Mark Lilla: Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist der Reaktion.

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Mark Lilla

Mit einem Vorwort von René Scheu, Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung.

Der Glanz der Vergangenheit

Mark Lilla (* 1956) lehrt als Professor für Geisteswissenschaften an der Columbia University in New York. Schwerpunkt seiner Forschung und Schriften ist die politische und religiöse Ideengeschichte des Westens. Er schreibt u. a. für die New York Review of Books, die New York Times, Le Monde und die Neue Zürcher Zeitung.

Die Revolutionäre der Gegenwart sind die Reaktionäre. Der amerikanische Ideenforscher Mark Lilla analysiert ihre Denkund Handlungsmuster anhand bedeutender moderner ­Denker und aktueller Phänomene. Seine Sicht birgt viel Zündstoff. Doch auch wer Lillas Darstellung nicht teilt, liest sie mit Gewinn. Denn sowohl in den USA wie auch in Europa weht ein reaktionärer Geist. Lillas Buch ist insofern das Buch der Stunde. Der Autor erweist dem Reaktionär nicht die Ehre, sondern entledigt ihn seiner Ideenkleider und verwandelt ihn in einen politischen Gegner, der sich fassen lässt.

Der Glanz der Vergangenheit Über den Geist der Reaktion

Mark Lilla

© Christophe Dellory

«Mark Lilla fordert Neugier auf alles, was anders ist als man selbst.» Peter Kuras, Freitag

ISBN 978-3-03810-323-3

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

«Der reaktionäre Geist ist ein schiffbrüchiger Geist. Wo ­andere den Strom der Zeit fliessen sehen wie eh und je, meint der Reaktionär die Bruchstücke des Paradieses zu ­erkennen, die an ihm vorbeischwimmen. Er ist ein Flüchtling der Geschichte. Der Revolutionär sieht eine strahlende ­Zukunft, die den anderen verborgen ist, und dieses Bild beflügelt ihn. Der Reaktionär denkt sich immun gegenüber modernen Lügen, sieht die Vergangenheit in all ihrer ­Glorie, und auch ihn beflügelt ein Bild. Er glaubt sich in einer stärkeren Position als sein Gegenspieler, weil er sich als Hüter von etwas Gewesenem sieht und nicht als Prophet von etwas, das sein könnte. (…) Die Militanz seiner Nostalgie macht den Reaktionär zur entschieden modernen Gestalt, nicht zu einem Anhänger der Tradition. (…) Und die Reaktionäre unserer Zeit haben entdeckt, dass Nostalgie eine machtvolle politische Motivation ist, vielleicht noch stärker als die Hoffnung.»


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Shipwrecked Mind – On Political Reaction bei The New York Review of Books Copyright © 2016, Mark Lilla Alle Rechte vorbehalten Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Liebl © 2018 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich Lektorat: Ulrike Ebenritter Umschlag, Gestaltung und Satz: Katarina Lang, Zürich Druck, Einband: Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-323-3 ISBN E-Book 978-3-03810-382-0 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung.

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Inhalt

Vorwort von René Scheu  9

Einführung

Der schiffbrüchige Geist  17

Denker

Der Kampf um die Religion: Franz Rosenzweig  29 Das immanente Eschaton: Eric Voegelin  45 Athen und Chicago: Leo Strauss  59

Strömungen

Von Luther zu Walmart  77 Von Mao zum heiligen Paulus  93

Ereignisse

Paris, Januar 2015  107

Nachwort

Der Ritter und der Kalif  129

Dank 141 Herausgeber und Übersetzerin  142

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Vorwort

Vorwärts in die Vergangenheit. Mark Lilla1

Die Bücher über Wesen und Wirkung der Revolution sind Legion. Man könnte fast schon von einem eigenen Genre sprechen – es ist kaum mehr zu überblicken, was in den über 200 Jahren seit der Französischen Revo­ lution zum Thema publiziert wurde. Längst hat der Revolutionär ikonische Qualität gewonnen und ist auch jenseits einschlägiger Literatur zu einer faszinierenden Figur der Moderne avanciert. Selbst wenn er wie der Argentinier Ernesto Rafael Guevara de la Serna Tausende von Menschen auf dem Gewissen hat, verfügt er über viel Sex-Appeal und ziert als Protagonist ­einer anderen, höheren menschlichen Ordnung T-Shirts und Aufkleber. So sehr die Erinnerungen an die Revolutionsversuche nach 1789 verblasst sind, so sehr scheinen viele davon zu träumen, auf ihrem Gebiet und in ihrem Alltag kleinere oder grössere Revoluzzer zu sein. Es ist das Klischee der Werbeindustrie tout court. Mit dem Odeur des Reaktionären hingegen umgibt sich niemand ­freiwillig. Der Reaktionär gilt als finstere Gestalt, als jemand, der mit dem Gang der Dinge hadert, als ein dumpfer, uneinsichtiger, ja durchweg ­unsympathischer Zeitgenosse. Da niemand mit ihm assoziiert werden möchte, hat sich bisher auch kaum jemand intellektuell in angemessener Weise mit ihm auseinandergesetzt. Der Reaktionär – er bleibt bis heute ein un­beschriebenes Blatt, mehr Feindbild, von dem man sich abgrenzt, als Protagonist einer eigenen Weltanschauung und Handlungstheorie. Und dies, obwohl er dem Revolutionär, was seine Wirkmacht angeht, ­mittlerweile den Rang abgelaufen hat.

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Der Glanz der Vergangenheit

Fortschrittsskepsis gehört im Westen heute zum guten Ton unter ­Intellektuellen, auch und gerade jener, die sich selbst als avantgardistisch und progressiv darstellen. Dabei lässt sich diese Skepsis in zwei Intensitätsgraden ausmachen. Die sanfte Frage lautet in etwa so: Können wir wirklich mit guten Gründen davon ausgehen, dass unsere Kinder es dereinst besser ­haben werden als wir? Und zugespitzt: Wer möchte leugnen, dass der ­Kollaps unserer Ordnung bevorsteht, sei es wegen des Klimawandels, des Neopopulismus oder der Entwicklung von Robotik und künstlicher ­Intelligenz? Doch bei aller Skepsis: Wer so denkt, hält implizit an einer Fort­ schrittser­zählung fest, sonst könnte er deren Unterbrechung oder Ende nicht d ­ iagnostizieren. Und dieser narrative Bezugsrahmen bestimmt bis heute die Wahrnehmung der beiden Figuren. Der Revolutionär wird gemeinhin als Agent des Fortschritts gesehen, auch wenn die (schrecklichen) Resultate seines Handelns längst nicht immer mit seinen (mutmasslich ehrenwerten) Intentionen übereinstimmen und nach rückwärts weisen. Der Reaktionär hingegen gilt als Akteur, der bestrebt ist, den Gang der Geschichte aufzuhalten, sich ihm mit aller Macht entgegen­zustemmen. Auch wenn er mit den modernsten Mitteln der T ­ echnik ­operiert, soll er die Kraft des Rückschritts sein und also nichts a ­ nderes als ein Konterrevolutionär. Diese Etikettierung bestimmt den Diskurs bis heute, doch führt sie in die Irre. Der amerikanische Ideenhistoriker Mark Lilla unternimmt es in ­diesem Buch, eine differenziertere, in manchem sogar eine fundamental andere Sicht der Problemlage zu präsentieren. Er liefert keine parteipolitisch getriebene Polemik, sondern eine philosophische Strukturanalyse: Revolutionär und Reaktionär sind für ihn keine Gegenfiguren, sondern bilden zusammen eine einzige Kippfigur. Diese Erkenntnis ist von Bedeutung, wenn es stimmt, dass wir in reaktionären Zeiten leben, wie Mark ­Lilla meint. Die Reaktionäre tragen dabei ganz unterschiedlich gefärbte Gewänder, grüne, schwarze, braune, rote. Für Lilla zählen Nationalisten, Populisten und Islamisten ebenso dazu wie Tiefenökologen, Anti-Globalisierer und Anti-Wachstums-Aktivisten. Was sie eint, ist die Systemkritik. Der ­liberal-demokratisch-kapitalistische Status quo der Welt, auf die sie sich beziehen, ist in ihrer Optik zutiefst morsch, sprich: wahlweise korrupt, ­dekadent oder zynisch. Die bloss scheinbare Ordnung muss endlich als das entlarvt werden, was sie ist: eine grosse Unordnung. Daraus soll dann, dank Führung durch geeignete Protagonisten der Reaktion, eine neue

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Vorwort

s­ tabilisierte Ordnung hervorgehen, in der die gesellschaftlichen Dauerkonflikte in einer neuen Harmonie aufgehoben sind. Donald Trump, der amtierende Präsident der USA, hat mit seinem ­Ronald Reagan entlehnten Wahlkampfslogan eine Sentenz geliefert, ­deren ­Muster alle reaktionären Typen verbindet: Make X great again. Es ist das Muster aller guten Märchen: Es war einmal eine gute Zeit oder ein ­Goldenes Zeitalter, in dem die Welt in Ordnung war. Dann geschah etwas Unerwartetes – Korruption durch globalisierte Eliten, Unterdrückung durch dekadente Kräfte des Westens, der Siegeszug der Technik –, etwas, das die prästabilierte Harmonie durcheinanderbrachte und den Lauf der Dinge in eine Sackgasse manövrierte. Anders als im Märchen kann am Ende der ­reaktionären Erzählung jedoch nur eines stehen: die zweite Katastrophe, oder besser: die Rettung durch die kommende Katastrophe. Die beiden grossen philosophischen Narrative der Kontinentalphilosophie halten sich in der Tat genau an diesen Aufbau. Nach Martin ­Heidegger wurde die echte, volle Seinserfahrung der Vorsokratiker durch Platons ­Metaphysik verfälscht – und die darauf folgende Geschichte des Westens erweist sich als eine Geschichte der Seinsvergessenheit. Sie mündet in ein vorstellendes Denken, das den Zugang des Menschen zur Welt und zu sich selbst gleichsam verstellt: Die Natur gerät nur noch als Ressource in den Blick, die es mittels Technik auszubeuten gilt, und der Mensch wird sich selbst zum Objekt der Manipulation, das im Dienste der industriellen V ­ erwertbarkeit steht. Auf der anderen Seite des politphilosophischen Spektrums hielten sich Theodor Adorno und Max Horkheimer in ihrer D ­ ialektik der Aufklärung an exakt dieselbe Dramaturgie. Die Aufklärung ­lassen sie schon mit Odysseus anheben, nur wirkt von Anfang an das ­Gesetz einer selbstzerstörerischen Dialektik, nach dem verführerischen Gedanken der beiden Autoren: Schon der Mythos ist aufklärerisch, und Aufklärung schlägt zuverlässig in Mythologie beziehungsweise Barbarei um. Am Ende der Entwicklung steht ein vergötterter Apparat aus Technik und Verwaltung, die Herrschaft der instrumentellen Vernunft über Welt und Mensch, die jedes utopische Potenzial im Keim erstickt. Eine Wende der Geschichte ist für beide philosophischen Schulen kaum auszudenken, es gilt für beide die spätheideggersche Devise: Nur ein Gott kann uns noch retten – oder eben die Katastrophe. Wer die Katastrophe bloss zu beschreiben vorgibt oder zu prophezeien meint, sehnt sie in Wirklichkeit oftmals herbei. Und genau das unter-

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scheidet die reaktionäre Erzählung vom Märchen, das auf Umwegen zwar, aber ohne Katastrophe in ein Happy End mündet. Die Märchen-Macher wussten: Die Wirklichkeit hält sich nicht ans dialektische Denken, aus der ­Negation einer Negation geht nicht zwangsläufig etwas Positives hervor. Der Reaktionär dagegen setzt darauf, dass die Dialektik funktioniert. Der Bruch, der die gegenwärtige Zeit vom Goldenen Zeitalter trennt, soll durch einen Bruch des Bruchs aufgehoben, das Goldene Zeitalter wiederher­ gestellt werden. Dass die Situation nach der Katastrophe viel schlimmer sein kann als die Lage zuvor, ist in dieser Konstruktion nicht vorstellbar. Der Reaktionär strebt vorwärts in die Vergangenheit. Hierfür ist ihm, ­genau wie dem Revolutionär, jedes Mittel recht und kein Preis zu hoch. Wer sich einen Krieg herbeiwünscht, um den Status quo zu überwinden, hat, recht bedacht, nicht den Verstand verloren, sondern tut genau das Gegenteil: Er überschätzt den menschlichen Verstand masslos. Jeder Reaktionär ist auf seine Weise ein Schriftbesessener. Anders als der Revolutionär kapriziert er sich nicht auf phantastische Geschichten, die in einer utopischen Zukunft spielen, sondern auf solche, die einmal stattgefunden haben sollen. Dabei unterscheidet er sich ganz wesentlich von ­einem Konservativen, mit dem er gern verglichen wird, als wäre er sein radikalisierter Bruder. Doch im Gegensatz zum Konservativen interessiert sich der Reaktionär nicht wirklich für die Vergangenheit und ihre verschlungenen Verbindungen mit der Gegenwart, ebenso wenig für Traditionen, Verhaltensweisen und Wissensformen, die sich bewährt haben und darum für die heutige Gesellschaft von grossem Nutzen sein könnten. ­Genau umgekehrt geht er von einem fundamentalen Bruch zwischen alter und neuer Zeit aus. Der Reaktionär will nicht erinnern, sondern in seiner Beschäftigung mit der Geschichte bloss die Distanz ermessen, die ihn vom Gewesenen scheidet. Mark Lilla gibt der Grundbefindlichkeit des Reaktionärs einen Namen: ­politische Nostalgie. Sie ist das besondere Sensorium für den Glanz der Vergangenheit, die nie zu leuchten aufhört. Die Vergangenheit stellt für den Reaktionär den Fixpunkt seines Trachtens dar, nachdem er begonnen hat, die Gegenwart als fremdes Land zu empfinden. Darum verschlingt er Bücher, die von einer intakten Zeit und einem unberührten Ort künden, sei es das Paradies von Adam und Eva vor dem Sündenfall, das Griechenland der Vorsokratiker, das Mekka Mohammeds, die kurze Zeit des totalen Egalitarismus während der Französischen Revolution oder die Erfahrung

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Vorwort

der Pariser Kommunen, die Verfassung einer freien, grenzenlosen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts. Reaktionäre sind wie Revolutionäre, so volksnah sie sich auch geben mögen, Vertreter einer selbst ernannten buch­ bewehrten Elite von Auserwählten. Der Reaktionär verfügt wie der Revolutionär über das, was Lilla ­«Geheimwissen» nennt und Popper einst als Grundannahme des «Historizismus» beschrieb: das wenigen vorbehaltene Wissen über den Gang der Dinge. Plötzlich weiss der Reaktionär, warum er sich seiner Zeit entfremdet hat – weil er nämlich einer anderen Zeit angehört. Er begreift, dass es kein Zufall sein kann, wenn er diese Bücher liest – er gehört zu den Auserwählten, die wie vom Blitz getroffen erkennen, warum nicht nur alles falsch läuft, s­ondern laufen musste. Seine singuläre Position im erkannten ­Gesellschafts- oder Naturprozess – sei es seine Rassen- oder Klassenzuge­ hörigkeit, seine Nationalität, seine Religion oder schlicht seine Biografie – ­erlaubt ihm erst die höhere Einsicht. Es fällt ihm irgendwann wie Schuppen von den Augen. In dem Moment, in dem er dies begreift, hat er auch schon eine Mission. Denn verstehen heisst handeln. Wer dem inneren Kreis der Erleuchteten angehört, hat – von innen gesehen – keine Wahl. Und so will er allen anderen Menschen mit Kraft und Gewalt die höhere Einsicht ­bringen. Hannah Arendt zeigt in ihrem wunderbaren Buch über die Französische Revolution, wie die Revolutionäre sich im Laufe der Revolution ­tatsächlich als Akteure eines höheren geschichtlichen Wirkens zu begreifen begannen. Dies war jedoch zu Beginn der Aufstände ganz anders. Die ersten R ­ evolutionäre zielten auf die «Wiedergewinnung uralter, ver­ briefter ­Rechte und Freiheiten», wollten zurück zu einer vormonarchischen Ordnung, die sie freilich bloss ziemlich vage imaginierten.2 Die ­Revolution war also – ganz dem damaligen Gebrauch des Wortes ent­ sprechend, das aus der Astronomie entlehnt war, genauer aus Kopernikus’ De Revolutionibus orbium coelestium – zunächst als Restauration beziehungsweise ­Reaktion gedacht. Erst im Verlauf des Geschehens entwickelte sie eine ­Dynamik, die alle involvierten Parteien gleichsam als unwiderstehliche Bewegung erlebten. Aus der Sicht der Akteure ereignete sich genau jenes Wunder, in dessen Folge Theorie und Praxis, Freiheit und Notwendigkeit plötzlich zusammenfallen: Es waren nicht die Menschen, die aus ­freien Stücken eine Revolution durchführten, es war vielmehr die Revolution, die in ihnen wirkte. Dabei waren Reaktion und Revolution am Anfang

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nicht zu unterscheiden, erst später zeigte sich, dass die Revolution zu ­etwas Neuem führen würde, von dem niemand wusste, wie es sich gestaltete. Nach Arendt liegt in dieser Erfahrung die Geburtsstunde der Vorstellung, wonach es eine «historische Notwendigkeit» gibt, die sich philosophisch fassen lässt.3 Ohne die Revolutionäre, die zuerst Reaktionäre waren, wären weder Hegel noch Marx denkbar. Die Französische Revolution stellt die Stunde Null jeder modernen Fortschrittserzählung dar, die bis zum heutigen Tag alle Reaktionäre und Revolutionäre teilen. Während die letzte Revolution im Westen schon viele Jahrzehnte ­zurückliegt, bahnt sich die nächste Bewegung der Reaktion hier wohl ­gerade an. Oder anders und direkter gesagt: Die Revolutionäre der Gegenwart sind die Reaktionäre. Mark Lilla analysiert ihre Denk- und Handlungsmuster in seinem neuen Werk auf äusserst stringente Weise anhand bedeutender moderner Denker und aktueller Phänomene. Sein Buch birgt viel Zündstoff und löste in den USA viele Debatten aus. Auch wer Lillas Darstellung nicht teilt, liest sie mit Gewinn. Denn es weht ein reaktionärer Geist – in den USA und in Europa. Lillas Buch ist insofern das Buch der Stunde. Der Autor erweist dem Reaktionär nicht die Ehre, sondern entledigt ihn seiner ­Ideenkleider. Nackt steht er in diesem Buch vor uns. Damit verwandelt ­Lilla den wohl letzten verbleibenden Anderen in einen politischen Gegner, der sich fassen lässt. René Scheu, April 2018

1 Mark Lilla, Der Glanz der Vergangenheit, Zürich 2018, S. 135. 2 Hannah Arendt, Über die Revolution (1963), München 2016, S. 53. 3 Ebd., S. 59.

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EinfĂźhrung

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Einführung

Der schiffbrüchige Geist Für Augen, die auf dem Vergangenen geruht haben, gibt es keine wirkliche Wiederherstellung. George Eliot 1

Was ist Reaktion? Im Schlagwortverzeichnis jeder halbwegs vernünftig ausgestatteten Universitätsbibliothek finden Sie sofort Hunderte von ­Titeln, wenn Sie unter dem Stichwort «Revolution» nachsehen. Sucht man jedoch unter «Reaktion», beschränkt sich die Ausbeute auf einige wenige Werke. Wir haben Theorien, warum es zu Revolutionen kommt, was sie erfolgreich macht und weshalb sie am Ende stets ihre Kinder fressen. Was dagegen die Beschäftigung mit der Reaktion angeht, geben wir uns mit der selbstgerechten Überzeugung zufrieden, dass sie in Unwissenheit und ­Verbohrtheit wurzelt, wenn nicht in noch Schlimmerem. Das ist verblüfend. Der revolutionäre Geist, der zwei Jahrhunderte lang politische Bewegungen in aller Welt befeuerte, mag erloschen sein. Der Geist der Reaktion aber, der sich ihm entgegenstellte, hat überdauert und erweist sich mittlerweile vom Mittleren Osten bis nach Mittelamerika als nicht minder ­starke historische Kraft. Eine Ironie des Schicksals, die uns allein schon deswegen neugierig machen sollte. Stattdessen erregt sie eher eine selbstgefällige Empörung, die schliesslich in Verzweiflung umschlägt. Der ­Reaktionär ist der letzte verbleibende «Andere», mit dem sich seriöse ­wissenschaftliche Untersuchungen nur am Rande beschäftigen. Wir kennen ihn schlichtweg nicht. Dabei hat schon der Begriff Reaktion selbst eine höchst interessante Geschichte aufzuweisen. Im Vokabular des politischen Denkens in Europa tauchte er erstmals im 18. Jahrhundert auf, wo man ihn aus den naturwissenschaftlichen Schriften Isaac Newtons importierte. In seinem einfluss-

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Einführung

reichen Werk Vom Geist der Gesetze stellt Montesquieu das politische Leben dar als eine stete Abfolge von Aktion und Reaktion. Jede Revolution war für ihn ein solcher politischer Akt, wenn auch selten und durchweg unvorhersehbar. Eine Revolution konnte eine Monarchie in eine Demo­kratie verwandeln und die Demokratie in eine Oligarchie. Es gab keinen Weg, das Resultat einer Revolution vorherzusagen oder die Reaktionen, die sie auslösen würde. Die Französische Revolution füllte dann die beiden Begriffe mit einer neuen Bedeutung. Kaum war die Revolte in Paris ausgebrochen, ersannen ihre Beobachter Geschichten, die diese Revolution zum Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte machten. Die Jakobiner setzten das Revolutionsjahr als Jahr eins fest, um diesen Bruch deutlich zu markieren, und benannten obendrein auch gleich noch alle Monate um, damit ja kein Bürger in Gefahr geriet, Vergangenheit und Gegenwart durcheinanderzubringen. Alles, was historisch bis dahin geschehen war, galt nur als Vorbereitung für dieses Ereignis. Und alles künftige Tun liess sich nun auf das vorbestimmte Ende der Geschichte ausrichten: die Emanzipation des Menschen. Wie würde danach das politische Leben aussehen? Hegel stellte sich einen ­modernen, bürokratisch geordneten Nationalstaat vor, Marx eine kommunistische, nicht staatliche Gemeinschaft, in der freie Menschen morgens zum Fischen gehen, sich nachmittags ums Vieh kümmern und sich nach dem Abendessen in Gesellschaftskritik üben. Die Unterschiede zwischen diesen Modellen waren weniger wichtig als die feste Überzeugung, dass ihr Eintreten unvermeidlich war. Der Fluss der Zeit, so dachte man, fliesse immer nur in eine Richtung. Und seinen Lauf umzukehren sei unmöglich. Während der Jakobinerherrschaft wurde jeder, der sich diesem Fluss entgegenstellte oder wenig Begeisterung erkennen liess, für die Richtung, in die er strebte, als Reaktionär bezeichnet. Damals nahm der Begriff jenen negativen moralischen Beigeschmack an, der ihm bis heute anhaftet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde allerdings deutlich, dass nicht alle Kritiker der Revolution Reaktionäre in obigem Sinne waren. Da gab es liberale Reformer wie Benjamin Constant, Madame de Staël oder Alexis de Tocqueville, die den Zusammenbruch des alten Regimes für unvermeidlich hielten, nicht jedoch die folgende Terrorherrschaft. Das Versprechen der Revolution galt also immer noch als einlösbar. Konservative Denker wie Edmund Burke lehnten die Radikalität der Revolution ab, vor allem aber den historisierenden Mythos, der sich um sie herum entwickelt hatte.

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Der schiffbrüchige Geist

Burke hielt die Vorstellung von der Geschichte als unpersönliche Kraft, die uns zu prädestinierten Zielen trägt, für ebenso falsch wie gefährlich, da sie die Rechtfertigung von Verbrechen im Namen der Zukunft ermögliche. (Liberale und soziale Reformer sorgten sich zudem, dass diese Idee zur ­Passivität verleiten könnte.) Die Geschichte, so Burke, entwickle sich langsam und unbewusst mit der Zeit, und niemand könne die Resultate dieser Entwicklung vorhersagen. Wenn die Zeit ein Strom ist, dann ist sie wie das Nildelta. Sie hat Hunderte von Seitenarmen, die in alle möglichen Richtungen verlaufen. Problematisch wird es laut Burke immer dann, wenn ein Herrscher oder eine herrschende Partei zu wissen glaubt, wohin der Fluss der Geschichte strebt. Das zeigt sich sehr schön am Beispiel der Französischen Revolution, die, statt dem Despotismus in Europa ein Ende zu setzen, zunächst die unbeabsichtigte Folge zeitigte, einen korsischen General auf den Kaiserthron zu befördern und den modernen Nationalismus zu ­gebären – samt und sonders Ergebnisse, die wohl kein Jakobiner je vor­ hergesehen hatte. * * * Reaktionäre sind nicht mit Konservativen gleichzusetzen. Das ist der­ erste Unterschied, den man kennen muss. Reaktionäre sind auf ihre Weise g ­ enauso radikal wie die Revolutionäre, und wie sie hat die historische M ­ ythenbildung sie fest am Wickel. Die zeitenwendende Erwartung einer neuen sozialen Ordnung oder eines verjüngten Menschen zeichnet die Revolutionäre aus, apokalyptische Ängste vor dem Heraufdämmern eines neuen dunklen Zeitalters die Reaktionäre. Für erste konterrevolutionäre Denker wie Joseph de Maistre markierte 1789 das Ende einer ­glorreichen Reise und keineswegs deren Beginn. Mit erstaunlicher ­Geschwindigkeit sei die festgefügte Zivilisation des katholischen Europa zu einem grandiosen Wrack reduziert worden. Das konnte doch kein ­Zufall sein. Um ­diesen Schiffbruch zu erklären, begannen de Maistre und seine Nachfolger, einen Schauerroman zu erdichten. Er erzählte auf mitunter höchst melodramatische Weise, wie Jahrhunderte kultureller und intellektueller Entwicklung ihren Höhepunkt in der Aufklärung fanden, die das Ancien Régime von innen her zersetzte, sodass es schon beim ­ersten Ansturm zerbröckelte. Diese Story lieferte die Vorlage für die reaktionäre G ­ eschichtsschreibung, zunächst in Europa, bald aber auf der ganzen Welt.

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Einführung

Das Glaubensbekenntnis des Reaktionärs lautet post hoc, propter hoc – alles, was danach kommt, ist durch das Davor bedingt. Seine Geschichte beginnt mit einem glücklichen, wohlgeordneten Staat, in dem die Menschen ihren Platz kennen und in Harmonie zusammenleben, weil sie sich der Tradition und ihrem Gott unterwerfen. Plötzlich aber kommen von aussen Ideen auf, deren Vertreter Intellektuelle – Schriftsteller, Journalisten und Professoren – sind. Sie stellen die Harmonie infrage, und der Wille der Herrschenden, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wird geschwächt. (Im Zentrum jeder reaktionären Geschichte steht der Verrat der Eliten.) In der Folge senkt sich ein falsches Bewusstsein über die Gesellschaft, das diese willig, ja freudig auf die Selbstzerstörung zusteuern lässt. Nur jene, die die Erinnerung an das Alte bewahrt haben, erkennen, was passiert. Und allein von ihrem Wiederstand hängt es ab, ob die Gesellschaft zur Umkehr fähig ist oder auf ihren Untergang zusteuert. Heute sind es die politischen Islamisten, die europäischen Nationalisten und die amerikanischen Rechten, die ihren ideologischen Kindern diese Geschichte erzählen. Der reaktionäre Geist ist ein schiffbrüchiger Geist. Wo andere den Strom der Zeit fliessen sehen wie eh und je, meint der Reaktionär die Bruchstücke des Paradieses zu erkennen, die an ihm vorbeischwimmen. Er ist ein Flüchtling der Geschichte. Der Revolutionär sieht eine strahlende Zukunft, die den anderen verborgen ist, und dieses Bild beflügelt ihn. Der Reaktionär denkt sich immun gegenüber modernen Lügen, sieht die Vergangenheit in all ihrer Glorie, und auch ihn beflügelt ein Bild. Er glaubt sich in einer stärkeren Position als sein Gegenspieler, weil er sich als Hüter von etwas Gewesenem sieht, und nicht als ein Prophet von etwas, das sein könnte. Dies erklärt auch die merkwürdig beschwingte Verzweiflung, die in reaktionären Schriften stets spürbar ist, diesen greifbaren Sinn für die eigene Mission – oder wie es das reaktionäre amerikanische Blatt National Review in seiner ersten Ausgabe formulierte: Seine Mission sei es, «sich quer zur Geschichte zu stellen und ‹Stopp!› zu rufen». Die Militanz seiner Nostalgie macht den Reaktionär zur entschieden modernen Gestalt, nicht zu einem Anhänger der Tradition. Sie erklärt auch die nicht erlahmende Dynamik des reaktionären ­Geistes, selbst angesichts des Fehlens eines revolutionären politischen ­Programms. Heutzutage ein modernes Leben zu führen, ganz egal an ­welchem Ort, ein Leben, das ständigem sozialen und technischen Wandel unterworfen ist, ist die psychologische Entsprechung der permanenten Revolution. Marx hatte nur allzu recht mit der Bemerkung, dass alles 20

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Der schiffbrüchige Geist

S­ tehende verdampfen und alles Heilige entweiht werden wird.2 Falsch lag er nur insofern, als er annahm, dass die Abschaffung des Kapitalismus ­allein der Welt wieder Gewicht und Heiligkeit verleihen würde. Der Reaktionär kommt in der historischen Mythenbildung der Wahrheit näher, wenn er die Modernität tout court verantwortlich macht, deren Wesen es ist, sich ständig selbst zu modernisieren. Die Angst vor diesem Prozess hat mittlerweile die ganze Welt erfasst. Daher gewinnen die antimodernen reaktionären Ideen auch in aller Welt Anhänger, deren einzige Gemeinsamkeit häufig ebendieses Gefühl des historischen Verrats ist. Jede ­grössere soziale Wandlung hinterlässt ein neues Eden, das dann wieder zum Objekt historischer Nostalgie werden kann. Und die Reaktionäre ­unserer Zeit haben entdeckt, dass Nostalgie eine machtvolle politische Motivation ist, vielleicht noch stärker als die Hoffnung. Hoffnungen ­können enttäuscht werden, Nostalgie aber ist unwiderlegbar. * * * Der Geist des modernen Revolutionärs ist längst zum Gegenstand grosser Literatur geworden. Der Reaktionär hingegen muss seinen Dostojewski oder Conrad noch finden.3 Der rückwärtsgewandte, sexuell verklemmte Priester, der sadistische rechte Schlägertyp, der autoritäre Vater oder ­Ehemann sind vertraute Zerrbilder unserer literarischen und visuellen Kultur. Ihre Allgegenwart ist Zeichen einer bildschöpferischen Faulheit vom B-Movie-Typ, die dem Sheriff immer einen weissen Hut verpasst und dem Banditen einen schwarzen. Doch der engagierte politische Reaktionär wird von Leidenschaften und Thesen getrieben, die nicht weniger nachvollziehbar sind als die des engagierten Revolutionärs. Seine Theorien, mit denen er sich den Lauf der Geschichte erklärt, um die Gegenwart zu erhellen, sind kein bisschen weniger ausgefeilt. Es ist ein Vorurteil, dass Revolutionäre denken, während Reaktionäre reagieren. Man kann die moderne Geschichte nicht verstehen, ohne zu verstehen, wie die politische Nostalgie des Reaktionärs sie mitgeformt hat. Wir können uns keinen Reim auf die Gegenwart machen, ohne anzuerkennen, dass der Reaktionär – ebenso wie der Revolutionär – als selbsterklärter Exilant sie mitunter klarer sieht als jeder, der sich darin zu Hause fühlt. Daher sind wir es uns selbst schuldig, seine Hoffnungen und Ängste, seine Meinungen und Überzeugungen, ­seine Blindheit und ja, auch seine Einsichten zu verstehen. Der Glanz der Vergangenheit beginnt ganz bescheiden. Was hier an den Anfang gesetzt wurde, ist die Frucht meiner zufälligen Lektüren aus den 21

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Einführung

letzten zwei Jahrzehnten und umschliesst eine Reihe von Beispielen und Reflexionen, die keineswegs als systematische Abhandlung über das Thema Reaktion verstanden werden wollen. Eine Zeit lang habe ich versucht, die ideologischen Dramen des 20. Jahrhunderts besser zu verstehen, indem ich mich damit auseinandersetzte, wie und auf welche Weise exemplarische intellektuelle Gestalten in diese Dramen verwickelt waren. Aus diesem Bemühen ging 2001 Der hemmungslose Geist hervor, eine Sammlung von essayistischen Porträts einzelner Denker, die der Illusion erlagen, sie könnten Einfluss nehmen auf die Tyrannenherrschaft der Moderne und die Augen vor den Fakten verschliessen: im Deutschland der Nazizeit, in der Sowjetunion, in China und der theokratischen Republik Iran.4 ­Meine Hoffnung war, dem Phänomen der Tyrannophilie auf die Spur zu kommen, der narzisstischen Liebe mancher Intellektueller zum Tyrannenherrscher, der ihre Ideen zur politischen Realität machen soll. Während der Arbeit an diesem Buch geriet jedoch eine weitere Kraft in mein Blickfeld, die die Bildwelten politischer Denker und ideologischer Bewegungen im 20. Jahrhundert geprägt hatte: die politische Nostalgie. Die Nostalgie legte sich nach der Französischen Revolution wie eine Wolke über das europäische Denken und hat sich seitdem nicht mehr aufgelöst. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, der «das Ende der Zivilisation, wie wir sie kannten», markierte, unterschied sich die greifbare Verzweiflung kaum von jener, die die Gegner der Revolution von 1789 verspürt haben mochten. Dieses Leiden an der Zeit verschärfte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als das ganze Ausmass der Shoah bekannt wurde und das atomare Wettrüsten einsetzte. Diese Verkettung von schrecklichen Ereignissen schrie förmlich nach einer Erklärung. Und die Denker – Philosophen, Historiker, Theologen – begannen zu liefern. Der Erste war Oswald Spengler mit seiner höchst einflussreichen Studie Der Untergang des Abendlandes (erschienen 1918–1923). Ihm sollte noch eine ganze Reihe von Untergangsphilosophen folgen, die alle behaupteten, sie hätten die Idee oder das Ereignis ausgemacht, das unser Schicksal besiegeln würde. In der europäischen und amerikanischen Rechten wurden diese Bücher nach 1950 geradezu verschlungen. Doch ihre Metaphern finden sich auch bei der Linken wieder, wo apokalyptische Tiefenökologen, Antiglobalisierer und Anti-Wachstums-Aktivisten die Reihen der Reaktionäre im 21. Jahrhundert verstärkten. Weniger bekannt ist, dass Spenglers historische Mythenbildung auch i­ hren Weg in die Schriften politischer Islamisten gefunden hat, die sie weiterspannen zum Narrativ des Untergangs eines dekadenten 22

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Der schiffbrüchige Geist

Westens und des unvermeid­lichen Sieges einer starken, erneuerten Religion. Selbst ­diese Geschichte trägt noch den europäischen Fingerabdruck. Der Glanz der Vergangenheit beginnt mit den Porträts dreier Denker des frühen 20. Jahrhunderts, deren Werk von dieser modernen Rückwärtsgewandtheit durchsetzt ist: Franz Rosenzweig, Eric Voegelin und Leo Strauss. Rosenzweig war der am wenigsten politische der drei. Er war deutscher Jude und studierte Hegels politische Schriften, bevor er am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Philosophie aufgab, um sich für den Rest seines kurzen Lebens der Erneuerung jüdischen Denkens und Glaubens zu widmen. Seine Nostalgie war von äusserst komplexer Natur. Seiner Ansicht nach hatte die Problematik, dass das Judentum in der modernen europäischen Gesellschaft keinen Platz gefunden hatte, ihren Ursprung in dem Versuch, sich anhand moderner, christlich inspirierter Vorstellungen vom historischen Fortschritt zu reformieren. Doch Rosenzweig war nicht der Ansicht, dass eine Rückkehr zu den einfachen, vormodernen Glaubensformen der Orthodoxie möglich oder auch nur wünschenswert wäre. Er schlug vielmehr ein «neues Denken» vor, das sich von der Geschichte abwenden sollte, um die lebendige transzendente Essenz des Judentums wiederzufinden. In seinen Tagebüchern schrieb er: «Der Kampf gegen die Geschichte im ­Sinne des 19. Jahrhunderts wird für uns zum Kampf um die Religion im Sinne des 20. Jahrhunderts.»5 Die Aufsätze über die Philosophen Voegelin und Strauss gehören ­zusammen. Beide verliessen Europa in den 1930er-Jahren und machten nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten Karriere, wo sie eine glühende Anhängerschaft um sich scharten. Wie viele ihrer Zeitgenossen empfanden sie offensichtlich die Notwendigkeit, den Zusammenbruch der Demokratie und das Aufkommen des Totalitarismus in Europa zu erklären mit ­einem verhängnisvollen Bruch in der Ideengeschichte, an dem der intellektuelle und politische Verfall einsetzte. Voegelin machte hierfür in seinen umfangreichen Schriften zu Religion und Politik den Gnostizismus früher Religionen dafür verantwortlich, die den Westen auf den Weg in die Katastrophe geführt hätten. Strauss entwickelte ein subtileres, tiefer gehendes Erklärungsmodell, das er auf gründliche Studien einzelner Denker von Platon bis Nietzsche stützte. Seiner Ansicht nach war Machiavelli für den entscheidenden historischen Bruch in der philosophischen Tradition verantwortlich, da er statt reiner Kontemplation und politischer Umsicht nun die willensmässige Beherrschung der Natur in den Mittelpunkt stellte. Obwohl Voegelin und Strauss sich also in ihren Vorstellungen über die 23

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Einführung

Geistesgeschichte des Westens deutlich unterscheiden, prägten beide ­Denker die historischen Phantasien amerikanischer Rechtsintellektueller. Dieser Vorgang entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn auf der Suche nach einer Geschichte zur Idealisierung des verlorenen Amerika – in deren Gefolge die Schuld an diesem Verlust europäischen Ideen zugeschrieben wird – reproduziert die amerikanische Rechte unbewusst einen sehr europäischen Kulturpessimismus. Ein wunderbares Beispiel hierfür ist Der ­Niedergang des amerikanischen Geistes, ein populäres Buch des StraussSchülers Allan Bloom über das Versagen der amerikanischen Universitäten und der Gesellschaft als Ganzes. Darin wird Kapitel um Kapitel die zerstörerische Auswirkung des europäischen Nihilismus auf die amerikanische Gesellschaft erläutert, nur um am Ende zu dem Fazit zu gelangen: «Egal, ob in Nürnberg oder in Woodstock, das Prinzip ist überall das gleiche.»6 Im Anschluss an diese Denkerporträts stelle ich zwei zeitgenössische geistige Strömungen vor, deren Rhetorik ebenfalls um nostalgische Sehnsüchte kreist, wenn sich auch die Absichten dahinter unterscheiden. Ich beginne mit dem Theokonservativismus, einer Strömung innerhalb der amerikanischen Rechten, die traditionsverbundene Katholiken, evangelikale Protestanten und neoorthodoxe Juden vereint. Über alle Unterschiede im Glauben hinweg verbindet sie die pauschale Ablehnung des kulturellen Verfalls im modernen Amerika, für den sie reformreligiöse Ansätze in ihren eigenen Reihen verantwortlich machen, aber auch die weltlichen Angriffe auf die Religion im Allgemeinen. Für sie stellen gewöhnlich die «Sechziger» den entscheidenden Bruch in der politischen und religiösen Geschichte Amerikas dar. Ambitioniertere Theokonservative richten den Blick noch weiter zurück, zum Beispiel in die Welt des mittelalterlichen Katholizismus, in der unsere Kultur vom rechten Pfad abgekommen sein soll. Danach wende ich mich einer kleinen, aber interessanten Bewegung der akademischen Linken zu, die Religion aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet. Ihre Anhänger vertreten einen durch und durch nostalgischen Blick auf revolutionäre Strömungen der Vergangenheit, ja selbst auf die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts. Ihre Faszination gilt der «politischen Theologie» und deren bekanntestem Theoretiker, dem früheren Rechtsgelehrten der Nazis, Carl Schmitt.7 Sie haben die marxistische Theorie der Geschichte und ihren deterministischen Materialismus hinter sich gelassen, finden aber in der neoliberalen Konsensgesellschaft nach 1989 keinen Platz. Die Revolution wandelt sich nun zum theologisch-­

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politischen «Ereignis», das ein neues Dogma etabliert und eine neue Ordnung errichtet, die sich dem offenkundigen ­Absturz der Geschichte entgegenstellt. In ihren Augen gibt es eine tiefe innere Verwandtschaft zwischen dem heiligen Paulus, Lenin und dem Gros­sen Vorsitzenden Mao. Diesen Kapiteln folgt die Auseinandersetzung mit einem besonderen Ereignis: den mörderischen Terroranschlägen vom Januar 2015 in Paris, begangen von in Frankreich geborenen Dschihadisten. Zu dieser Zeit lebte ich in Paris und war täglich konfrontiert mit zwei Spielarten des Reaktionären: die eine führte zum Ereignis selbst, die andere prägte dessen Auf­ arbeitung. Auf der einen Seite stand die nostalgische Sehnsucht der ungebildeten Killer nach einer glorreichen muslimischen Vergangenheit, die nur in ihrer Einbildung existierte, in der Gegenwart aber die Träume von einem modernen Kalifat mit globalen Ambitionen speiste. Ihr gegenüber stand die Nostalgie französischer Intellektueller, die in dem Verbrechen eine Bestätigung ihrer eigenen fatalistischen Ansichten über den Verfall Frankreichs und der Unfähigkeit Europas sahen, dieser zivilisatorischen Herausforderung zu begegnen. Die ganze Angelegenheit erinnerte stark an die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, als sich über das ganze politische Spektrum ein ängstlicher Kulturpessimismus legte, der von der ganz realen politischen Gewalt ebenso genährt wurde wie von den Phantasien über den katastrophischen Lauf der Geschichte. Der Glanz der Vergangenheit schliesst mit einer Meditation über die anhaltende psychologische Macht der politischen Nostalgie, die mit dem tragikomischen Versuch Don Quijotes beginnt, das Goldene Zeitalter wieder heraufzubeschwören. Denn die politische Nostalgie offenbart eine Form magischen Denkens im Hinblick auf die Geschichte. Der am Zustand der Welt Leidende glaubt, dass einst ein klar umgrenztes Goldenes Zeit­ alter existiert hat und er das Geheimwissen über die Gründe für seinen Niedergang besitzt. Doch anders als der moderne Revolutionär, dessen Handeln vom Glauben an den Fortschritt und die unmittelbar bevorstehende Befreiung inspiriert ist, weiss der nostalgische Revolutionär nicht, wie er sich die Zukunft vorstellen und in der Gegenwart handeln soll. Soll er sich zurückziehen in die innere Emigration und im Geheimen Widerstand leisten? Oder soll er seine Schutzbefohlenen zurück in die glorreiche Vergangenheit führen? Vielleicht sollte er sie auch in eine Zukunft führen, die noch glorreicher ausfallen wird? Don Quijote jedenfalls muss sich mit all diesen Vorstellungen auseinandersetzen. Seine ganz persönliche Quest

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Einführung

hat uns ebenso viel über die Ideen und Passionen hinter den kollektiven politischen Dramen unserer Zeit zu sagen wie jede noch so sachkundige Analyse sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Kräfte. Wir scheinen vergessen zu haben, dass diese Kräfte nur dann Macht entfalten können, wenn sie durch den Filter der subjektiven menschlichen Perspektive ­gelenkt werden, gefärbt von den Ideen und Bildern, mit denen der Mensch sich auf die Dinge seinen Reim zu machen sucht. Je faszinierter wir uns der individuellen Psyche zuwandten, desto ungeschickter wurden wir in der Deutung der Psychologie von Nationen, Völkern, Religionen und politischen Bewegungen. Dass die Gegenwart für uns so rätselhaft ist, ist in nicht geringem Masse auf dieses Ungleichgewicht zurückzuführen. Der Glanz der Vergangenheit versteht sich als kleiner Beitrag zur Korrektur dieser ­fehlenden Balance.

1 George Eliot, Die Mühle am Floss, Stuttgart 1983, S. 723. 2 Karl Marx, Friedrich Engels, Das Manifest der Kommunistischen Partei, Hamburg (4) 2017, S. 47. 3 Die grosse Ausnahme ist hier Thomas Mann. Seine Romanfigur Leo Naphta aus Der Zauberberg ist eine geradezu brillante Schöpfung: ein tuberkulosekranker Jude, der zum Katholizismus konvertiert ist und dann Jesuit wird, nur um schliesslich Sympathien für den Kommunismus zu entwickeln, die gut und gern auch dem Faschismus hätten gelten können. Zu dieser Art intellektueller Hysterie treibt Naphta seine Sehnsucht nach dem Mittelalter und die Überzeugung, dass die Geschichte in der Moderne ganz schrecklich aus dem Ruder läuft. Seiner Ansicht nach könnte nur eine gewaltsame Revolution die absolute Ordnung wiederherstellen, die dem Menschen Erlösung bringen würde. Dass Thomas Mann sich für seinen Naphta den marxistischen Philosophen und Revolutionär Georg Lukács als Vorbild nahm, zeigt, wie gut der Romancier die Geistesverwandtschaft zwischen dem Revolutionären und dem Reaktionären begriffen hat. Dass Lukács wiederum sich in Manns Figur nicht wiedererkannte, zeigt hingegen, wie wenig er sie verstanden hat. 4 Mark Lilla, Der hemmungslose Geist: Die Tyrannophilie der Intellektuellen, München 2015. 5 Übersetzung: Elisabeth Liebl. 6 Alan Bloom, Der Niedergang des amerikanischen Geistes, Hamburg 1988, S. 412. 7 Siehe das Kapitel über Carl Schmitt in meinem Buch Der hemmungslose Geist.

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Denker

Der Kampf um die Religion Franz Rosenzweig

Der Zweite Tempel war nicht wie der Erste. John Dryden1

Franz Rosenzweig kam am ersten Weihnachtsfeiertag 1886 zur Welt. Er stammte aus einer Familie assimilierter Juden, die in Kassel lebte. Obwohl das religiöse Lernen in seiner Familie Tradition hatte, erhielt Franz zu ­Hause nur eine vergleichsweise oberflächliche Einführung in das jüdische Leben. So beging man beispielsweise den Sabbat nicht feierlich. Seine ­Familie hoffte, er würde Arzt werden, doch an der Universität Freiburg ­erwachte bald sein Interesse an Philosophie und moderner Geschichte. Der bekannte Gelehrte Friedrich Meinecke wurde sein Doktorvater. Rosenzweig war ein begabter Student, und so nahm man an – es ist die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg –, er würde wohl die akademische Laufbahn einschlagen. Privat allerdings trieben ihn Fragen religiöser und philosophischer ­Natur um, die das Gelehrtendasein ihm nicht beantworten konnte. Eine ganze Reihe seiner jüdischen Freunde und Verwandten war zum Christentum konvertiert, allerdings nicht aus den üblichen sozialen Gründen. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das intellektuelle Leben in Deutschland von einer kierkegaardischen Stimmung überschattet: Man ging davon aus, dass die politische Einheit, die reiche Kultur des Bürgertums und der Triumph der modernen Wissenschaft etwas Essenzielles erlöschen liess, das nur durch einen religiösen Sprung nach vorn zurückerobert werden konnte. Eines der einflussreichsten Bücher jener Zeit lässt diese Geisteshaltung schon im Titel erkennen: Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, veröffentlicht 1917

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Herausgeber und Übersetzerin René Scheu (* 1974), Dr. phil., studierte Philosophie und Italianistik an den Universitäten Zürich und Triest und promovierte mit einer Arbeit über ­zeitgenössische italienische Philosophie. Von 2007 bis 2015 war er Herausgeber und Chefredaktor des liberalen Debattenmagazins Schweizer Monat. Seit 2016 ist er Feuilletonchef der Neuen Zürcher Z ­ eitung. Er hat zahlreiche Bücher herausgegeben und übersetzt. Elisabeth Liebl studierte Literaturwissenschaft und Komparatistik in München. Nach Studienaufenthalten an der Scuola Normale in Pisa und der École Normale Supérieure in Paris-Fontenay machte sie sich in München als Übersetzerin selbstständig. Mark Lillas geschliffene Prosa übertrug sie von Anfang an ins Deutsche. Darüber hinaus übersetzt sie Werke von Alexander Nehamas, Roger Scruton, Papst Franziskus und Michela Marzano.

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In der gleichen Reihe:

Hans Ulrich Gumbrecht Weltgeist im Silicon Valley Leben und Denken im Zukunftsmodus ISBN 978-3-03823-374-5 Ein kritischer Blick auf Leben und Denken im Zukunftsmodus: Wenn Hegel heute lebte und sich die Frage nach dem Ort des Weltgeists erneut stellte, dann käme er am Denken der Programmierer von Silicon Valley nicht vorbei. Palo Alto, Cupertino oder Mountain View heissen die unscheinbaren Ortschaften, in denen die radikal optimistischen Denker und Macher ihre technische Zukunft gerade erfinden. Hans Ulrich Gumbrecht, der fast 30 Jahre an der Stanford University lehrte, macht diese neue Kultur fass- und erfahrbar. «Einer der wenigen deutschen Geisteswissenschaftler, die weltweit Gehör finden.» Die Zeit NZZ Libro www.nzz-libro.ch

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Mark Lilla

Mit einem Vorwort von René Scheu, Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung.

Der Glanz der Vergangenheit

Mark Lilla (* 1956) lehrt als Professor für Geisteswissenschaften an der Columbia University in New York. Schwerpunkt seiner Forschung und Schriften ist die politische und religiöse Ideengeschichte des Westens. Er schreibt u. a. für die New York Review of Books, die New York Times, Le Monde und die Neue Zürcher Zeitung.

Die Revolutionäre der Gegenwart sind die Reaktionäre. Der amerikanische Ideenforscher Mark Lilla analysiert ihre Denkund Handlungsmuster anhand bedeutender moderner ­Denker und aktueller Phänomene. Seine Sicht birgt viel Zündstoff. Doch auch wer Lillas Darstellung nicht teilt, liest sie mit Gewinn. Denn sowohl in den USA wie auch in Europa weht ein reaktionärer Geist. Lillas Buch ist insofern das Buch der Stunde. Der Autor erweist dem Reaktionär nicht die Ehre, sondern entledigt ihn seiner Ideenkleider und verwandelt ihn in einen politischen Gegner, der sich fassen lässt.

Der Glanz der Vergangenheit Über den Geist der Reaktion

Mark Lilla

© Christophe Dellory

«Mark Lilla fordert Neugier auf alles, was anders ist als man selbst.» Peter Kuras, Freitag

ISBN 978-3-03810-323-3

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

«Der reaktionäre Geist ist ein schiffbrüchiger Geist. Wo ­andere den Strom der Zeit fliessen sehen wie eh und je, meint der Reaktionär die Bruchstücke des Paradieses zu ­erkennen, die an ihm vorbeischwimmen. Er ist ein Flüchtling der Geschichte. Der Revolutionär sieht eine strahlende ­Zukunft, die den anderen verborgen ist, und dieses Bild beflügelt ihn. Der Reaktionär denkt sich immun gegenüber modernen Lügen, sieht die Vergangenheit in all ihrer ­Glorie, und auch ihn beflügelt ein Bild. Er glaubt sich in einer stärkeren Position als sein Gegenspieler, weil er sich als Hüter von etwas Gewesenem sieht und nicht als Prophet von etwas, das sein könnte. (…) Die Militanz seiner Nostalgie macht den Reaktionär zur entschieden modernen Gestalt, nicht zu einem Anhänger der Tradition. (…) Und die Reaktionäre unserer Zeit haben entdeckt, dass Nostalgie eine machtvolle politische Motivation ist, vielleicht noch stärker als die Hoffnung.»


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