Silvan Lipp: Standort Schweiz im Umbruch

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Silvan Lipp

STANDORT SCHWEIZ IM UMBRUCH Etappen der Wirtschaftspolitik im Zeichen der Wettbewerbsf채higkeit

Verlag Neue Z체rcher Zeitung


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Inhalt

Vorwort

7

1

Einleitung

9

1.1

Viele Faktoren machen den Erfolg der Schweiz aus

10

1.2

Wirtschaftspolitik des Bundes im Fokus

13

1.3

Warum tut der Bundesrat, was er tut?

18

1.4

Was bedeutet Wettbewerbsfähigkeit?

19

1.5

Aufbau und Quellen

21

2

Wirtschaftspolitik mit Hang zum Status quo. Die Jahre 1973 bis 1989

23

2.1

Wirtschaftskrise 1973 trifft die Schweizer Wirtschaft hart

23

2.2

Wettbewerbsfähigkeit wird zum Gegenstand der Wirtschaftspolitik

26

2.3

Bundesrat zeigt sich wirtschaftspolitisch zurückhaltend

30

2.4

Das Prinzip «Wettbewerb» hat es schwer – Fallbeispiel Kartellgesetz

36

2.5

Volk lehnt Industriepolitik ab – Fallbeispiel Innovationsrisikogarantie

48

2.6

Aufstieg liberaler Reformkonzepte im Zuge der Standortdebatte

52

2.7

Die Schweiz auf dem Weg zum «Sanierungsfall»?

57

3

EWR: Vom erhofften Befreiungsschlag zur Bruchlandung. Die Jahre 1989 bis 1992

63

3.1

Integration vor 1989: Freihandel und institutionelle Frage

63

3.2

EWR: Marktzugang und Binnenmarktliberalisierung auf einen Schlag

73

3.3

Acquis als Grundlage des EWR – keine echte Mitsprache für die EFTA

81

3.4

Beginn der Verhandlungen: Schweizer Sonderfälle im Visier

87

3.5

EWR als Übergangslösung und Einreichung des EG-Beitrittsgesuchs

93

3.6

Wirtschaftspolitische Debatte rund um das Hauser-Gutachten

104

3.7

Volk sagt Nein – Bundesrat muss über die Bücher

107

5


4

Neue Wirtschaftspolitik im Zeichen der Wettbewerbsfähigkeit. Die 1990er-Jahre

4.1

6

111

«Wettbewerbsfähigkeit nach aussen durch mehr Wettbewerb im Innern»

112

4.2

Marktwirtschaftliche Erneuerung und Europakompatibilität

117

4.3

Reformfähigkeit auf dem Prüfstand: Kartellgesetzrevision

122

4.4

WTO als Bewährungsprobe für die Öffnung der Schweiz

131

4.5

Bilateraler Weg in Europa erweist sich als gangbar

136

4.6

Bundesrat bevorzugt moderaten Reformkurs

141

4.7

Regelgebundene Finanzpolitik und Verbesserung der steuerlichen Attraktivität

147

4.8

Fazit: EWR-Erfahrung hat Wirtschaftspolitik nach 1992 geprägt

155

5

Die Schweiz im Aufwärtsgang. Die Nullerjahre

159

5.1

Lancierung einer Wachstumspolitik – Fortsetzung der 90er-Reformen

160

5.2

Wettbewerb im Innern hat weiterhin Priorität

163

5.3

Neue Aussenwirtschaftsstrategie – bilateraler Weg als bevorzugte Option

166

5.4

Fortsetzung der neuen Finanzpolitik: Schuldenbremse und NFA

170

5.5

Die Schweizer Wirtschaft wächst wieder

177

5.6

Fazit: Wirtschaftspolitik als ein Erfolgsfaktor

179

6

Wirtschaftspolitik im Umfeld der Finanz- und Schuldenkrise

187

6.1

Finanzkrise verdeutlicht Handlungsbedarf bei der Marktregulierung

187

6.2

Internationale Staatsverschuldung und die Schweiz

190

6.3

Neues Kapitel in der Europapolitik

193

6.4

Wachstumspolitik und Verknappungseffekte

197

7

Schlussfolgerung

201

Anhang

203

Literatur- und Quellenverzeichnis

203

Anmerkungen

224


1

Einleitung

Hätten die Schweizer Stimmberechtigten am 6. Dezember 1992 dem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zugestimmt, wäre der Standort Schweiz umfassend erneuert worden. Die Schweiz wäre Teil des europäischen Binnenmarkts mit freiem Personen-, Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr geworden. Die gegenseitige Marktöffnung und die Angleichung des schweizerischen Wirtschaftsrechts an das europäische Recht hätten den Wettbewerb auf dem schweizerischen Binnenmarkt intensiviert. Als das Volk und die Stände den EWR-Beitritt nach einem intensiven Abstimmungskampf ablehnten, machte sich bei den Befürwortern Ratlosigkeit breit. Ob sich die Schweiz aus eigener Kraft zu Liberalisierungsreformen durchringen könnte? Ob die Schweiz in Europa wieder Anschluss finden würde? Manch einer sah den bereits im Vorfeld der EWR-Abstimmung von Ökonomen befürchteten Abstieg der Schweiz «vom Sonderfall zum Sanierungsfall»1 Realität werden. Die wirtschaftlich schwierige Zeit während der 1990er-Jahre nährte diese Befürchtung. Die Wachstumsschwäche zog auch den Staatshaushalt in Mitleidenschaft. Der Bund schrieb in den 1990er-Jahren hohe Defizite und verschuldete sich zunehmend. Heute ist von all dem (fast) nichts mehr zu spüren. Nach der Stagnationsphase in den 1990er-Jahren konnte die Schweiz mit Beginn des neuen Jahrtausends die Wachstumsschwierigkeiten überwinden. Die Bundesfinanzen sind wieder im Lot. Ein geeigneter Zugang zum europäischen Markt konnte erreicht werden. Das Land bietet attraktive Standortbedingungen und zieht Wirtschaftsaktivitäten und mobile Produktionsfaktoren wie ein «Magnet» an.2 Immer wieder wird auch auf die Ranglisten zur internationalen Wettbewerbsund Innovationsfähigkeit verwiesen: Bei vielen belegt die Schweiz eine Spitzenposition oder steht sogar auf Platz eins.3 Die Schweiz und ihre Volkswirtschaft gelten als «Erfolgsmodell» und «Wirtschaftswunder».4 Auch in der jüngsten Finanz- und Schuldenkrise zeigte sich die schweizerische Volkswirtschaft im internationalen Vergleich relativ robust. Was also ist passiert? Wie haben sich der Standort Schweiz und seine Rahmenbedingungen gewandelt? Welche wirtschaftspolitischen Reformen wurden umgesetzt? Und inwiefern hängen sie mit dem Erfolg der Schweiz zusammen? In diesem Buch werden die Etappen der Wirtschaftspolitik historisch untersucht. Im Zentrum des Interesses stehen das Denken und Handeln

9


des Bundesrates und seiner Verwaltung. Der Fokus wird dabei besonders auf die Aussenwirtschafts-, die Wettbewerbs- und die Finanzpolitik gelegt. Der Bogen wird bis in die 1970er-Jahre zurückgespannt. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Wirtschafts- und Währungskrise von 1973, die für die Wirtschaftspolitik ein neues Umfeld schuf: Die Hochkonjunktur fand ein abruptes Ende. Der Übergang zu flexiblen Wechselkursen forderte die Volkswirtschaften heraus. Die Schweizer Wirtschaft durchlebte nach 1973 einen tief greifenden Strukturwandel. Es setzte eine beschleunigte Globalisierung ein und der Dienstleistungssektor gewann an Bedeutung. International kam es zu einer verstärkten Liberalisierung der Märkte. Trotz diesen Umbrüchen in der Wirtschaft und auf der internationalen Ebene blieb die schweizerische Wirtschaftspolitik in jenen Jahren relativ stark am Status quo orientiert. Strukturelle Reformen etwa im Sinne der Marktliberalisierung wurden in dieser Zeit gar nicht oder nur zögerlich angepackt. Erst nach dem EWR-Nein entwickelte sich unter dem Slogan der «marktwirtschaftlichen Erneuerung» eine rege wirtschaftspolitische Reformtätigkeit. Die EWR-Erfahrung spielte dabei eine zentrale Rolle. Die EWR-Vorlage, obwohl vom Volk abgelehnt, wurde zu einer wichtigen Referenz sowohl für die Reformen im Innern als auch für die neuen bilateralen Verträge mit der EU. Diese stärker marktwirtschaftlich orientierte und auf die Europakompatibilität ausgerichtete Wirtschaftspolitik markierte einen Bruch mit der zuvor praktizierten Wirtschaftspolitik, die sich durch einen ausgeprägten Dualismus – liberale Handelspolitik nach aussen, Binnenmarktschutz im Innern – auszeichnete. Diesen Kurswechsel gilt es, genauer unter die Lupe zu nehmen. Soviel vorweg: Ein wichtiger Grund war die zunehmende Bedeutung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Dieses Denkmuster entwickelte sich zu einem dominierenden Orientierungspunkt und prägt die Wirtschaftspolitik seit den 1990er-Jahren massgeblich.

1.1

Viele Faktoren machen den Erfolg der Schweiz aus

Die Schweiz ist seit Jahrzehnten ein Land mit einem sehr hohen Wohlstandsniveau. Doch welches sind die Faktoren und Bedingungen für diesen anhaltenden Erfolg? In der wirtschaftshistorischen Forschung wird der Erfolg der Schweiz als Folge einer Kombination von günstigen Umständen und hausgemachten Stärken erklärt.5 Zunächst sind verschiedene günstige Umstände zu erwähnen, so etwa der ununterbrochene Friede, die zentrale Lage der Schweiz in Europa sowie das starke Wachstum der umliegenden Nachbarländer nach 10

1945. Die vom Zweiten Weltkrieg verschonte Schweiz hatte einen intakten


Produktionsapparat und vermochte so nach dem Krieg die rasch wachsende Nachfrage im Ausland zu stillen. Innert weniger Jahre stieg die Schweiz zu einem der reichsten Länder der Welt auf. Dieser wirtschaftliche Erfolg wäre nicht möglich gewesen ohne die kompetitive Struktur der Schweizer Wirtschaft, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden ist. Die Ressourcenknappheit und das unwirtliche Alpengebiet haben die Wirtschaft schon früh zu Innovationsleistungen angetrieben. Die mit der Gründung des modernen Bundesstaates im Jahr 1848 verbundene Schaffung eines liberalen und offenen Wirtschafts- und Arbeitsumfelds ermöglichte den eigentlichen «take off» der Schweizer Wirtschaft hin zu einer «small open economy» mit einem breiten Branchenmix, einer starken Exporttätigkeit und einer diversifizierten Produktpalette. Zu weiteren Faktoren, die nicht direkt durch die Politik beeinflussbar sind, zählen etwa die Mehrsprachigkeit oder die schönen Landschaften und Seen. Für internationale Unternehmen, die auf der Suche nach einem geeigneten Sitz sind, können solche Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Was die hausgemachten Stärken betrifft, sind erstens die politischen Institutionen der direkten Demokratie und des Föderalismus zu nennen. Sie tragen wesentlich zur hohen politischen Stabilität und Rechtssicherheit bei. Ökonomen betonen zudem, dass die Kombination von direkter Demokratie und (Steuer-) Föderalismus zu einer im internationalen Vergleich niedrigen Staats- und Steuerquote geführt habe und der Steuerwettbewerb sich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirke.6 Das politische System der Schweiz zeichnet sich im Weiteren durch einen ausgeprägten Einbezug der politischen und wirtschaftlichen Akteure in die Problemlösungsfindung aus. Es hat sich ein System der Konfliktlösung und Kompromiss- und Ausgleichsbereitschaft entwickelt, das sich für die Schweiz als vorteilhaft erwies.7 Zweitens wird die Qualität des Humankapitals als eine weitere hausgemachte Stärke der Schweiz hervorgehoben.8 Die Politik und Wirtschaft haben den Wert der Bildung und Forschung schon früh erkannt und in Bildungsinstitutionen investiert, sowohl in Hochschulen wie auch in die Volksschule. Drittens zählt die Währungs- und Wirtschaftspolitik zu den Stärken.9 Der Schweiz ist es gelungen, eine langfristig auf Stabilität ausgerichtete Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik zu praktizieren, was die wirtschaftliche Entwicklung des Landes begünstigt hat. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Aufrechterhaltung eines relativ flexiblen Arbeitsmarkts und eine gut funktionierende Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern als wichtige Faktoren für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes. 11


Schweizer Wirtschaft im Globalisierungs- und Strukturanpassungsprozess Der Globalisierungsprozess der Wirtschaft stellt das wohl markanteste Merkmal der Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahrzehnte dar. Die traditionell offene und exportorientierte Schweizer Volkswirtschaft hat ihre wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Ausland weiter intensiviert.10 Die Aussenhandelsquote ist hoch, aber auch die Kapitalverflechtung ist ausgeprägt und hat im betrachteten Zeitraum stark zugenommen. Gemessen am Anteil des Direktinvestitionsbestands am nominellen Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag der Bestand schweizerischer Direktinvestitionen im Ausland Anfang der 1990er-Jahre bei rund 30 Prozent. Anfang des 21. Jahrhunderts waren es bereits über 100 Prozent. Gemessen am gesamten Weltkapitalbestand stieg die Schweiz zum siebtgrössten Direktinvestor auf. Als Kehrseite der starken weltwirtschaftlichen Integration der Exportindustrie und des Finanzplatzes etablierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Schweizer Binnenmarkt eine ausgeprägte Kartellkultur. Es bildete sich ein Dualismus in der Schweizer Wirtschaftsstruktur heraus: Auf der einen Seite stand die im internationalen Wettbewerb stehende und konkurrenzfähige Exportwirtschaft, auf der anderen Seite die von Importkonkurrenz geschützte Binnenwirtschaft. In den 1990er-Jahren wurde indes auch der Binnenmarkt geöffnet, sodass sich auch die binnenorientierte Wirtschaft mit einem stärker wettbewerbsorientierten Umfeld zu arrangieren hatte. Verschiedene Branchen erlebten im betrachteten Zeitraum Strukturumbrüche. Die Industrielandschaft begann sich im Zuge der Technologiefortschritte besonders seit den 1980er-Jahren deutlich zu verändern. Zugleich setzte eine beschleunigte Verschiebung der Beschäftigung vom Industrie- zum Dienstleistungssektor ein. Noch Anfang der 1960er-Jahre arbeitete mehr als die Hälfte aller Schweizer Beschäftigten im Industriesektor. Die Anzahl der Beschäftigten ging seither kontinuierlich zurück; im Längsschnitt von rund 50 Prozent aller Beschäftigten im Jahr 1964 auf 23 Prozent nach der Jahrtausendwende.11 Die Tage, als ein einzelner Industriekonzern mehr Leute beschäftigte als die gesamte Finanzbranche, waren gezählt.12 Während sich der Industriesektor in einem einschneidenden strukturellen Anpassungsprozess befand, setzte sich der Boom im Finanzsektor zunächst fort. Doch im Übergang in die 1990er-Jahre geriet auch der Bankensektor in einen Strukturwandel. Die internationale Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte und die Fortschritte in den Kommunikationstechnologien führten in der Branche zu einem gründlichen Bereinigungsprozess. Hinzu kam eine schwere Börsen- und Immobilienkrise in der Schweiz, die den Redimensionierungs- und 12

Konzentrationsprozess in der Bankenbranche verstärkte.13


Die Schweizer Volkswirtschaft zeigte sich in diesem Prozess der Globalisierung insgesamt anpassungsfähig. Die Schweiz konnte sich im internationalen Wettbewerb behaupten und zählt heute wirtschaftlich zu den erfolgreichsten Ländern. Dies verdeutlicht ein Blick auf die volkswirtschaftlichen Indikatoren:14 Beim BIP pro Kopf belegt die Schweiz einen Spitzenplatz, die Arbeitslosigkeit ist seit Jahrzehnten tief. Das Land verfügt über eine sehr hohe Dichte an Grossfirmen. Gemessen an der Zahl von Patentmeldungen pro Jahr und pro Million Einwohner steht die Schweiz an der Spitze. Es lässt sich feststellen, dass sich die Schweizer Wirtschaft durch eine hohe Leistungs- und Innovationskraft auszeichnet und die stabile wirtschaftliche Entwicklung entscheidend zum anhaltenden Erfolg der Schweiz beigetragen hat. Standortrelevante Faktoren im Einflussbereich der Wirtschaftspolitik Der Schweiz wird in internationalen Standort-Rankings eine hohe Wettbewerbsfähigkeit attestiert. Das World Economic Forum (WEF) beispielsweise misst die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes anhand von mehr als hundert Indikatoren, die in zwölf Säulen der Wettbewerbsfähigkeit verdichtet werden.15 Auch wenn diese Rankings nicht über alle Zweifel erhaben sind, so geben sie dennoch einen Eindruck, welches die relevanten Standortfaktoren sind. Zu den WEF-Säulen zählen das institutionelle Umfeld, die Infrastrukturen, die makroökomische Stabilität (inkl. Staatsfinanzen), die Gesundheitsversorgung, die Bildung, die Effizienz der Gütermärkte, die Arbeitsmarkteffizienz, der Entwicklungsgrad der Finanzmärkte, die technologische Leistungsfähigkeit, die Marktgrösse, der Entwicklungsstand der Geschäftstätigkeit und die Innovation. Eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gelingt gemäss WEF dann, wenn eine Politik verfolgt wird, die möglichst alle Pfeiler stärkt. Dabei spielt die hier untersuchte Wirtschaftspolitik eine wichtige Rolle, liegen doch viele der relevanten Standortfaktoren in ihrem Einflussbereich.

1.2

Wirtschaftspolitik des Bundes im Fokus

Dieses Buch beschäftigt sich schwerpunktmässig mit der Wirtschaftspolitik des schweizerischen Regierungssystems. Zu diesem System zählen in erster Linie der Bundesrat und seine Verwaltung, wobei dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement (EVD) und dem Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD) eine Schlüsselrolle zukommt. Das EVD zählt seit der Gründung des modernen Bundesstaates zu den umfangreichsten Departementen.16 Als «Kronamt» innerhalb des Volkswirtschaftsdepartements galt vor allem seit der

13


Nachkriegszeit die Handelsabteilung, die 1979 zum Bundesamt für Aussenwirtschaft (BAWI) umbenannt wurde. Das BAWI war für den Aussenhandel, die Wirtschaftsverhandlungen und generell für die Wirtschaftsintegration verantwortlich. In Fragen der europäischen Integration arbeitete das BAWI mit dem 1961 gegründeten Integrationsbüro (IB) zusammen. War das BAWI der Ansprechpartner für die Schweizer Grossindustrie und die Banken, so waren das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) und das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) für die binnenmarktorientierten Sektoren zuständig. Um die Konjunkturpolitik kümmerte sich das im Jahr 1980 gegründete Bundesamt für Konjunkturfragen (BfK). Im Jahr 1999 wurden der Aussenwirtschafts- und Binnenwirtschaftsbereich sowie die Konjunkturpolitik zusammengefasst. Es entstand das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Dem EVD angegliedert sind im Weiteren die für die Wettbewerbspolitik relevante Wettbewerbskommission (WEKO) und der Preisüberwacher. EVD-Vorsteher seit den 1970er-Jahren 1970–1978:

Ernst Brugger, fdp., Kanton Zürich

1978–1982:

Fritz Honegger, fdp., Kanton Zürich

1983–1986:

Kurt Furgler, cvp., Kanton St. Gallen

1987–1998:

Jean-Pascal Delamuraz, fdp., Kanton Waadt

1998–2002:

Pascal Couchepin, fdp., Kanton Wallis

2003–2006:

Joseph Deiss, cvp., Kanton Freiburg

2006–2010:

Doris Leuthard, cvp., Kanton Aargau

Seit 2010:

Johann Schneider-Ammann, fdp., Kanton Bern

Das EFD galt in den Anfangsjahren des Bundesstaates als «Einstiegsdepartement für Bundesratsneulinge»17, denn die Aufgaben waren überschaubar. Mit der Zunahme von Bundesaufgaben wurden auch die Aufgaben

EFD-Vorsteher seit den 1970er-Jahren

14

1968–1973:

Nello Celio, fdp., Kanton Tessin

1974–1979:

Georges-André Chevallaz, fdp., Kanton Waadt

1980–1983:

Willi Ritschard, sp., Kanton Solothurn

1984–1995:

Otto Stich, sp., Kanton Solothurn

1996–2003:

Kaspar Villiger, fdp., Kanton Luzern

2004–2010:

Hans-Rudolf Merz, fdp., Kanton Appenzell A. Rh.

Seit 2010:

Eveline Widmer-Schlumpf, bdp., Kanton Graubünden


für das Finanzdepartement anspruchsvoller. Bald entwickelte sich das EFD zu einem Schlüsseldepartement, fliessen doch alle Finanzströme durch dieses Departement. Innerhalb des EFD ist primär die Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV) für die Politikentwicklung sowie für die finanzpolitischen Strategien und Konzepte zuständig. Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) ist für die Steuergesetzgebung verantwortlich. Das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF) befasst sich mit der Aushandlung internationaler Abkommen im Steuerbereich und mit internationalen Finanz-, Währungs- und Steuerfragen. Wirtschaftspolitische Kompetenzen des Bundes Der wirtschaftspolitische Aktionsradius wurde für den Bundesrat ursprünglich relativ eng abgesteckt.18 Die Schweiz hat seit der Gründung des modernen Bundesstaates von 1848 eine prinzipiell freiheitliche marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung. Der harte Kern dieser Wirtschaftsordnung ist die seit 1874 verfassungsrechtlich garantierte Handels- und Gewerbefreiheit.19 In die Bundesverfassung von 2000 fand dieser Grundsatz unter dem Begriff der Wirtschaftsfreiheit Eingang. Die Wirtschaftsfreiheit regelt das Verhältnis zwischen dem Staat und den Wirtschaftsteilnehmern, indem sie den Bürgern und den Unternehmen Schutz vor staatlichen Eingriffen gewährt. Nur dort, wo vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abgewichen wird, entsteht Handlungsspielraum für eine staatliche Wirtschaftspolitik. Im Laufe der Zeit gewährte der Gesetzgeber solche Abweichungen. So wurde mit den 1947 vom Volk angenommenen Wirtschaftsartikeln das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in dem Sinne geregelt, dass die generelle Handels- und Gewerbefreiheit weiterhin als oberstes Prinzip galt, jedoch unter Vorbehalt verschiedener verfassungsmässig verankerter Kompetenzen für den Bund. Er wurde befugt, Massnahmen zu ergreifen gegen volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartellen, für die Erhaltung des Bauernstandes sowie zum Schutz wirtschaftlich bedrohter Landesteile. Auch im Bereich der Konjunkturpolitik erhielt der Bund die Kompetenz, Massnahmen zur Verhütung von Wirtschaftskrisen und zur Bekämpfung eingetretener Arbeitslosigkeit zu ergreifen. Implizite Abweichungen vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit gibt es unter anderem auch in der Infrastruktur-, der Sicherheits- und der Sozialpolitik sowie in der Geld- und Währungspolitik. Der Bund konzentrierte sich in der Wirtschaftspolitik seit je auf eine grundsätzlich offene Aussenwirtschaftspolitik mit dem Ziel, für die Exportwirtschaft einen optimalen Zugang zu den Absatzmärkten zu schaffen. Was die Wirtschaftspolitik im Innern betrifft, legte der Bund den Schwerpunkt auf

15


die Setzung von Rahmenbedingungen (Ordnungspolitik) und bis in die 1990erJahre auf die Förderung und den Schutz von gewissen Regionen und Branchen (sektorieller Protektionismus). Eine aktive Strukturpolitik im Sinne einer industriepolitischen Lenkung des Ressourceneinsatzes betrieb der Bund mit Ausnahme im Bereich der Landwirtschaft nicht.20 Im Bereich der budgetären Wirtschaftspolitik (Finanz- und Steuerpolitik) hatte der Bund aufgrund des ausgeprägten Föderalismus ursprünglich nur wenige Kompetenzen. Vergleichsweise bescheiden blieb denn auch die Prozesspolitik. Eine ausgeprägt nachfrageorientierte Konjunkturpolitik, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Industriestaaten üblich war, verfolgte die Schweiz nicht.21 Bundesrat als Akteur in einem sich wandelnden Umfeld Der Bundesrat nimmt als oberste vollziehende und leitende Behörde der Eidgenossenschaft eine führende Rolle in der Wirtschaftspolitik ein.22 Er definiert die Ziele, die Strategien und die Reformen. In seiner Aufgabe als leitende Behörde nimmt er sowohl eine reaktive als auch eine innovative Funktion wahr: Auf der einen Seite reagiert der Bundesrat auf wirtschaftspolitische Anstösse und Initiativen, die von aussen an die Regierung herangetragen werden. Auf der anderen Seite hat der Bundesrat eine eigene Innovations- und Impulsfunktion. Er entscheidet über die Aufnahme von aussenpolitischen Verhandlungen und definiert entsprechend Verhandlungsmandate, Strategien und Ziele. Mit dem Initiativrecht bei der Rechtsetzung nimmt der Bundesrat im Rahmen der Vorbereitung der Gesetzgebung Einfluss auf die Gesetzesinhalte. Der Bundesrat agiert innerhalb des direktdemokratischen und föderalistischen Systems. Das Referendumsrecht hat zur Folge, dass Bundesrat und Parlament eng mit referendumsfähigen Organisationen – vor allem Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften – zusammenarbeiten und in der Regel pragmatische und ausgewogene Reformen präsentieren. In der schweizerischen Wirtschaftspolitik spielt das Verbandswesen eine wichtige Rolle.23 Die Politikwissenschaft hat das Zusammenspiel von Staat und Verbandswesen, also den (Neo-)Korporatismus in der Schweiz näher erforscht.24 Wie aufgezeigt werden kann, hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein eigentümliches wirtschaftspolitisches Schweizer Modell des sogenannten liberalen Korporatismus herausgebildet. Dieses Modell zeichnete sich dadurch aus, dass alle wichtigen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen den binnenmarktorientierten Industrie- und Gewerbezweigen und der international orientierten Exportwirtschaft auf privater Ebene unter Beizug des Staates als Vermittler gelöst wurden. Der Bund überliess jene wirtschaftspolitischen Bereiche, die privat geregelt werden 16

konnten, der Selbstregulierung. Dieses Nichteinmischen des Staates hatte ver-


schiedene Folgen. Mit Blick auf die Produktmärkte trafen viele Branchen Preis- und Gebietsabsprachen und beschränkten so den Wettbewerb, was der Staat lange Zeit tolerierte. Mit Blick auf den Arbeitsmarkt ist es Arbeitgebern und Arbeitnehmern gelungen, eine autonome und funktionierende Sozialpartnerschaft einzurichten, sodass die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach staatlichen Gesetzen im Bereich des Arbeitsmarktes relativ klein blieben. In denjenigen wirtschaftspolitischen Bereichen, die einer gesetzlichen Regelung bedurften, suchte der Staat die Zusammenarbeit mit den betroffenen Interessengruppen.25 Für die inhaltliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik bedeutete dies, dass der Bund in den Nachkriegsjahren unter dem Einfluss des Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit eine relativ restriktive Migrationspolitik (Schutz der einheimischen Arbeiter, keine Personenfreizügigkeit) verfolgte. Die Arbeitgeberseite duldete diese Politik, da sie im Gegenzug darauf zählen konnte, dass die Gewerkschaften im Bereich des flexiblen Arbeitsmarktes auf zusätzliche Regulierungen verzichteten. Der Kompromiss zwischen Binnenwirtschaft und Exportwirtschaft lautete, dass die auf den Binnenmarkt ausgerichteten Betriebe die für die Exportwirtschaft wichtige Offenheit die Aussenwirtschaft betreffend akzeptierten, weil sie im Gegenzug von der Exportwirtschaft auf die Schützenhilfe bei der Aufrechterhaltung der kartellfreundlichen Wettbewerbspolitik und der staatlichen Regulierung des Produktmarktes zählen konnten.26 Der Bundesrat verfolgte somit in den Nachkriegsjahren eine zunehmend dualistische Wirtschaftspolitik einer offenen Aussenwirtschaftspolitik auf der einen und einer protektionistischen Binnenmarktpolitik auf der anderen Seite. Dieses Kompromissmodell der Wirtschaftspolitik begann in den 1990er-Jahren zu erodieren.27 Die Globalisierung, die Integrationsdynamik in Europa und generell der Liberalisierungsdruck von aussen erforderten von der Schweiz eine stärkere Marktöffnungspolitik. Die zunehmende internationale Vernetzung der Schweiz erfasste auch die Wirtschaftspolitik.28 Der Bundesrat und die Handelsdiplomaten übernahmen im Rahmen von multilateralen und bilateralen Verhandlungen immer häufiger eigentliche legislatorische Aufgaben. Sie definierten auf internationaler Ebene die Spielregeln und den Rahmen, in dem sich die nationale Wirtschaftspolitik zu bewegen hatte.29 Parteien, Verbände und Gewerkschaften sowie die Kantone, die bei den multilateralen Verhandlungen nicht anwesend waren, verloren dadurch tendenziell Mitgestaltungsmöglichkeiten.30 Damit wurden die schweizerischen Entscheidungsprozesse gewissermassen transformiert. Der Bundesrat und die Bundesverwaltung gewannen an Einfluss, während die Bedeutung der vorparlamentarischen Beratung im traditionell korporatistischen Sinne abnahm.

17


Strukturelle Reformen stehen im Zentrum der Analyse In den 1990er-Jahren betonte der Bundesrat die «Notwendigkeit einer ordnungspolitischen Besinnung»31 und setzte sich zum Ziel, mit strukturellen Reformen die Rahmenbedingungen zu erneuern und die Standortqualität zu verbessern. Auch im Rahmen der Wachstumspolitik ab 2002 legte der Bundesrat den Fokus auf strukturelle Reformen. Betont wurde, dass die Entwicklung der Produktionsmöglichkeiten, also die gesamtwirtschaftliche Angebotsseite, das langfristige Wachstum bestimme.32 Seit den 1990er-Jahren räumte der Bundesrat besonders der Aussenwirtschafts-, der Wettbewerbs- und der Finanzpolitik hohe Priorität ein. Auch im Wachstumspaket 2004 zählte die Regierung diese drei Gebiete der Politik zu den wichtigsten Massnahmenbereichen.33 Sie stehen in diesem Buch im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Andere Bereiche des Bundes, die ebenfalls eine hohe Standortrelevanz haben, etwa die Bildungs- oder die Arbeitsmarktpolitik, werden nicht im Detail analysiert.

1.3

Warum tut der Bundesrat, was er tut?

Die bisherige Forschung hat sich vorwiegend mit den auf den Bundesrat einwirkenden Einflüssen und mit dem politisch-institutionellen Rahmen beschäftigt.34 Das vorliegende Buch wählt eine andere Perspektive; das Interesse gilt dem Denken und Handeln des Bundesrates und seiner Verwaltung. Untersucht wird dabei nicht nur, was der Bund wirtschaftspolitisch getan hat, sondern auch, warum er es getan hat. Das Buch versucht somit eine historische Erklärung zu liefern, wie der Bundesrat und die Verwaltung zeitgenössische Herausforderungen deuteten, wie sie zu Entscheidungen fanden und mit welcher Argumentation sie wirtschaftspolitische Strategien und Reformen rechtfertigten. Es wird aufgezeigt, wie der Bundesrat im Reformprozess agierte und wie er mit wirtschaftspolitischen Konzepten umging, die von internationalen Organisationen (im Rahmen von Verhandlungen oder Beratungen), der Wissenschaft (im Rahmen von Gutachten und Expertengruppen) oder von innenpolitischen Akteuren an ihn herangetragen wurden. Welche Konzepte also berücksichtigte er und warum, und welche entwickelte der Bundesrat selbst? Der Beitrag lehnt sich in methodischer Hinsicht an den Ansatz des Historikers Thomas Gees an, der in seiner Studie Die Schweiz im Europäisierungsprozess für den Zeitraum von 1947 bis 1973 die Frage untersuchte, ob sich das schweizerische Regierungssystem an wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzepten orientierte, die aus einem gemeinsamen europäischen Verhandlungs18

prozess hervorgingen.35 Der Wille zu einer bestimmten Politik im nationalen


Rahmen muss sich zuerst einmal herausbilden. Auf der Suche nach einem Lösungsweg und nach spezifischen Konzepten spielen für die Regierung – neben den nationalen Akteuren – besonders auch internationale Organisationen und die Wissenschaft eine wichtige Rolle. Thomas Gees schlägt für die Beantwortung der Frage, wie das schweizerische Regierungssystem weiss, was es will, vor, in den Normenbildungsprozess der Regierung zu blicken und zu klären, inwiefern sich die Bundesbehörden von internationalen bzw. besonders europäischen Konzeptionen inspirieren liessen. Die vorliegende Studie schliesst sich diesem Vorgehen an und untersucht den Umgang von Bundesrat und Verwaltung mit wirtschaftspolitischen Konzepten im betrachteten Zeitraum von 1973 bis heute. Dabei stehen besonders die Transferprozesse, also die (gegenseitige) Bezugnahme und Übernahme von Ideen, Konzepten und Normen im Vordergrund. Es gilt dabei, verschiedene Intensitäten von Transfers zu unterscheiden, etwa kommunikative (Fachliteratur, Konferenzen), wenig verbindliche (Resolutionen, Empfehlungen) und verbindliche Transfers (Verträge, Abkommen).36 Wenn nach dem konzeptionellen Denken gefragt wird, so gilt es innerhalb des Regierungssystems zu differenzieren: Zwar ist es der Bundesrat, der Ziele festsetzt und über den Weg entscheidet, es ist aber die Verwaltung, die die konzeptionellen Vorarbeiten leistet und die Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung stellt. Es ist somit primär die Verwaltung, die sich näher mit Konzepten beschäftigt und die in den internationalen Gremien, in denen Standards erarbeitet werden, vertreten ist.

1.4

Was bedeutet Wettbewerbsfähigkeit?

Ein Konzept hat die Wirtschaftspolitik in den letzten vier Jahrzehnten besonders stark beschäftigt, nämlich jenes der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Das Denken in der Kategorie der Wettbewerbsfähigkeit geht vor allem auf die Währungs- und Wirtschaftskrise von 1973 zurück. Der wirtschaftliche Einbruch in den OECD-Ländern und das zeitgleiche Aufstreben Asiens gaben der Frage nach dem Zustand und der Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften Auftrieb. Der Begriff «internationale Wettbewerbsfähigkeit» wurde dabei in verschiedenen Sachzusammenhängen verwendet. Er diente in den 1970erund 1980er-Jahren sowohl der Beschreibung der Überlebenschancen einzelner Unternehmen auf ausländischen Märkten als auch der Beurteilung der Performance von Branchen oder ganzer Volkswirtschaften.37 In der Wissenschaft wurde in dieser Zeit vor allem die Konkurrenzfähigkeit von Wirtschaftsbranchen betrachtet. Die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts

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bzw. der Standortqualität stand noch nicht im Vordergrund. Das änderte sich in den 1990er-Jahren, als das Konzept der relativen Attraktivität von Standorten aufkam und sich durchzusetzen begann.38 Es beschreibt, wie sich durch die Globalisierung die Bedeutung der Attraktivität eines Standorts entscheidend verändert hat. Als in erster Linie nur Güter mobil waren (Warenhandel) und die anderen Produktionsfaktoren wie Kapital und Arbeit kaum gewandert sind, sondern sich primär innerhalb der nationalen Grenzen bewegt haben, spielte die Attraktivität eines Standortes noch eine untergeordnete Rolle. Durch den Abbau der Handelsbarrieren nicht nur für Güter, sondern auch für Kapital, Dienstleistungen und Personen, wurden die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit immer mobiler und konnten von Land zu Land wandern. Damit kommt der Attraktivität eines Standorts eine entscheidende Bedeutung zu. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes hängt somit nicht nur von der Stärke und Konkurrenzfähigkeit seiner Wirtschaft ab, sondern auch von der Qualität der Standortbedingungen. Die Wirtschaftspolitik muss diesem Verständnis nach zum einen bestrebt sein, die Attraktivität des Standorts laufend zu verbessern, um sicherzustellen, dass mobile Faktoren und produktive Wirtschaftszweige nicht abwandern. Zum anderen ist die Produktivität der Wirtschaft ein wichtiger Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit. Ein Land wird nämlich dann wettbewerbsfähiger, wenn es ihm gelingt, die Arbeits- und Kapitalproduktivität der in ihm angesiedelten Unternehmen zu erhöhen. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, so die Konklusion, entsteht somit aus dem Zusammenspiel der Standortattraktivität (Qualität der Standortbedingungen) und der Produktivität der angesiedelten Unternehmen.39 Auch in der Schweiz wurde die internationale Wettbewerbsfähigkeit nach 1973 zu einem wichtigen Orientierungs- und Referenzpunkt in der Wirtschaftspolitik. Die stärkere Gewichtung von Überlegungen zur Wettbewerbsfähigkeit ist dabei besonders auf die Globalisierung und den damit verbundenen härteren Standortwettbewerb zurückzuführen.40 Wie noch aufgezeigt wird, stieg das Konzept der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von einem in den 1970er- und 1980er-Jahren zunächst rein wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs zu einem dominierenden Denkmuster in der Wirtschaftspolitik des Bundes auf. Das Denken in der Kategorie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit hält bis heute an. Im Bericht zur Aussenwirtschaftspolitik 2007 ging der Bundesrat ausführlich auf dieses Thema ein. Aus Sicht des Bundesrates ist unter Wettbewerbsfähigkeit die Fähigkeit zu verstehen, in einer sich immer enger verflechtenden Welt dauerhaft den Erfolg der am Standort Schweiz angesiedelten Unternehmen zu sichern und den Wohlstand 20

der Bevölkerung zu steigern. Dabei betonte auch der Bundesrat das Zusam-


menspiel von attraktiven Standortbedingungen und der Produktivität der Wirtschaft. «Die Wettbewerbsfähigkeit lebt von der Dynamik der Marktteilnehmer. Massgebende Rahmenbedingungen zur Erreichung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit werden […] durch die Politik […] gestaltet.»41 Wettbewerbsfähig sein bedeute letztlich, die Produktivität zu steigern und den Wohlstand auf einem im internationalen Vergleich hohen Niveau sichern zu können.

1.5

Aufbau und Quellen

Das Buch ist chronologisch aufgebaut. In Kapitel 2 geht es in einer ersten Etappe um die Wirtschaftspolitik in den 1970er- und 1980er-Jahren. Obwohl die Schweiz im Zuge der Währungs- und Wirtschaftskrise 1973 mit vielen neuen Herausforderungen konfrontiert wurde, bewegte sich die Wirtschaftspolitik kaum. Der Status quo war Trumpf. Es wird gezeigt, weshalb. In Kapitel 3 tauchen die Leser in die EWR-Verhandlungen von 1989 bis 1992 ein und erfahren, warum der EWR zu einem grundlegenden Umdenken in der Wirtschaftspolitik geführt hat. Kapitel 4 zeigt auf, weshalb die Schweiz trotz des Neins von Volk und Ständen nach 1992 viele jener wirtschaftspolitischen Reformen umzusetzen begann, die mit einem EWR-Beitritt verbunden gewesen wären. Kapitel 5 beleuchtet die 2002 eingeschlagene Wachstumspolitik des Bundes und geht der Frage nach, inwiefern die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte den Standort effektiv gestärkt hat. In Kapitel 6 wird aufgezeigt, welches die aktuellen wirtschaftspolitischen Herausforderungen sind und wie mit diesen umgegangen wird. Die Studie arbeitet mit zwei Kategorien von Quellen. Die erste Kategorie sind öffentliche Dokumente. Dazu gehören die Veröffentlichungen der Bundesbehörden (amtliche Publikationen), Stellungnahmen der Behörden in Zeitungsartikeln und Interviews, die Medienberichterstattung über die Wirtschaftspolitik sowie die umfangreiche Gutachterliteratur und die Beiträge zur Wirtschaftspolitik von Universitäten, Thinktanks, Verbänden und anderen (internationalen) Institutionen, die sehr oft Handlungsempfehlungen an die Politik richten. Diese sogenannte Berater- und Reformliteratur wird in der vorliegenden Studie als Quelle qualifiziert. Sie gehört zu den jeweiligen zeitgenössischen Debatten. Die zweite Kategorie sind ungedruckte und mündliche Quellen. Zum einen handelt es sich um Dokumente der Bundesbehörden aus dem Schweizerischen Bundesarchiv (BAR)42, zum anderen um Hintergrundgespräche mit ehemaligen wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern.43

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