töchterchen Ruth und Pepi in Rio ein. Charles verfolgt das Kriegsgeschehen nur oberflächlich, im Unterschied zu den Erwachsenen. Im Juni 1941 erfährt Chiel in Montevideo aus der Zeitung, dass Deutschland Russland überfallen hat. «Er sagte sofort ‹Das ist das Ende von Deutschland!› Er wusste aus dem Ersten Weltkrieg und den Feldzügen Napoleons, dass Russland nicht zu erobern ist. Von da an war er überzeugt, wir würden in die Schweiz zurückkehren können.» Noch ist es nicht so weit. Vielmehr beginnt für Charles ein Alltag mit Schulfreunden und geregeltem Unterricht, aus dem er allerdings immer wieder herausgerissen wird, wenn die Eltern nach Buenos Aires oder Montevideo reisen. Zurück in Rio muss er den Faden wiederfinden und den versäumten Stoff nachholen. Die Schule ist sehr kompetitiv, die Leistung jedes Schülers wird jeden Monat auf einer Rangliste festgehalten. Trotz seiner temporären Abwesenheiten schneidet Charles bei diesem Wettbewerb der Noten meist sehr gut ab. Aussergewöhnliche Leistungen werden zudem mit Medaillen belohnt. Einmal wird auch Charles auf diese Weise ausgezeichnet, als Klassen-Zweitbester. 36


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Er habe sich in Brasilien schon bald wohlgefühlt, erzählt Charles. Die Anpassungsleistung des Jungen ist enorm. Chiel hingegen wird sich später damit brüsten, während der fünf Jahre in Brasilien nur die Worte Coca-Cola und Café gelernt zu haben. Berthas Mutter Pepi, die auch kein Portugiesisch lernt, lobt die Köchin, als diese eine besonders gute Suppe kocht, mit den Worten: «Sopa Europa!» – «Eine Suppe wie in Europa!» Während der Aufenthalte in Buenos Aires ist Charles oft sich selbst überlassen. Der Zehnjährige spaziert stundenlang alleine durch die Strassen und verbringt viel Zeit in Buchhandlungen. Eines Tages entdeckt er das Buch Microbe Hunters des amerikanischen Mikrobiologen Paul de Kruif. Das erste Kapitel handelt von einem holländischen Linsenmacher, mit dessen Mikroskopen erstmals Mikroorganismen beobachtet werden konnten. Ein anderes Kapitel erzählt von Ilja Iljitsch Metschnikow, der als Erster gesehen hat, wie weisse Blutkörperchen Fremdkörper aufnehmen. Charles ist fasziniert von der Lektüre. Den grössten Eindruck machen ihm die Zeilen über den französischen Chemiker und Mikrobiologen Louis Pasteur, weil er als Erster Krankheiten auf Bakterien zurückführte und somit bisherige Erklärungen als Aberglaube entlarvte. Nach Microbe Hunters wird sich Charles in Brasilien auch etliche Bücher über Histologie kaufen, in denen farbige Illustrationen Schnitte durch das Gewebe zeigen: «Ich liebte diese Bücher!» Charles mag etwa zwölf Jahre alt sein, als der Klassenlehrer Dr. Lessa die Schüler bittet, Fragen, die sie nicht vor allen zu stellen wagen, aufzuschreiben und anonym auf den Tisch zu legen. Charles’ Frage ist biologischer Natur. Er möchte wissen, wie die 38


Kinder aus dem Körper der Frau herauskommen. Er ahnt, dass das Thema heikel ist und verstellt daher seine Schrift. Als der Lehrer zu seinem Zettel kommt, bückt sich Charles, als binde er sich den Schuh. Dr. Lessa sagt: «Wollen Sie das wirklich wissen, Herr Weissmann?» Er meint, Charles habe sich einen Scherz erlaubt. Doch dann versteht er, dass die Frage durchaus ernst gemeint ist, und klärt seinen Schüler in der Pause auf. Ob Charles die Frage aus aktuellem Anlass stellt? Bertha erwartet 1944 ein Kind. Sie ist 44. Chiel adoptiert nun den 13-jährigen Charles. Noch in Zürich hatte Bertha ein totes Kind auf die Welt gebracht. Auch diese Schwangerschaft verheisst wenig Gutes. Im Sommer 1945 hört der Arzt in Rio keine Herztöne mehr bei dem Kind. Trotz der alarmierenden Mitteilung will Chiel auf die geplanten Skiferien im argentinischen Bariloche nicht verzichten. Er lässt seine hochschwangere Frau in Buenos Aires zurück und tritt mit Charles und der Tochter eines Geschäftsfreundes die eineinhalbtägige Zugfahrt an, eine Reise von 1600 Kilometern. Eine Telefonverbindung gibt es in den Bergen nicht. «Als wir nach zwei Wochen nach Buenos Aires zurückkehrten, empfing uns am Bahnhof ein Bekannter. Er strahlte über das ganze Gesicht und sagte zu meinem Vater: ‹Ich gratuliere. Sie sind Vater geworden!›» George ist am 7. September 1945 auf die Welt gekommen. Obwohl Charles sagt, er habe sich immer ein Geschwister gewünscht, ist die plötzliche Anwesenheit eines Säuglings für den 14-Jährigen nicht einfach. Sein bereits von zahlreichen Wechseln und Anpassungen geprägtes Leben verändert sich im 39


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folgenden Jahr radikal, als Chiel und Bertha beschliessen, mit den beiden Kindern und Pepi zurück in die Schweiz zu reisen. «Ungern» habe er Brasilien verlassen, sagt Charles. Wie könnte es anders sein: Freunde, Schule, Sprache und Mentalität – alles, mit dem er in den letzten fünf Jahren vertraut wurde, muss der Junge wieder hinter sich lassen. Selbst seine Cousine Ruth, denn Ignatz und Tamara wollen in Rio zu bleiben. Ungern also tritt Charles zusammen mit seinen Eltern und dem Brüderchen die Reise nach Zürich an – es werden ihm keine Erinnerungen an sie bleiben. George erinnert sich an eine Episode, die ihm erzählt wurde: «Als Baby muss ich in der Schiffskabine laut und lange geweint haben, was Charles irgendwann nicht mehr aushielt. Er verliess die Kabine und suchte sich einen ruhigen Platz. Als die Eltern in die Kabine zurückkamen und Charles nicht mehr vorfanden, machten sie sich grosse Sorgen und liessen das ganze Schiff nach ihm absuchen. Schliesslich spürte man Charles auf, ruhig schlafend im Gymnastikraum.» Jakob, genannt Heini, wanderte schon vor dem Zweiten Weltkrieg nach Los Angeles aus. Gegenüber Chiel und seiner zweiten Familie bleibt er zeitlebens auf Distanz. Zum einen, weil Chiel seine erste Familie verlassen hat, zum anderen, weil Chiel Heini vorwarf, ihm anvertrautes Geld missbraucht zu haben. Heini heiratet 1944 in Los Angeles die nicht jüdische Österreicherin Evelyn Wahle und nennt sich als Buchautor fortan Eugene Vale. Chiel nimmt ihm auch den Namenswechsel sehr übel. Ronald Vale, Heinis Sohn, wird ein bekannter Molekularbiologe. 41


Charles in Bariloche, Argentinien

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Mit Bruder George

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Von Heini organisiert, reisen 1940 auch Frieda und Toni nach Mexiko und später nach Los Angeles. Chiel unterstützt beide zeitlebens. Josef und Chiel haben sich überworfen. Dazu war es gekommen, weil Josef, gegen den Willen des Vaters, Paula heiratet, eine ältere Frau. Nachdem Chiel den Sohn nicht mehr unterstützt, setzt sich Paula während des Kriegs in die USA ab und lässt Josef mittellos in Paris zurück. Chiel schickt seinem Sohn schliesslich über den Geschäftsführer der Emelka Geld für die Überfahrt nach Mexiko. Auch Josef lässt sich am Ende in Los Angeles nieder, wo er sich mit Schmuckhandel eine Existenz aufbaut. Die Auslöschung der Juden Rzeszóws gehört wundersamerweise nicht zur Geschichte von Chiel Weissmann und seinen Nachkommen. Und doch: Seine Familie, davon vier seiner neun Geschwister, hat Chiel nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr auffinden können. Auch die Spur zu Berthas Familie verliert sich. Nach dem Krieg ist Bertha nur noch mit entfernten Cousins, den Geschwistern Albert, Minka und Henri Grebler in Kontakt. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten rund 14 000 Juden in Rzeszów. Die Wehrmacht besetzte die Stadt am 10. September 1939. Im Dezember 1941 wurde ein Ghetto errichtet. Im Juli 1942 kam es zu den ersten Massendeportationen: Die jüdische Bevölkerung der Umgebung wurde im Ghetto zusammengeführt, etwa 22 000 Juden in das Vernichtungslager Belzec verschleppt. 44


Zuvor ist es bereits zu Erschiessungen gekommen. Eine Gruppe von etwa 1000 Menschen wurde in einem nahegelegenen Waldstück exekutiert. Im November 1942 lebten noch 3000 Juden im Ghetto, das nun in ein Zwangsarbeitslager umgewandelt wurde. Lagerteil A war für die Zwangsarbeiter bestimmt, ihre Familien wurden im Lagerteil B untergebracht. Im September 1943 wurden die Zwangsarbeiter in das Arbeitslager Szebnie umgesiedelt. Die meisten starben. Ihre Angehörigen wurden im November 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nur 600 Menschen überlebten bis Juli 1944 in einem örtlichen Arbeitslager, einigen gelang die Flucht in die umliegenden Wälder. Nachdem Gerüchte über die Ermordung eines christlichen Mädchens in der Stadt aufkamen, verhaftete die polnische Polizei am 1. Juni 1945 sämtliche Juden Rzeszóws und führte sie inmitten einer wütenden Menge durch die Stadt. Gleichzeitig wurden die Wohnungen der verhafteten Juden geplündert. Noch am selben Tag flohen nach ihrer Freilassung mehr als 200 Juden aus Rzeszów. Damit endete die jüdische Geschichte der Stadt.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Lektorat: Monika Glavac, Zürich Gestaltung, Satz: Trix Wetter, Zürich Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-220-5 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


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Charles Weissmann

Das Buch ist die Biografie eines leidenschaftlichen Forschers, der seine wissenschaftlichen Entdeckungen im Bereich der Prionenforschung, der reversen Genetik sowie der künstlichen Herstellung von Interferon Revue passieren lässt. Charles Weissmann erinnert sich aber vor allem auch an die Menschen, die ihn begleiteten, an seine beruflichen und privaten Beziehungen, an das Leben mit seinen grossen und kleinen Dramen.

© Daniel Rihs

ISBN 978-3-03810-220-5

9 783038 102205

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Daniela Kuhn Charles Weissmann Ein Leben für die Wissenschaft

Die Welt ist sein Zuhause, das Labor seine Welt: Charles Weissmann wurde 1931 in Budapest geboren und wuchs in Zürich und Rio de Janeiro auf. In den 1970er-Jahren war er als Professor für Molekularbiologie an der Universität Zürich massgeblich an der Etablierung dieser neuen Fachrichtung beteiligt. Als Mitbegründer der Biotechfirma Biogen erregte er Anfang der 1980er-Jahre mit der Klonierung von Interferon weltweit Aufsehen. Später spielte er bei der Erforschung des Rinderwahnsinns eine wichtige Rolle. Charles Weissmann lebt heute in Zürich und Florida, wo er bis 2012 am Scripps Research Institute tätig war.

Charles Weissmann Ein Leben für die Wissenschaft

Verlag Neue Zürcher Zeitung

«Kein Naturwissenschaftler ist unersetzlich. Es ist alles da – man muss es nur aufdecken. Entdeckungen sind eben nicht Erfindungen. In der Wissenschaft ist somit immer der Zeitpunkt wichtig, der Neuerungswert.»

Daniela Kuhn | Charles Weissmann. Ein Leben für die Wissenschaft

Daniela Kuhn, geboren 1969, lebt in Zürich. Als freischaffende Journalistin und Autorin schreibt sie für verschiedene Printmedien und arbeitet als Texterin für gemeinnützige Organisationen. In den letzten Jahren hat sie sich auf Lebensgeschichten und Auftragsbiografien spezialisiert. www.danielakuhn.ch

Umschlagabbildung: © Helmut Wachter


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