Joëlle Kuntz: Die Schweiz oder die Kunst der Abhängigkeit.

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Titel der Originalausgabe: La Suisse ou le génie de la dépendeance © Editions Zoë, Genève 2013 www.editionszoe.ch

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Inhalt Vorwort  7 Einleitung  9 1

Nationale Unabhängigkeit als Idol der Völker  17

2  Die

nationale Unabhängigkeit der Schweiz, ein Phänomen ohne genauen Ursprung  25

3

Die politischen Flüchtlinge  41

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Freuden und Leiden des Bankgeheimnisses  51

5

Rechtliche Abhängigkeit  71

6

Heilige Grenze ‒ banale Grenze  81

7

Unter dem Kreuz des europäischen Friedens  87

8

Eine Frage des Bildes  99

Schlussfolgerung: Jenseits der Unabhängigkeit  107 Anmerkungen  117

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Vorwort Ein Blick auf das politische Tagesgeschehen mit seinen Parlamentsdebatten und Abstimmungskämpfen zeigt, wie sehr in der Schweiz – aber auch anderswo – der Bürger Mühe bekundet, die internationale Dimension des politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Lebens in ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit zu erfassen und sich mit ihr zu versöhnen. Grenzen sind immer weniger sichtbar und greifbar, Unabhängigkeit ist nicht das Gegenteil von Abhängigkeit, Völkerrecht zerstört nicht die Souveränität … All diese teils banalen, teils paradoxen Feststellungen tauchen immer wieder in unseren nationalen Debatten auf und wirken sich auch auf die Haltung und die Stellung des Landes in seinem europäischen und weltweiten Umfeld aus. In ihrem jüngst in Genf bei den Editions Zoé und der Tageszeitung Le Temps erschienenen Essay La Suisse ou le génie de la dépendance geht die Journalistin Joëlle Kuntz diesen Fragen nach – als Journalistin und nicht als Historikerin oder als Politikerin, wie sie betont. Geschichte muss nicht nur mit wissenschaftlicher Akribie erforscht und erarbeitet, sondern am Ende auch vermittelt werden, an Herrn und Frau Jedermann, durch die Historiker selber – einige, nicht alle, haben diese Gabe –, aber auch durch Journalisten, Diplomaten, Lehrer. Joëlle Kuntz wurde zwar in der deutschsprachigen Schweiz, genauer gesagt in Uznach im Kanton Sankt Gallen, geboren. Ein Blick auf ihre Karriere zeigt jedoch, dass sie ohne Einschränkung zur Elite des welschen Journalismus zu zählen ist. Fast alle massgeblichen Medien tauchen da auf: Radio suisse romande, La Liberté (Freiburg), L’Impartial (Neuenburg), L’Hebdo, Le Nouveau Quotidien, wo sie stellvertretende Chefredaktorin war, und Le Temps, bei der sie die Rubrik Opinions (Gastautoren) betreute. In ihrem «Ruhestand» schreibt sie auch weiterhin regelmässig für Le Temps, mit Vorliebe Gastkolumnen zu historischen Themen. Zu Beginn ihrer Karriere arbeitete Joëlle Kuntz auch für französische Blätter und weilte zur Zeit der Nelkenrevolution als Korrespondentin in Lissabon; da­­raus entstand das Buch Portugal. Les fusils et les urnes (erschienen bei Denoël, Paris 1975). In jüngerer Zeit finden wir auf der Liste ihrer Werke L’histoire suisse en un clin d’oeil mit einem Vorwort von Jean-François Bergier (Editions Zoé, Genève 2006), auf Deutsch erschienen unter dem 7


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Vorwort

Titel Schweizer Geschichte – einmal anders mit einem Vorwort von Peter von Matt (Tobler Verlag, Altstätten 2009). Auch ihr Buch Genève, histoire d’une vocation internationale (Zoé, Genève 2010) wurde stark beachtet. Nochmals: Joëlle Kuntz ist Journalistin. Ihre Bücher zeichnen sich durch eine wohltuende Kürze und Klarheit aus. Sie haben meist Taschenbuchformat und verschwinden beinahe zwischen den wuchtigen «Mehr-Kilo-Bänden» des Rayons Geschichte. Der Zwischenruf, der elegante Essay zu aktuellen Fragen mit einigen historischen und philosophischen Exkursen, auch gelegentlichen politischen Seitenhieben, ist ein typisch französisches Produkt und im deutschen Sprachraum eher selten anzutreffen. Indes, gerade wenn es um die schweizerische Aussenpolitik geht – mit den Themenbereichen Europapolitik, Bankgeheimnis und grenzüberschreitendes Steuerwesen, Migrationsbewegungen, Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht u. a. m. –, ist es, so scheint mir, ganz besonders wichtig, dass über den «Röstigraben» hinweg immer wieder neu ein intelligenter Dialog geführt wird, dass die deutschsprachige Schweiz die Geisteshaltung der welschen Landsleute versteht und umgekehrt. Die Welt, in der wir leben, ist dieselbe. Die Schweiz gehört allen Bürgern gleichermassen! Joëlle Kuntz spricht vom «Genie» der Schweizer für die Abhängigkeit. Der Übersetzer weiss, dass er génie hier nicht mit Genie übersetzen darf, denn Genies sind wir beileibe nicht; gemeint ist vielmehr Gabe, Neigung oder eben Kunst – «Kunst» kommt von «können». Wichtig ist, dass wir Schweizer uns dieser komplexen Abhängigkeiten, in denen wir gelebt haben und leben, die wir erleiden und mitunter auch (mit)gestalten, bewusst sind, dass wir sie nicht verdrängen, dass wir unser so ausgeprägt transnationales alltägliches Verhalten in Einklang bringen mit unserem nur zu oft auf nationale Dimensionen zurückgestutzten politischen Verständnis. Joëlle Kuntz meint, wir Schweizer hätten eine besondere Gabe für das Verhandeln. Das mag richtig sein. Doch gut Verhandeln heisst auch, Hinschauen und Zuhören, Sich-Einfühlen, eine Gesamtschau entwickeln und Antizipieren. Da haben wir bestimmt noch Nachholbedarf, selbst wenn unsere eigene Geschichte uns immer wieder wertvolle Nachhilfestunden zu geben vermag. Wir müssten uns nur die Zeit nehmen, ihr zuzuhören … Benedikt von Tscharner ehemaliger Botschafter der Schweiz 8


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Einleitung Seit nunmehr gut zwanzig Jahren muss die Schweiz auf der Weltbühne Rückschläge hinnehmen. In den 1990er-Jahren waren es vor allem die Vorwürfe Amerikas oder Israels ob der herrenlosen jüdischen Guthaben auf ihren Banken, in deren Folge sie ihr Verhalten während des Zweiten Weltkrieges einer Überprüfung unterziehen musste. Im Jahr 2009 zog sie die Missbilligung der OECD, der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union wegen des Bankgeheimnisses auf sich. Von Mouammar alGaddafi, dem einstigen libyschen Potentaten, wurde das Land gedemütigt. Die Beziehungen zur Europäischen Union waren und sind nicht gut. Und die deutschen und französischen Nachbarn haben die Schweizer Banken im Visier, wo sie unversteuerte Kapitalien vermuten. Regelmässig ertönt in der schweizerischen Öffentlichkeit der Aufschrei: «Man tut uns Gewalt an!» Wie üblich reagiert der Bundesrat fallweise ‒ eine Feuersbrunst aufs mal. Im Jahr 2013 vermittelt die Schweiz zwei Bilder: In wirtschaftlicher Hinsicht geht es dem Land seit zehn Jahren gut. Dank einer umsichtigen Ausgabenpolitik ist es von der internationalen Finanzkrise weitgehend verschont geblieben, die sich im Anschluss an das amerikanische Kreditdebakel ausgebreitet hatte. Politisch hingegen wird die Schweiz nicht verstanden und von allen Seiten mit Kritik überhäuft. Die Staatsführung, stets geneigt, die nationale Unabhängigkeit zu beschwören, entpuppt sich als überfordert, sobald es darum geht, diese Unabhängigkeit für die Zukunft konkret auszugestalten. Die Bürger der Schweiz zeigen sich von ihrer Regierung enttäuscht, die ihnen nicht mehr jene symbolischen Erfolge verschafft, die man sich einst an die Fahne heften konnte. Was sie täglich erleben, sind Verzicht, Rückzug, Abwehr. An keiner Front erfolgt ein Durchbruch, sei er auch noch so bescheiden. Ein Teil der Öffentlichkeit tröstet sich mit der Beschwörung eines legendenumwobenen goldenen Zeitalters der nationalen Unabhängigkeit, das es mit ein wenig Mut wieder zu beleben gälte, beispielsweise mit ­Wilhelm Tell als Vorbild. Die Mehrheit allerdings bleibt skeptisch und fühlt sich eher hilflos angesichts dieses Grabens, der sich so unverständlicherweise auftut zwischen der guten, verdienstreichen Schweiz, die alle 9


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Einleitung

bewundern, und jener, der die Mächtigen dieser Welt ihren Willen aufzwingen. Entmutigung macht sich breit. Unbeantwortete Fragen verdüstern die Gegenwart. Welchen Platz nimmt die Schweiz in der Welt des 21. Jahrhunderts tatsächlich ein? Wie kann sich das Land definieren, positionieren und aktiv werden? Dieser Essay möchte im Lichte der Geschichte den Gründen für das Unbehagen nachgehen, das sich rund um den Begriff der nationalen Un­­abhängigkeit entwickelt hat. Warum appellieren wir an sie und warum antwortet sie nicht? Weshalb wandelt sich das Gefühl der Sicherheit, das sie den Bürgern einst vermittelte, in Unsicherheit? Warum schliesslich erscheint uns Unabhängigkeit in dieser einengenden Definition eher als Belastung des nationalen Zusammenlebens denn als Kraftquelle und Hilfe? Zunächst möchte ich die nationale Unabhängigkeit in ihr geschichtliches und geografisches Umfeld einordnen; denn nur so wird verständlich, welche Hoffnungen sie verkörperte und welche Werkzeuge kollektiven Handelns sie im euro-amerikanischen Raum bot, wo sie sich herausgebildet hat. Dabei kann die moralische Überlegenheit analysiert werden, die das Konzept der Unabhängigkeit in einem kleinen, von grösseren Mächten umgebenen Land erlangte, während seine Abhängigkeit kaum wahrgenommen wurde. Danach werde ich anhand einiger historischer Beispiele darlegen, wie sich diese Spannung zwischen moralischer Unabhängigkeit und praktischer Abhängigkeit entwickelt und schliesslich im Zuge des konkreten und systematischen Erlebens der Abhängigkeit zu einer Schwächung des Konzepts Unabhängigkeit geführt hat. Schliesslich werde ich mich mit der Frage nach der Tragweite der Unabhängigkeit unter den politischen Bedingungen von heute auseinandersetzen und dabei das, was abgewertet oder gar als schmachvoll verborgen wurde, wieder aufzuwerten versuchen, nämlich den pragmatischen Umgang mit der Abhängigkeit, die Kunst des Zusammenlebens in einer von den Machtverhältnissen vorgegebenen Wirklichkeit. Unabhängigkeit und Abhängigkeit sind keine eindeutigen Begriffe. Beiden ist eine Doppelnatur eigen. Unabhängigkeit steht zwar für Freiheit, bedeutet aber gleichzeitig auch Trennung und Isolierung. Abhängigkeit wiederum kann bis zur Versklavung gehen; ihre positiven Seiten sind jedoch Austausch, Verbundenheit, ja sogar Schutz. Die Auslegung der beiden Begriffe erfordert Urteilsvermögen. Man kann bei kommen10


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Einleitung

den Entwicklungen schwere politische Fehler begehen, wenn man diese Beziehungen falsch interpretiert. Als Freiheitsstreben verstanden verkörpert die Unabhängigkeit einen Wert, während die Abhängigkeit ein alltägliches Faktum ist, sowohl im Inneren der Staaten wie auch zwischen ihnen. Wenn allerdings dieser Wert infolge eines Übermasses an Emotionen das Faktische verdrängt, wird jedes Handeln unmöglich und die Politik von Ressentiments und Verwirrung durchsetzt, dann ist es Zeit, Form und Inhalt der Unabhängigkeit zu überprüfen, um sie auf die heutige Welt auszurichten und ihr wieder einen Sinn zu geben. Wenn die Schweiz ihr Unbehagen mindern will, so besteht die Mindestaufgabe darin, den Begriff der Abhängigkeit von seiner ideologischen Diskreditierung zu befreien, die durch die Verabsolutierung der «nationalen Unabhängigkeit» entstanden ist – das gilt übrigens nicht nur für unser Land. Was wir brauchen, ist ein anderer historischer Blick, eine etwas veränderte Perspektive. Wo bisher einzig der Sieg der Unabhängigkeit gefeiert wurde, müssen wir auch sehen, welche neuen Bande mit unseren Nachbarn entstanden sind. Es geht darum, nicht immer nur auf die Geschichte der Trennungen und Brüche zu verweisen, als ob allein diese die Schweiz hervorgebracht hätten, sondern auch auf die Geschichte der Verbindungen, Verpflichtungen und Zwänge. Bedeutsame Ereignisse müssen in ihrer Vielschichtigkeit dargestellt werden, und zwar mit dokumentarischer Sorgfalt und ohne Moralismus; und dazu gehören auch die anderen Staaten gemachten Konzessionen, denen die Schweiz es verdankt, weiterhin zu existieren. Es wäre sicherlich leichter, die von manchen als zu nachgiebig beurteilte Haltung der heutigen Regierung gegenüber den Vereinigten Staaten zu verstehen, wenn die zahllosen in der Vergangenheit eingegangenen Kompromisse bekannter wären, wenn die Geschichte der Abhängigkeit ohne Scham neben die Geschichte der Unabhängigkeit gestellt werden könnte. Dass es eigens beauftragter Historiker bedurfte, um die verdrängte Wahrheit der Anpassungen amtlich zu bestätigen, welche die Beziehungen zum Dritten Reich kennzeichneten, und dass der Bundesrat so peinlich davon berührt war, sagt viel über die Sakralisierung der Unabhängigkeit aus. Die Reaktionen auf den Bergier-Bericht machten es deutlich: Für die einen war der Bericht verfälscht, wenn nicht gar falsch, weil er dem Bild 11


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Einleitung

von den erbrachten Opfern, um unbeschadet davonzukommen, widersprach – Opfern auch an Ehre; für die anderen war er Beweis für den Verrat der damaligen Regierung, die sich im Umgang mit dem Feind kompromittiert hatte. Zwischen diesen beiden Haltungen machte eine Mehrzahl der Schweizer die schmerzhafte Entdeckung einer Wahrheit, die keineswegs überraschen konnte, die man indes lieber nicht in aller Öffentlichkeit diskutiert hätte. Auf jeden Fall wurde mit dem Faktum der Abhängigkeit das Monument der nationalen Unabhängigkeit angekratzt, das sich jeder durch die gängige Lesart der Schweizer Geschichte errichtet hatte und in der die tiefen und konstanten, die guten und die weniger guten Beziehungen mit unseren Nachbarn ausgeblendet sind. Das Lob der Unabhängigkeit geht oft mit einer Verkennung der Wirklichkeit oder gar mit Blindheit einher. Geschichte ist ein Prozess fortwährender Arrangements. Wenn wir aufhören, aus dem nationalen Epos jenen triumphalen, linearen und abstrakten Weg zu basteln, der vom einstigen, gar mythischen Zustand der «Unterwerfung» zum erhofften Zustand der Unabhängigkeit führte, wenn wir unsere Geschichte in Verbindung mit jener der anderen lesen, dann wird es uns vielleicht besser gelingen, mit diesen Arrangements in gutem Einvernehmen zu leben. Die Geschichte der Abhängigkeit bleibt noch zu schrei­ben; es wäre dies ein Dienst an der Gegenwart, an den Frauen und Männern, die eingebunden sind in das Netz menschlicher Realitäten von heute. Eine solche Aufgabe wäre schwierig und würde Zeit und Mittel erfordern, die mir nicht zur Verfügung stehen. Ich werde mich deshalb da­­rauf beschränken, ein paar Spuren nachzugehen, um die Schweizer Geschichte aus ihrer Isolation zu befreien, um ihr ihre reale und lebendige Dimension im Tumult der Jahrhunderte wiederzugeben, den sie gemeinsam mit ihren unmittelbaren und auch ferneren Nachbarn durchlebt hat, und um sie «beziehungsorientiert» zu denken. Denn ungeachtet des Kults, den man der Unabhängigkeit widmet, ist sie in Wirklichkeit ein Band, das verbindet; ich werde das noch erklären. Die Welt ist ein Puzzle mehr oder weniger gegenseitiger nationaler Ab­­ hängigkeiten. Dies zeigte sich spätestens bei der Ölkrise von 1974 und schlug sich nieder im Konzept der Interdependenz. Leider wird dieses allzu oft auf die kommerziellen Machtverhältnisse reduziert. In Wirklichkeit steckt mehr dahinter, nämlich ein Paradigmenwechsel in den Beziehungen zwischen den Staaten und den Gesellschaften. Dem Konzept der 12


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Einleitung

Interdependenz liegt die Einsicht zugrunde, dass die über die Erde verteilten Ressourcen langfristig auch einen politischen Preis haben, der daher rührt, dass sich die Anzahl der weltweiten Akteure vermehrt und dass sie sich emanzipieren. Dieser Preis betrifft nicht nur Käufer und Verkäufer, sondern in seinen sichtbaren sozialen und kulturellen Folgen die gesamte menschliche Gemeinschaft. Im Jahr 2005, anlässlich des 60. Jahrestages der Vereinten Nationen, unterzeichnete Ruth Dreifuss zusammen mit rund sechzig Persönlichkeiten eine «Universelle Erklärung der Interdependenz». Der Augenblick sei gekommen, so heisst es darin, um «die unfreiwillige Risikogemeinschaft in eine gewollte Schicksalsgemeinschaft zu verwandeln». Technisch ist die Schweiz für die Interdependenz gut gerüstet. Die Pro-Kopf-Anzahl an Juristen und Rechtspraktikern ist aufgrund des Föderalismus aussergewöhnlich hoch. Die Verhandlungskunst ist ein Spezialgebiet der Schweiz. Sie kennt das Labyrinth der Weltwirtschaft aus Erfahrung. Sie ist offen für die Vielfalt. Auf dem Gebiet der Forschung wie auch im Dienstleistungssektor hat sie viel einzubringen. Aber: Die Schweiz bleibt misstrauisch gegenüber fremden Mächten. Mit Baudelaire könnte man sagen: Die Unabhängigkeit des zwergenhaften Riesen hindert sie am Gehen. Walter Benjamin schrieb in seinem Passagen-Werk, dass das Geschehen, das den Historiker umgibt und an dem er teilnimmt, als ein mit unsichtbarer Tinte geschriebener Text seiner Darstellung zugrunde liege. Auch ich glaube die Bedeutung der Geschehnisse zu erkennen, die meine Wahrnehmung des nationalen Diskurses der Schweiz beeinflussen. Meine Generation, d. h. die unmittelbare Nachkriegsgeneration, wurde durch zwei grosse Momente geprägt. Das war zum einen der Kalte Krieg mit seinen ideologischen Zwängen, sowohl innerhalb der Staaten als auch zwischen den Staaten, und mit der nuklearen Abschreckung als Ersatz für den Frieden. Und zum anderen war es die Auflösung dieser Ordnung zwischen 1989 und 1995 und die da­­rauf folgende Globalisierung, die ihrerseits für Überraschungen sorgten. Zu erwähnen ist insbesondere das Wiedererwachen nationaler Bestrebungen in all ihren Facetten, friedlichen und gewaltträchtigen, und auf allen Kontinenten, ein Phänomen, das im Widerspruch zu den universalistischen Idealen stand, welche die westliche Zivilisation zu verkörpern glaubte. Zu diesen beiden politischen Momenten gesellte sich die moralische Bürde durch Auschwitz und den Gulag, die das Bild des Menschen für immer verdüsterte, aber gleichzeitig 13


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Einleitung

das Gebot der Demokratie samt ihren Institutionen der Gegenmacht fest verankerte. Der Kalte Krieg war dadurch gekennzeichnet, dass die Allianzen, mit Ausnahme der westeuropäischen, nicht frei gewählt, sondern aufgezwungen waren: ideologisch, politisch und oft brutal, wie in Ungarn im Jahr 1956 oder in Chile 1973. Die Blockfreiheit stellte ein Risiko dar. Nationale Unabhängigkeit war damals ein zentraler Wert, der die Hoffnung auf eine von mehr Gleichheit und Gerechtigkeit und weniger Zwang geprägte Welt nährte. In diesem Sinne trat Charles de Gaulle in Bukarest an der Seite Ceauşescus auf, als dieser sich von Moskau distanzierte. Obwohl die Schweiz ideologisch auf den Westen ausgerichtet war, eine Entscheidung, die auch ihrer Kultur entsprach, spielte sie ihre eigene Melodie, und zwar die der politischen Neutralität, mit den unumgänglichen Arrangements. Sie war blinder Passagier der NATO und akzeptierte gewisse wirtschaftliche Vorgaben, so etwa gegenüber kommunistischen Staaten ein Teilembargo für gewisse Erzeugnisse der Spitzentechnologie. Zum Ausgleich baute sie jedoch einen bedeutenden Handel mit den Oststaaten auf. Einerseits unterzeichnete sie 1972 ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Gemeinschaft; andererseits ging sie auf den von Leonid Breschnew lancierten Plan einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ein, wo sie sich dann auszeichnen sollte. Die Schweiz spielte also eine Rolle, bot eine Plattform für Gespräche zwischen verfeindeten Akteuren, diente als Vermittlerin. Es war eine nützliche Rolle. Während des Krieges, ob heiss oder kalt, war ihre Neu­ tralität für die anderen Mächte unangefochten, wurde respektiert, mit­ unter sogar gefürchtet, zumal sie der Blockfreien-Bewegung als Bezugspunkt diente. Die meisten in der unmittelbaren Nachkriegszeit geborenen Schweizer erlebten die bipolare Ordnung des Kalten Krieges mit einer gewissen Sorglosigkeit. Skeptiker machten sich zwar über den allenthalben betriebenen Bau von Atomunterständen lustig, generell jedoch wurden diese akzeptiert. Man lächelte über das Lied von Gilles aus den 1950er-Jahren «Uns fehlt der Krieg, wir sind besorgt!» Die polizeiliche Überwachung der linken Dissidenten blieb geheim, bis es im Jahr 1989 zur sogenannten Fichen-Affäre kam, die den weithin geteilten Antikommunismus in seinem bürokratischen und extremen Charakter enthüllte. Das zweite politische Moment brachte Unsicherheiten ins Spiel. Als die disziplinierende Ordnung des Kalten Krieges auseinanderbrach, was zunächst Euphorie, danach Beunruhigung auslöste, entwickelten sich 14


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Einleitung

neue Kräfteverhältnisse, welche die Gepflogenheiten grundlegend veränderten, auf die sich die Schweiz stützte. Mit dem Aufstieg von Ländern wie Brasilien, Indien oder China, die bislang entweder abhängig waren oder abseitsstanden, und dem Entstehen einer als multipolar bezeichneten Welt konnte man nunmehr Bündnisse frei wählen, die bislang aufgezwungenen worden waren. Befreit von der alten Bevormundung wurde das Bündnisprinzip sogar zum A und O der politischen und vor allem auch der wirtschaftlichen Beziehungen. Wer sich zusammenschliesst, ist stärker als derjenige, der sich nicht mit anderen verbündet. Die früher als Tugend verstandene Isolierung verwandelte sich nun in ein Prob­lem. In allen Bereichen der internationalen Beziehungen entstanden Interessengruppen. Man musste sich Zutritt zu ihnen verschaffen, wenn man seinen Platz verteidigen wollte; man musste verhandeln, geben und nehmen, das neue Spiel mitspielen. Der mit unsichtbarer Tinte geschriebene Text, der sich hinter meiner Schrift verbirgt, lässt den Schock erkennen, der sich für eine Bewohnerin eines kleinen Landes aus dem Übergang von einer stabilen, geschlossenen Ordnung ergab, die als ungerecht, beherrschend und potenziell katastrophal empfunden wurde, hin zu einer offenen, jedoch instabilen, wettbewerbsorientierten, nicht vorhersehbaren Ordnung, in der jeder seinen selbst gewählten oder ihm zugewiesenen Platz hatte, wo Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Sicherheit und Unabhängigkeit neu verteilt wurden. Es war der Schock einer neuen Welterfahrung. Diese Erfahrung wurde für mich zu einer Art von Initiation, als ich 2009 im Menschenrechtssaal des UNO-Gebäudes in Genf eine Diskussion zu leiten hatte zwischen Stéphane Hessel, der damals sein Buch Indignez vous! (deutsch: Empört euch!) noch nicht geschrieben hatte, und dem aus den Antillen gebürtigen Dichter Édouard Glissant, der seine Bücher Philosophie de la relation und La poétique du divers bereits veröffentlicht hatte. So sass neben mir auf der einen Seite ein philosophierender Diplomat, der seinerzeit an der Ausarbeitung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung beteiligt war, und auf der anderen Seite ein Dichter des Widerstands, der den universalistischen Anspruch der französischen – und westlichen – Kultur zurückgewiesen hatte. Zwei weise Männer. Hessel sah die Universalität der Menschenrechte als oberstes Prinzip und versuchte, die menschliche Vielfalt in dieses Prinzip einzubringen. Glissant plädierte dagegen für die Vorherrschaft der Unterschiede als Bedingung der Universalität. «Ich verändere mich im Austausch mit dem 15


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Einleitung

anderen, ohne mich zu verlieren und ohne meine Natur zu entstellen», meinte er. Der Vision Hessels einer Welt, die sich um die Statue der Menschenrechte schart, stellte er die Vision einer Welt ohne Monument, ohne Drehbuch gegenüber, vereint nur durch die Moral der zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich darin entwickeln, eine «archipelische» Welt, wie sich der Dichter ausdrückte. Wir befinden uns im geistigen Universum von Édouard Glissant, mit Überresten desjenigen von Stéphane Hessel. Der Unterschied ist im Palast der Nationen von Genf bildlich erkennbar. An der Decke des alten Ratssaales, der 1937 eingeweiht wurde, als der Völkerbund dort einzog, findet sich ein Gemälde des katalanischen Künstlers José-Maria Sert: La leçon de Salamanque. Es zeigt fünf Männer, die fünf Kontinente verkörpernd, die in einer brüderlichen Geste der Einigkeit und vom gleichen Ideal beseelt ihre kräftigen Handgelenke gegenseitig fest umfassen. An der Decke des 2009 eingeweihten Menschenrechtssaals stellt das Werk eines anderen Katalanen, Miquel Barceló, das 21. Jahrhundert dar: ein wahrer Sturm an Material, Klebstoff und Farben über unseren Köpfen, Spitzen und Schlünde, keinerlei Ordnung, keine Logik. Das ist das Beben der Welt: atemberaubend, beängstigend, real. Dieses Buch setzt sich aus mehreren Teilen zusammen. Jedes Kapitel konstituiert ein Feld, das es gestattet, sowohl die Abhängigkeit als auch die Unabhängigkeit in den verschiedenen Bereichen des nationalen Lebens zu illustrieren. Zusammen erlauben sie uns, das Gebäude der schweizerischen Politik in der Welt insgesamt zu erkennen, deren Stärken und Schwächen zu beurteilen und da­­raus einige Schlussfolgerungen zu ziehen. Unabhängigkeit und Abhängigkeit lassen sich nicht immer in einen Gegensatz zueinander stellen, weder zeitlich noch sachlich. Man macht jedoch einen Schritt auf dem Weg zum Verständnis der Schweizer Geschichte, wenn man weiss, dass beide existieren und dass die Abhängigkeit jenen Kerker nicht verdient, in den die Unabhängigkeit sie ge­­ sperrt hat.

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Kapitel 2

Die nationale Unabhängigkeit der Schweiz , ein Phänomen ohne genauen Ursprung Im Juli 1945 empfing General de Gaulle in seiner Residenz im Bois de Boulogne Carl Jakob Burckhardt, den schweizerischen Gesandten in Paris, zu einem Abendessen ohne Protokoll. Die Konversation war so entspannt, wie sie es mit einer Persönlichkeit dieses Kalibers nur sein konnte. Der General hielt die Zerschlagung des österreichisch-ungarischen Kaiserreiches für einen historischen Fehler. Burckhardt zitierte Metternich, nach dem sich die Doppelmonarchie aus der jahrhundertealten Abwehr gegen die Türken herausgebildet hatte, wo­­rauf der der General ironisch fragte: «Und welche Abwehr hat denn die Eidgenossenschaft hervorgebracht und liess sie überleben?» «Sie entwickelte sich im Mittelalter, gegen die Habsburger», antwortete der Diplomat und fügte willfährig hinzu, dass dieser Ursprung die Schweiz Frankreich stets nähergebracht habe.13 Der Schweizer Gesandte hatte 1945 ein Geschichtsbild der Schweiz vor Augen, das Autoren des 18. Jahrhunderts gezeichnet hatten und das im 19. und 20. Jahrhundert kopiert wurde, eine Geschichte «gegen» die Habsburger, die 1291 begann, sich in einer Folge von Ereignissen weiterentwickelte, die kausal miteinander verknüpft waren, bis hin zur Errichtung des unabhängigen Nationalstaats. Dank dieses linearen Geschichtsbildes weiss der Schweizer, woher er kommt und weshalb er sich gerade da befindet, wo er heute steht. Zumindest glaubt er, das zu wissen. Denn in Wirklichkeit herrscht Unklarheit über die Anfänge: Die Unabhängigkeit der Schweiz hat keinen festen Ausgangspunkt. Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten gibt es keinen Gründungsvertrag, in dem die Bedingungen schwarz auf weiss festgehalten sind. Die Schweiz entstand auch nicht aus einem Bruch zwi25


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Kapitel 2

schen einem Zuvor und einem Danach, wie dies beispielsweise in Ländern der Fall ist, die sich von einem imperialen oder kolonialen Joch «befreiten». Ein nützlicher Mythos

Den Schwur, den 1291 die drei bäuerlichen Gemeinschaften der Zentralschweiz ‒ Uri, Schwyz und Unterwalden ‒ leisteten, können wir als geschichtlichen Beginn einer Allianz festhalten und nicht mehr. Dieses Bündnis wurde, wie viele andere jener Zeit auch, zur Verteidigung von kommerziellen und Sicherheitsinteressen geschlossen, ein für das Mittelalter banaler Vorgang. Viel später, im 18. Jahrhundert, diente es dazu, die moralischen Inhalte aufzuwerten, auf die sich die Verfechter einer viel umfassenderen konföderalen Union zu berufen gedachten. Die Idee des Bandes und jene einer den Alpen entsprungenen Freiheit passten sehr gut zu dem Land, das auf der Suche nach Einheit war. Der Zeitpunkt allerdings, der im Übrigen unklar ist, markierte nicht den ersten Akt einer «Unabhängigkeit», allenfalls in Form eines Mythos. «Unsere Vorfahren, die Schwyzer» lieferten eine Art Genealogie, mit der sich ein «wir Schweizer» konstruieren liess, neben all den anderen «Wir», die damals in ganz Europa erfunden wurden. Die zeitliche Festlegung auf das Mittelalter schien vor allem deshalb plausibel, weil die Zentralschweiz damals, bislang abseits der grossen Kräftelinien der europäischen Geschichte stehend, nun plötzlich eine Rolle zu spielen begann. Grund hierfür war die Öffnung des Gotthardpasses. Die Verleihung der Reichsunmittelbarkeit an Uri, danach an Schwyz, bezeugte das Interesse Kaiser Friedrichs II. an diesem Gebiet. Die bislang abgekapselten Bewohner der Waldstätte hatten nun plötzlich etwas zu bieten. Die neue Lage erlaubte es, feudalen Herrschafts- und Dominanzbestrebungen von aussen Paroli zu bieten. Damit verbunden waren lokale Autonomiebestrebungen, ein neues Selbstbewusstsein im grösseren Umfeld ‒ sicherlich nicht jedoch der Aufstand eines Volkes gegen seine Unterdrücker. Allein die Tatsache, dass der Pakt von 1291 bis ins 18. Jahrhundert der Vergessenheit anheimgefallen war, genügt, um dies zu belegen.14

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Die nationale Unabhängigkeit der Schweiz

Die Schweiz und die Reichspolitik

Ein anderes Ereignis wurde für die schweizerische Unabhängigkeit als grundlegend genannt: die Unterzeichnung des Friedens von Basel im Jahr 1499, der dem Krieg zwischen den zehn Orten der Eidgenossenschaft und den dem Habsburger Kaiser Maximilian I. zu Diensten stehenden Fürsten, Rittern und Städten des Schwäbischen Bundes ein Ende setzte. Doch selbst das ist umstritten. Die Eidgenossen hatten die schwäbischen Landsknechte besiegt und erreicht, was sie sich wünschten, nämlich nicht zur Teilnahme an den Reichstagen gezwungen zu werden, keine Reichssteuer, den sogenannten «Gemeinpfennig», entrichten zu müssen – den sie übrigens nie bezahlten – und keiner Reichsgerichtsbarkeit unterworfen zu sein. Keine Bestimmung des Vertrags von Basel sah jedoch die Trennung zwischen den Schweizern und dem «Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation» vor. Die Schweizer waren Bestandteil des Reiches und betrachteten sich auch weiterhin als Untertanen des Kaisers, waren aber von den Beschlüssen entbunden, die Maximilian beim Reichstag von Worms 1495 durchsetzte. Da sie selber für die Sicherheit in ihren Landen sorgten, betrafen sie die Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nicht, die mit der im Reich herrschenden Unsicherheit und den vielen Plünderungen begründet wurden. In den «Neuerungen» vermochten sie einzig deren verpflichtende Aspekte zu erkennen, was sie als Auftakt zu einer Zentralisierung auslegten, die mit ihren «Freiheiten» nicht vereinbar war. Sich auf Gewohnheitsrecht stützend wiesen sie da­­ rauf hin, dass der Gemeinpfennig eine Neuerung darstellte, die bisher noch kein deutscher König eingefordert hatte und den sie mithin abzulehnen berechtigt waren. Die Berufung auf den «Brauch» half den Schweizern, sich der Gemeinschaft der Reichsglieder zu entziehen und sollte auch im Weiteren bei der Gestaltung ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen immer wieder auftauchen. Die Rechtfertigung durch das Vergangene, das «was gewesen ist», wurde zum ständigen, beinahe instinktiven Bezugspunkt ihrer politischen Entscheide.15 Im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert existierte das Konzept der Unabhängigkeit in seiner modernen Auslegung noch nicht. Bedeutsam waren nur die Vorstellungen von Freiheiten, Rechten und Privilegien, welche die Schweizer im Rahmen des umfassenden Reichsverbundes zu maximieren suchten. Teil des Reichs zu sein, bedeutete, einer universalen geopolitischen Ordnung anzugehören, in der die beiden grossen, bestim27


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Kapitel 2

menden Figuren, der Kaiser und der Papst, regierten und Anerkennung und Legitimität gewährten. Es bedeutete auch, einer politischen Kultur anzugehören, in der die Allianz, der Bund, üblich und weit verbreitet war und auch rechtlich ge­­ duldet wurde, der Bund zwischen Städten, zwischen bäuerlichen Gemeinschaften, zwischen Adeligen oder zwischen weiteren unterschiedlichen Akteuren. Der Bund schaffte Gleichheit unter den Vertragsparteien und stellte sich damit gegen die feudale und kaiserliche Hierarchie. Die Eidgenossen vermochten so ihre Eigenheiten zu wahren und ihre Handlungsspielräume in diesem weitläufigen politischen Raum auszunutzen, der organisiert war in Ligen, Bündnissen, Vereinigungen, Orden, Staaten, gegen den Kaiser oder mit ihm oder ihm gegenüber gleichgültig. Derartige Verbindungen kamen mit einem Minimum an Institutionen aus, sie waren zeitlich beschränkt, wurden mitunter verlängert oder aber aufgelöst. Doch, wie sich der deutsche Historiker Reinhart Koselleck ausdrückte, «wo dieser minimale Sockel weiterentwickelt werden konnte und die Bildung eines zusammenhängenden Territoriums es gestattete, tendierten diese Bündnisse dazu, tatsächlich autonom zu werden, eigentliche Staaten, die indes ihren föderalen Charakter nicht verloren. Dies war der Fall der Eidgenossenschaft, wie auch jener der Vereinigten Provinzen, die sich beide an der Peripherie des Reiches befanden.»16 Die republikanische Matrix der historischen Erfahrung der Schweiz ging somit auf dieses Reich zurück, dem es nicht gelang, die politischen Entscheidungen zu zentralisieren und das deswegen gezwungen war, seinen Teilstaaten ein Widerstandsrecht zuzubilligen. Doch wie renitent sie auch sein mochten, immer dann, wenn ein neuer Kaiser gewählt wurde, liessen sich die Eidgenossen von ihm ihre alten Rechte und Freiheiten bestätigen. Noch 1566, sechzig Jahre nach dem Frieden von Basel, bestätigte Maximilian II. die kollektive Legitimität der Dreizehn Orte. Danach verlor sich die Tradition.17 Der Historiker Thomas Maissen hat festgestellt, dass die kaiserlichen Insignien in der Schweiz erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus den offiziellen Wappen und Siegeln verschwanden.18 Genf, im Mittelalter freie Reichsstadt, hat bis heute seinen vom kaiserlichen Doppeladler abgeleiteten halben Adler im Wappen behalten, auch dies ein Beweis, wie sehr und wie lange die Reichszugehörigkeit bei den Eidgenossen prägend blieb. In diesem Sinne stellte der Basler Friede von 1499 eine durchaus vorteilhafte Vereinbarung zwischen den Schweizern und dem Kaiserhaus innerhalb des Reiches dar, jedoch keinen Abschied. 28


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Die nationale Unabhängigkeit der Schweiz

Die westfälische Ordnung

Ein weiteres beliebtes Datum für die Entstehung der Schweiz ist das Jahr 1648, jenes des Westfälischen Friedens. Dieses grosse Forum, an dem die europäischen Grossmächte nach dem Dreissigjährigen Krieg eine neue politische Ordnung schufen, soll der Schweiz die Unabhängigkeit gebracht haben. In der Tat bediente sich der Kaiser, um den Status der Eidgenossen zu umschreiben, der Formulierung «plena libertas et exemptio ab Imperio», «volle Freiheit und Ausnahme vom Reich». Doch bezeichnete das gleiche Forum die Niederlande als «frei und souverän», was weniger Zweifel an ihrem Status zuliess. Mitte des 17. Jahrhunderts beteiligten sich die Schweizer in keiner Weise an den Institutionen des Reiches. Sie blieben dem Reichstag fern und wurden auch nicht mehr eingeladen. Sie betrachteten sich zwar noch als Mitglieder, allerdings als Mitglieder einer natürlichen Gemeinschaft, wie das Reich im Mittelalter verstanden wurde. Vom modernisierten Reich und seinen fragilen Institutionen schlossen sie sich selber aus. Heute würde man, leicht anachronistisch, sagen: Sie sahen sich in Euro­ ­pa, nicht aber in seinen Institutionen. Gegen Ende des Dreissigjährigen Krieges, als die grosse Verhandlungsrunde in Münster und Osnabrück einsetzte, zeigten die Eidgenossen an einer Teilnahme zunächst kein Interesse. Einzig Basels Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein machte sich auf den Weg, da Basel, wie auch Schaffhausen und der Abt von Sankt Gallen, bedrängt wurde, seinen Beitrag für den Unterhalt des Reichsgerichts zu bezahlen, dem die Stadt nach wie vor rechtlich unterstellt war. Da man sich dieser Verpflichtung entledigen wollte, begab sich Wettstein nach Münster. Dort fand er sich mitten im grossen europäischen Spiel, dem Wettlauf zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich um die Vorherrschaft in Europa. Frankreich, das die Schweizer vom Reich trennen wollte, unterstützte Wettstein von Anfang an und beriet ihn. Intellektuell war der König mit der neuen Theorie von Jean Bodin bewaffnet, wonach «Souveränität, die absolute und ewige Macht einer res publica» von dieser selbst proklamiert wird und sich selbst genügt, vorausgesetzt, sie ist zu deren Erhalt imstande. Diesen Begriff der «Souveränität» schlug Wettstein den Eidgenossen als Verhandlungsziel vor. Die kaiserlichen Rechtsberater lehnten ihn jedoch ab und ersetzten ihn durch exceptio ab imperio. Das passte den Schweizern durchaus, die gar nicht so viel verlangt hatten. Die bodinsche 29


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Kapitel 2

Theorie zur Souveränität sagte ihnen nicht viel. In dieser ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hingen sie noch dem traditionellen Reichskonzept an, nach dem die Souveränität dem Kaiser vorbehalten war, dem Herren der Christenheit und der Quelle allen Rechts. Der Begriff «Souveränität» tauchte im politischen Vokabular der Schweiz erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf.19 Der Westfälische Frieden liess somit die Tür offen für widersprüchliche Auslegungen der Lage der Schweiz. Die Eidgenossen waren zufrieden. Selbst wenn aus Sicht des Reichsrechts «Exemption» nicht mit «Souveränität» gleichzusetzen war, sahen sie sich dennoch in ihren Praktiken bestätigt, die ihre reale politische Freiheit verkörperten. Die Franzosen hingegen erklärten, die Schweiz sei fortan «souverän» und schrieben sich das Verdienst dieses Wandels zu. Sie gingen sogar so weit, zu behaupten, die Schweizer hätten sich ihre Souveränität mit der Spitze des Schwertes erkämpft, was die eidgenössischen Rechtsgelehrten entrüstete. Im Reich hingegen war man sich über die Schweizer Frage nicht einig: Die Fürsten, die Souveränitätsrechte erhalten hatten, einschliesslich jenem, ihre Staatsreligion zu bestimmen, und die deswegen auch ein grösseres Mitspracherecht bei Reichsangelegenheiten beanspruchen konnten, wollten die völlige Lostrennung des Corpus Helveticum vom Reich verhindern, um keinen Präzedenzfall zu schaffen. Kaiser Ferdinand III. war verunsichert. Seine Macht war sehr geschwächt und er wollte weder die Fürsten verärgern, noch die Schweizer in die Arme Frankreichs treiben.20 Marco Jorio, Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz, zitiert den Ausdruck eines Diplomaten unserer Zeit, um die Ergebnisse des Westfälischen Friedens zu charakterisieren: «constructive ambiguity». Nun kann man aus dieser konstruktiven Zweideutigkeit ableiten, sie habe zur Entstehung der schweizerischen Unabhängigkeit geführt. Doch warum sollte man das tun? Warum braucht die Unabhängigkeit ein Geburtsdatum? Jahreszahlen dienen dazu, die nationale Erzählung der Nationalstaaten zu konstruieren. Von Datum zu Datum wird suggeriert, die Staaten seien entstanden, gewachsen, hätten Form angenommen, Krisen durchlebt und überwunden, um schliesslich in mehr oder weniger gutem Zustand in der Gegenwart anzukommen mitsamt ihrem mit einer Nummer versehenen Platz in der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Daten ordnen die Zeit einer Nation und rechtfertigen sie; so betrachtet ist das Datum der Unabhängigkeit gewissermasen die Mutter aller Daten. 30


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Die nationale Unabhängigkeit der Schweiz

Der Blick auf die geschichtliche Zeit verändert sich jedoch mit den Bedürfnissen der Gegenwart. Die Hinterfragung von Daten wie 1499 oder 1648 ist die Frucht heutiger Forschung, unternommen von Historikern, die in Bezug auf die nationale Sache frei vom Ballast des Sentimentalismus ihrer Vorgänger sind. Diese Forschung kam zum Schluss, dass die Trennung der Eidgenossenschaft vom Reich eher ein Prozess denn ein Augenblick war.21 Er begann 1495 mit der Weigerung der Eidgenossen, sich der Reform des Reiches zu unterwerfen, und endete 1803 mit dem Beschluss (oder «Rezess») des Reichstags von Regensburg, der zwischen Bonaparte und Österreich im Rahmen des Vertrags von Lunéville ausgehandelt worden war und der alle noch verbleibenden Bande zwischen der Schweiz und dem Reich beendete. Alle Gerichtsbarkeiten von Fürsten, Staaten und Mitgliedern des Deutschen Reichs auf helvetischem Territorium, so wurde vereinbart, seien fortan abgeschafft, wie auch deren Obrigkeitsrechte oder Ehrentitel. Mit der Abdankung von Franz II. als deutschem Kaiser im Jahr 1806 verschwand auch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation von der Bildfläche. Während all dieser Jahrhunderte war die Schweiz nicht «unabhängig». Sie setzte sich gewissermassen in den Zwischenräumen des Systems des Reiches fest, die ihr ein grösstmögliches Mass an Freiheit und den Genuss einer höchstmöglichen Zahl von Privilegien und Vorteilen zu gewähren vermochten. Sie zog Nutzen aus einer Zugehörigkeit, die sie grundsätzlich akzeptierte. Erst im Zuge der Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts zerbarst dieser Rahmen und die Verfassungsgeschichte der Schweiz begann, ihren eigenen Weg zu gehen. Die Schweiz als Schutzzone

Die erste ausdrückliche und eindeutige Formulierung der Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft ist jene des Wiener Kongresses vom 20. Mai 1815: «Durch die gegenwärtige rechtskräftige Urkunde anerkennen und gewährleisten die unterzeichnenden Mächte in authentischer Weise, dass die Neutralität und Unverletzbarkeit der Schweiz sowie ihre Unabhängigkeit von jedem fremden Einfluss dem wahren Interesse aller europäischen Staaten entspricht.»22 Diese Formulierung stellte die Abkehr von der französischen Vorherrschaft dar, die fünfzehn Jahre gedauert hatte. Der gleiche Napoleon, der seine Minister ermahnte: «Vergesst nicht, dass ich der Nachfolger 31


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Kapitel 2

Karls des Grossen und nicht Ludwigs XIV. bin», habe 1802 zu den Schweizern, als er ihnen das Satellitenregime der «Mediation» schmackhaft machen wollte, gesagt: «Niemals werden Frankreich und die Italienische Republik es zulassen, das sich bei Euch ein System etabliert, das ihre Feinde begünstigen würde. Die Ruhe von vierzig Millionen Menschen, Euren Nachbarn, ohne die Ihr weder als Individuen noch als Staat leben könnt, wiegt ihrerseits schwer auf der Waage der allgemeinen Gerechtigkeit. Nichts darf ihnen bei Euch feindlich sein und wie in vergangenen Jahrhunderten muss Euer erstes Interesse, Eure erste Politik, Eure erste Pflicht sein, auf Eurem Territorium nichts zuzulassen, nichts zu tun, was direkt oder indirekt den Interessen, der Ehre und generell der Sache des französischen Volkes schaden könnte.»23 Als die Mediationsverfassung 1813 nach der Niederlage Napoleons abgeschafft wurde, versuchten die Siegermächte, das Territorium der Schweiz zur Schutzzone zu machen. Ihnen ging es um stabile staatliche Strukturen, wie auch immer die Kantone diese zu gestalten wünschten. Sie stellten nur eine Bedingung: In der Eidgenossenschaft durfte es keine Untertanengebiete mehr geben, wie das Waadtland eines war, oder Gemeine Herrschaften, wie es sie im Aargau gab. Die Schweizer erkämpften sich 1815 ihre Unabhängigkeit also nicht, sie wurde ihnen vielmehr auferlegt, und die damit verbundene Neutralität war eine Neutralisierung. Diese störte die Eidgenossen nicht, die in der Vergangenheit häufig neutral geblieben waren, um ihre fragile Einheit vor den Risiken eines Streits um die Einsätze im Ausland zu schützen. Sie entsprach vor allem dem Willen der Heiligen Allianz, die sich bewusst war, dass das aufgewühlte Land nur auf diese Weise stabilisiert werden konnte. Denn die Kantone waren sich uneins, wie ihr Bund in der nachnapoleonischen Zeit aussehen könnte. Föderalisten und Unitaristen stritten sich darüber, wie stark die inneren Bande sein sollten. Über die Grenzen bestand kein Einvernehmen: Bern wollte die Waadt und den Aargau zurückhaben, Uri die Leventina, Schwyz Uznach und so weiter. Für ihre eigene Unabhängigkeit setzten sich die Kantone mehr ein als für die der Eidgenossenschaft. Für diese benötigen sie eine Tagsatzung, die mehr als ein Jahr dauerte (1814‒1815), und eine Einigung auf eine Verfassungsformel kam erst nach einem Ultimatum der Grossmächte zustande. Am 7. August 1815 wurde der Bundesvertrag von der Tagsatzung formell verabschiedet. Es handelte sich um einen Vertrag zwischen 22 unabhängigen und souveränen Kantonen, von denen die Mehrzahl zu einer Ordnung zurückkehrte, wie sie sie unter dem Ancien Régime gekannt hatten. Es 32


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Kapitel 7

Unter dem Kreuz des europäischen Friedens Bis zum Jahr 1990 verstand die Schweiz ihre Unabhängigkeit in einem Kontinent im Krieg und steuerte unter diesem Vorzeichen auch ihre Abhängigkeit. Offener Krieg, unterschwelliger Krieg, Kalter Krieg mit atomarer Abschreckung: Der Krieg war stets da oder stets möglich. Seit 1870 stand für keine Generation der europäische Friede als Gewissheit am Horizont. Die Generation, die ihm mit dem Projekt des Völkerbunds so sehnsüchtig entgegenblickte, wurde, kaum hatte sie den Versuch angepackt, schon wieder mobilisiert – zum Zweiten Weltkrieg. Vierzig Jahre ideologischen Konflikts zwischen Ost und West, mit der Atombombe im Arsenal, liessen die Gefahr als Wirklichkeit wie auch als Phantom als dauerhaft gegeben erscheinen. Der Krieg organisierte die Gesellschaft: obligatorischer Militärdienst, gesellschaftliche Präsenz von Armee und Zivilschutz, Verschmelzung der militärischen mit den wirtschaftlichen Hierarchien, Organisation der Zivilgewalt nach militärischem Vorbild, Vorratshaltung, Selbstversorgung als Ziel der Landwirtschaftspolitik, Einmütigkeit nach aussen als Gebot für die Parteien, Kriminalisierung abweichender Meinungsäusserungen usw. Das «kleine Land im Herzen Europas» mobilisierte sich zur Selbstverteidigung. Das Syndrom der Umzingelung mit all seinen ideologischen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen währte in der Schweiz bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein. Es dämpfte den Glauben an einen möglichen Frieden. Die Schweiz dürfte das einzige Land gewesen sein, das 1989 den 50. Jahrestag des Kriegsbeginns und der Mobilmachung feierte, mit der be­­ rühmten Operation «Diamant», die von Offiziers- und Unteroffiziersvereinen ausgeheckt worden war und dem Land in Erinnerung rufen sollte, dass es der Armee zu verdanken war, vom Krieg verschont geblieben zu sein. So kam es, dass während die Westeuropäer neue Beziehungen miteinander aufbauten, um dem Krieg ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, sich die skeptischen Schweizer auf ihre Neutralität beriefen, um auf Dis87


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Kapitel 7

tanz zu gehen. Die Vorherrschaft militärischen Denkens in der eidgenössischen Elite führte dazu, dass die Abwehr der sowjetischen Gefahr mittels bewaffneter Neutralität den Vorrang erhielt gegenüber der vollen Beteiligung am Aufbau Europas. Diese Entscheidung war insofern vorteilhaft, als sie der Schweiz zu einer internationalen Rolle im Kalten Krieg verhalf. Sie hatte indes eine Lähmung zur Folge, als der Eiserne Vorhang fiel, das sowjetische Imperium zusammenbrach und die Logik des europäischen Friedens die Oberhand gewann. Erstmals seit der Gründung des Bundesstaates hatte die Schweiz keine potenziellen Feinde mehr. Ihre nationale Unabhängigkeit wurde militärisch von keiner Seite mehr bedroht. So begann eine neue Bewährungsprobe: die Herausforderungen des Friedens. Sie waren ziviler, wirtschaftlicher und institutioneller Natur und angesichts der Ge­­ wohnheiten und der traditionellen Bezugspunkte überwältigend. Nachdem Russland seine Vorherrschaft in Mittel- und Osteuropa aufgeben musste und im Oktober 1990 ein wiedervereinigtes Deutschland tief greifende Veränderungen auf der europäischen Bühne erkennen liess, setzte sich der Bundesrat mit der die Frage der Stellung der Schweiz aus­ ei­nan­der. Am 10. Mai 1991 kündigte er an, dass der Beitritt zu den europäischen Institutionen nunmehr eine «prioritär zu prüfende» Option darstelle. Im Oktober desselben Jahres machte er da­­raus ein «Ziel». Im Mai 1992, nach dem Treffen von Maastricht, das zur Europäischen Union führen sollte, unterbreitete der Bundesrat dem Parlament einen Bericht, der die Notwendigkeit des Beitritts erläuterte.68 Dieser Bericht, ganz den neuen Bedingungen der Unabhängigkeit in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges gewidmet, gehört zum dokumentarischen Schatz der na­­ tionalen historischen Debatte in der Schweiz. Es lohnt sich, dessen grosse Linien in Erinnerung zu rufen, denn auch wenn Volk und Stände im Dezember 1992 einen anderen Weg wählten, so bleibt doch die damalige Analyse der Kräfteverhältnisse noch heute realistisch. Die zwanzig Jahre, die seit jenem entscheidenden Augenblick vergangen sind, haben die Befürchtungen der Befürworter des Europäischen Wirtschaftsraums von 1992 nur teilweise entkräftet. Nach einem Jahrzehnt des Nullwachstums zwischen 1992 und 2001 öffnete das Inkrafttreten der bilateralen Abmachungen, die von der Schweiz vorgeschlagen und von der Union akzeptiert worden waren, dem Land den europäischen Markt und brachte den Wirtschaftsverkehr in Schwung. Diese zwanzig Jahre bestätigten aber auch die politischen und institutionellen Warnungen: Der Handlungsspielraum der Eidgenossenschaft wurde beträchtlich 88


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Unter dem Kreuz des europäischen Friedens

eingeengt und es ist vor allem die Abhängigkeit, die ins Auge springt. Isoliert und ohne Bündnis verfügt die Schweiz über immer weniger Mittel, um ihren Standpunkt in den Gremien, die wirklich zählen, zu verteidigen. Wie im Bericht des Bundesrats von 1992 vorausgesehen, ist sie mittlerweile gezwungen, die Entscheide der anderen zu übernehmen. Es wird noch zu zeigen sein, wie diese Abhängigkeit, für die man die Eliten verantwortlich machte und sie der Kapitulation bezichtigte, in eine Vertrauenskrise mündete und in mancherlei Hinsicht auch institutionelle Spannungen zur Folge hatte. Eine Vision der Unabhängigkeit

Seit Beginn des europäischen Einigungswerks, den der Römer Vertrag vom 25. März 1957 markierte, schwankte die Schweiz zwischen zwei Haltungen: Entweder glaubte sie nicht an den Erfolg des Projekts oder aber, für den Fall seines Gelingens, bekräftigte sie ihren «Alleingang» als Grundlage für Verhandlungen. Im August 1988, als Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz den Bericht über die Stellung der Schweiz im europäischen Integrationsprozess69 präsentierte, überwog die Linie des Alleingangs: Obwohl der Beitritt zur Gemeinschaft als «einziger Weg» bezeichnet wurde, um der Schweiz «gewisse formelle Einflussmöglichkeiten auf das laufende EG-Integrationsgeschehen zu sichern», lehnte er diesen zugunsten einer schrittweisen Verstärkung der Zusammenarbeit mit Brüssel ab. Man werde somit in den Beziehungen zur Gemeinschaft an der pragmatischen Vorgehensweise nichts ändern. Man begnügte sich damit, die Vereinbarkeit der schweizerischen Gesetzgebung mit jener ihrer europäischen Partner so weit wie möglich sicherzustellen und in allen Beschlüssen einen «europäischen Reflex» zu entwickeln. Nach Bundesrat René Felber, dem Chef des Departements für auswärtige Angelegenheiten, war für die Europapolitik der Schweiz weniger der Inhalt als der Geist entscheidend, der die Umsetzung dieser Politik prägte, ein Geist, der nunmehr positiver, dynamischer, konstruktiver sein werde, der Geist einer Schweiz, die auf ihre Weise am Aufbau Europas teilnehmen wollte. Im Jahr 1988 war die Gemeinschaft im Begriff, sich zu konsolidieren; doch die Mauer war noch da. Im darauffolgenden Jahr sollte sie fallen. 1992 reichten Österreich, Schweden, Finnland, neutrale Länder wie die Schweiz und auch in den seit 1990 geführten Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ihre Partner, ein Gesuch für den 89



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